"Kannst du dir bitte etwas überziehen, du befindest dich hier nicht mehr im Dschungel!"
Sie wandt ihren Blick vom Bildschirm ab und schaute kurz durch das Fenster neben dem überquellenden Schreibtisch auf die Stadt, die sich dort nur all zu deutlich in all ihrer Hässlichkeit abzeichnete. Als ob sie das vergessen könnte.
Sie befanden sich in Jakarta, der wohl lautesten, schmutzigsten und überhaupt furchtbarsten Stadt der sogenannten zivilisierten Welt und dem genauen Gegenteil von dem Ort, den sie seit vielen Jahren ihre Heimat nannte. Obwohl dieser gar nicht so weit entfernt lag, war es eine komplett andere Welt.
Sie seufzte und drehte sich auf dem Stuhl zu der Quelle der Störung und schaute in das gepflegte Gesicht ihres Kollegen, der einen eindeutig missbilligenden Blick zurück gab während er mit vorwurfsvoll ausgestreckter Hand eine Geste in ihre Richtung machte und damit ihren unverhüllten Körper meinte.
Sie war es nicht mehr gewohnt, etwas auf ihrer Haut zu tragen und obwohl die brummende Klimaanlage die Räume in angenehme Temperaturen abkühlte, war ihr die Vorstellung zuwider. Schlimm genug, dass sie sich da draußen mit all dem Quatsch abgeben musste, die die feine Gesellschaft nach einer langen und kranken Entwicklung nun gerade als normal bezeichnete.
Die Blüten dieser Errungenschaften hatte sie in diesem Moment deutlich vor Augen in Form eines Mannes, der offensichtlich zu viel Zeit, Geld und Mühe in seine äußere Erscheinung investierte. Wie er da in seinem gebügelten und viel zu steifem, langärmligen Hemd stand, das nur einen kleinen Ansatz von Haut am Hals zeigte, die gezupften Augenbrauen auffordernd nach oben gezogen und mit einem spöttischen Zug um die Lippen, die gerade das sonst so übertrieben weiße Funkeln der gebleichten Zähne verbargen, war er das Ebenbild all dessen, was sie verachtete und was mit der heutigen Welt nicht stimmte. Seine Beine steckten in einer hautengen Jeans, die in diesen schwülen Klimazonen generell einfach wegen Unmenschlichkeit verboten sein sollte und die vermutlich schon im Laden aussah als wäre sie bereits 20 Jahre lang getragen worden und trotzdem so viel kostete wie manche Menschen in einem ganzen Leben nicht verdienten, nur weil ein Markenname auf dem Etikett stand, welches man obendrein nicht mal sehen konnte.
"Hast du denn überhaupt kein Schamgefühl mehr?", fuhr er fort.
Einen Moment musste sie über diese Frage wirklich nachdenken und legte dafür den Kopf ein wenig schief, was die langen offenen Haare über ihre nackten Brüste streifen ließ.
"Doch. Jedesmal wenn ich zurück zu meiner Familie gehe und sie mich mit offenen Armen empfangen, obwohl sie genau wissen, zu welchem Zweck ich sie mal wieder ganz genau bei jeder noch so kleinen Handlung beobachte und dass ich diese Informationen hier mit dir durchkaue; jedes verdammte mal, wenn ich sie erneut hintergehe, schäme ich mich dafür."
Jetzt funkelten ihre Augen vorwurfsvoll und wanderten verachtend über seine ganze herausgeputzte Erscheinung.
"Aber ganz bestimmt habe ich kein anerzogenes Schamgefühl für irgendwelche bescheuerten Konventionen, mit denen die Menschen sich selbst in eine Knechtschaft verbannen."
Damit unterbrach sie den Blickkontakt und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder der zeitaufwendigen Arbeit zu, ihre Notizen in die vorgesehenen Tabellen am Computer zu übertragen. Gerade war sie dabei eine genaue Liste abzutippen dessen, was sie in den letzten Wochen gegessen hatte. Die dazu gehörigen Proben von einzelnen getrockneten Früchten und Kräutern lagen in kleinen, luftdichten Verpackungen bunt auf dem Tisch verteilt.
Sie bot ihm die sprichwörtlich kalte Schulter und hörte noch ein kurzes Schnauben aus seiner Richtung, bevor er sich resigniert aus dem Raum entfernte. Das Appartment war für sie beide angemietet worden, um in den kurzen Phasen der persönlichen Zusammentreffen eine Art Hauptquartier zu haben. Dazu gehörten auch noch zwei getrennte Schlafzimmer und eine Kochniesche, die nur wenig bis gar nicht verwendet wurde. Eine eigene Toilette gab es hier hingegen nicht, dafür aber den Gang hinunter auf dieser Etage des Hotels ein Waschraum, in dem für die indonesische Bevölkerung üblich große Becken gefüllt mit kaltem Wasser darauf warteten, sich zwei Mal täglich den Schweiß und Schmutz der Stadt von der Haut zu waschen und sich vor jedem Gebet von den niederen Trieben zu reinigen. Alles andere würde als unsauber gelten.
Einerseits waren die Menschen hier in Asien so fixiert auf Ihre althergebrachten Traditionen, die penibel von einer Generation zur nächsten getragen wurden und deren ursprünglicher Sinn nicht einmal hinterfragt werden durfte und andererseits waren sie so stolz auf ihre modernen Errungenschaften und eiferten gedankenlos dem Westen mit all ihren merkwürdigen Mode-Erscheinung nach, um sich ja keine Blöße zu geben. Beides bewies nur, dass Erziehung innerhalb der Gesellschaft aus den Kindern willenlose Gefolgsleute machte, denen die Fähigkeit aberzogen wird, selbstständig zu denken und zu eigenen Schlussfolgerungen zu kommen.
Sibil konnte sich hingegen glücklich schätzen, dass sie als sogenanntes Drittkukturkind unter ungewöhnlichen Bedingungen aufgewachsen war, die es ihr ermöglicht hatten, die Vor- und Nachteile der Zivilisation aus einer ganz anderen Perspektive wahr zu nehmen. Denn ihr Vater hatte als Linguist die Gelegenheit genutzt, die unterschiedlichen Sprachen auf den Inseln von Indonesien persönlich zu erforschen und zog samt seiner jungen Frau und kleinen Tochter zwischen verschiedenen Dörfern hin und her. Dazu gehörten auch einige abgelegene Siedlungen im Dschungel, die sonst keinen Kontakt zur Außenwelt hatten.
Dabei war es auch ihm zu verdanken, dass die Wissenschaft auf einen interessanten Fakt aufmerksam wurde, der letztendlich den weiteren Verlauf von Sibils Leben maßgeblich bestimmt hatte. Denn obwohl sich das Interesse ihres Vater auf die unterschiedlichen Dialekte der Urwaldbewohner beschränkte und er heraus zu finden versuchte, nach welchen Kriterien sich die inzwischen stark von einander unterscheidenen Sprachen entwickelt hatten, so blieb es doch nicht unbemerkt, dass sich erstaunlich viele Bewohner der abgelegeneren Orte in einem ungewöhnlich hohen Alter befanden. Wenn man von den zahlreichen Toten durch die kriegerischen Auseinandersetzungen der einzelnen Stämme und den auch nicht zu unterschätzenden Unfällen im Dschungel einmal absah, dann lag die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in den indonesischen Waldgebieten bei über 150 Jahren - ein Alter, das selbst mit der besten medizinischen Versorgung bei einem Menschen im Rest der Welt eher selten zu erreichen war. Und genau dies hatte das Interesse einiger Wissenschaftler geweckt, denen es nicht schwer gefallen war, die nötige finanzielle Unterstützung seitens der Industrie zu bekommen, um das Phänomen unter die Lupe zu nehmen. Und wer wäre besser dazu geeignet gewesen, die Lebensweise der Einheimischen zu studieren und genauere Informationen zu bekommen, als eine Person, die quasi in deren Mitte aufgewachsen war und daher so etwas wie ihr Vertrauen besaß. Zumal man nicht das Risiko eingehen wollte, die Fakten und Proben durch einen zu hohen Eingriff in das alltägliche Leben der neuernannten Versuchskaninchen zu verunreinigen. So ist man mit der Bitte um eine Studie am lebenden Objekt schließlich an Sibil heran getreten, die inzwischen in Kontakt zu Experten aus diversen Fachbereichen stand.
Da man sich bisher nicht darüber einigen konnte, aus welcher Richtung man die revolutionäre Erkenntnis über die Langlebigkeit gewinnen würde, wurde ein Kreis von Fachkräften zusammen gestellt, die sich jeweils auf ihrem Gebiet auskannten und eigene Forschungen betrieben. Unter anderem gab es eine Abteilung von Ökotrophologen, die die Ernährung der Einwohner genauestens untersuchten in der Hoffnung, ein Lebensmittel zu entdecken, das sich wie zuvor auch schon Andere wunderbar vermarkten ließe. Etwas wie die Spirulina-Algen oder die Aloe-Vera-Pflanze, die man in unzähligen Produkten verwenden könnte mit dem Versprechen auf ein gesünderes, längeres Leben.
Vielversprechend schien es ebenfalls, das natürliche Umfeld zu untersuchen. So hatte Sibil bei jedem Besuch der verhassten Großstadt einige Proben von der Luft, des Bodens und des Trinkwassers einiger Dörfer dabei. Sie machte sich sogar die Mühe, so viel wie möglich von der Flora und Fauna in Skizzen und Beschreibungen fest zu halten. Einen Fotoapparat oder eine Kamera weigerte sie sich hingegen, mit zu nehmen. Genauso wie jede andere technische Errungenschaft der Menschheit.
Eine weitere Gruppe mit Soziologen setzte sich mit den religiösen und kulturellen Aspekten des Lebens im indonesischen Dschungel auseinander und verlangte explizite Informationen über die Rituale und religiösen Handlungen. Dazu gehörten auch Traditionen und Feste, das regelmäßige Fasten und Tanzen, gelegentliche Zusammenkünfte verschiedener Stämme und Details über ihren Glauben. Dies war gerade der schwierigste Teil für Sibil. Als jemand, der solche Dinge schon fast mit der Muttermilch aufgesogen hatte, waren ihr die Vorstellungen der Einheimischen völlig verständlich, aber für Menschen, die in anderen Kulturkreisen aufgewachsen waren, mussten ihre teils recht obskuren Vorstellungen von Naturgeistern schwer nach zu vollziehen sein. Wie erklärte man einem Anhänger der Evolutionstheorie, der nur an Daten und Fakten glaubte, die Gedankenwelt eines Waldmenschen, der im Gegensatz zu westlichen Verhältnissen so einfach gestrickt war, dass er z.B. eine gewöhnliche Krankheit als Fluch ansah, der den Betroffenen früher oder später in die Welt der unsichtbaren Wesen verbannte.
Selbst ihrem Vater war es manchmal schwer gefallen, den Gedankengängen der Einheimischen auf logische Weise zu folgen. Da hatte sie als Kind damals einen viel intuitiveren Zugang gefunden und hatte sich dem Thema auf spielerische Weise genähert. Als Tochter eines europäischen Forschers war sie auf der einen Seite in den Genuss einer umfangreichen Bildung gekommen. Sie war zunächst von ihrem Vater persönlich und später über Fernschulen unterrichtet worden in den allgemein üblichen Fächern, die ihr auch einen Abschluss in höheren Bildungseinrichtungen ermöglicht hatten.
Auf der anderen Seite hatte sie eine Kindheit fern ab von allen Problemen der Gesellschaft im Herzen der grünen Inseln verleben dürfen, wo die Kinder im Zentrum des Dorflebens standen und noch einen ganz anderen Status hatten als in westlichen Familien. Auch wenn ihre Haut und Haare heller waren als die von allen anderen Kindern und obwohl ihre blauen Augen eine Farbe besaßen, die die meisten Ureinwohner vorher noch nie bei einem Menschen gesehen hatten, so war sie doch sehr schnell zu einem festen Bestandteil der Dörfer im Dschungel geworden. Man sah sie als ein wohlwollendes Geschenk der Götter, das von fernen Ufern zu ihnen gesandt wurde. Über den genauen Zweck war man sich zwar uneinig, aber die naturnahen Menschen kannten keinen Argwohn. Von den Tieren des Waldes wussten sie, dass es im Leben darum ging, zu Fressen oder gefressen zu werden, aber niemals um Macht, Böswilligkeit oder Berechnung. Und genau deswegen fühlte sie sich auch wie eine Verräterin. Zwar war sie keine von ihnen - nicht richtig zumindest - und doch wurde sie immer wie ihresgleichen behandelt.
Und obwohl sie für eine Zeit lang zusammen mit ihrer Großmutter und ihrem kleinen Bruder das Land verlassen hatte um in Deutschland zu leben nachdem ihr Vater im Dschungel gestorben war, so wusste sie doch tief in ihrem Herzen, dass dies ihre wirkliche Heimat war. Und es war ihr nicht schwer gefallen, den Auftrag anzunehmen und im Namen der Wissenschaft zurück zu kommen, als man damit an sie heran getreten war.
Nun allerdings, im Angesicht all der Arbeit, die sich auf dem Tisch vor ihr türmte, fragte sie sich nicht zum ersten Mal, ob die Antwort auf die Frage, warum die Menschen im Dschungel so viel länger lebten, wirklich in einer der vielen Fläschchen und Proben liegen könnte. Viel mehr kam sie mal wieder zu der Erkenntnis, dass das Leben dort in der Natur allgemein gesünder und lebensfördernder war. Es waren die gesamten Umstände, die sich so sehr von der Zivilisation unterschieden, wie sie sich vor ihrem Fenster dar bot. Die Menschen im Wald waren glücklich und da gehörte mehr dazu als das Essen oder die Religion oder die medizinische Versorgung. Einmal mehr konnte sie den inneren Drang spüren, aus diesem Gefängnis fliehen zu wollen, dass das Gebäude und die Stadt für sie zu sein schien.
Mit einem Ruck schob sie den Stuhl zurück und erhob sich. Der Bildschirm vor ihr flackerte in Erwartung weiterer Eingaben, die dicht an dicht beschriebenen Zeilen ihrer Notizbücher lagen anklagend offen da und boten einen Blick auf den kläglichen Versuch, etwas Allumfassendes in die Zwangsjacke der englischen Sprache zu pressen. Der Versuch, dem Gehemnis der Andersartigkeit dieser Stämme so auf die Schliche zu kommen, musste von vornherein scheitern. Es gehörte mehr dazu als trockene Zahlen, um ein Lebensgefühl zu vermitteln.
Kurzentschlossen stürmte sie aus dem Zimmer in den angrenzenden Raum, wo sich ihr Arbeitspartner Len Midway gerade in einer Videokonferenz befand und erschrocken den Deckel des Laptops mit der Kamera herunter klappte, als er ihres nackten Auftritts gewahr wurde.
Sie hatte die Tür so schwungvoll aufgerissen, dass sie laut krachend gegen die Wand geschlagen war. Ihr ruheloser Blick wanderte im Raum hin und her und ihr Atem kam stoßweise über die geöffneten Lippen. Len bemerkte, wie aufgebracht sie war und musste erstmal häftig schlucken, bevor er seine Sprache wieder fand.
"Ich bin inzwischen ja deinen hübschen Anblick im Eva-Kostüm gewohnt, aber es kann schwerlich in deinem Interesse liegen, dass unsere Sponsoren dich so sehen und letztendlich vielleicht noch für unzurechnungsfähig halten." Damit spielte er auf ein paar ähnliche Szenen an, die dafür gesorgt hatten, dass die Gespräche mit den anderen Wissenschaftlern inzwischen nur noch von ihm geführt wurden.
Seine aalglatte Erscheinung störte sie mal wieder maßlos. Er trug nicht nur seine Kleidung, sondern auch die Konventionen des Anstandes wie eine Maske und ließ nicht erkennen, was für ein Mensch er wirklich war. Schon als sie sich das erste Mal begegnet waren, verhieß der kühle Handschlag seine Unnahbarkeit. Dass sie sich inzwischen dutzten und mit Vornamen ansprachen, war ein kläglicher Versuch, so etwas wie eine freundliche Arbeitsatmosphäre zwischen ihnen zu schaffen. Sie sah in ihm nichts weiter als eine verfluchte Marionette und wusste nicht einmal wirklich, wer die Strippen dahinter zog. Aber es war ihr im Grunde doch lieber, nur diese eine Person als direkten Ansprechpartner zu haben, die sich mit den anderen Kollegen ihres kleinen elitären Forschungskreises auseinander setzen musste, anstatt der geballten Kraft der industriellen Wissenschaft von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen und ihnen Rechenschaft abgeben zu müssen. Schließlich verlangte sie einen recht großen Spielraum beim Erfüllen ihrer Aufgabe und konnte auch nicht immer mit den gewünschten Informationen dienen. Immerhin fühlte sie sich in der Pflicht, die ungeschriebenen Regeln des Miteinander im Dschungel zu befolgen und da verbot es sich, mit persönlichen Fragen über die Bewohner her zu fallen. Ihr blieb oft als einziges Mittel das Beobachten aus der Ferne. Und sie hatte strikte Einschränkungen gemacht, was moderne Gegenstände betraf, die sie nicht gewillt war, mit in den Dschungel zu nehmen. Es ging dabei nicht nur darum, die ursprüngliche Lebensart nicht zu verfälschen und die Daten für die Forschung authentisch zu belassen. Sondern es war ihr auch ein inneres Bedürfnis, die Menschen dort von allem fern zu halten, was negative Auswirkungen haben könnte.
Jetzt allerdings war sie im Begriff, einen gewagten Schritt zu machen, der die weitere Entwicklung der Forschung verändern würde. Hoffentlich stellt sich dies im Nachhinein nicht als folgenschwerer Fehler heraus.
"Ich werde es dir zeigen."
Nach etlichen Sekunden, in denen Len die Chance hatte, sie ausführlich zu mustern und sich zu fragen, was sie so aufgebracht haben mochte, traf ihn dieser kurze Satz völlig unvorbereitet. Er hatte seinen Blick gerade noch von der kleinen blassen Narbe an ihrer Hüfte los reißen können, die ihm all zu deutlich machte, dass Sibil sonst am gesamtem Körper streifenlos gebräunt war.
"Was zeigen?" Verwirrung spiegelte sich auf dem sonst so emotionslosen Gesicht.
Sie begann aufgebracht in dem kleinen Raum auf und ab zu laufen, um zunächst ihre eigenen Gedanken zu ordnen. Dabei hüpften ihre kleinen festen Brüste frech im Takt. Ihm war klar, dass jetzt eine längere Erklärung folgen würde. Vielleicht hatte sie ja einen Durchbruch erlangt? Immerhin waren sie bereits seit über einem Jahr mit diesem Projekt vor Ort beschäftigt. Eine Zeit, in der die beiden sich regelmäßig hier in Jakarta getroffen hatten, um konkrete Daten zusammen zu tragen und immer wieder hatte sie die Unverschämtheit besessen, genau wie jetzt keine Rücksicht auf ihn zu nehmen und in ihrer weiblichen Nacktheit vor ihm hin und her zu laufen.
Er ballte die Hände zu Fäusten und versuchte sich auf etwas Neutrales zu konzentrieren, um seine distanzierte Gelassenheit zurück zu gewinnen. Dabei musste er neben seiner wachsenden Erregung auch die hinzukommende Wut verdrängen. Diese Frau spielte völlig rücksichtslos mit dem Feuer, schließlich war er auch nur ein Mann und obendrein einer, der schon viel zu lange von zuhause fort war und von seiner Verlobten getrennt lebte. Seit das Projekt so richtig ins Rollen gekommen war und er sich das Büro in Jakarta eingerichtet hatte, galt seine komplette Aufmerksamkeit Sibil. Es ging immer nur um sie: Darum, was sie an Informationen mitbrachte und wie man diese am sinnvollsten verwertete. Es ging darum, wie man ihre Arbeit noch effektiver gestalten und welchen Hilfsmitteln man sich bedienen konnte. Dabei sollte er auch noch vorsichtig mit ihrer ziemlich exzentrischen Persönlichkeit umgehen. Bevor sie sich überhaupt das erste Mal persönlich gegenüber gestanden hatten, wurde ihm ein ausführlicher Bericht über ihre Person zu gestellt. Darin befand sich ihr gesamtes Leben, so weit man es rekapitulieren konnte.
Er wusste, wie sie als Ergebnis einer Liebelei zwischen dem deutschen Sprachwissenschaftler und einer Studentin aus Java entstanden war, woraufhin ihr Vater völlig für die Forschung in Indonesien entbrannte. Er wusste, dass sie bereits mit 3Jahren in den Dschungel gebracht wurde, wo sie die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte hatte, auch noch nachdem ihre leibliche Mutter kurz darauf bei der Geburt ihres Bruders verstorben war. Ihre Aufenthalte in Deutschland waren immer nur von kurzer Dauer gewesen. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der nach dem späteren Tod des Vaters bei seiner Großmutter in Deutschland weiter lebte und dort eine staatliche Schule besuchte, hatte es sie immer wieder in die grüne Heimat gezogen. Es war ein Glück für die Forschung, dass sie gerade ihren 20. Geburtstag in Europa feierte, wo man an sie heran treten konnte. Eine Kontaktaufnahme im indonesischen Hinterland wäre weit aus schwieriger gewesen.
"Ihr schickt mich in den Dschungel und verlangt von mir, dass ich euch all seine Geheimnisse stückchenweise mit bringe, damit ihr sie in euren teuren Laboren unter das Mikroskop legen könnt, um es dann zu synthetisieren und in künstlichen Produkten auf den Markt zu bringen. Die Menschen sollen sich am Ende Lebensfreude und natürliche Gesundheit aufs Brot oder in die Haare schmieren können - gegen genügend Entgeld versteht sich. Aber das funktioniert so nicht. Wie kann ich etwas so umfassendes wie eine ganze Kultur in kleine Schachteln packen und dann auch noch von Leuten untersuchen lassen, die überhaupt keine Ahnung davon haben, was es heißt im Dschungel zu leben? Man kann doch im Labor nicht ein Gefühl herstellen oder die Geschichte eines Volkes auseinander nehmen." Sie blieb stehen und wartete sichtlich auf ein Zeichen des Verstehens seinerseits. Nach einem knappen Nicken fuhr sie schließlich äußerst energisch fort.
"Deswegen gibt es nur einen Weg, wie ich euch verständlich machen kann, was es bedeutet, mit der Natur verbunden zu sein. Ich werde es dir zeigen. Du musst es mit eigenen Augen sehen, mit deinen eigenen Sinnen empfinden. Vielleicht wirst du es dann verstehen." Es war ein Glitzern in Ihre Augen getreten, das davon zeugte, dass sie sich von dieser Idee nicht abbringen lassen wollte. Und nach kurzem Überlegen, fand er den Vorschlag auch gar nicht so abwegig. Für sie war es etwas völlig normales, im Dschungel zu sein. Ihr würden außergewöhnliche Dinge dort vermutlich noch nicht einmal auffallen. Aber er konnte sich die Sache mit dem Blick des Wissenschaftlers anschauen und würde sicher erkennen, was man genauer untersuchen müsste. Und auch, wie man diese in die Lebensweise des Westlers integrieren könnte. Ja, es war gar keine schlechte Idee, diesmal sie als Vermittler zu benutzen und dann würden vielleicht endlich ein paar brauchbare Ergebnisse dabei heraus kommen. Die von ihm eben noch abgewürgten Gesprächspartner saßen ihm im Nacken und machten zunehmend Druck. Dieses ganze Projekt verschlag eine Menge Geld und wenn nicht bald etwas vorzuweisen war, würde man früher oder später die Investitionen einstellen. Da konnte ein vermarktbares "Lebenselixier" am Ende der Bemühungen noch so toll klingen, wenn es nicht in absehbarer Zeit geschah.
"In Ordnung. Ich werde deinen Vorschlag diskutieren und wie wir das am besten bewerkstelligen. Dann kann ich auch gleich ein bisschen Ausrüstung mit nehmen und die Menschen direkt untersuchen. So müssen wir nicht auf abgestandene Proben zurück greifen." Inzwischen redete er mehr mit sich selbst als mit Sibil. Das Ganze nahm in seinem Kopf bereits Gestalt an. "Und die Beurteilung von zwei unabhängigen Beobachtern ist auch wesentlich aufschlussreicher als von nur einem. Ich werde Aufnahmen machen, die ..."
"Nein!" Sie stellte sich direkt vor ihm auf und hielt seinen Blick gefangen.
"Wie nein? Du hast es doch gerade selbst vorgeschlagen."
"Ich nehme dich mit in die Dörfer. Aber es darf keine Ausrüstung mit. Du kannst nichts mit in den Dschungel nehmen, das dort nicht hin gehört. Das natürliche Gleichgewicht ist viel zu sensibel. Und damit meine ich nicht nur die Natur."
"Was willst du damit sagen? Natürlich müsste ich Sachen mit nehmen. Ich kann ja wohl schlecht nackt herum laufen, so wie du!"
Ohne auf diese weitere Zurechtweisung einzugehen, fuhr sie in ruhigem Ton fort: "Du weißt doch, dass diese Menschen keinen persönlichen Besitz kennen. Bei ihnen gibt es nur das, was die Natur her gibt und das gehört jedem. Wenn du jetzt etwas mit hinein bringst, das du nicht teilen willst, dann wirfst du ihr ganzes Weltbild über den Haufen. Sie würden davon ausgehen, dass es jedem gleichermaßen gehört. Und du möchtest deine teure Ausrüstung doch bestimmt nicht den Kindern zum spielen überlassen, oder?"
Sie schaute ihn herausfordernd an und er schluckte seine Widerworte herunter. Immerhin hatte sie damit recht, aber er würde auf das Thema später noch einmal zu sprechen kommen. Erst einmal müsste er sich mit dem restlichen Team beratschlagen und einen Plan entwerfen. Und außerdem brauchten sie Sibil mehr denn je. Er hatte eigentlich überhaupt keine Ahnung, wie es dort im tiefsten Hinterland zu ging und diese Kleinigkeit von wegen Gemeinschaftsbesitztum wie im Kommunismus machte ihm das all zu bewusst.
"Ich schlage vor, du besprichst dich mit den werten Kollegen und ich besorge etwas zu Essen. Das ist der einzige Vorteil, den ich hier in der Stadt sehe: man muss nicht groß nach Essbarem suchen, sondern bekommt es immer am gleichen Ort. Ich nehme an, den Food Court gibt es nach wie vor im Center gegenüber? Dann würde ich gern mal wieder etwas Fritiertes essen."
Sie war schon halb aus dem Zimmer verschwunden und präsentierte ihren bloßen Hintern, als er ihr kopfschüttelnd hinterher rief: "Aber zieh dir um Gottes Willen etwas an, bevor du auf die Straße gehst." Und nach kurzem Überlegen: "Und bring mir ein paar Sate-Spieße mit!"
"Am besten starten wir in Bukit Lewang. Dort ist man gelegentlichen Besuch von den Stadtmenschen gewohnt und man kann sich einen Führer mieten, der mit kleinen Gruppen in den nahe gelegenen Dschungel wandert, um dort ein oder zwei Nächte in der Natur zu verbringen. Wir können von dort aus ein Boot nehmen und flussabwärts zu dem nächsten Dorf reisen. Da kannst du dich mit den Gegebenheiten des Waldes vertraut machen und erst wenn du dich an das einfache Leben gewöhnt hast, sollten wir zu meiner Familie aufbrechen. Es wäre nicht gut, sie mit einem Fremden zu überfallen, der sich nicht richtig zu benehmen weiß. Immerhin kennen sie nichts anderes als ihre eigene Lebensart."
Sie saßen sich auf dem Boden ihres kleinen Quartiers gegenüber und aßen ihr Essen traditionell mit den Händen. Wenigstens hatte Sibil die Güte, ein paar Kleidungsstücke während der Mahlzeit an zu behalten, so dass sich Len auf ihre Worte konzentrieren konnte. Es war schon sehr ironisch, dass er sich zu benehmen lernen sollte, während sie diejenige war, die sich über alle Anstandsregeln hinweg setzte und auch jetzt nichts weiter trug als etwas, das wie ein zu großes Unterhemd aussah und ihr über eine Schulter rutschte.
Noch bevor sie von ihrer Nahrungssuche zurück gekommen war, hatte er die zuvor abgebrochene Videokonferenz wieder auf genommen und setzte sich mit der Idee auseinander, dass er höchst persönlich in die Wunder des Dschungellebens eingewiesen werden sollte. Was ihm zunächst wie die ideale Lösung ihrer Probleme erschienen war, entpuppte sich dabei mehr und mehr als ein riesiges Abenteuer. Zwar kannte er die Nationalsprache des Landes 'Bahasa Indonesia', aber die wenigsten Einwohner in den entlegeneren Gegenden hatten diese neben ihrer eigenen Insel-Sprache gelernt. Allein die Sprachbarriere zwischen ihm und den Dörflern würde ein großes Hindernis darstellen, wo man sich nicht einmal auf die intuitive Körpersprache verlassen konnte. Hinzu kamen all die unbekannten Variablen, die sich zwangsläufig in einer so unterschiedlichen Kultur ergeben würden, angefangen von der Kleiderfrage über ungewohnte Nahrung bis zu den hiesigen Konventionen. Wie würde er sich den Einheimischen gegenüber verhalten müssen? Da nutze es Len wenig, dass er in der Theorie über den Dschungel bescheid wusste und auf dem Papier bereits eine Menge Daten zusammen getragen hatte. In der Realität würde es eine große Umstellung werden, seine Gewohnheiten ab zu legen und auf den Luxus der zivilisierten Welt zu verzichten.
Er hatte die erste Hälfte seines Lebens wohlbehütet in einer Kleinstadt der USA verbracht und nur im alljährlichen Familienurlaub über die Grenzen des Landes hinaus geschaut. Nach dem Studium hingegen zog es ihn immer häufiger in die Gegend von Südostasien. Aber selbst hier, wo es ihm jedesmal einen Kulturschock bescherte, wenn er aus dem Flugzeug stieg und in das feucht-warme Klima eintauchte, hatte er sich doch vorwiegend in den Großstädten aufgehalten. Er kannte nur die moderne Welt der Asiaten und selbst diese überraschte ihn noch gelegentlich. Dass man in den meisten Wohnungen Möbelstücke vergeblich suchte, war ihm inzwischen vertraut. Er hatte sich daran gewöhnt, stattdessen auf einer Matte auf dem Boden zu sitzen, was ihm inzwischen auch nicht mehr ganz so unbequem wie früher vor kam. Auch die ungewöhnlichen Waschräume stellten nichts Neues mehr dar, in denen die täglichen Waschungen schon fast einem Ritual ähnelten. Man bediente sich einer kleinen Schöpfkelle, um sich mit Wasser zu übergießen und damit den gröbsten Dreck ab zu spülen, bevor man sich in eines der bis zur Hüfte gefüllte Becken setzte. Aber wie würde eine Toilette im Wald aussehen? Womit könnte er sich dort waschen und pflegen?
In seiner Freizeit hatte Len schon häufiger die Gegend erkundet und versucht, mit den Menschen des Landes in Kontakt zu kommen. Besonders das abendliche Ausgehen erschien ihm dazu vielversprechend.
Das Nachtleben in Jakarta hatte sich allerdings so stark an die westlichen Bedürfnisse angepasst, dass seine in Amerika lebende Verlobte sich nicht ganz grundlos Sorgen um seine Treue machen musste. Auch wenn Prostitution offiziell verboten war, gab es in jeder Bar ein paar hübsche Damen, die sich nur all zu gerne von den reichen Weißen auf ein paar Drinks einladen ließen. Im Gegenzug durften die Männer ihre hübsche Gesellschaft genießen. Es hatte sich inzwischen zu einer hohen Kunst entwickelt, dem männlichen Ego zu schmeicheln und stille Versprechungen zu machen, die letztendlich nie eingehalten wurden. Selbst Len war den Damen des Landes schon öfter auf den Leim gegangen und hatte sich um seiner selbst Willen gemocht gefühlt und dann auf die harte Tour lernen müssen, dass es ihnen nur um sein Geld ging oder um die besondere Auszeichnung, mit einem Weißen gesehen worden zu sein. Er konnte die nach außen so freundlichen Asiatem einfach nicht richtig einschätzen. Man begegnete sich immer mit einem Lächeln und lautstarke Auseinandersetzungen waren in der Öffentlichkeit verpönt. Wie es allerdings hinter verschlossenen Türen aussah, konnte Len sich schwer vorstellen und war auf die Erfahrung von Sibil angewiesen, um keine peinlichen Fehler zu machen.
Asien faszinierte ihn durch dessen Andersartigkeit und er hatte seine Arbeit mit Begeisterung in diesem Erdteil aufgenommen, aber richtig wohl fühlte er sich ehrlicher Weise nur unter seinesgleichen. Es hatte nie die Gefahr bestanden, dass er für immer hier bleiben wollen würde. Eher sah er es als interessanten Zeitvertreib, um den eigenen Horizont zu erweitern und dann zu gegebener Zeit zurück in die wohlbekannte Heimat der USA zu gehen, wo er durch seine Arbeit im Ausland punkten konnte. Len war ambitioniert genug, auch den Diskomfort in Kauf zu nehmen, wenn es ihm beruflich von Vorteil war. Als Angestellter der Industrie war sein eigentliches Ziel immer, gewinnbringende Entdeckungen zu machen und dies ging meistens über den Weg der Forschung am lebenden Objekt. Wenn man weiß, was die Menschen bewegte und wo ihre Schwachstellen lagen, dann konnte man diese für die Wirtschaft nutzen. Letztendlich lief alles auf Marketing hinaus. Aber dafür brauchte man zunächst ein geeignetes Produkt, um es vermarkten zu können.
Hier nun sah er seine Chance, eine wirklich große Entdeckung zu machen, die ihm sein weiteres Leben zuhause mit einer angemessenen Partnerin versüßen würde. Und er wollte sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen, selbst wenn dies bedeutete, über mehr als nur einen Schatten zu springen. Das Ziel schien es ihm wert zu sein.
"Ich vertraue da auf deine Einschätzung. Wir können die Ausrüstung aber wenigstens bis nach Bukit Lewang mitnehmen und dort platzieren, dann ist es im Notfall kein so weiter Weg. Und ich sollte wohl vorher mit dir zusammen einkaufen gehen. Bisher war ich nicht darauf eingestellt, in den Dschungel zu reisen."
Sie fing seinen Blick auf und konnte darin fast so etwas wie einen Anflug von Unsicherheit erkennen. Es musste ihn viel Überwindung kosten, sich so von ihr abhängig zu machen und dann nicht einmal etwas mit nehmen zu dürfen, womit er den Kontakt zu anderen Menschen aufrecht halten konnte - wie einem Handy.
"Keine Sorge. Es sind Wilde, aber keine Unmenschen. Ganz im Gegenteil: du wirst überrascht sein, wie viel ehrlicher, offener und herzlicher die Naturvölker sind. Solange du nicht zu ihrem Feind wirst, bist du ihr Freund." In den Worten steckte eine kaum versteckte Warnung. Ihre Loyalität galt vor allem der Familie, die sie in den Wilden sah und die würde sie auch gegen ihn und seine Interessen verteidigen.
Sie schlossen ein stillschweigendes Übereinkommen, dass er sich an ihre Vorgaben halten würde und sie sich im Gegenzug um ihn kümmerte und eine neue, fast unerforschte Welt für ihn öffnete.
"Ist das dein Ernst?" Schockiert hielt er den Fetzen Stoff in die Höhe, den Sibil für ihn ausgesucht hatte. Und obwohl ihm klar war, dass er sich letztendlich dazu überreden lassen würde, weigerte er sich noch, dieses winzige Kleidungsstück als das anzuerkennen, was es sein würde.
"Da tragen Sumo-Ringer ja mehr am Leib."
Tatsächlich handelte es sich um ein ganz ähnliches Stück. An einem Band, das man sich um die Hüften knotete, befand sich ein schmaler Streifen Stoff, der sich hinten zwischen die Pobacken schieben würde und gerade mal so das Nötigste vorne bedeckte.
"Du kannst es natürlich auch ganz weg lassen. Man würde dir sicher nichts weg gucken."
Mit offenem Mund wechselte sein Augenmerk zwischen dem Lendenschurz in seiner Hand und dem fröhlichen Gesicht von Sibil hin und her, während Len versuchte, sich zusammen zu reißen. Immerhin war es keine wirkliche Überraschung, dass er sich auf die Kleiderordnung des Dschungelvolkes einlassen musste und Sibils häufiger Auftritt im Eva-Kostüm hatte über dessen Beschaffenheit Bände gesprochen. Doch bisher hatte er diese Details seiner Reise erfolgreich verdrängen können, bis zu dem jetzigen Moment im Laden für traditionelle Gewänder, in dem sie sich gegenüber standen.
"Wenn du dich dann wohler fühlst, könntest du vorher noch ein paar Mal ins Solarium gehen. Immerhin ist der Großteil deiner Haut sicher keine direkte Sonnenstrahlung gewöhnt."
Auch wenn dieser Vorschlag mehr nach einem Scherz auf seine Kosten klang, zog er diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung. Einen Sonnenbrand an delikaten Stellen wollte er nicht riskieren und vielleicht würde sein Selbstbewusstsein dadurch auch ein wenig aufgebessert werden. Im Vergleich zu den dunkelhäutigen Einheimischen musste er wie eine Leiche zwischen ihnen anmuten und er wollte so wenig wie möglich auf fallen. Zum Glück hatte er immerhin dunkles Haar und die hier weitverbreitete braune Augenfarbe. Allein seine Körpergröße würde ihn unter Asiaten allerdings immer heraus stechen lassen, welche er für gewöhnlich um mindestens zwei Köpfe überragte. Daheim in Amerika war er sich nie als etwas derart Besonderes vor gekommen und es machte ihn immer noch nervös, egal wohin er kam, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Gelegentlich hatte er auch schon dreiste Leute abwimmeln müssen, die seine weiße Haut berühren wollten. Hier in Südostasien taten die Frauen alles, um etwas heller zu werden und verwendeten dafür jede Menge Bleichmittel in ihren Drogerieprodukten. Wer wusste schon, was das für Langzeitfolgen haben mochte, die absichtlich nicht zum Thema der Forschung gemacht wurden. Aber vermutlich war es auch nicht viel verheerender als die Bräunungsprodukte auf der anderen Seite der Erde. So hatte jede Kultur ihr unerreichbares Schönheitsideal, dem der einfache Bürger nach eiferte.
"Schon gut. Ich werde mich damit arrangieren." Aber noch nicht jetzt - fügte er in Gedanken hinzu.
"Du kannst dir auch schon mal abgewöhnen, dich regelmäßig zu rasieren. Es sind keine Rasierklingen erlaubt."
"Es wird doch wohl auch unter den Dschungelbewohnern Messer geben!?" Er warf einen kurzen Blick in den Spiegel der Umkleidekabine und versuchte sich vorzustellen, wie er wohl mit Vollbart aussehen würde, aber dieses Bild wollte ihm ganz und gar nicht gefallen. Ein bisschen Selbstachtung musste er trotz allem bewahren und konnte sich nicht komplett verlottern lassen.
"Natürlich, aber den Umgang mit solchen Messern würde ich an deiner Stelle erst einmal üben wollen, bevor ich damit dem Gesicht zu nahe komme oder gar anderen Körperstellen."
Bei diesen Worten musste er unwirklich daran denken, dass er leider ganz gegen seinen Willen schon des öfteren hatte erkennen müssen, dass sich Sibil tatsächlich an keiner Stelle ihres Körpers rasierte. An den Beinen mochte es Dank ihrer blonden Naturhaarfarbe kaum auffallen, aber an den intimeren Körperzonen war es schwer zu übersehen.
Nachdem sie ihm noch ein paar Flipflops aus Naturmaterial aufgezwungen hatte, da er ihrer Meinung nach wohl kaum genügend Hornhaut an den Füßen besaß, um wie sie barfuss im Wald zu laufen, verließen sie endlich das riesige Einkaufszentrum, in dem sie beide als selten gesehene, westliche Besucher die Attraktion des Tages waren.
Als nächster Punkt ihrer Vorbereitungen stand das Thema der Umgangsformen an, wofür sie sich in eine unbequeme Sitzecke eines der vielen Straßen-Restaurants zurück gezogen hatten, die sich besonders abends großer Beliebtheit erfreuten. Im Moment waren sie allerdings die einzigen Gäste auf den Plastikstühlen und genossen die Ruhe, wenn man einmal von dem allgegenwärtigen Verkehrslärm im Hintergrund absah.
Wie Len wusste, erwarteten die Einheimischen von den Touristen nicht, dass sie sich mit den kompletten Regeln der förmlichen Begrüßung aus kannten und verziehen kleinere Fehler auch. Allerdings gab es ein paar grundlegende Dinge zu beachten. So wie es in Indien das Kasten-System gab, so wurden seines Wissens nach auch hier die verschiedenen Stände der Menschen unterteilt und man hatte den höheren Rängen gegenüber einen gewissen Respekt zu demonstrieren. Es gab beispielsweise ganz genaue Vorschriften darüber wie die Hände zusammen gelegt werden mussten und bis zu welche Tiefe man sich verneigen sollte oder wer wen zu erst ansprechen durfte. Als Faustregel konnte man zusammen fassen: dem Alter war immer Vorrang zu geben, nur die kleineren Kinder besaßen so etwas wie Narrenfreiheit.
In diesem Teil der Erde hatte man höchsten Respekt vor dem Altwerden und es würde niemand auf die Idee kommen, seine Eltern oder Großeltern in ein Seniorenheim abzuschieben. Die ältere Generation war hingegen in das tägliche Leben des Mehrgenerationen-Haushalts integriert und vielleicht auch zu einem gewissen Teil deswegen noch so vital. Es oblag ihnen, das Wissen an die Jüngsten weiter zu geben. Wobei es häufig keinen Unterschied machte, ob sie tatsächlich miteinander blutsverwandt waren. In den Siedlungen der Naturvölker kümmerte sich jeder um jeden.
Len fragte sich, ob bei dem ganzen Miteinander und Durcheinander überhaupt fest stand, wer der biologische Vater des jeweiligen Kindes war oder ob man sich auch die Lager der Frauen untereinander teilte. Diese Frage traute er sich allerdings im Moment nicht laut zu stellen. Er würde sie sich für einen geeigneten Zeitpunkt aufheben.
"Du solltest zumindest anfangs so wenig wie möglich Augenkontakt mit den Menschen im Dschungel halten. Das könnte sonst leicht als Provokation aufgefasst werden und wird eher als etwas Intimes angesehen."
"Also verhalte ich mich am besten so, wie einem wilden Tier gegenüber." Mit einem abfälligen Schnauben schaute er ihr absichtlich lange in die Augen, aber gegen seine Erwartung, hielt Sibil dem Blick stand. Schließlich wurde ihm doch unwohl dabei, so intensiv gemustert zu werden und schaute seinerseits wieder auf die Notizen vor sich. Er hatte sich noch in der Studienzeit angewöhnt, möglichst viele seiner eigenen Gedankengänge mitzuschreiben und hatte dabei eine nur ihm verständliche Art der Kodierung entwickelt. Immerhin ging es nun um ein Forschungsprojekt, das sicher für konkurrierende Firmen von höchstem Interesse wäre. Allerdings konnte er sich gersde nicht wirklich vorstellen, warum es für jemanden wichtig sein sollte, über die Vorschriften bezüglich Blickkontakt in einem der entlegensten Orte der Welt, Bescheid zu wissen.
Er spürte Sibils Hand plötzlich auf seinem Arm und schaute wieder nach oben.
"Berührungen hingegen sind untereinander völlig normal und stärken das Gruppengefühl. Sie glauben, dass ein Mensch alleine im Wald schon deswegen sterben müsste, weil ihm der Körperkontakt zu anderen Lebewesen seiner Art verwehrt bleibt. Wenn man von der Gemeinschaft verstoßen werden sollte, wäre dies die höchste Form der Bestrafung."
Bei dem Wort 'Bestrafung' zuckte Len unwillkürlich zusammen.
"Aber das kommt fast nie vor. Die meisten Vergehen werden in der Dschungelwelt als Hilferuf angesehen und anstatt demjenigen noch weiter zu schaden, bekommt er vom Dorf seine gesamte Aufmerksamkeit und Zuwendung, damit er nicht ein weiteres Mal gezwungen sein muss, etwas entgegen der Regeln zu tun."
Er entzog Sibil seinen Arm, weil ihm die Berührung unangenehm wurde. Es würde ihm sicher in Zukunft noch einige Konzentration kosten, sich von Fremden einfach betatschen zu lassen. Schließlich hatte er einen unbewussten Radius um seinen Körper entwickelt, dessen Durchbrechen von anderen Personen er als Eindringen in seine Intimsphäre empfand.
"Was für Regeln sind das?"
Sibil faltete ihre Hände in einander und räusperte sich kurz, bevor sie damit begann, das für sie so selbstverständliche Miteinander im Urwald zu analysieren.
"Zum Beispiel widerspricht es den allgemeinen Regeln, jedwede Form der körperlichen oder verbalen Gewalt innerhalb der eigenen Gemeinschaft an zu wenden. Man ist auf ein sehr friedliches Miteinander bedacht und Streitereien werden vor einer Versammlung ausgetragen, da eine unangenehme Atmosphäre jeden betrifft. Man ist aufeinander angewiesen und muss sich bedenkenlos vertrauen können. Da man dort nichts als persönlichen Besitz ansieht, kann es sowas wie Diebstahl überhaupt nicht geben. Jeder darf sich bei dem anderen auch ohne Nachfragen bedienen. Und eine Privatsphäre kennt man auch nicht, da keine Geheimnisse untereinander existieren. Du solltest dich also nicht wundern, dass die Menschen unangemeldet in deinen Schlafbereich kommen oder dich unvermittelt anfassen. Allerdings darf sich ein Mann einer Frau nicht gegen ihren Willen aufdrängen. Aber das sollte auch dir geläufig sein." Bevor er beleidigt etwas darauf erwidern konnte, fuhr sie bereits fort: "Es gibt gewisse Zeichen, die einem Mann die Erlaubnis geben. Ich werde dich bei Gelegenheit darauf hin weisen, aber das würde jetzt doch zu weit führen und hängt ein bisschen von den jeweiligen Umständen ab."
Um die plötzlich unangenhme Stille zwischen ihnen zu überbrücken, kam Len auf ein anderes Thema zu sprechen.
"Was glaubst du, wie lange wir bei deinem Volk bleiben können? Normalerweise bist du fast jeden Monat einmal nach Jakarta gekommen. Aber ich glaube, es wäre sinnvoller, wenn ich etwas mehr Zeit für die Eingewöhnung und für die Untersuchungen hätte."
Bevor sie zu einer Antwort ansetzte, bestellte sich Sibil noch eine Portion Cendol. Sie liebte dieses süße, kalte Zeug, das in Lens Augen viel zu viel Ähnlichkeit mit Froschlaich und grünen Regenwürmern hatte.
"Wenn sie dich erst einmal in Ihre Gemeinschaft aufgenommen haben, steht es dir völlig frei, zu kommen und zu gehen, wann immer du willst. Sie würden niemanden davonjagen. Es besteht auch keinen Grund, zurückhaltend gegenüber Fremden zu sein. Wie du weißt, gibt es zwar immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen mit anderen Stämmen, aber selbst dabei halten sie sich an strenge Abläufe. Ich hoffe, dass du es trotzdem nie mit ansehen musst. Meistens sind Begegnungen mit anderen Gruppen auch eher friedlich und Anlass zu Feiern. Man tauscht sich untereinander aus."
Len kam nicht mehr dazu, zu fragen, was sie genau austauschten, da der georderte bunte Eisbecher vor sie auf den Tisch gestellt wurde. Allerdings schob er ihn so weit wie möglich in Sibils Richtung und ignorierten den zweiten Löffel. Abgesehen von dem gewöhnungsbedürftigen Aussehen dieser Spezialität, achtete er sehr streng darauf, was er zu sich nahm. Man hatte in Asien nunmal einen ganz anderen Hygiene-Standard und er wollte sich nicht unnötig den Magen verderben. Es würde noch schwer genug im Dschungel werden, sich von so viel unbehandelter Rohkost zu ernähren. Wenigstens war die Auswahl an frischem Obst und Gemüse, wie er wusste, sehr reichhaltig und dank des Klimas gab es auch das ganze Jahr über etwas zu ernten. Man musste sich nur an den Pflanzen bedienen, wenn man Hunger hatte. Unterernährung und dessen Folgen war in diesem Teil gänzlich unbekannt.
Len begnügte sich weiterhin mit der jungen Kokosnuss, dessen Wasser er bereits ausgetrunken hatte und machte sich nun daran, das junge Fruchtfleisch mit einem Aluminiumlöffel aus zu schaben. Dies war eine extrem proteinreiche Nahrung und ersetzte ihm die daheim üblichen Shakes zur Förderung des Muskelaufbaus. Er hatte hier zwar nicht mehr den regelmäßigen Besuch eines Fitnessstudios, aber er verzichte deswegen trotzdem nicht auf ein wenig Training im Appartement, wann immer ihm danach war. Diese Routine würde er sich auch im Dschungel nicht nehmen lassen. Zu einem gesunden Geist gehörte nunmal bekanntlich auch ein gesunder Körper und er würde beides brauchen, wenn sein bisher größtes Projekt mit Erfolg gekrönt werden sollte.
"Nun ist es wohl so weit und es wird sich zeigen, wie gut du dich anpassen kannst."
Sibils Nervosität war regelrecht mit den Händen zu greifen und der schwache Witz stellte einen kläglichen Versuch dar, diese zu überspielen. Sie freute sich sichtlich darauf, endlich wieder die schmutzige Stadt zu verlassen und in die befreiende Welt der Natur zurück zu kehren. Dabei war es eigentlich an Len, nervös zu sei .
"Es wird sich eher zeigen, wie gut du mich vorbereitet hast."
Mit einem kleinen Zwinkern, das untypisch und wohl seine Art war, über die Anspannung der Situation hinweg zu täuschen, griff er nach der schweren Reisetasche, die er zusätzlich zu seinem Trekkingrucksack tragen würde und schloss die Tür ihres Appartments. Da sie beide nicht wussten, wann sie wieder nach Jakarta kommen würden, hatten sie sich dazu entschlossen, das gemietete Zimmer erst einmal aufzugeben und sämtliche Ausrüstung mit nach Bukit Lewang zu nehmen, welches ihre erste Station auf der Reise mit ungewissem Ausgang werden sollte.
Auch wenn er bald davon Abstand nehmen musste, hatte er es sich trotzdem nicht nehmen lassen, die für ihn gewohnte Kleidung bestehend aus Jeans und langärmligen Hemd zu tragen. Noch befanden sie sich schließlich in einem zivilisierten Teil der Welt und sie mussten noch ein gutes Stück mit dem Zug quer über die Insel fahren bevor es richtig in den Dschungel ging.
Sibil hatte ein paar ihrer wenigen bequemen Reisekleider an, die sich überhaupt in ihrem Besitz befanden. Dies gestaltete sich heute als ein weites luftiges Kleid, das keines ihrer körperlichen Reize erahnen ließ. Die langen blonden Haare versteckte sie unter einem für Moslime klassischen Kopftuch. Damit würde sie etwas weniger unter den Einheimischen auffallen.
Es war interessant zu sehen, dass sie verhüllt einen ganz anderen Eindruck machte als er es von ihr innerhalb der Unterkunft gewöhnt war. Sie wirkte auf einmal zerbrechlich, unnahbar und gleichzeitig sehr geheimnisvoll. In diesem Teil Indonesiens war es nicht üblich, dass Frauen alleine auf den Straßen unterwegs waren. Man sah sie als etwas an, das beschützt werden musste. Nur die schamlosen Europäerinnen waren davon ausgenommen und galten - vermutlich durch die westliche Pornoindustrie geprägt - schon fast als Freiwild.
Len fragte sich, wie sie es bisher geschafft hatte, alleine unbehelligt umher zu reisen. Aber vielleicht war sie ja auch gar nicht unbehelligt geblieben, sonst würde sie sich vermutlich jetzt nicht so verstecken. Es war schon traurig, dass sich ein so wildes Geschöpf plötzlich selbst verleugnen musste.
Derlei Gedanken waren ihm neu und er schüttelte über sich den Kopf. Natürlich war es für eine Frau doch nur zu ihrem eigenen Besten, sich zurück zu nehmen und den Perverslingen dieser Welt keine Verlockungen zu bieten. Er kannte schließlich seine eigenen unzüchtigen Fantasien ihr gegenüber nur all zu gut und er gehörte noch zu den gewissenhaften Männern, denen man einen Respekt für die weibliche Bevölkerung anerzogen hatte.
Da musste er bloß einmal an seine süße Elisabeth denken, der er jeden Wunsch erfüllte, um eine zufriedene und dauerhafte Beziehung zu führen, worauf heutzutage nur noch die Wenigsten Wert zu legen schienen.
Aber er besaß eine ziemliche genaue Vorstellung von dem, wie sein weiteres Leben aussehen würde, nachdem er sich erst einmal den nötigen Rang im Berufsleben erarbeitet hatte. Da würde ihn ein Aufenthalt auf unbestimmte Zeit im tiefsten Hinterland und fern ab allen Bekannten auch nicht daran hindern, seine Verlobte eines Tages zum Traualtar zu führen und mit der Gründung einer eigenen Familie zu beginnen, der er Dank seines Status alle Ehre zu machen gedenkte. Dieser kleine Abstecher jetzt müsste als Abenteuer zum Ausleben seiner Neugierde für den Rest seines Lebens genügen.
Derart beflügelt und von sich überzeugt, holte Len mit weiten Schritten aus und ging ungeachtet der steigenden Temperaturen zügig vor Sibil in Richtung Hauptstraße, wo sie sich ein einheimisches Taxi in Form eines umgebauten Pickups heran winken würden.
"Verflucht, was war das?"
Warme Sonnenstrahlen fielen durch die Ritzen der Bambus-Wände herein und heitzten die kleine Hütte bereits kurz nach dem Sonnenaufgang merklich auf. Ein Karomuster aus Licht und Schatten flirrte in der Luft und auf dem Boden, wo dünne Bastmatten ausgelegt waren.
Len befreite sich von den Tüchern, die er sich um den nackten Körper gewickelt hatte gegen die überraschende Kälte der Nacht.
Der durchdringende Schrei eines Affen hatte ihn geweckt. Diese Biester wurden ziemlich dreist und stahlen sich in den ruhigen Stunden gerne etwas Essbares aus dem Dorf. Normalerweise hielt sie der Geruch des Feuers davon ab, die Nähe des Menschen zu suchen, doch es gab einige semiwilde Exemplare unter ihnen, die in Auffangstationen bei den großen Waldbränden landeten und anschließend, nachdem man sie wieder in die Freiheit entlassen hatte, ihre natürliche Scheu vor den Menschen verloren. Diese gerissenen Primaten wussten, wo sich Beutezüge lohnten und teilten dieses Wissen mit ihren Artgenossen.
Für Len war es eine seiner schlimmsten Horrorvisionen, wegen eines Affenbiss in dem tiefsten Hinterland ohne ärztliche Versorgung an Tollwut zu krepieren.
Vielleicht wollte gerade eines dieser teuflichen Bazillenschleudern sein Rudel zusammen rufen und gemeinsam über Lens Behausung her fallen. Wobei er gar keine nennenswerten Vorräte besaß, glücklicherweise, wie ihm endlich einfiel.
Dermaßen um die Ruhe gebracht, war es ihm schließlich unmöglich noch einmal einzuschlafen und er entschloss sich kurzer Hand, aus den trügerischen Schutz seiner Unterkunft zu wagen. Man hörte bereits das Treiben einiger Dorfbewohner durch die dünnen Wände und weil er ihnen immer noch nicht nackt gegenüber treten wollte, legte er vorher seinen obligatorischen Lendenschurz um, was sich mit einer Morgenlatte allerdings gar nicht so leicht bewerkstelligen ließ.
Sein erster Gang würde ihn zum Fluss führen, um sich in dem eisigen Wasser notdürftig zu waschen. Er hatte weder eine Zahnbürste noch einen Rasierer mitnehmen dürfen und so hatte sich sein Gesicht bereits mit einem ansehnlichen Mehr-Tage-Bart überzogen. Was würde er doch für eine heiße Dusche geben und einem ordentlichen Shampoo. Vielleicht könnte er sich gelegentlich einmal ein paar Eimer Wasser über dem Feuer erhitzen und so etwas wie ein beruhigendes Bad nehmen. Aber die Sprachbarriere machte ihm diesen Plan nicht gerade verlockend. Er wollte sich nicht ewig von Sibil als Dolmetscherin und quasi Kindermädchen für alles abhängig machen, daher bestand sein Hauptaugenmerk darin, den melodischen Konversationen der Eingeborenen einen Sinn zu geben.
Wo war Sibil überhaupt? Normalerweise gehörte sie genauso wie ein Großteil der Dorfbewohner zu den Frühaufstehern und begann ihren Tag zusammen mit der Sonne. Heute konnte er sie auf seinem Weg zwischen den Hütten allerdings nirgends sehen. Um sich selbst noch ein wenig mehr Ruhe zu verschaffen, bevor er vielleicht wieder zu irgendeiner komischen Arbeit in der Gemeinschaft eingespannt werden konnte, wählte er eine längere Route über die Wurzeln und Steine des Waldes bis zu einem Hügel.
Der ganze Dschungel schien aus Hügeln zu bestehen. Man lief immer entweder bergauf mit großen Stufen von einem Wurzelwerk zum nächsten oder bergab und musste aufpassen, nicht den Hang hinab zu stolpern. Gerade nach einem Regen verwandelte sich der von Laub überdeckte Boden in eine wahre Rutschpartie, die ganz besonders bei den Kindern Anklang fand, bei Len allerdings in seinen Latschen zu merkwürdigen Verrenkungen führte. Was immer noch besser war, als sich wie all die anderen barfuß der Gefahr auszusetzen, auf irgendwelche giftigen Tiere zu treten. Allein die Ameisen hier konnten die stattliche Größe eines Daumens annehmen. Diese wiederum hätten sich auch leicht an der Rückseite der Baumstämme verborgen halten können, weswegen ihm Nahe gelegt wurde, beim Klettern immer genau darauf zu achten, wo er seine Hand platzierte.
Daher auf jeden vorsichtigen Schritt bedacht, kam Len nur langsam voran und genoss um so mehr den Moment, als er sich eine wunderbare Aussicht erkämpft hatte. Vor ihm lag das dunkelgrüne Tal, durch welches sich ein Fluss schlängelte, der nur durch verstecktes Glitzern zwischen den ausladenden Baumkronen bemerkbar war. Und wenn er genau hin hörte, vermeinte er über all die Vogelrufe und dem ewigen Zirpen der Zirkaden hinweg auch ein Rauschen zu erkennen zu. Diesem Geräusch wandte er sich nun zu und folgte einem fast unsichtbaren Trampelpfad auf dem Bergkamm, vorbei an riesigen, kahlen Stämmen.
Über den Rückweg machte er sich dabei keine wirklichen Sorgen, er müsste nur dem Flusslauf hinab folgen und würde irgendwann an dem Weg zu seinem Dorf heraus kommen.
Er sollte endlich "diesem Dorf" einmal einen Namen geben, schließlich würde es sich auch in den Berichten besser machen. Es galt immer noch als sein auserkorenes Ziel, hinter das Geheimnis des Dschungels zu kommen. Irgendetwas hier musste außergewöhnlich genug sein, um die Urwaldbewohner bis in ein ungewöhnlich hohes Alter völlig gesund bleiben zu lassen. Er hatte sich innerhalb seiner Organisation bis zu dieser besonderen Stellung gearbeitet, wo er das Projekt überwachen durfte und hatte vor kurzem noxh den regelmäßigen Austausch an Daten in Jakarta mit Sibil betrieben bis sie ihn letztendlich an diesem schicksalhaften Morgen mit dem Vorschlag überrumpelte, dass er sie doch persönlich in den Dschungel begleiten könne.
Und nun war er genau dort. Len fand sich zwischen Baumriesen und unbekanntem Gestrüpp wieder und versuchte ewig langen Luftwurzeln auszuweichen, die ihn scheinbar zu erwürgen versuchten auf dem Weg zu irgendeinem Wasserloch, bei dem er mit etwas Glück ankommen würde, bevor sich ein wildgewordener Orang Utan oder Tiger auf ihn stürzte. Die gab es hier tatsächlich noch in freier Wildbahn, genauso wie wilde Elefanten. Jene hatten die Angewohnheit, sich aus Bequemlichkeit eine Schneise den Berg hinunter zu schlagen, indem sie sich auf ihren breiten Hintern setzten und den Hang herab rutschten, womit sie alles platt machten, was ihnen dabei in die Quere kam. So eine Elefantenrutschbahn sah Len unvermittelt vor sich und hoffte nur, dass sie schon älter war. Immerhin machte es ihm den Abstieg ein wenig leichter und er folgte den unübersehbaren Elefantenspuren bis er das verlockende Plätschern von Wasser deutlich vernehmen konnte.
Doch noch bevor er das erwünschte Nass ganz erreicht hatte, vernahm er außerdem Stimmen aus der selben Richtung und so näherte er sich langsamen Schrittes. Man wusste im Dschungel nie, was einen erwartete.
Es waren eindeutig weibliche Stimmen und das helle Lachen von Kindern, aber keine Sprache, die er verstehen konnte, vermutlich ein einheimischer Dialekt. Als Len zu den letzten Büschen gelangte, die ihm den Blick noch verwehrten und daraufhin die Blätter vorsichtig beiseite schob, musste er bei dem Bild, das sich ihm bot, unwillkürlich die Luft anhalten.
Eine Horde von splitterfaser nackten Kindern tummelte sich im knietiefen Wasser eines kleinen Beckens, das von einem schmalen hohen Wasserfall gespeist wurde. Auf den natürlichen Stufen aus Felsgestein an einer Seite saßen ein paar einheimische Frauen und waren mit der Arbeit beschäftigt, Stoffe zu waschen und sich dabei lautstark und gestenreich zu unterhalten. Moosbewachsene Felsen türmten sich zu einer steilen Wand im Hintergrund, die bis zum Himmel ragte. Ein paar wenige Durianbäume reichten bis ganz hinauf, während andere kleinere Bäume die Grotte fast vollständig umwucherten und für die Außenwelt abschirmten.
In der Mitte der so entstandenen Wanne war eine kleine Sandbank aus hellbraunen Steinchen, auf der Sibil in all ihrer Schönheit saß, wie eine dem Wasser entstiegene Waldnymphe.
Ihre nassen blonden Haare klebten ihr auf dem Rücken, wo zahlreiche Tropfen im Sonnenlicht funkelten. Sie hatte sich den Kindern zugewandt und schien sie in deren Spiel noch anzufeuern, während ein fröhliches Lächeln ihr Gesicht erhellte.
Nie zuvor, in seinem ganzen Leben, hatte Len glücklichere Kinder gesehen, als jene hier vor ihm, die aus der Not heraus mit den Produkten der Natur spielten und mit Steinen und Stöcken kreativ wurden. Die Regeln des Spiels offenbartem sich ihm noch nicht, doch es bereitete ihm eine innere Freude, die Ausgelassenheit und Begeisterung zu beobachten, mit der sie sich darauf einließen.
Kurz widerstrebte es Len, diese Idylle zu betreten. Er kam sich wie ein Eindringling in diesem einträchtigen Treiben vor, doch bevor er sich zu einem Rückzug hätte entschließen können, hatte Sibil sich in seine Richtung gedrehte und winkte ihn lebhaft zu sich heran.
Die Frauen unterbrachen weder ihre Arbeit noch ihr Geplauder, als er an ihnen vorbei die wenigen Stufen hinab lief. Seine Fipflop streifte er am Beckenrand von den Füßen und tauchte bedächtig den ersten Zeh ins klare Wasser.
Es war weniger eisig als erwartet und wurde anscheinend von der Sonne bereits etwas erwärmt, doch war es noch weit entfernt von angenehmer Badewanne-Temperatur.
Sibil schien sein Sträuben zu bemerken, da sie ihn aufmerksam beobachtete und flüsterte etwas zu den Jungen in ihrer Nähe.
Noch bevor Len wusste, wie ihm geschah, kam die Schar der kleinen Wildlinge in seine Richtung gestürmt und bespritzten ihn von allen Seiten mit Wasser. Er zog vom ersten Kälteschock überrascht die Luft ein und kniff die Augen fest zusammen. Etwas anderes blieb ihm gar nicht übrig, Gegenwehr war aussichtslos. Als sie endlich mit frechem Grinsen von ihm abließen, blickte er mit einem düsteren Ausdruck unter nassen Locken zu Sibil und kam sich wie ein begossener Pudel vor, dem er optisch vermutlich auch äußerst nahe kam.
Immerhin konnte er sich nun übergangslos weiter in das Wasser wagen und ging mit vorsichtigen Schritten zur Mitte, um ihnen nicht auch noch das Vergnügen zu bereiten, ihn ausrutschen und hinfallen zu sehen. Dort hockte er sich auf die Sandbank und untersuchte neugierig den steinigen Grund.
Die Kinder wandten sich wieder spannenderen Aktivitäten zu und sprangen abwechselnd in das tiefere Wasser vor dem Wasserfall.
Noch immer konnte er den Blick von Sibil auf sich spüren. Sie musterte seine Erscheinung von Kopf bis Fuß und entdeckte dabei neben den weit über den Nacken reichenden Haaren auch seinen wuchernden Bart.
"Wir sollten etwas für dein Erscheinungsbild tun. Es kann doch nicht angehen, dass der werte Wissenschaftler schon nach so kurzer Zeit zu einem Wilden mutiert. Bald würden sie dich glatt nicht mehr von ihres Gleichen unterscheiden können."
Es war in einem neckenden Ton gesprochen und enthielt trotzdem eine treffende Wahrheit. Er wollte sich nicht so sehr gehen lassen und war stolz darauf, im Gegensatz zu den Einheimischen aus einer entwickelten Zivilisation zu kommen. Sein Stand bedeutete ihm viel, worüber hätte er sich hier auch sonst identifizieren sollen, wo er abgesehen von der hellen Haut, genau das gleiche besaß, wie jeder andere Dschungelbewohner.
Er schaute auf seine Finger und nahm den Schmutz unter seinen sonst manikürten Nägeln nur all zu deutlich wahr. Vor seinen Freunden und seiner Familie würde er sich schämen, wenn sie ihn so sehen könnten.
Sibil nahm seine Hand und legte ihm einen Haufen des feuchten, groben Sandes hinein.
"Hier! Du kannst dich damit ganz wunderbar peelen und wirst hinterher wieder eine Haut haben, die sich so zart anfühlt, wie ein Babypopo."
Sie machte es ihm vor und verrieb eine handvoll Kiesel auf ihrem eigenen Bein. Die gebräunte Haut ihres Oberschenkels bekam daraufhin eine gesunde rötliche Färbung, als die Blutzirkulation angeregt wurde, von der sich die kleinen blonden Härchen deutlich abhoben. Seine eigenen Beine sahen eher schmutzigbraun aus mit Verkrustungen in den schwarzen Haaren. Ihm musste eine Menge Dreck beim Laufen in den Schlappen hoch gespritzt sein.
Nachdem Sibil ihn auffordernd angestupst hatte, erhob sie sich und fügte noch hinzu: "Und ich besorge derweil mal eine Machete, mit der wir deinem Gestrüpp Einhalt gebieten können. Es muss sich ja irgendwo darunter noch der ansehnliche Kerl befinden, den ich hier her mitgeschleppt habe."
Sie entfernte sich und ließ einen nachdenklichen Mann zurück, der einmal Lennard Midwest gewesen war. Wer oder was er jetzt war, das wusste er selbst nicht so recht zu sagen.
Er schaute den Kindern noch lange zu, deren unbeschwertes Lachen von den Wänden wider hallte und ab und zu einige Vögel aufscheuchte, die sich lautstark darüber beschwerten. In den hohen grünen Pflanzen raschelte es manchmal deutlich und Len vermutete ein paar neugierige Affen dort.
Der Wald hatte immer und überall Augen und trotzdem bewegten sich die Einheimischen, sogar die jüngsten unter ihnen, völlig angstfrei und selbstverständlich in ihm. Als wären sie ein Teil des Dschungellebens und es wäre ihr gutes Recht, hier zu sein. Nein, sie nahmen sich das Recht nicht einfach, sie respektieren den Wald und wurden deswegen auch von ihm respektiert. Es gab keinen Konflikt, keinen Kampf zwischen Mensch und Natur. Aber es gab auch keine Entwicklung.
Die Eingeborenen waren genauso genügsam wie die Tiere hier und ihnen fehlte jede Motivation, über sich selbst hinaus zu wachsen und die Lebensumstände für sich zu verbessern. Daher hatten sie es nie für nötig gehalten, Nutztiere zu halten oder Pflanzen anzubauen. Sie nahmen nur, was sie fanden und hinterließen nichts als Fußabdrücke.
Auf der einen Seite war es bemerkenswert, dass sie sich fast schon wie Teile eines großen Organismus verhielten und zum Wohle des Ganzen agierten, ohne ein persönliches Ziel zu verfolgen und damit völlig zufrieden waren.
Auf der anderen Seite fragte sich Len, ob er eine solche Anspruchslosigkeit jemals haben wollen würde. Sie verhinderte, neues Wissen zu erlangen, neue Dinge zu entdecken, überhaupt irgendetwas Neues zu tun und sich von Anderen als Individuum durch die eigenen Entscheidungen und Handlungen abzugrenzen.
Aber ist es nicht auch ein besonderer Anspruch, glücklich zu sein, angstfrei und sorgenlos zu leben, unbekümmert der Zukunft entgegen gehen zu können, weil man weiß, was sie für einen bereit hielt?
Lange bevor Len eine befriedigende Antwort auf seinen inneren Disput hätte finden können, hatte sich Sibil wieder an seine Seite begeben und mit Erlaubnis von seiner Seite damit begonnen, seiner ausufernden Haarpracht mit einem kleinen scharfen Stein zu Leibe zu rücken.
Er genoss die Behandlung, obwohl sie nicht ganz schmerzfrei blieb und begnügte sich mit den wichtigen Fragen des Augenblicks.
"Was für ein Spiel ist es, dass die Kinder vorhin gespielt haben?"
Inzwischen waren diese dazu über gegangen, die Felsen hinauf zu klettern und sich unter Anfeuerungsrufen in die Fluten zu stürzen. Was für Len äußerst gefährlich aussah, wurde von den Frauen auf den Steinen nur belächelt.
"Was für ein Fest wird das?"
Len sah sich auf dem großen Platz in der Mitte ihres Dorfes um, wo geschäftiges Treiben von den anstehenden Festigkeiten zeugte. Er wusste, dass man am Abend mit dem Besuch eines anderen Stammes rechnete und es wurden dementsprechend Vorbereitungen getroffen. Bisher hatte er die Einwohner dieser kleinen Siedlung noch nie in derartiger Aktivität gesehen, alles lief zuvor immer sehr bedacht und ruhig ab, was er auf die hohen Temperaturen im Dschungel zurück geführt hatte. Schließlich versuchte man natürlicherweise jede unnötige Bewegung zu vermeiden, wenn sie zwangsläufig zu einem sturzbachartigen Schweißausbruch führen musste.
Heute allerdings schien das schwüle Klima die Begeisterung nicht bremsen zu können und selbst die Älteren bewegten sich auf eine Art zwischen den Holzhütten, die man sonst nur bei den Kindern zu sehen bekam.
Eine kleine Gruppe Frauen war mit Stoffen beschäftigt, die sie anscheinend im Fluss gewaschen hatten und nun zum Trocknen auf die niedrigen Äste einiger Sträucher verteilten.
Eine andere Gruppe von Frauen hatte sich im Kreis zusammen gesetzt und mixte irgendwelche Zutaten in hölzernen Schalen, während sie dabei immer wieder in lautes Lachen ausbrachen.
Die jüngeren Männer schienen von Allen am aufgeregtesten. Sie scherzten und alberten ungewohnt lebhaft miteinander und berührten sich dabei immer wieder gegenseitig an Armen und Schultern.
Von den Männern der Jagdgruppe war hingegen keiner zu sehen, weshalb Len davon aus ging, dass sich diese gerade im Dschungel befanden, um ein paar Tiere zu erlegen und so für den nötigen Gaumenschmaus des Festes zu sorgen.
An die hiesige Nahrung hatte er sich noch immer nicht gewöhnen können. Denn anstatt größeres Wild oder zumindest ein paar von den zahlreichen Paradiesvögeln mit zu bringen, wie man vielleicht vermuten mochte, würde die Ausbeute mal wieder aus einer Sammlung kleinerer Kriechtiere bestehen. Spinnen und Schlangen gehörten zu den Delikatessen des Waldes und wurden mit gerösteten Maden und Käfern abgerundet. Das war zumindest immer noch besser, als sie lebend und zuckend zu verspeisen, wie er es auf den weit verbreiteten Märkten in ganz Südostasien schon gesehen hatte.
Das theoretische Wissen um diese Dinge und die praktische Umsätzung, die ihm in Ermangelung einer Alternative aufgezwungen war, unterschieden sich doch erheblich. Len hätte es sich früher nie träumen lassen, einmal in Mitten der Wilden zu leben und aus erster Hand von den örtlichen Zuständen berichten zu müssen. Doch er hatte sich dazu überreden lassen mit nicht einmal besonders starkem Widerstand - wie er sich eingestehen musste. Die Neugierde war einfach zu groß gewesen und all das Ungewohnte faszinierte ihn wirklich, weshalb Sibil auch nie müde wurde, weitere Erklärungen abzugeben.
"Man kann es in etwa übersetzen mit: Fest der Begegnung."
Sie war an seine Seite getreten und blickte lächelnd auf die Szenerie. Sie sah dies nicht zum ersten Mal und doch erfüllte es sie immer wieder mit ehrlicher Freude, welche sie trotz der äußeren Unterschiede mit den anderen Mitgliedern ihres Stammes teilte.
"Dabei wird es heute Nacht zu einem Austausch kommen. Deswegen ist dies so ein wichtiges Ereignis. Es gibt nicht oft die Gelegenheit dazu, sich mit friedlichen Absichten mit anderen Stämmen zu treffen. Aber der Sohn von Anuka ist inzwischen im Mannesalter und das hat man zum Anlass für die Einladung genommen."
Sie zeigte auf einen der jungen Männer, um den sich die meisten Scherze zu drehen schienen. Er wirkte nervös und fühlte sich offensixhtlich nicht ganz wohl in seiner Haut bei all der Aufmerksamkeit, die man ihm schenkte.
Len verstand immer noch nicht, worum es bei diesem Fest gehen sollte, daher wandte er seine Aufmerksam der Frau an seiner Seite zu und musterte Sibil dabei eingehend. Sie trug genau wie er einen einfachen Lendenschurz, der nur einen winzigen Teil ihres golden gebräunten Körpers bedeckte. Die blonden Haare hatte sie locker in einen Zopf gebunden, aus dem einzelne Strähnen heraus gerutscht waren und mit denen der Wind spielte. Sie strahlte eine Zufriedenheit aus, um die er sie nur beneiden konnte. Zufrieden mit sich und der Welt, barfuss und eingerahmt von den Baumriesen, sah Sibil aus wie ein Produkt des Waldes. Sie gehörte ganz eindeutig hier her und würde nirgendwo sonst so frei sein wie in der ungebändigten Natur.
Ihre Blicke trafen sich und für einen Wimpernschlag war da eine Verbundenheit, die ihn erahnen ließ, was es für Sibil bedeuten mochte, in einer Gemeinschaft zu leben, wo sich ein jeder gänzlich von den anderen angenommen fühlte. Kein Wunder, dass sie diese Menschen als ihre Familie bezeichnete, kannte er das Gefühl der bedingungslosen Zuneigung doch sonst nur von seiner leiblichen Mutter.
Len spürte einen Anflug von Sehnsucht. Hier und jetzt würde er all seinen Besitz und all seine Verpflichtungen aufgeben, um nur für einen kurzen Moment die selbe Unbeschwertheit genießen zu können, die sie im Angesicht ihres Volkes empfand, das ganz darin auf ging, sich auf das kommende Fest vor zu bereiten.
Aus einem Impuls heraus legte er seine Hand auf ihren Arm und stellte die Verbindung damit auch auf körperlicher Ebene her. Aber nur eine Sekunde später kam er sich albern vor und nahm die Hand wieder fort.
Es war das erste Mal während seines Aufenthalts im Dschungel, dass er die Berührung zu einem anderen Menschen von sich aus gesucht hatte und auch wenn er wusste, dass es ihm jederzeit erlaubt war, so bedeute es für ihn doch immer noch mehr als nur eine alltägliche Gester zur Kontaktaufnahme, wie es hier üblich war.
"Die Frauen, die sich zur Verfügung stellen, werden ein rotes Band am Oberarm tragen und damit den Männern des anderen Stammes zu verstehen geben, dass sie für einen Austausch zu haben sind. Das selbe gilt anders herum bei den Frauen, die heute zu uns kommen. Sie werden für die Männern unseres Stammes bereit sein."
Langsam sickerten ihre Worte in sein Bewusstsein.
"Du willst damit sagen, dass heute Nacht die Frauen getauscht werden?"
Sie lächelte in sein schockiertes Gesicht und dann senkte sie ihren Blick beschämt auf den Boden, was eine völlig ungewöhnliche Regung an ihr war. Len hatte sie noch nie schüchtern erlebt.
"Ähm nein, es werden nicht so direkt die Frauen ausgetauscht." Sie räusperte sich, bevor sie leise weiter sprach: "Du kannst dir vielleicht denken, dass in einem kleinen Volk wie dem unseren häufig untereinander geheiratet wird und es schnell zu Problemen mit den Genen kommen kann. Natürlich verstehen die Menschen hier nicht, was für Folgen Inzest auf das Erbmaterial hat, aber sie wissen, dass fremdes Blut dem Stamm zu gute kommt. Außerdem sorgen gewisse Handlungen für ein starkes emotionales Band zu den anderen Völkern. Also, was ich damit sagen will..." Sibil suchte offensichtlich nach den richtigen Worten, wobei es ihm langsam dämmerte, worauf sie hinaus wollte. Unter den in Gruppen lebenden Makaken war es üblich, mit anderen Gruppen regelrechte Orgien ab zu halten, was auf ihre Art eine Friedenserklärung dar stellte. Ein bisschen ungerecht kam er sich allerdings dabei vor, das Urwaldvolk mit Affen zu vergleichen.
"Ich verstehe schon." Erleichtert atmete Sibil auf und schenkte ihm erneut ein kleines Lächeln.
"Und wirst du auch daran teil nehmen?", wollte er noch wissen.
Langsam schüttelte sie den Kopf und ein etwas trauriger Zug legte sich um ihren Mund, so dass er sich beinah wünschte, die Frage nicht gestellt und damit ihre Laune verdorben zu haben.
"In dieser Hinsicht bin ich wohl doch keine von ihnen. Ich gelte als weiße Frau immer noch als die von den Göttern Gesandte und es wäre nicht richtig, mich einem Mann des anderen Stammes hin zu geben. Selbst wenn es für einen guten Zweck wäre, so ist ihrer Meinung nach doch kein einfacher Mensch meiner würdig. Hier bin ich dazu verurteilt, mein Leben als Single zu verbringen." Sie versuchte die Stimmung zu retten und fuhr eilig fort: "Aber keine Sorge, wir werden trotzdem das Fest genießen und jede Menge Spaß dabei haben."
Mit einem Zwinkern forderte sie ihn auf, ihr zu folgen als sie sich auf die fröhliche Gruppe der jungen Frauen zu bewegte und ihnen dort bei ihrer Arbeit zu helfen begann. Dabei gingen ihm ihre letzten mit einem bitteren Unterton gesprochenen Worte nicht mehr aus dem Kopf.
***
Inzwischen war die Sonne hinter den Kronen der Bäume verschwunden und die drückende Hitze des Tages war einer weniger drückenden Hitze des Abends gewichen. Der Dschungel war nach wie vor von den Geräuschen einer mehr als lebendigen Tierwelt erfüllt und dazu mischte sich der stetige Singsang einiger älterer Eingeborenen, die sich im Hintergrund hieiten. Im Mittelpunkt des Festes stand ein riesiges Lagerfeuer, dessen Flammen bis hoch in den Himmel züngelten. Es hatte eine faszinierende Eigendynamik und immer wieder formten sich neue Muster in dem loderndem Feuer. Die von ihm verursachten Schatten tanzten auf dem erdigen Grund und auf den glänzenden Körpern der Menschen, die sich rund herum versammelt hatten.
Da war zunächst ein Kreis aus jungen Frauen, von denen die meisten ein rotes Band am Oberarm trugen und die sich um sich selbst drehend auf der Mitte des Dorfplatzes bewegten, was die zahlreichen Pflanzenketten in Schwung brachte, die sie um Hüften, Bauch und Hals trugen. Ansonsten hatten sie keinen Fetzen am Leib. Aber es war für niemanden hier etwas Besonderes, dass die Frauen nackt tanzten.
Nur einen kleinen Beutel hatten sie an ihrer Seite befestigt und aus diesem nahmen sie gelegentlich eine Hand voll getrockneter und fein zerriebener Kräuter, die sie daraufhin mit einem lallenden Schrei in die Flammen warfen.
Es hatte sich bereits ein durchdringender Rauch über das Dorf gelegt, der das übliche Aroma der Natur überdeckte.
Len beobachtete mit einigem Abstand, was sich vor seinen Augen abspielte und versuchte so viel wie möglich davon in sein Gedächtnis einzubrennen. Wie schon häufig verfluchte er, keine Aufnahmegeräte mit genommen haben zu dürfen.
Seine Aufmerksamkeit wurde dabei immer wieder von einer bestimmten Person in dem Kreis der Feiernden eingefangen. Zwischen all den dunklen Frauen hob sich Sibil mit ihren blonden Haaren und der vergleichsweise hellen Haut wie eine Anomalie ab. Doch ihre geübten Bewegungen und die Selbstverständlichkeit, mit der sie den Umgang zu den Anderen pflegte, bewies, dass sie schon lange ein akzeptierter Teil dieser Welt war - ganz im Gegensatz zu ihm selbst.
Gerade ließ sie eine weitere Rauchwolke entstehen, als das hinein geworfene Pulver knisternd in dem Feuer verbrannte. Der Nebel waberte in immer träger werdenden Schlieren zwischen den Beinen der tanzenden Frauen und vernebelt sichtlich ihre Sinne, da ihre Bewegungen stetig wilder und unkontrollierter wurden. Auch der Gesang im Hintergrund nahm an Tempo zu.
In einem zweiten Kreis standen die jungen Männer von diesem Dorf und einem der Nachbardörfer um die Frauen verteilt. Doch als der Nebel auch sie began einzuhüllen, stimmten sie mit lauter werdendem Klatschen und Rufen in die allgemeine Freudenstimmung mit ein. Sie stampften mit den bloßen Füßen im Takt auf den Boden, an denen sie zahlreiche Bänder befestigt hatten. Auch sie waren nackt bis auf ein paar Schmuckstücke, die wohl ihren jeweiligen Rang im Sozialgefüge präsentierten.
Len war heute der einzige, der sich den sonst üblichen Lendenschurz umgebunden hatte, denn er konnte sich einfach nicht dazu überwinden, auf diesen zu verzichten und damit seinen letzten Schutzwall aufzugeben.
Kinder waren an diesem speziellen Abend nicht auf dem Festplatz erlaubt und Len fühlte sich auf eine gewisse Art geehrt, dass man ihn Zugucken ließ.
Die Schreie der Leute steigerten sich zu einem Crescendo, kurz bevor es plötzlich ab riss und alle in der Bewegung inne hielten.
Len nahm erschrocken einen tiefen Atemzug und bemerkte augenblicklich die Wirkung der verbrannten Kräuter als sein Blick verschwamm und seine Finger zu kribbeln begannen. Ein angenehmes Gefühl breitete sich in seinem Körper aus, während er sich ganz leicht vor kam. Mit federnen Schritten, als würde er auf Wolken laufen, näherte er sich dem Schauplatz, um besser zu erkennen, was nun passierte.
Die Frauen stoben auseinander und schnappten sich jede eine der hölzernen Schalen, die am Rande aufgestellt waren und die mit verschieden farbiger Pasten gefüllt waren, bei dessen Zubereitung Sibil zu früherer Stunde behilflich gewesen war. Auch sie hatte sich eine der Behälter genommen und kam nun mit wiegenden Hüften direkt auf ihn zu.
Er war von dem Anblick so gebannt, dass er nur in den Augenwinkeln verfolgen konnte, wie sich über all auf dem Platz Pärchen zusammen fanden.
Sibil blieb knapp vor ihm stehen und hielt die Schale zwischen ihnen in die Höhe. Ihr Körper war mit einem dünnen Schweißfilm bedeckt, auf dem die Bänder aus Lianen und Blüten klebten. Und ihr Gesicht hatte einen verträumten Ausdruck angenommen. Sie musste von dem dicken Dunst am Feuer regelrecht vernebelt worden sein, doch ihre Worte waren völlig klar.
"Es ist Brauch, dass die Frauen den Männern und die Männer den Frauen schützende und fruchtbarkeitspendende Symbole auf den Körper malen, bevor man dann dazu über geht, für die nächste Generation zu sorgen und dabei das Blut der Stämme mit einander mischt."
Len warf einen Blick in die Runde und konnte sehen, wie sich das Urwaldvolk in lebende Kunstwerke verwandelte. Mit viel Gekicher seitens der weiblichen Beteiligten und ernsten Mienen bei den männlichen, hatte man damit begonnen, zahlreiche Muster und Zeichen in verschiedenen Farben auf die Haut zu bringen. Bei einigen Paaren war es blaue Farbe, bei anderen handelte es sich um Rot oder Okka. Die Schale in Sibils Händen hingegen beinhaltete eine Substanz in Dunkelbraun, die sie extra für ihre hellen Körper gemacht haben musste, wie er feststellte, als sie einen Finger hinein tunkte und einen ersten dunklen Strich auf seine Brust zauberte.
Er verfolgte hoch konzentriert, wie sie mit sicheren Bewegungen weitere Kringel und Schnörkel zeichnete. Dabei konnte er die kühle Farbe im warmen Wind auf seiner Haut trocknen spüren. Er wusste nicht, ob die einzelnen Symbole tatsächlich eine Bedeutung hatten, aber im flackernden Licht des Lagerfeuers funkelten sie magisch und verheißungsvoll.
Bei dieser Tätigkeit kam sie ihm so nahe, dass er neben all den anderen Gerüchen ihren eigenen Duft wahr nehmen konnte. Es war keine wie in seiner Welt übliche Parfümwolke oder das künstliche Aroma von Cremes und Waschmitteln. Stattdessen strömte sie etwas aus, das ihn entfernt an einen Waldsee erinnerte und in ihrem offenen Haar glitzerte das Licht wie auf einer Wasseroberfläche.
"Wir sollten diese Zeichen notieren. Vielleicht lassen sich ein paar Informationen zu dem ganzen Ritual im Internet finden."
"Immer noch ganz der Wissenschaftler?"
Ihrem schelmischen Lächeln zufolge, war es ihr nicht entgangen, dass er seine Unsicherheit mit einem neutralen Gespräch zu überdecken versuchte. Doch statt sich von ihrer Tätigkeit abbringen zu lassen, umrundete Sibil ihn und machte auf seiner Rückseite weiter.
Mit zarten Berührungen, die ihn kitzelten und die Härchen an Armen und im Nacken auf stellen ließ, wanderte ihr Finger die Muskeln seiner Schulterpartie entlang und weiter abwärts über seinen breiten Rücken.
Len konnte nichts weiter tun, als die Augen zu schließen und die Prozedur über sich ergehen zu lassen. Dabei versuchte er, es nicht all zu sehr zu genießen. Doch er konnte vor seinem inneren Auge das Bild nicht abschütteln, wie sie eben noch zuckend vor dem Hintergrund der Flammen in einem wilden Tanz versunken war. Ihr Körper strahlte eine Wärme aus, die er deutlich hinter sich spüren konnte und ihn auf eine wohltuende Art bis in die Knochen kroch.
Als sie sich etwas hinab beugte und auf seine frei liegenden Pobacken zu hielt, packte Len
Ihr Handgelenk und zwang Sibil, zu ihm auf zu schauen. Ihre Augenbrauen waren in einer stummen Frage nach oben gezogen und eine leichte Röte überzog ihre Wangen, die von der Hitze des Feuers kommen mochte oder von einer plötzlichen Unruhe.
"Lass uns ein Stück weiter in den Wald gehen. Ich muss nicht unbedingt mit erleben, was hier demnächst passieren wird. Darauf wird mein Forschungsbericht dann doch verzichten müssen."
Ein wenig verwirrt nahm Sibil die veränderte Atmosphäre im Dorf wahr, auf die er hin wies. Das unbeschwerte Gelächter war tieferem Stöhnen gewichen und die gefärbten Körper befanden sich teils auf dem Boden ineinander verschlungen mit recht eindeutigen Bewegungen. Es war nicht mehr nur beim gegenseitigen Bemalen geblieben und die Gruppe der Dorfälteren hatte sich bereits verabschiedet, um dieses Treiben seinen natürlichen Gang nehmen zu lassen.
Len zog Sibil hinter sich her, als er zwischen den nächsten Bäumen einen Weg suchte. Nach ein paar Metern blieb er vor einem Mammutbaum mit ausladenden Wurzeln stehen und drehte sich etwas schüchtern zu ihr um.
"Darf ich jetzt?" Auffordernd und mit ein wenig Schalk in den Augen wartete er darauf, dass sie ihm die Schale mit der braunen Paste übergab. Dann begann er nachdenklich darin herum zu rühren, bis er sich schließlich entschieden hatte und mit einer Hand Sibils Schultern von ihren Haaren befreite, damit er dort die ersten Zeichen platzieren konnte. Bedächtig ließ er seinen Finger über die empfindliche Haut gleiten und verursachte ihr ein leichtes Kribbeln, dort wo er sie berührte.
Er ließ sich sehr viel Zeit mit seiner Arbeit und zum ersten Mal konnte er ganz ungeniert ihren Körper betrachten, als er mit dem Blick seinen Bewegungen folgte. Sie bot sich ihm als Leinwand an und verbarg dabei nichts vor seinen Augen.
Sie war schlank, geradezu dürr. Doch er konnte unter der streifenlos gebräunten Haut mit den winzigen blonden Härchen die Muskeln erkennen, die sich auf natürliche Weise bei ihrem Leben mit viel Arbeit im Freien gebildet hatten. Die Haut war nicht ganz so weich, wie er es vermutet hätte, sondern eher etwas ledern aber glatt. Alles in allem strömte sie trotz ihres zierlichen Körperbaus eine energievolle Lebendigkeit aus.
Sibil ging ihm etwa bis zum Kinn und war damit wesentlich größer als die meisten Frauen dieses Landes. Trotzdem musste Len sich bald auf ein Knie herab lassen, um mit seinem Gemälde fort fahren zu können.
So nah, wie er ihr war, konnte er sehen, dass sich eine Gänsehaut auf ihrem Körper ausbreitete als sein Atem ihren Bauch traf und die Brustwarzen daraufhin hart wurden. Er versuchte dies genauso zu ignorieren wie das verlockende Büschel krauser Haare etwas weiter unten.
Mit dem Finger seiner rechten Hand nahm er erneut von der Farbe und verlängerte die dunklen Linien in Richtung Oberschenkel. Aus einem plötzlichen Impuls heraus tauchte er die ganze Hand in die Paste und klatschte einen braunen Handabdruck auf ihren runden Hintern.
Mit einem erschrockenen Quietschen machte sie einen kleinen Satz nach vorne und fiel fast in seine Arme. Len konnte sich gerade noch am Boden abstützen und hielt Sibil mit der anderen Hand an der Hüfte fest. Sie krallte sich ihrerseits in seine Haare.
Doch anstatt Verärgerung, konnte Len etwas ganz anderes in ihrem Gesicht lesen, als sich ihre Blicke trafen. Sibil kniete sich ebenfalls nieder, um mit ihm auf einer Höhe zu sein, dabei kam sie beinah auf seinem Schoß zu sitzen.
Die unverhüllte Leidenschaft in ihren Augen traf ihn fast wie einen Schlag in die Magengrube.
Sibil nahm seine Hand von ihrer Hüfte und führte die noch immer mit Farbe verschmierten Finger an ihren Mund, ohne ihn dabei für einen Moment aus den Augen zu lassen. Sie verteilte etwas von dem Braun auf ihren Lippen, bevor sie einen seiner Finger bewusst langsam und aufreizend in ihren Mund schob und dort mit der Zunge umspielte. Dies verursachte Len ein Blitz, der direkt in seine bereits pochende Lende fuhr und ein tiefes Grollen entrang sich seiner Kehle.
Mit einer ruckartigen Bewegung entriss er ihr seine Hand, legte sie statt dessen auf ihren Hinterkopf und zog ihre verführerischen Lippen grob zu sich heran. Er kostete von der erdigen Paste, die noch andere Substanzen enthalten musste und ihm einen bitteren Nachgeschmack von undefinierbaren Kräutern verursachte.
Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen waren, fanden sich Len und Sibil eng aneinander gedrückt in einer stürmischen Umarmung auf dem Laub wieder. Der wenige Stoff seines Lendenschurzes so wie die verschiedenen Bänder, die zuvor noch um ihren Oberkörper geschlungen waren, befanden sich irgendwo abseits. Nichts trennte sie von einander und nicht einmal Luft passte noch zwischen ihre Körper.
Len kostete von ihrer Haut und schmeckte den warme Sonnenschein, den sie tagtäglich in sich aufgesogen hatte. Der Geruch des frischen Waldbodens vermischte sich mit ihrem Aroma und berauschte seine Sinne noch zusätzlich. Er hatte das Gefühl, ein Stück der Natur zu liebkosen.
Seine eigene noch leicht gerötete Haut war durch den kaum abgeklungenen Sonnenbrand hoch sensibel und jede Berührung brannte sich in seine Nerven. Als Sibil mit ihren Nägeln seinen Rücken entlang fuhr, konnte er ein Stöhnen nicht unterdrücken. Dadurch angestachelt wiederholte sie die süße Folter immer wieder und hinterließ schmale rote Striemen, wo sie seinen Körper erkundete.
Die allgegenwärtigen Geräusche des Dschungels aus raschelnden Blättern, Knistern im Unterholz, Zirpen von Insekten und gelegentlichen Tierlautem verschmolzen zu einem steten Hintergrundrauschen. Stattdessen konzentrierte Len sich auf den wunderschönen Klang ihrer stoßweisen Atmung und die kleinen Seufzer, die er ihr entlocken konnte.
Ein schwacher Rest des Fackelscheins drang vom Dorfplatz bis zu ihnen durch und zauberte hypnotisierde Muster aus goldenem Licht auf ihre Körper, die sich hell von dem dunklen Untergrund abhoben. Der grüne Wald bot ihnen einen warmen Kokon, der sie von der restlichen Welt abschirmte. Hier im Herzen des Dschungels waren sie allein mit sich und den Geistern. Es gab nichts mehr, das sonst noch zählte als nur das Jetzt mit all seinen Empfindungen.
Und die Sinne waren bis zum Rand angefüllt.
Len zwang sich, einen Moment inne zu halten und suchte den Blickkontakt zu Sibil, um dann minutenlang in dem leuchtenden Blau ihrer Augen zu versinken. Es fühlte sich so erstaunlich richtig an, durch diese Nähe zwischen ihnen eine Verbindung her zu stellen. So als wäre es das natürlichste der Welt, dass sie sich als Mann und Frau einander begegneten. Und vermutlich war es das auch: die Natur des Menschen, über die er mit all seinen wissenschaftlichen Errungenschaften doch nie triumphieren konnte.
Und in diesem kurzen Moment der Klarheit beschloss Len, sich darauf ein zu lassen und nicht nur dem Rausch des Augenblicks zu erliegen. Woraufhin er erneut in einen Strudel der Leidenschaft fiel und das Denken bewusst für die nächste Zeit abstellte.
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Sein Geist arbeitete im Leerlauf und wollte einfach nur dieses Gefühl auskosten, das ihn in einen dämlich lächelnden, wunschlos glücklichen Idioten verwandelte.
Lens Arme fielen schlaff neben seinen Körper, der sich wie nach einem Marathon anfühlte und nur langsam den Puls in normale Bahnen abklingen ließ.
Doch das Gefühl der Zufriedenheit blieb.
Er drehte seinen Kopf und schaute in das Gesicht neben ihn, aus dem er die selbe offen zur Schau getragene Glückseligkeit lesen konnte. Sibil hatte sich dicht neben ihn gelegt, so dass ihre Arme und Beine sich auf breiter Fläche berührten.
Die dunkelbraunen Muster auf ihrer beiden Körper hatten sich erstaunlicherweise kaum verwischt. Es sah aus wie ein Tattoo des Waldes und für einen kurzen Gedanken lang, wünschte Len sich, in die Gemeinschaft des Urwaldvolkes aufgenommen zu werden. Und nicht einmal die schleichende Erkenntnisse, dass sie gerade keinen Moment lang an Verhütung gedacht hatten, konnte ihn verunsichern.
"Geht das auch wieder ab?" Mit vorsichtiger Geste, strich Len ein paar der Linien entlang.
Er bekam dafür ein alles überstrahlendes Lächeln von Sibil, aber keine Antwort, was ihn ein wenig unruhig werden ließ. In einem neuerlichen Versuch, der Stimmung etwas von seiner Schwere zu nehmen, fuhr er mit weiteren Fragen fort: "Hab ich jetzt etwas Göttliches geschändet? Ich muss doch keine Rache von deinem Dorf befürchten, oder?"
Langsam erhob sich Sibil und schaute sich noch eine Weile unumwunden an, wie Len dort fast bis zur Bewusstlosigkeit erschöpft im Schatten des Urwaldbaumes lag.
Er versuchte sich auf einen Ellenbogen zu stützen.
"Wie kann man es nur auf Dauer in dieser Hitze treiben, ohne an einem Herzinfarkt zu sterben? Da sind mir klimatisierte Räume mit kühlen Laken schon sehr viel willkommener, um dem Liebesakt zu fröhnen."
Sie wussten beide, dass dies nicht stimmte und Sibil gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den nackten Hintern, nachdem sie ihm hoch geholfen hatte.
"Du bist nur nichts Gutes gewohnt. Wir sollten ein wenig an deiner Ausdauer üben."
Obwohl das sehr stark nach einer Beleidung klang, konnte Len doch ein Versprechen in den Worten von Sibil erkennen und nickte eifrig seine Zustimmung in Ihre Richtung. Daraufhin vernahm er ein echtes, glockenhelles Lachen und konnte dem Impuls nicht widerstehen, sich ihre Hand zu schnappen.
So liefen sie den restlichen Weg zum Fluss in einträchtigem Schweigen und mit nichts als dem Kostüm aus dem Garten Eden auf der Haut, so wie Gott sie geschaffen hatte und so wie es sich hier in der ungeschminkten Natur gehörte.
"Warum hast du dich überhaupt dazu entschlossen, diesem ganzen Projekt zuzustimmen?"
Sibil hatte sich auf einen großen überspülten Stein in die kalten Fluten gelegt und ließ die Strömung die Reste ihres Liebesaktes hinfort waschen, nachdem sie sich die braune Körperbemalung bereits von der Haut geschrubbt hatte. Dabei genoss sie den Kontrast zwischen der warmen Luft und der ungewohnten Kälte, die ihre Glieder schnell taub werden ließ.
Der Mond glitzerte in tausend Spiegelungen auf dem Wasser und spann eine ganz eigentümliche Atmosphäre in diesem Waldabschnitt, wo kein Blätterdach den Blick auf den sternenverhangenen Himmel verhüllte.
Len hockte am steinigen Ufer und auch auf seiner Haut perlte das Wasser, die nassen Haare wirkten tief schwarz. Er sprach leise, doch das tiefe Timbre seiner Stimme hob sich deutlich von den Geräuschen der Umgebung ab, so dass Sibil das Gesicht in seine Richtung drehte. Sie wusste nicht so recht, worauf er hinaus wollte und dachte noch über die Frage nach.
"Du hast ein Leben hier. Zusammen mit deiner Familie, die ein ganzes Dorf umfasst, kannst du dich in Freiheit bewegen ohne irgendwelche Verpflichtungen oder dir Sorgen um die Zukunft machen zu müssen.", er machte eine Handbewegung, die den gesamten Dschungel mit einschloss. "Also warum gehst du regelmäßig wieder nach Deutschland und was nützt es dir, die Forschung zu unterstützen?"
Sibil setzte sich auf, um Len direkt in die Augen sehen zu können. Auch über die Distanz hinweg, laß sie den eindeutigen Zweifel in seinem Gesicht.
"Verstehe mich nicht falsch. Ich finde es bemerkenswert mit welcher Geduld und Akribik du unseren Wissensdurst mit immer mehr Informationen zu stillen versuchst. Aber es scheint mir inzwischen wie ein unmögliches Unterfangen. Diese Welt unterscheidet sich schon in ihren Grundsätzen so sehr von unserer, dass ich zu bezweifeln wage, dass ein Mensch des Westens sie jemals gänzlich begreifen kann. Ich bin nun selbst schon wie lange hier? Schon fast ein halbes Jahr. Und noch immer verstehe ich es nicht."
Sein Blick war in die Ferne geschweift, als würde er versuchen dort im Dschungel einen Hinweis zu erblicken. Das Fest der Erkenntnis war nur der letzte Höhepunkt einer Reihe von neuen Erfahrungen, die Len schwerlich zu verarbeiten vermochte. Bei dem Urwaldvolk musste er sich täglich weiteren Überraschungen stellen, dabei hätte er gedacht, dass ihn inzwischen nichts mehr so leicht verunsichern konnte. Er hatte schon so einiges mit ansehen müssen, das nicht in sein eigenes Weltbild passte, von den ungewöhnlichen Spielen der Kinder und der quasi nicht vorhandenen Privatsphäre bis zu blutigen Ritualen, die am Ende neue Tattoos oder Babies hervor brachten.
Er konnte sich den Taten auf wissenschaftliche Weise nähern und sie mit dem logischen Verstand zu ergründen versuchen, aber die Mentalität dahinter und ihre Art des Denkens, blieb ihm völlig rätselhaft.
Sibil kletterte unterdessen über die glitschigen Steine im Flussbett und zog Len schließlich auf die Beine, damit sie sich gegenüber stehen konnten.
"Du denkst zu viel!", war ihre schlichte Antwort. Dann legte sie eine Hand auf seine Brust, deren Wärme zügig das Blut in Ihre steifen Finger zurück brachte.
"Du wirst die Geheimnisse des Dschungels nur mit dem Herzen ergründen können und dann wirst du schlussendlich auch mich verstehen."
Diese scheinbar leere Floskel genügte Len nicht. Sie warf mehr Fragen auf, als dass sie ihm in irgendeiner Weise gerade nützlich erschien.
Mit einem leichten Lächeln begann Sibil einen Finger auf seiner Brust kreisen zu lassen und spielte selbstvergessen mit seiner spärlichen Behaarung.
"Was würdest du denn sagen, warum ich mit dir Sex hatte? Hast du dir diese Frage auch gestellt?"
Ehrlich gesagt, hatte er das nicht und dieser Themenwechsel verwirrte Len, so dass er gerade keinen klaren Gedanken fassen konnte.
Sibil küsste ein paar der Wassertropfen von seiner Haut und schmeckte die leicht salzige Note darin.
"Nein, du hast meine Absichten nicht hinterfragt und es stattdessen einfach genossen, was ich zu geben hatte und dass ich bereitwillig von dir genommen habe. Manchmal sind die egoistischsten Handlungen gleichzeitig die uneigennützigsten. Wie will man da eine konkrete Absicht aus machen?"
Wie zum Beweis ihrer Worte, näherte sich Sibil mit ihren Lippen in einer eindeutigen Geste seinem Gesicht. Und ohne darüber nachdenken zu müssen, kam Len ihr auf halbem Weg entgegen. Als sich ihre Münder mit einem unsagbar zartem Gefühl berührten, umfasste er instinktiv ihre Wangen und es begann ein liebevoller Tanz. Sie knabberte an seiner Unterlippe, sog sie sanft in ihren Mund und fuhr dann mit der Zunge über die feuchte Linie, wo die Schleimhaut begann. Er erwiderte das Spiel mit seiner Zunge und die Berührung der Spitzen sandte kleine elektrische Stöße in ihre Körper, als wäre der Stromkreis zwischen ihnen plötzlich geschlossen und verbannt sie so zu einer energetischen Einheit.
Sie pressten auch die übrige Haut aneinander und versuchten sich an möglichst vielen Stellen gleichzeitig zu berühren. Sibil schlang die Arme um seinen Nacken, während er seine auf ihren schlanken Rücken legte und sie mit den breiten Handflächen an sich drückte.
Es war ein ausgeglichenes Geben und Nehmen an Sinneseindrücken. Beim Versuch, sich selbst das Gefühl der Berührung zu verschaffen, gab man dem Anderen die selbe Empfindung zurück. Das höchste Glück des Teilens konnte man nicht alleine genießen.
Das verstand Len plötzlich auf einer gefühlsmäßigen Eben, denn sein Verstand hatte sich bereits völlig verabschiedet.
Als sie sich lange Zeit später von einander lösen konnten und sich schweratmend in die erhitzten Gesichter schauten, sah jeder in den Augen gegenüber das eigene Funkeln gespiegelt.
"Wer weiß. Vielleicht habe ich es gemacht, um dich kennen zu lernen und hier her zu bringen."
Über diese Worte konnte Len nur den Kopf schütteln, aber er unterließ eine Erwiderung. Er glaubte weder an das Schicksal noch an irgendeine Kraft, die ihn auf einen unsichtbaren Weg lenkte, um höhere Ziele zu erreichen.
Wie hätte Sibil sich also der Forschungsgruppe anschließen können mit der Absicht, dass sich diese Arbeit dahingehend entwickeln würde, genau an diesem Punkt zu landen.
Aber er wusste den Augenblick zu genießen und das beste aus dem zu machen, was sich gerade bot, und deswegen verbot er es sich für den Moment, noch weiter in Grübeleien zu versinken.
Bei den ersten Schritten über die Steine, fiel ihm schmerzlich ein, dass seine Sandalen noch irgendwo zusammen mit dem Lendenschurz auf dem Waldboden liegen mussten. Aber die Suche danach wurde bis zum hellen Tag aufgeschoben, da er nichts sehnlicher erwarten konnte, als endlich einmal an den warmen Körper von Sibil geschmiegt einzuschlafen. Alles andere war gerade unwichtig und in der Zukunft würde es vielleicht auch keine Gelegenheit mehr dazu geben. So hatte der Dschungel ihn auf eine gewisse Art gelehrt, sich über das Hier und Jetzt zu freuen.
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2017
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich habe viele meiner eigenen Erfahrungen mit Indonesien einfließen lassen, aber eine große Inspiration zu der Geschichte und zu meinen Reisen stellte das autobiografische Werk "Dschungelkind" von Sabine Kuegler für mich dar.
Das Buch sowie die Verfilmung kann ich jedem nur empfehlen, der sich für die Lebensweise und die Philosophie von Naturvölkern interessiert.