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Geburt eines Schutzengels

Derweil es draußen merklich kühler wurde und die Hektik des Tages in die Geschäftigkeit des Abends überging, war es im Haus angenehm still. Doch die untergehende Sonne zauberte ein Spiel aus Licht und Schatten an die Wände, welches die Zimmer zu neuem Leben erweckte.

Es standen nur noch wenige Möbel herum, die mit ehemals weißen Tüchern abgedeckt waren, um wenigstens einen kleinen Schutz vor dem allzu schnellen Verfall zu bieten. 

In den Falten der Stoffe und in jeder Ecke des Gemäuers hingen zahlreiche Spinnweben, die im Zwielicht der Dämmerung rot funkelten. 

Staub hatte sich als dicke Schicht über alles gelegt und bewies in seiner Unberührtheit, dass schon lange niemand mehr in diesem Gebäude wohnte. Nur kleinere Tiere hatten ein paar Spuren hinterlassen. Aber nun wo die Nacht langsam herein brach, waren auch die letzten Besucher verschwunden und ein zeitloser Frieden breitete sich über die Räumlichkeiten aus.

Es musste ein ursprünglich prunkvolles Herrenhaus gewesen sein, dessen Glanz vergangener Tage spiegelte sich noch in dem abblätternden Stuck an den Decken und den Fensternieschen. Bunte Überreste ließen die Verzierungen erahnen, welche früher eine ganze Schaar von Künstlern in Anspruch genommen haben musste. Unter den Tüchern mochten sich noch wahre Kunstschätze verbergen von antikem Wert.

 

Als wenn dieser Anblick vergangener Schönheit an sich nicht schon etwas Magisches gehabt hätte, lag plötzlich eine verheißungsvolle Spannung in der Luft, welche die Staubteilchen vibrieren ließ, als nur noch einzelne Strahlen durch die riesige Fensterfront bis ins Innere vordrangen. Beim Erlöschen des letzten Tageslichts, begannen die unzähligen Ornamente an den Wänden zu leuchten und eine elektrisierende Kraft ging von ihnen aus, die das gesamte Haus unter Strom zu setzten schien und die Kühle von draußen fern hielt.

 

Dies war die eine besondere Nacht im Verlauf der Planetenzyklen um die Sonne, wo die Bahnen von Uranus, Saturn und Neptun diese mächtigen Wächter über die Reiche gleichzeitig hinter den Horizont zwangen und sich so das Anwesen vor deren Augen verbarg. Es war der eine Moment, wo die Grenzen zwischen den Welten unbewacht blieben und es den Seelen möglich war, über die Schwellen hinaus zu treten. Eines der Tore lag nun genau in diesen Räumlichkeiten, dessen Vorbesitzer sich ein solches Schauspiel wohl nie hätten erträumen lassen, als sich jetzt ein vor langer Zeit geleisteter Schwur zu erfüllen begann.

Ein Versprechen, das, würde es nach den begrenzten Regeln des menschlichen Verstandes oder den einst erlassenen Gesetzen der Götter gehen, unmöglich einzuhalten wäre.

Doch hier und jetzt lichteten sich die Gefängnismauern, die eine zuvor verdammte Seele auf ewig in der Hölle hatte festhalten sollen. Und es trat ein Geschöpf zurück in die Welt der Sterblichen, die es eigentlich für immer verlassen hatte. Allerdings nicht ohne vorher den Eid geleistet zu haben, den es nun einzuhalten galt.

 

Während sich die Tücher im Raum von einem Wind aufbauschten, der von Jenseits dieser Zeit herüber wehte, tauchten die Leuchtzeichen an den Wänden das vorher fast in Dunkelheit versunkene Haus in ein silbriges Licht, welches keinen Schatten warf. 

Einzig ein dunkler Punkt in der Mitte des Hauptsaales blieb unbeleuchtet. Wie eine schwarze Anomalie schwebte er in der Luft und zerriss den Schleier zwischen den Dimensionen. Von diesem Fleck aus griffen dunkle Finger in den Raum hinein, verdichteten sich mit jedem Zentimeter ihres Vorankommens zu neuer Substanz.

Gierig bemächtigte sich die einbrechende Seele der Energie, die überall zirkulierte und presste die freie Materie zusammen, um sich eine neue Form zu geben. Zu lange schon war es in seiner gestaltlosen Existenz von dem Lebensfunken abgekapselt gewesen, als dass es sich nun nicht an dem Eindruck berauscht hätte, sich endlich wieder lebendig zu fühlen. Die Luft um ihn herum war voll von Leben, genährt aus einer unerschöpflichen Quelle, aus der sich die verschiedenen Wesen dieser Welt ganz natürlich und ohne ihr bewusstes Zutun bedienten. 

Doch für ihn glich es einem Wunder, dies erneut erleben zu dürfen, was früher einmal das Selbstverständlichste gewesen war. Selten weiß man etwas zu schätzen, solange man dessen Verlust noch nicht erahnt. Er kannte das Gefühl des Verlustes nur all zu gut, nachdem ihm seine eigene Unbedachtheit zum Verhängnis geworden war.

Die Erinnerungen an sein ehemaliges Leben fielen mit plötzlicher Wucht über ihn her, die sein neu erlangtes Gehirn kaum zu verarbeiten wusste. Sein frisch geborener Körper krümmte sich unter den ungewohnten Empfindungen. Die noch nie verwendeten Nervenbahnen entluden ein Feuerwerk an Eindrücken in seinem Kopf und die wenigsten davon kamen aus der Gegenwart.

Denn im Haus war es noch immer still und nun auch komplett finster, nachdem sich die Gestalt eines Mannes aus den dunklen Umrissen geschält hatte und mit seiner Anwesenheit das Leuchten beendete. Der Übergang war vollzogen und die Energien dieses Ortes flossen wieder in den normalen Bahnen. 

Nur in seinem menschlichen Körper kam die Aufruhr nicht zum erliegen. Er sah Bilder von vergessen geglaubten Momenten, als er noch ein sorgloses und unbedarftes Leben hatte führen dürfen. Eine Zeit, die angefüllt war mit den einfachen Sorgen und Genüssen des Alltags. Bis zu dem entscheidenden Augenblick, als sich alles veränderte und er sein weiteres Schicksal besiegelte mit dem Mord an einem unschuldigen Mädchen. 

 

Noch während sie in seinen Armen langsam verblutete und ihre Augen ihn verständnislos angesehen hatten, wurde ihm die Tragweite seines rücksichtslosen Handels bewusst. In nur einem Wimpernschlag hatte er sich die ewige Verdammnis verdient und nichts hätte sein Tun rechtfertigen oder gar gut machen können. 

Ihm war es selbst überlassen geblieben, ob er mit diesem Wissen sein Leben weiter führen wollte und vielleicht genießen, was noch zu genießen möglich wäre; oder ob er sich dem Urteil der Götter stellte und die Strafe sofort antrat, anstatt das Unvermeidliche hinaus zu zögerm.

Als er in das Antlitz des Kindes, dessen Namen er noch nicht einmal wusste, schaute und erkannte mit welcher Leichtigkeit er sowas wertvolles und zerbrechliches wie das Leben genommen hatte, da wuchs eine neue Entschlossenheit in ihm heran. 

Nie wieder durfte ihm etwas dergleichen passieren und sei es auch nur wie jetzt im Rausch des Krieges, als er wie zahlreiche seiner Kameraden beim Überfall auf das gegnerische Dorf nicht völlig zurechnungsfähig war. 

Es gab nichts, das dieses Verbrechen hätte rückgängig machen können. So einfach das Töten auf der einen Seite war, so konnte er hingegen dem Mädchen nicht wieder Leben einhauchen.

Doch im letzten Moment, den sie noch mit Bewußtsein auf der Erde verbringen durfte, gab er der namenlosen Gestalt ein Versprechen. Er würde für seine Tat büßen und sich freiwillig in die Flammen der Hölle stürzen bis er eine Möglichkeit fand, sei es durch die Gnade der Götter oder durch den reinen Zufall, um in diese Welt zurück zu kehren. Und von diesem Zeitpunkt an würde er immerfort sein Möglichstes tun, um den Menschen auf ihren Lebenswegen beizustehen. Dafür wäre er bereit seine eigenen Ziele zu opfern und solange es Menschen geben möge - möge es auch bis in alle Ewigkeit andauern - auf die Rückkehr in den Zyklus der Inkarnation zu verzichten. 

Diesen heiligen Schwur besiegelte er mit seinem eigenen Blut, das sich auf dem Boden mit dem Blut seines unfreiwilligen Opfers mischte. 

 

Und nun endlich war die Zeit angebrochen, in dem es ihm gegeben sein sollte, Stück für Stück einen Teil seiner Schuld abzutragen. 

Er wurde zu einem der vielen zeitlosen Kreaturen in unserer Welt, die als Beschützer unerkannt und ohne Lohn zwischen den Menschen wandeln, um diesen mit kleinen und großen Gesten dabei zu helfen, ihre eigenen Probleme besser zu bewältigen und letztendlich ihrem jeweiligen Pfad zu folgen.

Manchmal tat schon sein Lächeln einen wesentlichen Beitrag und manchmal musste er den Leuten dabei helfen, die vielen nützlichen Zeichen am Wegesrand als das was sie waren zu erkennen. Immer aber blieb er der Fremde und immer würde er es bleiben.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.12.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet den zahlreichen Wundern, die wir oft unbemerkt als selbstverständlich hinnehmen ohne zu ahnen, was dahinter steckt.

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