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"Du wirst in diesem Leben kein Glück finden! ... Aber bald schon gehst du auf eine Reise ohne Wiederkehr! ... Hab keine Angst, der Tod ist nicht das Ende, sondern nur ein Grenzstein auf deinem Weg. Er markiert den Punkt, an dem du dein bisheriges Sein von dir abstreifen musst, um rein und unverbraucht in das neue Leben geboren werden zu können."

Kristin entzog der Zigeunerin ihre Hand und unterbrach deren Redefluss damit unwirsch. Dann drückte sie der alten Frau einen Geldschein zwischen die knöchernen Finger und ignorierte geflissentlich ihren verletzten Blick. 

Was hatte sie sich nur dabei gedacht, von einer dahergelaufenen Bettlerin etwas aus den Falten lesen zu lassen. Diese hatte doch sicher nur artig ihren einstudierten Text aufgesagt, selbstverständlich nicht ohne ihr vorher bedächtig über die Handfläche zu fahren und dabei bedeutungsschwere Silben vor sich hin zu murmeln. Da zeigte sich wieder, wie unklug es war, einer plötzlichen Eingebung zu folgen noch bevor der Verstand Gelegenheit hatte, sich einzumischen.

Dabei hatte sie eigentlich gar keine Zeit für solche Abstecher. Ihre beste Freundin wartete sicher schon ungeduldig auf sie. Zumindest bezeichnete Kristin sie vor anderen gern als ihre beste Freundin und versuchte sich beharrlich einzureden, dass diese Einschätzung ja vielleicht doch auf Gegenseitigkeit beruhte. 

Aber die Wahrheit war: Sie sahen sich höchstens ein paar Mal im Jahr und dann fielen sie sich auch nicht gerade um den Hals, sondern brachten lediglich den Anderen auf den aktuellen Stand der Dinge.

Irgendwie schien es, als gäbe es jedesmal weniger zu erzählen. Obwohl es wohl bloß weniger wurde, was man dem Anderen erzählen wollte. Aber außer ihr gab es nun mal keine Freunde in Kristins Leben und so freute sie sich nun doch einigermaßen auf das Wiedersehen. 

 

Wieso öffnete sie das Ding überhaupt? Bestimmt steht mal wieder darin, wie toll doch alles ist oder dass zumindest alles gut wird. Man könnte ja auch schlecht der Kundschaft eine Hiobsbotschaft unter das Essen mogeln. Immerhin sollen sie mit einem guten Gefühl das Restaurant verlassen und gerne wieder kommen.

Mit einem Seufzen knackte sie den Glückskeks entzwei, ließ die Krümel auf den Unterteller bröseln und entfaltete den kleinen weißen Papierschnipsel, der darin zum Vorschein kam.

"Merkwürdig. Das scheint eine Niete zu sein. Auf dem Zettel steht gar nichts." 

Gedankenversunken drehte Kristin das weiße Stück noch ein paar mal zwischen ihren Fingern und zeigte ihn schließlich von beiden Seiten ihrer Freundin. Aber tatsächlich blieb es ohne jedes Wort.

"Vielleicht ist das eine Nachricht in Geheimschrift.", kicherte diese. "So wie es früher in den Comics für Möchtegerndetektive beschrieben stand. Wir sollten ihn mal übers Feuer halten oder in Wasser tauchen."

Auch wenn der Vorschlag nicht ernst gemeint war, schaute Kristin nun etwas neugieriger auf den mysteriösen Glückskeksinhalt. Sie unterdrückte den kurzen Impuls, ihn in den Aschenbecher zu knüllen, wo er zweifellos hingehörte, und steckte ihn sich stattdessen in die Hosentasche. Im Stillen nahm sie sich vor, ihn später nochmal genauer zu untersuchen.

 

"Glaubst du an das Schicksal?"

Fast verschluckte sie sich am Kaffee, so unerwartet kam dieser plötzliche Themenwechsel. Aber ihr Gegenüber beachtete die Reaktion nicht, sondern konzentrierte sich weiterhin auf einen imaginären Punkt in der Ferne oder vielleicht auf ein Bild aus der Erinnerung, das nur sie sehen konnte.

Solche Fragen waren eher untypisch für ihre Unterhaltungen. Normalerweise beschränkten sie sich auf den Informationsaustausch über Arbeit und Privatleben, die Planung der nächsten Tage und gelegentliches Schwelgen in der gemeinsamen Vergangenheit. 

Sie kannten sich seit der 9. Klasse, als ihre beiden Schulen wegen Sparmaßnahmen zusammengelegt wurden. Damals hatten sie sich natürlich sehr viel häufiger gesehen bis schließlich nach dem Abschluss jeder seiner eigenen Wege gegangen war und man nur noch sporadisch den Kontakt hielt, um der guten alten Zeiten Willen - oder einfach weil es schön war, wen von früher zu kennen.

"Mir gefällt der Gedanke nicht, dass jemand oder etwas über mein Leben bestimmt. Da könntest du auch gleich fragen ob ich an Gott glaube. Und nein, das tue ich nicht. Die Zukunft ist viel eher ein unbeschriebenes Blatt, so wie der komische Zettel aus dem Keks."

Jetzt blickte die Freundin ihr nachdenklich ins Gesicht, verarbeitete kurz die Antwort und erwiderte schließlich: 

"Und wenn du es selbst wärst? Ich meine sowas wie Gott oder der Schriftsteller deiner Zukunft. Und du dein Schicksal selbst bestimmst, aber es nur nicht weißt?"

"Dann hätte ich mir doch wirklich ein besseres Leben vorherbestimmt." Kristin schnaufte verächtlich. "Entweder war ich zu dem Zeitpunkt der Planung extrem masochistisch oder einfach nur dumm. Wieso sollte ich mir sonst so ein Dasein gewünscht haben?"

Es war keine wirkliche Frage, zumindest keine auf die man hätte eine Antwort geben können. Es verdeutlichte nur ihre Enttäuschung vom Leben, die sie zu einem äußerst zynischen Menschen hatte werden lassen. Aber meistens schaffte Kristin es erfolgreich diese Seite vor Anderen zu verbergen und eine fröhliche Miene aufzusetzen, während sich in ihrem Inneren die klaffende Leere weiter ausbreite, von der sie schon lange nicht mehr glaubte, dass sie irgendwann von etwas Anderem ersetzt werden würde.

Plötzlich legte die Freundin eine Hand auf ihre, beugte den Kopf etwas in ihre Richtung und schaute ihr tief in die Augen. Es war eine verwirrende Geste, völlig ungewohnt in ihrer Vertrautheit.

"Weißt du denn, ob du dein Schicksal überhaupt schon erfüllt hast? Vielleicht wartet es ja die ganze Zeit darauf, dass du dich ihm endlich annimmst."

Nach einem kurzen und intensiven Blickkontakt versteifte Kristin sich.

"Wenn es Schicksal ist, wie sollte ich mich dem dann widersetzen? Dann müsste es doch auch ohne mein Zutun geschehen. Also entweder es ist mein Schicksal genau jetzt, genau hier mit dir zu sitzen mit all meinen gemachten Erfahrungen und all den nicht gemachten. Oder so etwas wie Vorherbestimmung gibt es nicht!" 

Damit war die Sache für sie erledigt. Sie nahm wieder eine lockere Haltung ein und wandt sich erneut dem Getränk zu. Für ihre Gesprächspartnerin hingegen schien das Thema noch lange nicht vom Tisch zu sein.

"Ach, das Schicksal ist doch kein Bus mit einer festen Route oder gar einem vorgeschriebenen Zeitplan. Du sitzt zwar drin, aber du bist der Fahrer und entscheidest selbst, wann du endlich los fährst, um auf die entscheidenen Stationen zu zu steuern."

Der belehrende Tonfall gepaart mit einem Gesichtsausdruck, den man wohl sonst begriffsschweren Kindern entgegen brachte, machten das Gesagte nicht unbedingt angenehmer. Es fehlte nur noch der vorwursvoll erhobene Zeigefinger.

Abrupt kippte Kristin den letzten Schluck des inzwischen kalten Kaffees hinunter und winkte dem Kellner ohne auf Zustimmung zu warten, um die Rechnung zu verlangen. Ganz unvermittelt hatte sie das dringende Bedürfnis, dieses Treffen zu beenden. Es war zwar mal wieder eine schöne Abwechslung vom triesten Alltag, aber länger konnte und wollte sie es nicht ertragen.

 

'Eine Reise ohne Wiederkehr' hallte es immer wieder in ihrem Kopf. Genervt pfiff sie durch die Zähne. Sie glaubte nicht an sowas wie Schicksal oder Prophezeiungen. Oder doch, eigentlich tat sie das sehr wohl, aber sie wollte nicht daran glauben. Es war albern, sich vor ein paar dahin geworfenen Phrasen einer klapprigen Alten zu fürchten. 

Und überhaupt, was bedeute schon 'bald'? Jeder würde irgendwann sterben und damit konnte die Zigeunerin mit ihrer Weissagung nie all zu falsch liegen. So etwas sollte ihr wirklich nicht nahe gehen, zumal es keine Neuigkeit darstellte.

Doch trotzdem konnte sie das mulmige Gefühl nicht gänzlich abschütteln, so dass ihr Grinsen nur ein unsicherer Versuch war, sich selbst darüber hinweg zu täuschen.

Unwillkürlich lief ihr ein Schauer über den Rücken und ließ sie frösteln. Sie ging schneller und vergrub die Hände tief in ihrer Jacke. Sie musste diese Begegnung vergessen und an etwas anderes denken, bevor sie sich deswegen noch ganz verrückt machte.

 

***

 

Fremdartige Musik drang an ihr Ohr, zog sie in ihren Bann und nahm ihren Geist gefangen. Der Widerstand bröckelte langsam wie überflüssig gewordene Schuppen von ihr ab und machte einer überwältigenden Neugierde Platz.

Sie vergaß wo sie her gekommen war, vergaß was der Verstand ihr beharrlich einflüsterte und warum es ihr so schwer fiel, überhaupt an die Existenz des vor ihr liegenden zu glauben.

Stattdessen folgte sie nur noch dem drängenden Verlangen, heraus zu finden, was sich hinter dieser Tür befand. Sie wusste, es würde ihr Tod sein, durch sie zu gehen. Aber immer drängender und unüberhörbarer wurde die Stimme in ihrem Inneren, die ihr beständig davon erzählte, dass sie nichts zu verlieren hatte.

Die zuvor noch stürmischen Gedanken arbeiteten nun im Leerlauf. Plötzlich war nichts anderes mehr von Bedeutung.

Langsam wie in Zeitlupe bewegte sich ihre Hand auf die Türklinke zu. Die Berührung des kalten Metalls ließ sie einen Moment innehalten. Es strömte ein merkwürdiges Pulsieren davon aus, das über ihre Finger hinauf den Arm hoch kroch und sich in ihrem Brustkorb mit seltsamer Resonanz verstärkte, um wieder zurück zur Tür zu fließen.

Sie atmete tief durch und mit einem selbstsicheren Ruck, der so gar nicht ihrer Gemütsverfassung entsprach, drückte sie den Griff nach unten. Sie schob die Tür einen Spalt weit auf. 

Erst jetzt merkte sie, dass ihre Augen schon eine Weile geschlossen waren und so öffnete sie nun die Lider, um den Drang nach Erkenntnis zu stillen. 

Im ersten Moment war nichts als Dunkelheit auszumachen und eine leise Enttäuschung überkam sie. Aber bereits im nächsten Augenblick erkannte sie ihren Irrtum. Es gab wohl kaum etwas, das hätte verlockender sein können als die Schwärze vor ihr. 

Mit einem einzigen zögerlichen Schritt tauchte sie darin ein und wunderte sich noch im Bruchteil einer Eingebung darüber, dass kein Lichtstrahl von draußen den düsteren Nebel zu durchdringen vermochte. 

Sofort umhüllte er sie wie ein warmer Mantel, nahm sie in seine Geborgenheit auf und ließ sie die eigenen Grenzen überwinden. Sie schaute nicht zurück, alles was zählte lag vor ihr in der Dunkelheit, die angefüllt war mit steten Klängen ferner Welten.

In diesem Moment gab sie sich dem Unbekannten hin, ließ sich völlig fallen in der Gewissheit vom Universum aufgefangen zu werden.

 

Kristin schreckte hoch. Ein bitterer Geschmack lag ihr auf der Zunge und erinnerte sie entfernt an rostiges Metall. Verwirrt wischte sie sich über die Augen, aber es blieb schwarz um sie her.

Sie versuchte sich zu erinnern. Ein Gedanke stieg in ihr auf, den sie nicht richtig fassen konnte. Irgendetwas hatte sie gerade geträumt, was ihren Puls und die Atmung dermaßen beschleunigt hatte, dass sie nun keuchend um Fassung rang.

Aber immer wenn sie sich die Bilder erneut verdeutlichen wollte, verschwamm die Vorstellung davon nur umso mehr. Das einzige was sie sah, war ein verwaschener Farbklecks vor ihrem geistigen Auge.

Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden und wieder zur Ruhe zu kommen. Die stumpfe Ahnung hielt jedoch an und ließ sich trotz oder gerade wegen ihrer Formlosigkeit nicht vertreiben.

Müde sank Kristin zurück aufs Bett und dachte über ihr Leben nach.

Es ist ja nicht so, als hätte sie schwere Schicksalsschläge ertragen müssen oder als würde sie vom Pech verfolgt werden. Eigentlich konnte sie doch ganz zufrieden sein: Mit ihrer annähernd glücklichen Kindheit, in der es durch zahlreiche Umzüge mehrfach wechselnde Wohnorte und keinen festen Freundeskreis gab; Mit der Famile, zu der sie sich nur wenig hingezogen fühlte, aber die sie immerhin noch vollständig besaß und die ihr vermutlich im Ernstfall auch jedwede Unterstützung anbieten würde; Mit ihrem durchschnittlichen Schulabschluss, der fertigen Ausbildung und einem Job im Büro, der wahrlich nichts Aufregendes an sich hatte, aber eine gewisse Sicherheit bot in Zeiten, wo man quasi ständig Angst vor drohender Arbeitslosigkeit haben musste.

Aber dieses Wörtchen 'eigentlich' war es, das dem ganzen einen Hauch von Trostlosigkeit verlieh. Eigentlich hätte sie sich glücklich schätzen sollen und eigentlich hätte sie zufrieden sein müssen und eigentlich sollte sie es nicht nur eigentlich. 

Doch es fehlte etwas in ihrem Leben. Es musste etwas wichtiges sein, wenn deswegen alles andere seinen eigentlichen Wert verlor.

Eine Beziehung konnte es nicht sein. Die hatte sie mehr aus Neugierde und weil es allgemein so üblich war denn aus wirklichem Interesse am Partner ausprobiert. Zuerst dachte sie, es war schlichtweg die falsche Wahl, beendete nach knapp drei Monaten ihre erste Beziehung und stürzte sich direkt in die nächste, die sich aber als nicht weniger unglücklich heraus stellen sollte. 

So beschloss sie den Versuch erst einmal aufzugeben und nicht mehr nach jemandem zu suchen. Der Gedanke, das eigene Glück von einem anderen Menschen abhängig zu machen, schien ihr generell reichlich absurd. Wie könnte man von demjenigen verlangen, was man nicht mal selbst im Stande war zu erreichen. 

Im Allgemeinen kam sie alleine immer besser zurecht, ohne die Kompromisse, die Verpflichtungen und die Regeln. Natürlich wollte Kristin die Hoffnung auf eine erfüllende Zweisamkeit nicht gänzlich begraben, aber so lange es keinen konkreten Anlass gab, wollte sie sich damit auch nicht weiter auseinandersetzen.

Was ihr fehlte waren auch nicht unbedingt die mangelnden Freunde. Bereits früher hatte sie ja erkannt, wie kurz die Zeit nur war, in denen sie die anderen mit ihren wohlmeinenden Ratschlägen und ihrer schamlosen Neugierde ertragen konnte. 

Auch sie selbst hätte keine gute Freundin abgegeben. Immerhin verlangt man von solch einer, dass sie sich regelmäßig meldet und wenn es nur zum Austausch von Floskeln ist. Und man erwartet gemeinsame Unternehmungen, dass man sich bei wichtigen Feiertagen beschenkt und all diesen Kram, der im Grunde seinen Wert verliert sobald er zum Zwang wird. 

So begnügte sie sich mit dem, was sie völlig übertrieben als 'beste Freundin' bezeichnete, weil diese ihr immerhin nicht ständig Vorwürfe machte und sich offensichtlich auch über die seltenen Treffen freuen konnte.

Am Geld mochte es auch nicht wirklich liegen. Zwar verdiente sie mit ihrem Sekretärinnengehalt nicht gerade ein Vermögen, aber so genügsam wie sie war, hätte sie mit Reichtum auch gar nichts anzufangen gewusst. Es gab eine knappe Liste mit den Dingen, die sich Kristin wünschte und irgendwann gönnen wollte. Aber nichts davon eilte. Im Gegenteil wäre es wohl noch deprimierender gewesen, wenn dort nichts mehr gestanden hätte, auf das sie sich wenigstens annähernd freuen konnte. So Sachen wie 'mit einem Heißluftballon fliegen' waren auch gar nicht ihrer eigenen Phantasie entsprungen, sondern klangen einfach nur gut und verlangten daher nicht ernsthaft realisiert zu werden.

Was also war es, das ihr im Leben fehlte?

Vielleicht sollte sie versuchen, sich für irgendetwas zu begeistern. Aber wie macht man das, wenn einem so ziemlich alles reichlich bedeutungslos erschien? Und das konnte Kristin immerhin mit gutem Gewissen sagen, bei derart vielen Hobbies, die sie inzwischen bereits ausprobiert und nach kurzem wieder verworfen hatte.

Kein Sport, kein Verein, keine Gruppe, keine Kunst, kein Spiel konnte sie richtig fesseln. Das einzige, worauf sie im Leben noch nie lange hatte verzichten können und worin man ihr eine gewisse Leidenschaft zusprechen konnte, war Musik.

Kristin stand vom Bett auf und durchquerte sicheren Schritts im Dunkeln das Zimmer, um auf der gegenüberliegenden Seite die Stereoanlage einzuschalten. Im schwachen Licht der Anzeige ließen sich die Unmengen an CDs darauf, daneben und dahinter nur erahnen. Von klassischen Konzerten, über stimmgewaltige Chorale, zu modernem HipHop, lautem Heavy Metal, dröhnendem Techno bis zu orientalischem Singsang und esoterischen Meditationen hatte sie einfach jede mögliche und unmögliche Musikrichtung parat. 

Ganz nach momentaner Lust und Laune hörte sie querbeet was ihr der Zufall so in die Hände trieb. Hauptsache es verschaffte ihr vorrübergehend die begehrte Betäubung.

Zur Zeit entdeckte sie eine gewisse Vorliebe für mittelalterliche Gesänge und startete wie so häufig in den letzten Nächten die Folklore-CD im Player. Sie drehte auf volle Lautstärke, schnappte sich die großen Kopfhörer und begab sich zurück zum Bett, bereits mit einem genießerischen Zug um den Mund, wohlwissend um die geschätzte Stille im Kopf, die ihr sogleich durch die Musik beschert würde. 

Was auch immer sie wichtiges in ihrem Leben vermissen mochte, diese Erkenntnis musste auf ein anderes Mal verschoben werden.

 

***

 

Der Tag versprach nicht viel Aufregung. Die Dinge nahmen ihren üblichen Lauf und Kristin war bemüht, sich von der Routine nicht all zu weit zu entfernen. Doch während ihre Hände der üblichen Arbeit nachgingen, wanderten die Gedanken hingegen auf anderen Wegen und kehrten immer wieder zu den Ereignissen des Vortages zurück. Wie von selbst formulierten sich Fragen, die mit 'Was wäre, wenn...' begannen und unaufhörlich in ihrem Kopf kreisten.

Was wäre, wenn in den Worten der Zigeunerin etwas wahres steckte? Was wäre, wenn sie bald sterben müsste? 

Wie ein schwerer Vorhang legte sich diese Aussage auf die Hoffnung ihrer Zukunft. Doch was für eine Zukunft hätte sie sich überhaupt gewünscht? Welche Träume hatte sie denn? Und welche Chancen gab es eigentlich für sie, aus ihrem Leben noch etwas zu machen?

Innerlich ging sie die Liste ihrer Wünsche durch und zerriss sie anschließend. Nichts davon war ernsthaft von Bedeutung, weder für andere noch für sie selbst. Wie konnte man nur so wunschlos unglücklich sein?

Langsam aber sicher formte sich ein neuer Gedanke, den sie nicht haben wollte und den sie wie einen ungebetenen Gast von sich wies. Aber er kehrte beharrlich und immer deutlicher in ihr Bewusstsein zurück. 

Sie schaute sich um, sah die all zu bekannte Umgebung ihres Arbeitsalltages mit den gewohnten Gesichtern der Kollegen, mit denen sie nichts über die Arbeit hinaus gemein hatte. Jene Gesprächsfetzen, die sie gelegentlich aufschnappte, trugen auch nicht dazu bei, die Beziehungen ausdehnen zu wollen. 

Was interessierte es sie, wie die Farbprognosen für die nächste Modekollektion aussahen oder für welche gemeinnützige Aktion man demnächst spenden wollte, um sich in der Beweihräucherung der eigenen Wohltätigkeit zu suhlen. Was ging sie das Privatleben der Prominenz an oder das einfache Leben der hiesigen Unterschicht mit all seinen kleinen unbedeutenden Problemen, welches verstörend detailliert in den öffentlichen Medien ausgebreitet wurde vor den willigen Augen der Gaffer?

Was interessierte es sie, welche verlockend fernen Resorts als nächsten Urlaubsort in Frage kamen, wenn es überall auf der Welt in den Touristengebieten gleich zu ging, während ein Stück abseits die Einheimischen unbemerkt verhungerten? Letztendlich kam es bei den Reisen ja nur auf den beneideten Stempel im Pass an. Anstatt sich dem ganzen Urlaubsstress auszuliefern, der - glaubte man den Gesprächen - sowieso meist in Beschwerden an den Veranstalter endete, würde sie sich lieber Daheim in der Zurückgezogenheit erholen.

Ihr Blick schweifte zum Fenster hinaus und eine stille Sehnsucht nach diesem vertrauten Refugium ihrer eigenen kleinen Welt kam in ihr auf, die sich in einem traurigen Seufzer bemerkbar machte.

Aber eine Frage tauchte wieder und wieder aus den Tiefen des Unterbewusstseins auf und machte sie nervös, weil sie sich vor der Antwort fürchtete:

Für wen wäre es schon schlimm, wenn sie eine 'Reise ohne Wiederkehr' antreten würde? Niemand und nichts konnte sie davon abhalten, sich insgeheim genau das zu wünschen, damit wenigstens endlich einmal etwas bedeutsames mit ihr passierte.

Bei der Vorstellung vom Ende ihrer grundlosen Gequältheit, kam fast so etwas wie Freude in ihr auf. Noch nie hatte sie ernsthaft den Selbstmord in Erwägung gezogen, wozu auch, es gab ja keinen Grund. Nur wusste sie jetzt, dass sie im Angesicht des Todes nicht besonders stark gegen ihn aufbegehren würde. Er kam ihr ein wenig wie eine Erlösung vor, die sich ihr bisher hartnäckig entzogen hatte. 

Ohne dass es ihr richtig bewusst geworden wäre, griff sie bereits im Aufstehen nach ihrem Mantel und ging an den verdutzten Blicken der Angestellten vorbei nach draußen, kein bestimmtes Ziel vor Augen habend; nur weg von all der erdrückenden Normalität.

 

Sie war eine unter vielen, Teil einer breiten Masse, die sich unaufhaltsam auf den Straßen vorwärts schob und von der sie sich bereitwillig mitziehen ließ. 

Es war ihr egal, wo sie ankommen und wie der Weg dorthin aussehen mochte. Sie wollte untertauchen, sich selbst im Gewühl verlieren und nie mehr daraus hervor kommen.

Und doch war sie noch immer irgendwie ein Außenseiter. Weder fühlte sie sich dazugehörig noch wurde sie von anderen als gleichwertiges Mitglied angesehen.

Dazu musste sie nichts tun. Egal wo sie hin kam, wurde ihr stets freundlich aber bestimmt die Randposition zugewiesen, mit der sie sich schon früh zu begnügen gelernt hatte.

In dieser Hinsicht war sie etwas besonderes. Es musste eine Aura von ihr ausgehen, die jedem zeigte, noch bevor er sie näher kannte, dass sie eine Andersartige war. Oder es war ein unsichtbares Brandmal, das sich nicht überschminken ließ.

Und im Grunde war es ihr auch ganz angenehm so. In größeren Menschenansammlungen fühlte sie sich unwohl, Aufmerksamkeit auf sich zu spüren behagte ihr gar nicht. 

Aber im Moment wollte sie nichts dringender, als die Sorgen der Mitmenschen teilen, ihre Freude erleben und ihre Bedürfnisse nachempfinden zu können, um darüber die eigenen Themen zu verdrängen. 

Sie hätte schreien können. Aber hatte gleichzeitig das untrügerische Gefühl, dass niemand es beachtet hätte. Sie stand auf ihrer eigenen kleinen Insel inmitten der Großstadt und niemand kam zur Rettung herüber.

Wie in Trance setzte sie einen Schritt vor den anderen, betäubt von all der Nichtbeachtung. Sie wollte nicht mehr die altbekannten Wege gehen, die selben Dinge immer und immer wieder erleben, ständig vor den gleichen Entscheidungen stehen, die stets nur die selben Möglichkeiten boten. Aber wie sah die Alternative dazu aus? Wollte sie das wirklich wissen? Oder würde sie sich wünschen es nicht gefragt zu haben?

Ein Entschluss festigte sich in ihr, dem ganzen endlich ein Ende zu bereiten. Energisch straffte sie die Schultern und blieb ruckartig stehen. So soll es sein!

 

Als sie sich schließlich der Umgebung bewusst wurde, hatte sie keine Ahnung, wo sie sich befand. Verwirrt schaute Kristin sich um. In der Gegend war sie noch nie zuvor gewesen und sie hatte auch nicht mitbekommen, wie sie hierher gelangt wäre.

Unverhofft stand sie vor dem Eingang zu einem Park, flankiert von zwei großen schweren Eisengittern, die einladend ihre Flügel ausgebreitet hatten. Es reizte sie, diesen unbekannten Ort zu ergründen, jetzt wo es nichts mehr zu tun für sie gab außer einer letzten Tat. 

Und so ging sie langsam den kiesbedeckten Pfad entlang, sich immer wieder verwundert umblickend. 

Zwar musste sie zugeben, dass sie von ihrem eigenen Umkreis erschreckend wenig bisher gesehen hatte, aber solch ein Garten zwischen den Neubauten überraschte sie dennoch. Es war eine wunderschöne und sehr gepflegte Grünanlage, in der man von der sie umgebenden Hektik einer nie schlafenden Großstadt gänzlich wenig mitbekam. So als wären der Stress und all die sorgenvollen Gedanken am Eingang zurück geblieben, fühlte sie sich auf einmal äußerst leicht, regelrecht beschwingt. Die bedrückende Last der zuvor noch überwältigenden Unzufriedenheit verschwand bei dem Wissen um ihren Ausweg und zum ersten Mal seit Tagen, Wochen, ja vielleicht sogar seit Jahren konnte sie frei durchatmen.

Tief inhalierte Kristin die Luft, die angefüllt war mit einem berauschenden Parfüm aus den verschiedenen Blüten und Blättern, so dass man einen einzelnen Duft nicht daraus isolieren konnte. Die Kombination machte es zu einem perfekten Sinneseindruck.

Sacht ließ sie sich auf eine Bank sinken, das Gesicht den wärmenden Strahlen der Sonne entgegen gereckt, die gerade wie bestellt zwischen einzelnen Wolkenreihen hindurch schielten. Ein zartes Lächeln spielte auf ihren Lippen, das erkennen ließ, wie sie sich kurz vor dem Schluss mit ihrem Leben aussöhnte. Dieser Ort war ihr sehr willkommen dafür.

Für einen Moment lang war sie mit sich und der Welt im Einklang, ein Moment in dem es kein Grübeln über die Zukunft oder die Vergangenheit gab. Die Sinne waren randvoll mit wunderbaren Eindrücken gefüllt, so dass es keinen Platz mehr für etwas anderes gab. Es war nicht einmal genug Raum noch übrig, um sich zu wünschen, dass dieser Augenblick ewig wärte. Die Abwesenheit sämtlicher Gedanken macht ihn genau dazu: Zu einer kleinen Ewigkeit, in der Zeit keine Rolle spielte.

 

Ganz langsam und bedächtig, wie um den Zauber des inneren Friedens nicht zu zerstören, kehrte der Verstand allmählich zurück.

Das war es also, weshalb die Menschen am Leben hingen. 

Nicht, um der flüchtigen Befriedigung beruflichen Erfolgs willen. Nicht, wegen dem kurzen Vergnügen gestillter körperlicher Lust. Auch nicht, um seine Spuren für die Nachwelt zu hinterlassen und die Menschheit voran zu bringen. All dies waren nur nebensächliche Begleiterscheinungen, wenn man das Leben auskostete.

Was war nötig um glücklich zu sein? Kein Geld, keine Droge, kein Mensch konnte den Zustand tiefer Glückseligkeit erzwingen.

Also was gab es jetzt neues, an dem es ihr zuvor noch mangelte? Es lag bestimmt nicht an dem Wissen um ihr baldiges Ableben, wo der logische Verstand doch vorrübergehend ausgeschaltet war. Es konnten sicher nicht die umstehenden Blumen sein, dessen Anblick sie glücklich machte. Sonnenstrahlen allein vermochten nicht, ihr Herz dermaßen mit Freude zu füllen. Und dieser Park sah auch ganz gewiss nicht nach dem Paradies aus. Doch trotzdem fühlte sie sich hier und jetzt zufrieden.

Die Lösung traf sie wie ein harter Schlag: Nichts war nötig. 

Das Unglücklichsein hatte sie all die Zeit so sehr vereinnahmt, dass sie ganz vergessen hatte, wie es sich anfühlte davon befreit zu sein. Aber die Lösung war so einfach. Sie brauchte nur die Hand danach auszustrecken und sich selbst erlauben, glücklich zu sein. Dieses Gefühl hatte sie beständig begleitet. Es steckte die ganze Zeit schweigend in ihr und wartete nur auf den Moment, in dem sie die nötige Ruhe fand, es zu betrachten.

 

Kristin erhob sich schließlich. Sie wusste nicht, wie lange sie dort gesessen haben mochte und was in der Zwischenzeit alles passiert sein mag. Die Sonne war schon hinter den Kronen einiger Bäume verschwunden und ließ den Blätterkranz wie einen Heiligenschein leuchten. 

Gemächlich schlenderte sie den Weg entlang in die Richtung, aus der sie glaubte gekommen zu sein. Dabei fiel ihr Blick auf einen kleinen See. Die Wasseroberfläche glitzerte verführerisch und seine stille Tiefe schaute ihr einladend entgegen. Der vom Wasser ausstrahlende Frieden griff auf sie über und sie spürte in sich dessen Widerhall. Als ein frischer Wind darüber wehte, kräuselte sich die eben noch glatte Hülle und einzelne Wellen breiteten sich rhythmisch darauf aus. 

Mit einem Mal wurde ihr die Bedeutung des Schauspiels für sich selbst bewusst. Die tiefe, gähnende Leere, die sie beständig in sich selbst verspürte, war nichts anderes als die Ruhe aller ungenutzter Möglichkeiten vor dem Sturm. Ein bloßer Gedanke konnte das Nichts in Bewegung versetzen und seine Folgen breiteten sich unaufhaltsam wie eine Flutwelle auf ihr ganzes Sein aus. 

Sie hatte geglaubte sterben zu wollen, doch in Wirklichkeit musste sie nur wiederbelebt werden.

Als sie den Park verließ, blieb ihr altes Ich dort drin zurück, versenkt in der Erkenntnis lag es nun auf dem Grund des kleinen Sees. 

 

 

Neugeboren kehrte sie zurück ins Leben. Die Zigeunerin hatte recht behalten!

 

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Impressum

Texte: Die Rechte der Bilder liegen nicht bei mir. Die Texte hingegen sind mein geistiges Eigentum, jedwede Verwendung (auch von Ausschnitten) nur nach Rücksprache!
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2012

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