Der Geist des ehemals gewesenen
vertieft Empfindungen
und lockt als ob's dich triebe
hinein in unnennbare Orte
Es rauscht der Wald verwirrend aus der Tiefe
Bäume und Blumen singen dort
rings von bald alter schöner Zeit
Der träumerische Bann zieht dich
vorwärts in die Dunkelheit
wo Zauberklänge warten
und das lauernd Weh
des Fallens in die Einsamkeit
Tag und Nacht
Einsam und verlassen lag es da, auf einem abgelegenen Hügel mitten im 'Wald des Vergessens'. Rundherum herrschte die Dunkelheit und nur ein fahler Schein des Mondlichtes ließ die Umrisse erkennen. Er tauchte es in ein unheimliches Grau, das düster und bedrohlich wirkte und jedes Geräusch schon im Keim erstickte. Die Stille schien beinahe etwas Heiliges zu sein und nicht einmal der Wind wagte es, diese zu stören. Keine Bewegung war auszumachen, kein einziger Schatten huschte durch die Nacht. Die Zeit hielt ihren Atem an und für die Ewigkeit eines Augenblickes versank das Schloss in einem Traum, wo nichts Lebendiges mehr existierte und kein Gedanke sich in Form verwandelte.
In diesem kurzen Moment begab es sich, dass der Himmel seine Pforten öffnete und eine Gestalt die Welt der Sterblichen betrat.
Als die ersten Sonnenstrahlen sich über den Horizont quälten, atmete die Welt hierum beruhigt auf. Ein Raunen ging durch die Baumwipfel und man konnte die Erleichterung spüren, dass auch ein weiteres Mal das Licht über das Dunkel triumphieren konnte.
Die ersten Waldbewohner lugten neugierig aus ihren Verstecken und weckten mit ihren Geräuschen die länger Schlafenden. Ein munteres Treiben begann, als der Tau im morgendlichen Schein die Netze fleißiger Spinnen in glitzerndes Silber verwandelte. Perlengleich vollführten sie im aufkommenden Wind einen rhythmischen Reigen. Ameisen verrichteten ihre unerschöpfliche Aufgabe des Wuselns und Bienen summten fröhlich von einer frisch geknospten Blüte zur nächsten. Während Meister Petz sich daran machte, in ihre Heiligtümer vorzudringen, erklang das Klopfen eines Spechts - wartend auf Antwort. Die Luft roch frisch wie nach einem reinigendem Gewitter und das Leben selbst erstrahlte in neuer Pracht.
Erneut konnte dieses Leben im Wald gegen das Vergessen ankämpfen und das Schloss in seiner Mitte thronte prachtvoll über seine Untertanen. Unbeirrte Ruhe strömte von ihm aus und erschuf eine Zusammengehörigkeit aller Wesen, die in seiner Umgebung lebten.
Das Schloss hatte keinen Namen. So lange stand es schon hier, dass man meinen könnte es gehöre einfach dazu. So nannte man es schlicht das "Schloss zum Wald". Und tatsächlich eroberte sich die Natur Stück um Stück zurück, was man ihr einst mühsam abgerungen hatte und schuf damit einen fließenden Übergang zwischen Lebensraum und dem Werk menschlicher Hand.
Es lag auf einer kleinen Anhöhe und die Enden seiner spitzen Türme konnte man weithin über die Kronen der Bäume ragen sehen. Die Farbe war ungewiss und sie zu beschreiben wäre so sinnlos, wie das in tausend Nuancen schimmernde Grün der Blätter einfangen zu wollen. Ehemals mag es einen roten Ton aufgewiesen haben, der nicht nur vom Regen und vom Wind hinfort gespült wurde - die Vögel taten ihr Übriges, um ihm neue, hellere Tupfer zu geben. Oberhalb seiner Reihen aus Ziegeln, die die Fassade hier und da noch schmückten, gab es sich die Ehre eines riesigen Schieferdaches, das von monumentalen Kaminen flankiert war. Unzählige Ranken erklommen die Mauer, so dass nur an wenigen Stellen überhaupt das ursprüngliche Material hervorlugte. Es gab keine Ordnung, keinen Gärtner der sich je der Aufgabe angenommen hätte, eine zu schaffen. Pflanzen hatten eine wahre Freude daran, zu tun, was ihnen beliebte und was sie am besten konnten: Wuchern aus allen Fugen und in alle Ritzen hinein. Ein schmiedeeisernes Tor verkündete, an welcher Stelle man begann, auf alten Wegen zu wandeln. Doch es gab selten Interessierte, die über die alte Veranda spazierten. Sie hätten sehen können, welch verziertes Meisterwerk von Geländer die Treppe umspannte. Desweiteren hätten sie die kunstvollen Schnitzereien der riesigen Eingangstür bewundern können, während Figuren, deren Geschlecht schwerlich zu bestimmen war, sie von oben herab aus unergründlichen, verwaschenen Augen anschauten.
Selbst im Innern gab es keine Schranken für die Auswüchse der Natur. Der Marmorboden war bedeckt von Unkraut, Löwenzahn kämpfte um die Vorherrschaft gegen allerlei Schattengewächse. Denn an Licht mangelte es hier. Die zerrissenen Vorhänge ließen nur wenige Strahlen der Sonne hindurch und Schlingpflanzen taten ein weiteres um eine Atmosphäre der ewigen Nacht zu erzeugen. Es war immer kühl. Verfing sich einmal ein Windhauch in das Schloss, so kam er nicht mehr heraus. Er konnte nur die ewig langen Gänge entlang reiten in der Hoffnung auf einen Ausgang aus diesem Labyrinth von Treppen, Fluren und Zimmerfluten. Dabei hatte er aber die Gelegenheit, sich an den vielen Bildern einstiger Schlossbewohner zu ergötzen. Hier erkannte man noch einen Schnauzer, dort ein verwegenes Lächeln eines Freibeuters, und eventuell erhaschte man den weißen Handschuh einer vornehmen Dame. Wenn man genug Fantasie hatte, könnte man sich die Geschichten ausdenken, die es hier sicher zuhauf zu finden gab. Trotz des fortgeschrittenen Verfalls ließ sich die einstmals vornehme Herrschaftlichkeit nicht leugnen. Und falls man es wagen sollte, bis in die höchsten Etagen der Türme zu steigen, würde man beim Anblick der Weite ein Gefühl von Macht in sich aufkeimen fühlen. Der Wald lag dem Schloss zu Füßen, doch irgendwie war es selbst nicht von dieser Welt.
Ein gutes Stück weiter gingen die letzten Ausläufer des Waldes in ein buntes Blumenmeer über. Jeden Tag konnte man hier ein kleines Kind nackt über die Wiesen rennen sehen.
Wenn man es fragte, wer es sei, so antwortete es stets mit: "Ich bin ein Engel." Und bei all der Ungezwungenheit mit der das Lachen über seine kleinen Lippen kam und dem fröhlichen Zwinkern in den immer neugierig dreinblickenden Augen, konnte man es fast hinnehmen. Der Wind spielte gern mit seinem Haar, wenn es die Wolken beobachtete. Und die Sonnenstrahlen verfingen sich darin, wenn es mit den Heuschrecken um die Wette sprang. Es schien keine Kälte zu kennen, keine Ängste und Zweifel. Niemals hatte sein Gesicht das glückliche Leuchten verloren, ungebändigte Freude sprach aus all seinen Bewegungen.
Wie auch über die Vergangenheit des Schlosses, wusste man nicht viel über dieses Kind. Es war einfach ein Teil der Gegend.
Einmal wurde es von einem Neugierigen gefragt, wo es denn herkäme. "Geboren wurde ich in dem Moment, als der Mond das Licht der Sonne reflektierte, um einen Regenbogen zu erzeugen in der Nacht. Da bin ich herabgestiegen auf die Erde.", wusste es mit weiser Miene zu berichten, bevor es sich wieder seinem Spiel mit den Grashalmen widmete.
Eigentlich hätte es niemanden verwundert, wenn man eines Tages zwei Flügel auf seinem Rücken wachsen sehen würde. Die natürliche Abneigung gegen jedwede Einengung zumindest bezeugte seine gewohnte Freiheit. Jeder Schritt hatte etwas schwereloses an sich, als würde es über die Blumen schweben, um sie nicht zu zerstören. Schaute man dem Kind beim Tanzen zu, fühlte man Wärme in sich Aufsteigen und alle Sorgen fielen von einem ab, als gäbe es nichts weiter als diesen Moment des Friedens. Lebenslust und Unschuld paarten sich in dem kleinen Lebewesen zu einer erlesenen Verbindung einzigartigen Glücks.
Aber die Tage vergingen. Und während sich an dem unbeschwerten Spiel des Kindes so wenig änderte wie am regelmäßigen Lauf der Sonne, wurden die Besucher seltener. Am Rande des Blumenfeldes zeugte der Wald kleine Sprösslinge, die um das Feld herum langsam größer wurden. Sonderbarerweise schreckten sie vor den wogenden, lebendigen Blumen zurück und kein Baum wagte ins innere der Wiese vorzudringen, auf der das seltsame, das wunderbare Kind so fröhlich tanzte. Doch als die Sprösslinge immer weiter wuchsen - Birken, Kiefern, anderes Holz - da legte sich unmerklich ein Schatten auf die Pracht des blühenden Feldes. Und, als die Tage kürzer wurden und die Schatten länger, schwoll er weiter an, bis die Hälfte der weiten Fläche von dem dunklen Abbild der Bäume bedeckt war, das mit dem Stand der Sonne auf dem Feld umherwanderte.
Weiter und weiter wurden die Kreise der ausufernden Bäume. Und wie die Wege zum Schloss sich langsam mehr und mehr verdichteten, wuchs auch die Unwissenheit der Menschen darüber. Es verschlug nur noch Wenige in die Nähe der überwucherten Mauern und immer weniger Menschen nahmen die Existenz eines engelhaften Kindes in deren Mitte wahr. Das Vergessen breitete sich aus. Und wie durch einen Zauber vergaßen sie auch in den umliegenden Gegenden, was eigentlich in dem dunklen Grün des Waldes vor sich ging, was sich auf dem Hügel inmitten der uralten Bäume befand. Kaum einer wusste noch um die Lichtung, auf der ein so wundersames Wesen tagein, tagaus vor sich hin träumte.
"Vermessen, kategorisieren, untersuchen, unterscheiden, einteilen, aufmalen, beschreiben. Insekten, am liebsten habe ich Schmetterlinge."
"Was wollen Sie nur in diesem Wald, Wilhelm? Ich kann mir nichts langweiligeres vorstellen. Niemand geht in diesen Wald, er ist vollkommen - zugewachsen. Es macht keinen Spaß dort." Maria wischte die Theke des Wirtshauses 'Walden' ab und brachte Wilhelm ein Bier und eine Portion gebratener Kartoffeln mit Ei. "Sie werden hoffentlich hier bei mir übernachten? Ich hätte Ihnen ein günstiges Zimmer."
"Danke, Marie. Ich habe wohl kaum die Zeit, um mich um mein Haus zu kümmern, solange ich mich der Forschung widme. Ich erhoffe mir, hier einige ganz erstaunliche Exemplare zu finden. Gerade weil dieser Wald so - wie Sie sagen - verlassen scheint."
"Schauen Sie, Wilhelm." Maria zeigte zum Fenster heraus.
"Was, was ist dort?"
"Der Himmel, Wilhelm, sehen Sie doch nur. Dieser Sonnenstrahl dort, direkt aus jener dunklen Wolke da. Er ist hell, so hell, es ist, als ob der Himmel sein Auge geöffnet hat und auf diese eine Stelle in dem alten Wald blickt. Ist das nicht schön?"
Er nickte. "Sie haben Recht, das ist ganz interessant. Nun, ich muss mich vorbereiten. Morgen will ich aufbrechen auf meine erste kleine Expedition." Er aß unachtsam auf, während er Maria weiter beobachtete. "Wirklich gut, ich freue mich schon auf das Frühstück. Gute Nacht."
Wilhelm ging hinauf, richtete sich für die Nacht, legte sich auf das Bett, deckte sich zu und schlief ein.
Das Schloss ruhte. In den hohen Bäumen auf dem alten Hügel lag es da, still. Man konnte fast den Eindruck haben, dass es wartete.
Wilhelm packte Netze, leere und vollgeschriebene Bücher, ein Set Pinsel und Kreiden, einige Becher, Einlegealkohol, einfach alles in seinen braunen Lederranzen. Er nahm die Sachen mit in die Gaststube.
"Guten Morgen, Marie."
"Gut geschlafen?"
"Ausgezeichnet. Alles ist perfekt." Er zog noch einmal die Riemen an seinem Rucksack fest.
"Ich habe Ihnen ein paar Brote gemacht, die Sie mitnehmen können. Und heute morgen.. gibt es Spiegelei und Schinken. Na? Ist das was?"
"Sie sind wirklich ein Engel. Her damit!"
Er salzte kräftig und schaufelte dann sein Frühstück in sich hinein.
"Wer ist eigentlich das hier, auf dem Bild?"
"Mein Großvater."
"Oh, hat ihm die Wirtschaft gehört?"
"Ja, ich habe sie von ihm. Er ist.. irgendwann verschwunden. Vor fünf Jahren, um genau zu sein. Er hat mir die Wirtschaft vererbt."
"Und.. Ihre Großmutter?" Wilhelm schlürfte heißen Kräutertee.
"Sie ist auch verschwunden. Aber.. das ist schon lange her. Als meine Mutter zehn war, ist meine Großmutter verschwunden. Großvater hatte gesagt, sie sei in den Wald gegangen, um Pilze zu sammeln und Kräuter. Man hat nie wieder etwas von ihr gesehen."
"Eine eigentümliche Familiengeschichte haben Sie da. Nicht unbedingt zu beneiden, oder?"
"Ja, es ist.. nicht ganz leicht. Aber.. ich weiß, es klingt nicht klug, aber.. ich weiß, die beiden sollten eigentlich tot sein. Aber irgendwie fühle ich, dass sie noch leben. Irgendwo, irgendwo dort draußen."
Wilhelm brachte das Frühstückstablett zur Theke. "Vielen Dank, Marie. Nun, ich werde wiederkommen." Er zwinkerte ihr zu. "Und ich freue mich natürlich schon auf das Abendessen."
Er schulterte seinen Rucksack und ging auf einem der lehmigen, von hohem Gras halb überwachsenen Feldwege los, dem dunklen Wald entgegen. Der Wind pfiff kühl in sein Gesicht, es fühlte sich trocken an, nur etwas Schweiß lief an den Seiten herab. Nach einer ganzen Weile erreichte er die ersten größeren Baumreihen, Vorboten des unberührten Dickichts dahinter. Ganz plötzlich ging der vorher noch eindeutig erkennbare Trampelpfad in Gestrüpp über und erschwerte jedem Neugierigen das weitere Vordringen. So beschloss Wilhelm eine kurze Pause zu machen, setzte sich auf einen kleinen Baumstumpf und betrachtete aufmerksam die nahe Umgebung. Augenscheinlich wurde der weitere Pfad weniger häufig begangen und es wurde auch nichts gegen die flinke Aneignung der Natur unternommen.
Die Sonne stand strahlend am östlichen Himmel, aber das dicke Blätterdach ließ kaum Licht bis auf den Waldboden dringen, wo es von Leben nur so wimmelte. Unzählige Geräusche drangen aus dem dichten Gewächs und das Reich der Natur schien hier eine unsichtbare Mauer gegen die zivilisierte Welt zu errichten. Schon der Anblick des undurchdringlichen Blattwerks müsste jeden abschrecken.
Doch Wilhelm verlangte es danach, das Leben im Innern zu begutachten. Nachdem er sich ausgiebig den Blättern und Zweigen über ihm gewidmet hatte, wollte er sich nun seiner spannenderen Neigung zuwenden und beugte sich der Erde entgegen. Langsam ließ er etwas Humus durch die Finger rieseln und betrachtete dabei eingehend die vielen, kleinen Würmer und Larven, die auf seiner Hand krabbelten.
"Vermessen, kategorisieren, untersuchen, unterscheiden, einteilen, aufmalen, beschreiben.", seine Devise und so holte er ein dickes Büchlein aus der Tasche und notierte sich sehr gewissenhaft, was ihm alles unter die Augen kam. Gelegentlich fügte er auch ein paar Skizzen hinzu oder, wenn ihm ein Exemplar besonders lohnenswert vorkam, holte er aus seinem Rucksack den einen oder anderen Glasbehälter, und ließ ihn dann samt Objekt wieder in seiner Tasche verschwinden.
So vertieft in die Arbeit und hinter jedem kleinen Tier herjagend, um es auch nicht zu vergessen bei der detaillierten Beschreibung, drang Wilhelm langsam tiefer in den "Wald des Vergessens" vor und er bemerkte nicht einmal wie sich die Sträucher vor ihm auftaten und ihm nur so die Möglichkeit dazu boten. Sie schienen ihn willkommen zu heißen. Es wurde dunkler um ihn herum, es ließ sich nur noch erahnen in welcher Richtung die Sonne stand und es blieb unbeachtet, wie sie langsam über den Himmel wanderte. Die Klänge des Waldes wurden lauter, schwollen an und es hätte beinahe klingen können wie ein einträchtiges Murmeln. Während dutzende kleiner Augenpaare den Neuankömmling neugierig musterten, dachte Wilhelm hingegen nur an seine Aufgabe, in der er voll aufging.
Ja, es war sein Element. Niemand, der ihn hätte stören können in seiner Konzentration, keine dummen Fragen oder abwertenden Bemerkungen. Auch Toleranz ist nicht all zu häufig, wenn es sich um krabbelnde, beißende, manchmal auch schleimige, springende, wirbelnde Geschöpfe handelte. In den vielfach vergrößerten Zeichnungen sahen sie fast aus wie Außerirdische mit ihren segmentierten Körpern, einem gegliederten, panzerartigen Haut- oder Außenskelett, den eigentümlichen Mundwerkzeugen, Antennen, manchmal auch mit mehreren Cerci und einem Terminalfilum als Schwanz. Die meisten stammen noch aus einer vorzeitlichen Welt. Wilhelm wollte jedes sich bietende Rätsel dieser Tiere entwirren. Für ihn war die Gattung Insecta eine Herausforderung, um die allwissende Macht der Wissenschaft voranzutreiben, um die Logik ein weiteres Mal unter Beweis zu stellen. Dabei verloren die merkwürdig dreinblickenden Facettenaugen mehr und mehr von ihrer Faszination und die unterschiedlichsten Paar Flügel wurden zu nichts anderem als einem Werkzeug der Tiere, um sich fortzubewegen. Es gab keinen Spuk, den er nicht entzaubern konnte - so war er zumindest überzeugt, als der Wald um ihn herum, ihn immer weiter in seinen Bann zog.
Maria wunderte sich. Sie schaute aus dem Fenster ihres Zimmers oben im Gasthof 'Walden' auf die Felder hinaus, auf den dunklen Wald, und auf den kleinen Berg, der sich inmitten des Waldes über die Landschaft erhob. Es wurde langsam dunkel und weder zwischen den Bäumen, noch auf dem Weg zurück in die kleine Siedlung, konnte sie Wilhelm sehen. Kein Licht, keine Bewegung nahm sie wahr, die zu ihm hätte gehören können.
Stattdessen sah sie, wie sich über dem hohen, bewaldeten Hügel über den letzten Strahlen der hinter dieser Anhöhe untergehenden Sonne, Wolken zusammenballten. Ballen war vielleicht nicht das richtige Wort. Es bildete sich ein Strudel aus hellen, rosig angeleuchteten und dunkleren, violetten, fast schwarzen Wolken, dessen Auge das warme Orange des letzten Sonnenscheins in sich aufsog. Es blickte auf die hohen Hügel. Die Reste des Lichts, das dieser Wirbel entkommen ließ, schienen auf einen Punkt unten zu fallen, in der Nähe des Waldrandes.
Sie richtete ihren Blick wieder auf den Gipfel und grübelte, warum Wilhelm noch nicht eingetroffen war. "Ich mache nur einen kleinen Spaziergang, du weißt, ich denke dabei so gerne an deine Großmutter, Maria. Pass gut auf das Wirtshaus auf solange." Die letzten Worte ihres Großvaters, bevor er verschwand. Was war damals geschehen?
In den Mauern des Schlosses rührte sich nichts, es lag ganz und gar still da, bis auf einmal...
Ein Windzug strich durch den alten, zugewucherten Hof und trieb Partikel des letzten Sonnenlichts dieses Tages durch die schattenverhangenen Wege. Blätter tanzten. Ein Falter, auf dessen Flügeln zwei Augen zu sehen waren, glitt auf dem verschwindend leichten Funkeln der Dämmerung durch das Tor, das einen Spalt geöffnet war.
Das Kind hielt einen Augenblick in seinem Treiben inne, als es das Phänomen am Himmel betrachtete. Seine Augen glänzten und es blitzte in ihnen auf, als hätte es verstanden, was gerade geschehen war. Es lächelte sacht, strich mit seiner Hand über den Kopf einer Blume. Ein kleiner, blauer Schmetterling krabbelte von einem der Blütenblätter auf seinen Finger und kitzelte das Kind mit seinen Fühlern. Die dunklen Augen spiegelten sich in den strahlenden Augen des Kindes. Wiederum strahlte das Kind, hob seine Hand und sandte das zarte Flugwesen in die herannahende Nachtluft.
Als er noch ganz klein gewesen war, hatte ihn sein Onkel oft auf seine Ausflüge mitgenommen. Sein Onkel war Vogelkundler gewesen und war immer früh aufgestanden, als alle noch schliefen. Er weckte den kleinen Wilhelm und nahm seinen verschlafenen Neffen an der Hand. Er ging mit ihm in den Wald, wo sie gemeinsam den ersten Gesang der Vögel erlebt hatten. Jenes sachte, verheißungsvolle Zirpen, das urplötzlich anschwillt und in das von allen Seiten aus allen Baumwipfeln her ein hingebungsvolles und lautes Singen einstimmt, bis der ganze Wald erfüllt davon ist. Oft hatten sie auch Nester untersucht, von Lärchen, Kernbeißern, all dem kleinen Volk der Luft und darin häufig Insekten gefunden, die im Wald von überall auf die zwei Forscher herab fielen.
Dicke, fingergroße Käfer, fremdartige Fliegen, und ab und zu auch, zunächst vom Aussehen her wie ein trockenes Blatt, ein wunderbarer Schmetterling. Obwohl man diesen eher in der Nacht begegnete, oder besser, wenn die Nacht nahte. Sie glitten dann von den Anhöhen des Waldes herab zu den Blumen der Dunkelheit, die an verborgenen Lichtungen verführende Düfte aussandten, die nur von jenen kleinen, geflügelten Schatten erreicht wurden, die die Nacht als ihre Heimstatt hatten. Dann wurde es eigentümlich still im Wald, fast, als ob all die anderen Waldbewohner diesen Zauber nicht stören wollten. Und jetzt fand Wilhelm es ebenso still.
Er blickte sich um und hatte auf einmal keine Ahnung mehr, wie er an diese Stelle des Waldes gekommen war. Neben ihm murmelte ein kleiner Bach leise und gedämpft dem nadelbedeckten Boden etwas zu, das Wilhelm nicht verstand. Nervös packte er seine Utensilien in seinen Rucksack und versuchte, sich anhand der Sonne zu orientieren. Die Sonne war jedoch verschwunden. Er sah nurmehr Dämmerung um sich herum, die in die Stämme herabsank wie eine blaue Decke. Doch da, nur ein wenig entfernt von hier, schien es ihm, als würde ein orangefarbener, warmer Funke durch die Bäume schauen. Er konnte mühsam erkennen, dass in der Richtung, aus der das Licht gekommen war, der Wald sich lockerte. Vorsichtig, bei jedem seiner Schritte auf den weichen Untergrund achtend, ging er darauf zu. Immer wieder musste er aufpassen, nicht zu stolpern und öfter verfingen sich einzelne Äste in seinem Mantel. Schließlich hatte er den Eindruck, dass es heller wurde. Mit jedem Schritt, den Wilhelm vorwärts machte, ließ er die Dunkelheit ein Stück weit zurück. Vor ihm fing der Wald an zu leuchten, es war ein pulsierendes Licht, und Wärme strömte ihm entgegen. Wie in einem magischen Bann gefangen, konnte er seinen Blick nicht davon abwenden. Einen Fuß vor den andern setzend, näherte sich Wilhelm langsam der Lichtung. Ganz plötzlich teilte sich der Wald und Helligkeit umfing ihn mitten in der Nacht. Der Anblick, der sich ihm bot, war überwältigend: so weit das Auge reichte, sah man funkelnde Blumen, und durch dieses Meer jagte der Wind rhythmische Wellen während ein seltsames Licht alles in einen warmen Orangeton tauchte. Er vergaß, woher er kam, er vergaß den Grund seiner Expedition und er vergaß sogar seinen Namen. Bis er von jemandem damit angesprochen wurde:
"Da bist du Wilhelm, Willkommen!" Freude sprach aus den Augen des kleinen Wesens und ein offenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. "Ich habe auf dich gewartet."
"Wilhelm, oh Wilhelm. Was ist nur mit dir passiert?"
Als er langsam seine Lieder öffnete, sah Wilhelm den besorgten Blick von Maria auf sich gewandt. Es taten ihm alle Knochen weh und er wunderte sich, warum es ihm so schwer fiel, sich überhaupt zu bewegen.
"Langsam, du musst dich noch etwas ausruhen. Hier, trink erst einmal einen Schluck."
Das dargereichte Getränk schmeckte fürchterlich und so musste Wilhelm sich zwingen es nicht sofort wieder auszuspucken.
"Ich weiß, dass du sonst leckere Dinge von mir gewohnt bist. Aber meine Großmutter sagte immer: 'Was Genuss bringt, kann nicht heilsam sein.' Zumindest glaubte meine Mutter, dass sie das gesagt hat."
Da er statt etwas zu antworten, immer noch reichlich verwirrt drein blickte, bemüßigte sich Maria zu erzählen.
"Du erinnerst dich, dass du losgezogen bist, um deine erste kleine Expedition in den Wald zu unternehmen?" ein Nicken abwartend, sprach sie dann weiter. "Nun, du bist nicht wie versprochen zum Abendessen zurückgekehrt und ich machte mir schon Sorgen." Das Phänomen am Himmel zu diesem Zeitpunkt verschwieg sie ihm geflissentlich.
"Das ist nun schon fünf Tage her." Sie bedachte Wilhelm mit einem vorwurfsvollen Blick.
"Fünf Tage?"
"Ja. Die Burschen vom alten Hannes haben dich gestern Morgen in der Nähe des Waldrandes gefunden. Sie meinten, du sahst aus wie ein Gespenst als du auf sie zukamst und hast ihnen wohl einen rechten Schrecken eingejagt. Erst wollten sie weg laufen, doch dann bist du zusammen gebrochen und sie hatten wenigstens genug Anstand, Hilfe herbei zu rufen."
Ihm schwirrte der Kopf.
"Maria, da war ein Kind!"
"Ein Kind?" Erst jetzt merkte Wilhelm, dass sie nicht allein im Zimmer waren. Die Stimme kam aus der hinteren Ecke und als er seinen Blick in die Richtung wand, entdeckte Wilhelm eine dunkle Gestalt.
"Woher weißt du meinen Namen?" Als Wilhelm sich wieder ein bisschen gefangen hatte, kam seine gewohnte Neugierde durch.
"Und wo sind deine Eltern, machen sie sich keine Sorgen um dich?" Er konnte weit und breit niemand anderen entdecken. Es gab nur die Gesellschaft der vielen tausend Blumen.
"Kommst du aus einem der nahe gelegenen Dörfer? Ich habe dich bisher glaube, noch nirgends gesehen."
Es lag so etwas wie Spannung in der Luft, die den Wind vibrieren ließ.
Mit einem nachsichtigen Zug um den Mund erklärte das Kind: "Meine Mutter ist die Ewigkeit und mein Vater der Gedanke. Die Sterne am Himmel sind meine Geschwister." Es zeigte mit der Hand nach oben und als Wilhelm seinem Blick folgte, sah er auf einmal statt der dichten Wolkendecke, einen sternklaren Nachthimmel über ihnen. Unzählige kleiner, leuchtender Punkte prangten dort am Firmament und funkelten auf sie herab.
"Ich bin hierher gekommen, weil es mich danach verlangte, den Duft der Blumen riechen zu können, barfuss über eine Wiese zu gehen, die Hände in klares Wasser zu tauchen, eine sanfte Mitternachtsbrise zu fühlen und zu wissen, wie es ist, Wärme zu empfangen. Weißt du, wie das ist, Wilhelm?"
Ein wenig erstaunt über diese Frage, konnte er nicht sofort antworten und so sprach das Kind weiter.
"Ja, du weißt es. Aber du kannst es nicht genießen. Ach, kein anderes Wesen ist zu so viel Gefühl fähig, wie die Menschen es sind. Sie spüren so viel Leid, aber könnten auch so viel Liebe empfinden."
Mit einer wegwischenden Geste vertrieb es die aufkommenden Gedanken und lächelte Wilhelm wieder freudig an. "Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen!"
Die Gestalt trat näher zu Wilhelm und dieser wunderte sich erst jetzt darüber, wo er sich eigentlich befand.
"Herr von Wandersleben, Sie brauchen jetzt Ruhe."
Maria drückte Wilhelms Hand, winkte ihm verabschiedend zu und ging. Wilhelm blickte ihr nach.
"Herr von Wandersleben.."
"Entschuldigen Sie. Eigentlich fühle ich mich schon wieder ganz gut, ich.."
"Wir vermuten.. dass Sie etwas überreizt waren, lieber.. ich werde Sie Wilhelm nennen. Macht Ihnen das etwas aus? Wir werden uns wohl aneinander gewöhnen. Mein Name ist Rohten, Rohten Helligseel. Ich werde Ihr Arzt sein."
"Mein Arzt?"
"Ja. Nun, dieses Kräutergebräu, es wird Ihnen hoffentlich nicht geschadet haben, aber schauen Sie doch bitte, dass das Sanatorium Sie behandelt und nicht Laien, so lieb diese Ihnen auch erscheinen mögen."
"Doktor Helligseel?"
"Nennen Sie mich einfach Rohten."
"Warum tragen Sie diesen Mantel?"
"Es ist eine Kutte. Sie befinden sich im Klostersanatorium 'Waldfrieden'. Wir werden Ihnen helfen, sich zu erinnern, was sich tatsächlich zugetragen hat. Und damit meine ich keine.. Halluzinationen, denn.. wir vermuten, dass Sie Halluzinationen hatten und eventuell noch haben könnten. Die Einbildung ist etwas Tückisches, Wilhelm. Vertrauen Sie nur auf das, was wir Ihnen sagen. Sie sind nun Patient, unser Patient, mein Patient."
"Doktor?"
"Rohten, bitte. Was wollen Sie wissen?"
"Wann kann ich wieder hier raus?"
Als Maria den seltsamen Strudel am Himmel in den Wolken beobachtet hatte, schauderte ihr. Doch trotzdem war sie ins Bett gegangen und hatte am nächsten Tage, in zunehmender Sorge, ihr Tagewerk verrichtet. Als jedoch von Wilhelm am Abend des zweiten Tages immer noch keine Spur war, wusste sie, dass etwas schiefgelaufen sein musste. Sie warf einen Blick in den Himmel. Wolken, einen Spalt offen, Licht. Der Wirbel war wieder da, auch an diesem Abend. Sie verriegelte Zimmer und Gaststube, zog einen Mantel an und ihre schweren Stiefel, nahm ihre Öllampe vom Haken und ging hinaus. Sie schloss hinter sich ab; außer Wilhelm hatte sie keine Gäste.
Es war kühl - feucht und kühl. Wind strich unbequem um ihren Nacken, sie bekam Gänsehaut. So sah sie nicht, wie es aus dem Wald an einer weit entfernten Stelle hervorblitzte, als sie noch einmal herein ging und ihren Schal holte.
Sie ging in Richtung des Waldes. Sie vermutete, dass Wilhelm, in seiner Zerstreutheit, dem seltsamen Naturphänomen gefolgt war, auf das sie ihn ja törichterweise noch hingewiesen hatte. Sie seufzte. Sie musste zum Schloss, dort irgendwo würde sich Wilhelm verirrt haben.
Ihre Schritte nahmen einen ihr bekannten Weg. Früher war sie ihn oft gegangen, um mit Großvater Pilze zu suchen, um dann den Kirchgängern nach dem Gottesdienst ein gutes Mahl bereitstellen zu können. Nie war sie diesen Weg alleine gegangen, bis jetzt. Und nie nachts.
Großmutter war auch so verschwunden, schoss es ihr in den Kopf. Sie verdrängte den Gedanken. Frische Luft strich durch die Gräser und trotz der empfindlichen Kälte hörte sie es noch ab und an zirpen, von einigen unermüdlichen Heupferden, die sich auch in dieser Jahreszeit noch einsam fühlten. Sie sangen. Vielleicht, um ihre Einsamkeit zu vertreiben. Maria hatte sich so darauf gefreut, Wilhelm als Stammgast zu haben; das Knacken des Holzes in der Nacht, die klamme Kühle des ungeheizten Gasthofs, alles das war um einiges erträglicher, wenn man wusste, dass noch jemand da war.
Sie erinnerte sich nicht, wie sie an den Waldrand gekommen war. Kein einziges Mal hatte sie sich umgeblickt, wie weit es nun eigentlich gewesen ist, oder ob in Hardenberg noch Lichter zu sehen waren. Entschlossen ging sie weiter, dem Weg nach in den Wald hinein.
Kurze Zeit später entdeckte sie plattgetretene Stellen im Gras am Rande des Pfads. Ein Fußabdruck war im feuchten Lehm zu sehen. Möglicherweise hatte Wilhelm hier kurz angehalten, eine Spinne mochte sein Interesse geweckt haben, oder irgendeine Blume vielleicht. Sie fand eine weitere Fußspur, die wieder auf den Weg führte. Sie erschien ihr ein klein wenig größer zu sein. Sie vermutete, Wilhelm war wegen der Steigung ins Rutschen geraten, um wieder auf den Weg zurückzukehren, der etwas erhöht lag, damit er bei heftigem Regen nicht weggespült würde.
Maria ging weiter voran, bis der Pfad noch schmaler wurde, schließlich von starken Wurzeln immer wieder durchbrochen wurde, und mehr und mehr anstieg, dem Schloss entgegen - das Waldschloss. Ihr Großvater hatte es immer die Hardenburg genannt, es hatte wohl irgendetwas mit dem Dorf zu tun. Hardenberg - Hardenburg. Wahrscheinlich war das Dorf von dort oben früher beherrscht worden, doch das war lange vorbei. Es gab niemanden, der sich noch an eine solche Zeit erinnerte und, soweit von der Geschichte Hardenbergs bekannt war, gab es auch keine Aufzeichnungen über eine solche Herrschaft.
Sie hörte den Ruf eines Uhus und zuckte zusammen. Ihr war bis zu diesem Moment gar nicht aufgefallen, wie still es im Wald gewesen war. Sollte ein Wald sich nicht.. lebendiger anhören? Was für eine eigenartige Nacht. Sie blickte zum Himmel. Der Wolkenstrudel hatte sich verändert. Seine Öffnung war gewandert, von einer Stelle des Waldrandes aus hatte sie sich jetzt direkt über das Schloss bewegt. Die Wolken bedeckten nun nicht mehr den gesamten Himmel um den Hügel herum, sondern hatten sich über dem Schloss konzentriert. Der übrige Nachthimmel war klar und so konnte sie die Sterne erkennen, deren blasse Lichter es nicht schafften, die übermächtige Nacht zu erhellen.
"Aber was machen sie denn da, Wilhelm? Sie sollten im Bett bleiben und auf die nächste Therapiersitzung warten!" Rohten lief aufgebracht in die Mitte des Klostergartens, wo Wilhelm träumend auf einer Bank saß.
"Ich musste einfach an die frische Luft. Und es geht mir doch schon wieder ausgezeichnet, dank der wundersamen Kräutertränke von der guten Maria."
"Papperlapapp! Diese Frau überschreitet ihre Befugnisse und sollte sich an die Grenzen des Anstandes erinnern, statt jeden Tag einem kranken Menschen ihren Besuch aufzwingen zu wollen. Wenn es Ihnen wieder viel besser geht, dann natürlich wegen der ausgezeichneten Fürsorge, die wir Ihnen hier angedeihen lassen. Das Sanatorium ist dazu ausgestattet, Menschen, wie Ihnen, die unter Orientierungslosigkeit infolge eines traumatischen Ereignisses leiden, zu helfen. Darin sind wir seit vielen hundert Jahren geschult und greifen auf alte, überlieferte Dokumente des Benediktiner Ordens zurück. Solch Gebräu eines Unwissenden kann ihrer Gesundheit höchstens abträglich sein."
"Ach?" mischte sich ein Mann ein, der sich in der Nähe mit verschiedenen Sträuchern befasst hatte. "Vertritt nicht sogar der ehrenwerte Priester Sebastian Kneipp die Auffassung, dass eine Heilung nur durch den ganzheitlichen Ansatz der Medizin Erfolg versprechend sein kann? Und dazu gehören fraglos auch Heilpflanzen."
"Bruder Gutfried, halten sie sich da heraus, wenn ich meinem Patienten versuche, die Zweckmäßigkeit der verordneten Bettruhe zu erklären. Wir wissen schließlich was wir tun, ganz im Gegensatz zu erwähntem Herrn Kneipp, der vom rechten Wege abgekommen ist und sich irgendwelchen Hirngespinsten hingegeben hat."
"Soso! Seine beschriebenen Praktiken der Hydrotherapie finden hier aber ebenso Anwendung, wie mancherlei Güsse, Bäder, Waschungen und Wickel mit Kräutern, und noch dazu mit Erfolg."
"Alles was an seinen Therapievorschlägen nützlich ist, hat der gute Herr Kollege den überaus informativen Büchern der Ärzte Hahns entnommen. Desweiteren sind die einzig wirkungsvollen Anwendungen der Wassertherapie dem Heiler Vincenz Prießnitz zuzuschreiben. Man darf den Patienten nicht verhätscheln, sondern muss ihn abhärten gegen einen weiteren Krankheitsbefall. So zum Beispiel seine Methode, den Betroffenen auf eine eiserne Liege fest zu schnallen und eisiges Wasser aus sechs Metern Höhe auf ihn herabschütten zu lassen."
"Wie Sie es zweifelsohne auch mit dem armen Wilhelm vorhaben, der nichts weiter verbrochen hat, als einige Tage im Wald zu nächtigen."
Mit großen Augen beäugte Wilhelm seinen persönlichen Arzt, hoffend auf eine Verneinung seinerseits.
"Anstelle dessen würde ausreichende Bewegung und Belastung des Herz-Kreislauf-Systems sowie die Empfehlung und der Genuss einer einfachen, naturbelassenen Kost unseren Wilhelm viel schneller wieder zu Kräften kommen lassen."
"Mischen Sie sich nicht in meine Angelegenheiten! Ich bin für Herrn Wandersleben verantwortlich und es obliegt allein meiner Einschätzung, welche Therapien hier angebracht erscheinen."
"Entschuldigen sie mal, ich habe nicht darum gebeten, hier behandelt und festgehalten zu werden!"
"Es ist für ihr eigenes Wohl das Beste. Sie können noch keine objektiven Entscheidungen treffen und leiden an den Folgen übermäßiger Sinneseindrücke. So etwas kommt gelegentlich vor, und wir pflegen Sie auch, ohne dass sie ihrem Dank uns gegenüber Ausdruck verleihen müssten."
Völlig überrumpelt ließ Wilhelm sich von Rohten mitziehen.
"Und jetzt kommen Sie, genug Zeit im grellen Sonnenlicht verbracht. Wenn Sie nur keinen Rückfall erleiden und die Halluzinationen Sie wieder heimsuchen. Sicher wartet man schon ungeduldig, um Sie wie verschrieben zur Ader lassen zu können."
Sie entfernten sich aus dem Hof und ließen einen mitleidvoll blickenden Mönch zurück, der sich wieder seinen Pflanzen zuwandte.
Die Luft war angefüllt mit dem Duft der unterschiedlichsten Blumen und hatte beinahe eine berauschende Wirkung auf Wilhelms Sinne, als er, dem Kind folgend, über die Wiese ging. Sie kamen an einen kleinen Teich, der die nächtlichen Sterne widerspiegelte. Und als sich das Kind niedersetzte, umschwirrten sie dutzender bunter Schmetterlinge. Wilhelm entdeckte einige ihm bekannte Arten wie Bläulinge, Spanner, Zünsler, Pappelschwärmer, den großen Feuerfalter und den kleinen Fuchs. Seltsamerweise mischten sich Tag- und Nachtschwärmer, und einige Exemplare von Wanderfaltern, die um diese Jahreszeit eigentlich schon auf dem Weg zu wärmeren Gefilden sein müssten, traf man hier auch noch an.
"Sind sie nicht wundervoll?" Das Kind wandte sein Interesse den fliegenden Tieren zu und blickte in die bunte Schar. Ein Pfauenspinner setzte sich auf den ausgestreckten Finger des Kindes und schien den Gast neugierig zu beäugen.
"Dies ist eins der Exemplare, die keine Nahrung mehr zu sich nehmen, sobald sie das Stadium der Raupe hinter sich gelassen haben. Aber denkst du, dass es traurig darüber wäre, Wilhelm? Jedes Ding hat seine eigene Ewigkeit, solange es existiert."
"Ich mag Schmetterlinge, weil es eine unermüdliche Aufgabe ist, sie zu erfassen. Nach den Käfern sind sie wohl die artenreichste Insektenordnung der Biologie und kaum ein anderes Tier macht eine vollständige Metamorphose durch. Man muss sich nur allein ihre komplexen Eier anschauen, deren Formenvielfalt zwischen schmal spindelförmig, oval, kugelig, halbkugelig, linsenförmig und flach zylindrisch variiert."
Schon wollte er sein dickes Buch herausholen und ein weiteres Mal Ergänzungen zu seinen Aufzeichnungen machen, als das Kind eine Hand auf seine legte.
"Schau sie dir doch einmal nicht als wissenschaftliches Objekt, sondern als Individuen an. Sind sie nicht beispielhaft für die Schönheit der Natur? Hier hat sich die Vergänglichkeit ein unsterbliches Denkmal gesetzt."
Wilhelm wusste mit diesen Worten nichts anzufangen, alles was er sah waren Imago, deren Körperbau dem Grundbauplan praktisch aller übrigen Insekten entsprach: Kopf mit Fühlern, Augen und Rüssel, Thorax mit Flügeln und Beinen, sowie das Abdomen. Alles in ein äußeres Chitin-Skelett in Ringen angeordnet und durch Gelenkhäute beweglich miteinander verbunden.
"Du wirst wohl lernen, mit dem Herzen zu sehen, Wilhelm. Deine Augen zumindest sind sehr schlecht geworden, um den Wert von etwas zu erkennen, das man fühlen muss."
Es besah seinen Gegenüber mit einem vieldeutigen Zwinkern.
Maria zwinkerte, als eine kleine Motte gegen ihre Wimpern stieß und dann wieder im Wald verschwand. Sie rieb sich die Augen. Dann ging Maria weiter bergauf, dem Trampelpfad folgend, bis sie schließlich zu der Stelle kam, an der der unsichere Lehmboden von granitenen Stufen abgelöst wurde, die direkt zum Schloss führten.
Sie füllte etwas Lampenöl nach, als die Lampe unruhig zu flackern begann. Plötzlich versetzte ihr etwas einen Stoß; sie konnte nicht sehen, was es war. Sie fiel auf eine der Steinstufen. Ihr Rücken schmerzte, doch sie hatte die Lampe gerettet, wenn auch die Flamme erloschen war. Maria fluchte verhalten und suchte in der Dunkelheit in ihrem Mantel nach den Feuersteinen, während sie hoffte, dass das unsichtbare Etwas nicht noch einmal auf sie herabstieß. Nach einigen Funken und einer ganzen Anzahl an Versuchen, gelang es ihr, die Leuchte wieder zu entzünden. Im ruhigen Licht der Laterne stieg sie weiter Richtung Schloss.
Vor ihr, auf einer Granitstiege, lag ein Stock. Es war kein von irgendeinem Baum abgebrochener Ast, kein zufällig gefallenes Stück Holz. Dieser Stock war verziert. Sein oberes, knorriges Ende schien das Gesicht einer jungen Frau zu sein, während die weitere, verschlungene Form des Stabes ganz aus geschnitztem Haar bestand. Am unteren Ende war eine feste Eisenspitze befestigt, wohl, um auch in unwegsamem Gelände guten Halt zu haben und um im Notfall eine Waffe zum Einsatz bringen zu können. Es war der Wanderstock ihres Großvaters.
Gedankenverloren hob sie den Stab auf und befühlte das vertraute Holz mit ihren klammen Fingern. Sie hatte ihn oft halten dürfen, während der Wanderungen, während Großvater einen Pilz einsammelte, oder ein seltenes Kraut abschnitt. Sie setzte sich auf eine Stufe und starrte verträumt in die Dunkelheit, als plötzlich das Unsichtbare erneut auf sie herabstieß und sie auf den harten Granit warf. Aus einem Reflex heraus hielt sie den Stock in Richtung des Angreifers, der sie erneut attackierte, dieses Mal jedoch überrascht einen dumpfen Laut ausstieß, als er auf die Spitze des Stabes traf. Dunkel gurgelnd entfernte sich der Schatten und im Lichtschein ihrer Laterne sah Maria eine purpurne Flüssigkeit an ihrem Stab herablaufen...
Der Himmel war wie dunkler Samt, als Maria furchtlos aufstand und über die verwitterten Schieferplatten des Vorplatzes zu dem großen, eisernen Tor des Schlosses kam. Es schien zugesperrt, doch sie konnte keinerlei Riegel erkennen. So lehnte sie sich mit ihrem Gewicht gegen die rostverformten Stangen des schwarzen Gittertores. Es klemmte. Sie warf sich einige Male dagegen und unter einem ungesunden Knirschen öffnete sich das Tor schließlich einen Spalt.
Dann hielt Maria inne und rieb sich die Schulter. Unmöglich, dass Wilhelm hier hineingegangen war, dazu war das Tor zu fest verschlossen gewesen. Nun, vielleicht war er geklettert. Sie zögerte. Wilhelm oder nicht, nun war sie einmal hier und irgendwie lockte das Schloss sie, das Schloss und ihre Neugier. Sie zog den Schal fester um ihren Hals und zwängte sich durch die schmale Öffnung.
An den Seiten des fast völlig überwucherten Weges standen uralte und riesenhafte Bäume, deren Blätter im Wind rauschten und flüsterten. Verschlungen führte der Pfad vorbei an zugewachsenen Marmorbrunnen und verwitterten Statuen, deren blinde Augen auf das riesenhafte Holztor blickten, das, von einem Strudel aus Mondlicht erhellt, den Zugang zum Innenhof versperrte. In dem intensiven Licht vor dem alten Gemäuer tanzten hunderte und aberhunderte von Faltern und Motten, die vom Silber des Mondes unwirklich strahlten. Als Maria näher kam, bemerkte sie einen schweren, rauschhaft süßen Duft, der von der Pflanze, die sich um den Torbogen wand, auszugehen schien. Aus den weißen Blütenkelchen des Gewächses strömte ein unwiderstehliches Parfum.
Maria atmete schwer ein und aus, stützte sich auf ihren Stab, ließ sich von den Wirbeln aus Schmetterlingen umschwärmen. Zwei einfache Messingringe hingen an beiden Torflügeln. Sie zog heftig an einem der Griffe und zu ihrer Überraschung öffnete sich das Tor geräuschlos. Maria ging durch den Torgang hindurch in den Innenhof und war erstaunt, wie wenig sich hier drinnen die Natur ausgebreitet hatte. Fasziniert ging sie weiter und hielt schließlich vor einer Tür an, die ganz leicht offen stand.
Im Kühlen, im Dunkeln, in den Mauern atmete etwas schwer. Seine Lungen gurgelten, es war verletzt. Es kroch in seine Kiste, stöhnte, dann, im gleichen Augenblick, schien es sich zu erholen. Es fauchte und seine Krallen wetzten scharf am harten Holz seiner Schlafstätte. Ein geisterhafter Schrei hallte an den Wänden wider, als es seine Zähne in einen bleichen Kokon schlug, der in einer Ecke der Kammer neben einigen anderen lag. Plötzlich drehte es sich blitzschnell um, als hätte es hinter seinem Rücken etwas gesehen, und starrte mit kalt leuchtenden Augen in die Dunkelheit.
Wilhelm schrie auf. Etwas rüttelte an ihm. Er schlug die Augen auf und sah vor sich Rohten. "WILHELM! Wachen Sie auf!" Kalter Schweiß rann von Wilhelms Stirn. "Was habe ich Ihnen gesagt? Bettruhe, Bettruhe, Bettruhe. Diese verdammten.." Rohten nahm die Tasse, die Maria für ihre Kräutertees benutzte, und warf sie gegen die Mauer von Wilhelms Zimmer. "Was machen Sie nur, Wilhelm, können Sie mir das sagen?" Der Arzt war ganz rot im Gesicht vor Aufregung. "Was haben Sie nun schon wieder gesehen? Nein, halt, ich will es eigentlich gar nicht wissen. Bleiben Sie nur bitte im Bett, um Ihrer Gesundheit willen!" "Augen." flüsterte Wilhelm. "Eisige, gierige..." Rohten schrie etwas in den Gang. Sofort hörte Wilhelm eilige Schritte. "Bleiben Sie ganz ruhig. Sie sind mein Patient, vergessen Sie das nicht. Alles wird gut. Bleiben Sie hier. Ich bin sofort zurück." Mit diesen Worten stürmte Rohten aus dem Raum hinaus, laut fluchend.
Einige Zeit später hatte sich die Aufregung rund um das Zimmer des Patienten Wilhelm Wandersleben wieder gelegt und man kehrte zur gewohnten Gleichförmigkeit und Ruhe zurück. Von irgendwoher hörte man gedämpfte Gesänge und draußen vor dem Sanatorium wie auch im Innenhof waren eifrige Kuttenträger mit der Instandhaltung und Pflege der Grünanlagen beschäftigt. Einer von ihnen widmete sich mit besonderer Fürsorge dem Kräutergarten, als sich eine weibliche Person zu ihm gesellte.
"Sebastian, wie geht es ihm denn? Beginnt seine Erinnerung schon zurück zu kehren?"
"Er hat einen starken Geist und ich denke, die Tees, die ich ihm in deinem Namen zukommen lasse, tun ihr übriges, um den Prozess zu beschleunigen."
"Ja, leider lässt mich sein selbsternannter Leibarzt nur noch selten in das Krankenzimmer. Ich bin dir wirklich zu Dank verpflichtet."
"Ach was, wir stehen doch auf der selben Seite. Und ich fühle mich geehrt, in diesem speziellen Fall behilflich sein zu können. Weißt du, es war noch nicht mal besonders schwer gewesen, mich in das Sanatorium einzuschleichen. Ein bisschen wissenschaftliches Können angedeutet, lautstark gebetet und natürlich kräftige Arme. Ganz nach dem Motto: Ora et labora!"
"Sei nur auf der Hut, dass Rohten nicht zu misstrauisch wird. Ich habe gehört, du hast schon wieder mal mit ihm debattieren müssen." Mit einem halb geschlossenen Auge und einem frechen Grinsen war diese Aussage wohl schwerlich als Rüge zu verstehen. So lächelte er im Gegenzug Maria mindestens genauso frech an.
"Es ist wirklich ein glücklicher Umstand, genau unter seiner Nase die so vielfach verfluchten Gewächse anbauen zu können. Wenn er von dieser Ironie erfahren würde, würde er sich sicher auch die letzten Haare vom Kopf raufen." Fast wie die zärtliche Geste einer Geliebten gegenüber, streichelte Gutfried die Blüten eines größeren Strauchs.
"Wie lange, denkst du, ist es sinnvoll, den armen Wilhelm noch hier drin zu lassen? Irgendwann wird sein Freiheitsdrang zu stark werden oder aber seine neugierige Intelligenz. Schließlich würde es mich auch verwundern, warum du mich als schwache, hilflose Person nicht erst einmal in deinem eigenen Gasthof aufgenommen hast, statt zu einem weiter entfernten Kloster zu bringen."
"Wir wissen doch beide, dass es so das beste ist. Ich muss zu viel erledigen, von dem er noch nichts wissen darf. Halte ihn hin so gut du kannst und beobachte seine Genesung besonders aufmerksam. Manche Dinge dürfen nicht vor ihrer Zeit aus dem Dunkel der Erinnerung ans Tageslicht zurück kehren"
Mit einem freundlichen Händedruck verabschiedete sich Maria bald wieder, warf einen Blick in die Richtung von Wilhelms Zimmer und murmelte etwas wie: "Möge sich alles zum Guten wenden!"
Bruder Gutfried wandte sich bedeutungsvoll den Pflanzen zu und merkte nicht, wie jemand misstrauisch der davonschlendernden Frau hinterher blickte.
Die Tür schwang auf und wie es seine Gewohnheit war trat Rohten ohne ein Klopfen in das Zimmer seines Patienten.
"Guten Morgen. Ich hoffe Sie hatten eine alptraumlose Nacht?" Forschend schaute er sich im Zimmer um, nach den Anzeichen einer Tasse suchend, die wenn dann ohne sein Wissen hier gelandet wäre und schaute befriedigt in Wilhelms Gesicht, nachdem er keine finden konnte. Ein Fleck an der Wand auf der gegenüberliegenden Seite zeugte noch von seiner letzten Reaktion, eines solchen Gefäßes gegenüber.
"Es geht mir wie schon seit längerem ausgezeichnet. Wird es nicht Zeit, mich für gesund zu erklären?"
Nachsichtig erklärte der Doktor: "Aber nicht doch. Sollten wir sie verantwortungsloserweise zu früh entlassen, wäre ein Rückfall unumgänglich. Das wollen wir doch auf jeden Fall vermeiden. Da ich mir aber schon denken konnte, welches Verlangen sie nach weiterer Forschung haben, ließ ich mir sagen, welch großes Interesse sie insbesondere den Schmetterlingen gegenüber an den Tag legen, und habe ihnen ein Exemplar mitgebracht. Zwar vermag ich nicht zu beurteilen, ob es sich um ein besonderes handelt.."
Mit einer ehrfurchtsvollen Geste holte Rohten ein aufgespießtes Insekt hinter seinem Rücken hervor. Da er so konzentriert auf besagtes schaute, entging ihm gänzlich wie eine auffallende Blässe plötzlich das Gesicht Wilhelms überzog. Dieser musste schwer schlucken.
"Das ist hoffentlich aus einem guten Willen heraus. Aber ich gehöre nicht zu den Wissenschaftlern, die ihr Objekt der Begierde hinter dickem Glas sehen wollen. Sie können es gern der 'Bayrischen Zoologischen Staatssammlung' übergeben, die inzwischen die größte Schmetterlingssammlung der Welt besitzen müsste, seit es ein eigenes Konservatorium errichtete."
Etwas verunsichert legte der Arzt den Schmetterling, der zu Lebzeiten sicher ein besonders schönes Beispiel für ein Tagpfauenauge gewesen war, auf den Nachttisch und ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Die Farbe des Tieres hatte inzwischen all ihr Leuchten und jede Ausstrahlung, die es einst besessen haben mochte, eingebüßt. Hier gab es nur noch ein lebloses Objekt und Wilhelm selbst konnte sich kaum erklären, warum ihm jede Begeisterung dafür ab ging. Es war einfach nicht dasselbe, wie ein Lebewesen in freier Natur oder zumindest unter natürlichen Bedingungen beobachten zu können. Wilhelm streckte die Hand aus und beim Berühren der zarten Flügel, hatte er das Gefühl, auf einmal tausender, lebender Schmetterlinge um sich herum flattern zu hören. Bildfetzen hingen in seinen Gedanken, von längst vergessenen Zeiten der Erinnerung. Da war die liebliche Stimme eines jungen Wesens, das freundlich mit ihm sprach und ihm wichtige Dinge anvertraute. Aber er konnte sich partout nicht daran erinnern, was das für Dinge waren. Allein der Satz: "Du bist deine eigene Grenze!" verbunden mit der Aufforderung, sich darüber zu erheben, kam ihm wieder und wieder in den Sinn. Die Sonne schickte einen schmalen Strahl durch das offene Fenster auf Wilhelms Gesicht. Er war geblendet von Licht und musste mehrfach blinzeln. Als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, war der Schmetterling verschwunden und ließ einen abermals irritierten Mann mit seinen verwirrenden Gedanken allein.
Als Maria die Tür öffnete, schlug ihr Kühle entgegen. Mondlicht breitete sich in dem Gewölbe aus und beleuchtete große, marmorne Pfeiler, die den Eingang säumten. Zwischen ihnen spannte ein Spinnennetz von gewaltiger Größe. Sie sah einen Falter, der sich darin verfangen hatte und von Zeit zu Zeit hilflos zappelte. Maria wickelte einen Teil des Netzes um ihren Stab und versuchte dann, das kleine Insekt mit ihren Fingern von der klebrigen Seide zu trennen. Es gelang mehr schlecht, als recht. Sie setzte den Falter vor die Türe und gab ihm einen Schubs, so dass er in Richtung des Ausgangs humpelte. Als sie ihren Stock danach von den störenden Spinnenweben befreien wollte, bemerkte sie etwas Seltsames: Die purpurne Flüssigkeit an der Stockspitze war verschwunden, es waren keine Spuren mehr von ihr zu sehen. Als sie ein leises Rascheln hörte, drehte sie sich zurück in den Raum.
Spinnen - viele, kugelförmige, schwarze Spinnen. Sie krabbelten überall an den Resten des Netzes entlang und sponnen, als ob es um ihr Leben ginge, ihre stabilen und grazilen Fäden, um das Netzwerk zu reparieren. Nach wenigen Augenblicken sah der Raum wieder so aus wie zuvor.
Maria entschloss sich, um das Spinnengewebe herumzugehen. Weiter hinten im Raum sah sie im Flackern der Lampe einen Thron aus dunklem, altem Holz. Verschlungene Schnitzereien zierten seine Rücken- und Armlehnen. Als sie genauer hinschaute erkannte Maria auf der linken Seite des Stuhles einen geschnitzten Schmetterling als Ende der Armlehne, Rechts war an dieser Stelle eine Spinne. Sie strich über den Schmetterling und das Holz fühlte sich hart an, nicht im mindesten morsch. Hart und warm, fast so, als würde es leben.
Sie wandte sich wieder vom Thron ab und begann, die linke Hälfte des Areals zu untersuchen. Dort befand sich eine Tür, auch sie war aus jenem dunklen Holz gemacht, mit dem der majestätische Stuhl gefertigt wurde. Ein Wappen schmückte jene Tür. Es war ein Falter mit einigen Verzierungen, die wohl Lichtstrahlen darstellen sollten - sieben Strahlen, wie Maria zählte. Ihr fiel erst jetzt auf, dass sich nicht ein einziges Körnchen Staub auf der Türe oder auf dem hölzernen Sessel befand. Sie drückte gegen den Schmetterling und das Tor zum angrenzenden Zimmer öffnete sich leise.
Die große, aus weißem Marmor gefertigte Statue eines Schmetterlings war das erste, was Maria in dem Raum sah. Das Strahlen ihrer Laterne spiegelte sich hundertfach in den glitzernden Facettenaugen des Schmetterlings, die aus einem gänzlich anderen Material als Marmor zu bestehen schienen. Völlig hingerissen strich sie mit ihrem Finger über eines der faszinierenden Augen. Es fühlte sich glatt an, aber zugleich kantig. Etwas ließ sie aufblicken.
An dem Tisch weiter hinten saßen nun auf drei Stühlen drei Personen. Diese waren in weite, blaue Gewänder gekleidet und trugen allesamt Amulette aus Silber mit eben jenem Schmetterlingssymbol, das Maria bereits an der Tür gesehen hatte. Sie ging näher an die Gestalten heran und erkannte, es waren zwei Männer und eine Frau, die Maria jedoch augenscheinlich nicht wahrnahmen. Ihre Münder bewegten sich und sie schienen sich über irgendetwas auszutauschen. Doch Maria konnte kein Geräusch hören, kein Ton kam aus ihren Kehlen, den sie hätte wahrnehmen können, so sehr sie sich auch bemühte. Fasziniert sah sie ihnen zu. Nach kurzer Zeit löste Maria ihren Blick jedoch, weil sie wiederum etwas bemerkte. An den Wänden des Raumes hingen Bilder, vier Bilder um genau zu sein. Sie ging an der Mauer entlang und betrachtete diese eingehend. Dabei stürzte sie beinahe in eine Vertiefung am Boden, wo eine steinerne Treppe hinab führte, ließ sich aber nicht ablenken und untersuchte die Gemälde weiter. Es waren Portraits. Maria glaubte, in ihnen das Antlitz der Gestalten, die dort am Tisch saßen, wiederzuerkennen. Doch etwas stimmte nicht. Sie rätselte, dann wurde klar, warum sie die Bilder so irritierten. Die Gesichter auf ihnen waren eindeutig älter, faltiger als die der Personen, die am Tisch ihr stummes Murmeln... Als sie wieder zu der Tafel blickte, war dort niemand mehr. Außerdem gab es noch eine vierte Abbildung in dem Zimmer. Es hing neben einer anderen großen Schmetterlingstüre, war ein wenig größer, und eine Sache machte dieses besonders auffällig: Der darauf abgebildete Mann sah genauso aus wie Wilhelm.
Er fühlte sich schwach und schwitzte kalt, als er in seinem Morgenmantel durch die nächtlichen Gänge schlurfte. Was war nur mit ihm los, was geschah mit ihm? Selbst sein Kopf schien nicht mehr vernünftig zu funktionieren. War er wirklich verrückt? Was bedeuteten diese Träume? Er musste leise sein, sonst würden sie ihn wieder ans Bett fesseln, wie es schon einmal geschehen war. Links. Rechts. Links. Geradeaus. Wieder links. Vorsichtig öffnete er die Tür zum Klostergarten und atmete die frische Nachtluft mit Genuss ein. Wie gut das tat. Plötzlich hielt er inne. Mitten im Garten, auf einem Fleck weißen Mondlichts, stand eine Gestalt. Er konnte hören, dass sie, obwohl sie ihn nicht zu bemerken schien, kicherte.
Behutsam schloss er die Tür und drückte sich in den Schatten des Torbogens. Im schwarz-weißen Licht der Nacht konnte Willhelm sehen, dass eine Frau dort mitten im Garten stand und zu tanzen schien. Sie griff mit ihren Händen in den von Motten erfüllten Mondstrahl und drehte sich dabei um sich selbst. Als sie auf den schiefernen Platten immer wieder in die Luft sprang, merkte er, dass sie keine Schuhe trug. Dann sprang ihm etwas ganz anderes ins Auge.
Was er im ersten Moment für ein zielloses Tanzen gehalten hatte, war etwas völlig Zielgerichtetes. Mit den schnellen Bewegungen ihrer zarten, weiß schimmernden Hände, pflückte sie die kleinen Insekten um sie herum aus der Luft und steckte sie, mit einem leisen Schmatzen, in den Mund. Er trat aus dem Schatten heraus. "Entschuldigen Sie, was..?" Sie zuckte zusammen und starrte Wilhelm aus dunklen Höhlen an. Als sich der Mond in ihren Augen spiegelte, sah es aus, als wären ihre Pupillen weiße Punkte im dunklen Bett ihrer hypnotisierenden Augen. Sie schaute ihn nur an, lange und intensiv, und schwieg dabei. Wilhelm erwiderte gefangen ihren Blick. Da plötzlich, aus einem Wimpernschlag heraus, glitt sie an ihm vorbei, in das Kloster hinein. Wilhelm lief ihr hinterher, doch er war zu erschöpft, um sie einzuholen und so verklangen die gedämpften Schritte ihrer weichen Fußsohlen in den Steingängen des Sanatoriums. Wilhelm fühlte einen kalten Windstoß als die Tür zum Klostergarten zuschlug mit einem lauten Knall.
Er rannte eilig zu seinem Zimmer zurück, durch die Gänge. Sie durften ihn nicht erwischen. Wilhelm öffnete die Tür zu seinem Raum, während er schon weitere, aufgeregte Schritte hallen hörte, und schloss sie schnell wieder hinter sich. Er hängte seinen Morgenmantel sorgfältig über den Stuhl an seinem kahlen Frühstückstisch. Dann legte er sich in sein Bett, deckte sich gut zu und schloss die Augen. Als am Morgen Rohten Wilhelms Zimmer betrat, schlief Wilhelm tief und fest.
"Guten Morgen. Gut sehen Sie aus, Wilhelm. Sie sollten heute wirklich einmal spazierengehen. Natürlich nicht aus Waldfrieden heraus, aber hier rund um das Kloster herum gibt es einige interessante Pflanzen, die Sie sich anschauen könnten. Zumindest meint das Gutfried." Rohten seufzte. "Sehen Sie, ich habe Ihnen einen Schinken besorgen lassen, da ich der Meinung bin, dass sie jetzt genügend gefastet haben, und ein gutes Brot. Essen Sie kräftig, greifen Sie zu. Ihr Schicksal liegt in Gottes Hand und ich muss sagen, er scheint sie gut geführt zu haben. Sein bescheidener Diener ist natürlich sehr glücklich darüber." Rohten wandte sich in eine Ecke und murmelte etwas, die Hände gefaltet. "Ach übrigens, Wilhelm?" Wilhelm blickte Rohten fragend an. "Haben Sie eigentlich gut geschlafen?"
"Ja, wirklich. Sehr erholsam ist es hier, Doktor Rohten. Obwohl, in der Nacht schien es mir, als hätte ich eine Tür schlagen gehört und es war mir, als ob jemand den Gang entlang rannte. Aber ich dachte mir nichts dabei und bin gleich wieder eingeschlafen. Wissen Sie etwas darüber oder habe ich das geträumt?"
Rohten schüttelte den Kopf. "Dieses Mal haben Sie nicht geträumt, Wilhelm. Eine Patientin hat heute Nacht ihr Zimmer verlassen und eine Menge Aufruhr verursacht. Sie rannte panisch durch die Gänge und wir mussten sie unbedingt fangen, bevor sie sich etwas antun konnte. Sie ist.. ein wenig schwierig. Wir dachten eigentlich, ihr Zustand hätte sich gebessert, aber jetzt werden wir sie wohl wieder fixieren müssen." Rohten atmete ein. "Schade, wirklich schade um die junge Frau. Sie redet nicht einmal mit uns, wissen Sie? Völlig verrückt."
"Wer ist sie?"
"Ich fürchte, das darf sie Ihnen nur selbst sagen, Wilhelm. Das Arztgeheimnis, Sie verstehen sicher. Und Gott weiß, ich wäre der letzte, der Ihnen verbieten würde, mit ihr zu reden. Wenn Sie sie zum Reden bringen sollten, wie wären wir Ihnen dankbar. Wenn Sie sie besuchen wollen, wäre das auch ein Ausflug für Sie. Ich denke schon, dass ich bei Ihnen die Zügel jetzt etwas lockerer lassen kann." Rohten legte Wilhelm zum Abschied noch einmal die Hand auf die Stirne, dann klopfte er ihm auf die Schulter und verließ das Zimmer.
Von seiner Neugierde, mehr über das seltsame Phänomen der Nacht zu erfahren, und dem seltsamen Gefühl getrieben, dass es in irgendeiner Weise mit ihm zutun hat, nutzte Wilhelm die erstbeste Gelegenheit, zu dieser Patientin zu gelangen. Nach der Morgenandacht und dem routinemäßigen Aderlass, spazierte er Richtung Frauentrakt. Wie in einem Kloster üblich, waren die Geschlechter streng von einander isoliert und wurden nur getrennt untergebracht. Um so überraschender ist es, dass wir uns überhaupt begegnet sind, grübelte Wilhelm. Unterwegs sah er einige ihm inzwischen vertraute Gesichter und grüßte freundlich zu allen Seiten.
Da es seit neuestem zur Mode der wohlhabenderen Oberschicht gehörte, sich für eine Kur in ein abgelegenes Sanatorium zurück zu ziehen, war man hier inzwischen an seltsame Gäste gewöhnt. Es mischten sich Müßiggänger mit reichen Erben und Gattinnen, die es für nötig erachteten, ihre obskuren Süchte und Sehnsüchte behandelt zu sehen. So litt zum Beispiel die Gräfin von Reichenbach unter krankhafter Langeweile und hätte Wilhelm gern ausgiebig von ihrem eintönigen Leben erzählt, und der groben Vernachlässigung durch ihren Ehegatten. Aber dieser beeilte sich, nicht in ein Gespräch mit der vornehmen Dame verwickelt zu werden und ging zielstrebig die Korridore entlang zu dem Raum, in dem sich das mysteriöse Wesen laut Auskunft einer der Schwestern, befinden sollte.
"Aber bitte regen sie unsere arme Elli nicht zu sehr auf. Wenn sie ihre Anfälle bekommt, ist es sehr schwierig, sie wieder zu beruhigen." hatte sie noch hinzugefügt.
"Wie lange ist denn … äh, Elli… schon in der Obhut des Klostersanatoriums?" wollte Wilhelm weiter wissen.
"Den Namen Elisabeth haben wir ihr gegeben, weil er 'die Gott verehrt' bedeutet und sie oft so seltsam betend vor sich hin murmelt. Das fanden wir sehr passend. Nun mittlerweile sicher schon gut 2 Jahre. Das arme Ding hat seit damals, als man sie im Wald gefunden hat, keinen sinnvollen Satz herausgebracht. Wer weiß, welch schreckliches Ereignis diese Verwirrtheit ausgelöst haben mag." Dabei umklammerte die Nonne ihren Rosenkranz und eilte dann, ihren täglichen Verpflichtungen nachzukommen.
Nachsinnend, was es wohl mit dem letzten Kommentar auf sich haben könnte, klopfte Wilhelm nun an die Zimmertür. Doch statt einer Antwort, hörte er nur merkwürdige Geräusche und öffnete schließlich ungebeten.
Im ersten Moment dachte er, in eine andere Welt hineingeraten zu sein. Was ihn im Innern des Raumes erwartete, hatte sicher nichts mit dem zu tun, was er sich unter einem Krankenzimmer einer aller Behauptung nach geistesgestörten Frau vorgestellt hätte. Die Wände waren übersäht mit bunten Farbklecksen und ungeordneten Ansammlungen von Linien, Kreisen, merkwürdigen Mustern und dazwischen immer wieder kleine… Schmetterlinge! Und mitten in diesem kunterbunten Durcheinander von Grün, Blau, Rot, Gelb, Orange und Violett saß eine Gestalt, in weißes Leinen gehüllt auf dem Boden und wiegte sich in einem eigentümlichen Singsang.
Wilhelm trat näher und wusste nicht so recht, was er sagen sollte.
"Äh,… hallo… Elli. So nennt man dich doch, oder?" Keine Reaktion
"Gefällt dir der Name nicht, soll ich dich vielleicht anders nennen?" Immer noch war keine Veränderung an dem Geschöpf, dort auf dem Fußboden zu erkennen. Die Frau schien gedanklich nicht anwesend zu sein, der Blick war starr auf etwas weit in der Ferne gerichtet, das wohl nur sie selbst sehen konnte.
"Wir sind uns letzte Nacht begegnet, erinnerst du dich?" Die seltsamen Geräusche aus ihrem Mund hatten aufgehört, für einen kurzen Moment wirkte sie gegenwärtige.
"Ich habe dich dabei beobachtet, wie du Motten gegessen hast!" Wieder drifteten ihre Gedanken fern von diesem Ort und das stete Vor und Zurück ihres Oberkörpers begann von neuem.
"Magst du Schmetterlinge?" Wilhelm zeigte auf die vielen kleinen, geflügelten Tiere an der Wand. Dabei begutachtete er sie selbst genauer und ihm fiel auf, dass man die bunten Muster dazwischen durchaus als eine Blumenwiese bezeichnen könnte. Ja, es sah tatsächlich aus, als könne man bunte Köpfe sich im Wind wiegen sehen. Je länger er darauf schaute, desto merkwürdiger wurde ihm. Etwas geschah auf einmal. Als er sich umdrehte, der Frau ein weiteres mal eine Frage stellen wollend, saß sie nicht mehr auf den Steinen. Plötzlich umklammerte ein fester Griff seinen Arm und zwei Augen nahmen ihn gebannt gefangen. Es waren eher zwei dunkle Höhlen, die eine hypnotisierende Wirkung ausübten. Die Schwärze von ihnen breitete sich aus. Mit einem mal wurde Wilhelm schwindlig, alles fing an sich zu drehen. Übelkeit kroch seinen Hals hinauf, er schluckte schwer, rang nach Atem, wollte, dass es aufhört, wollte hier raus. Panik! Was geschah mit ihm? Wo war er? Dunkelheit. Tiefe Nacht umfing ihn…
Und auf einmal blinkende, kleine Punkte. Nein, es waren Sterne. Als Wilhelm genauer hin sah, erkannte er den schwarzen Nachthimmel über sich mit etlichen prunkenden Lichtern übersäht. Er bewegte sich - langsam. Hinter seiner Stirn dröhnte es dumpf. Die Luft roch angenehm. Er kannte diesen Duft. Es war das Parfum, das entsteht, wenn verschiedenste Arten von Blumen zusammen treffen. Und ihm wurde mit einem Schlag klar, wo er sich befand. Wilhelm hob den Blick und schaute direkt in das undurchdringliche, Freude ausstrahlende Paar Augen eines kleinen Menschenkindes.
"Ist das ein Traum? Träume ich?"
"Ist das ganze Leben nicht vielleicht nur ein Traum?" Kam als Antwort zurück "Und wenn, sollten wir dann nicht versuchen daraus zu erwachen?"
Wilhelm versuchte aufzustehen. Sie befanden sich neben einem kleinen Teich, er erkannte ihn wieder. In der Ferne konnte er den Schatten eines dichten Waldes sehen.
"Wie bin ich hierher gekommen? Ich war doch eben noch im Kloster. Ich stand in dem Zimmer einer anderen Patientin. Als ich kurz weg geschaut hatte, muss sie aufgestanden sein. Dann hat sie mich am Arm gepackt." Er befühlte die Stelle.
"Die Erinnerung ist eine tückische Sache Wilhelm. Eigentlich bist du gar nicht hier, weißt du?" Das Kind stand ebenfalls auf.
"Was du siehst, ist nur in deinem Kopf real."
"Das verstehe ich nicht. Als Wissenschaftler muss ich doch davon überzeugt sein, dass wirklich ist, was ich anfassen und sehen kann." Dabei berührte er eine Knospe.
"Wenn du dich an etwas erinnerst und alte Gefühle wieder aufleben, wirkt es dann nicht genauso tatsächlich, wie damals als du es erlebt hast? Oder: Kannst du sicher sein, etwas wirklich erlebt zu haben, wenn du dich daran erinnerst? Vielleicht trügt dich auch dein Gedächtnis!"
Das kleine Wesen schöpfte etwas Wasser mit den Händen.
"Du glaubst sicher zu wissen, wie es ist, diese Feuchtigkeit zu spüren. Aber was, wenn sich etwas geändert hat, wenn deine Vorstellung von diesem Wasser nicht der Tatsache entspricht? Vielleicht funktioniert deine Erinnerung gar nicht so gut und gibt dir ein verfälschtes Bild dessen, was ist. Solange du es nicht hinterfragst, wirst du ewig an etwas festhalten, dass falsch sein könnte."
Wilhelm wurde es zu philosophisch und sein Kopf tat noch etwas weh. So sagte er brüsk: "Ich will nur wissen, wieso ich hier bin. Was das alles auf sich hat!"
"Wilhelm, wo bist du denn eigentlich? Tatsächlich erinnerst du dich doch nur gerade daran, hier gewesen zu sein!"
Er wollte sich zu dem Kind umdrehen, doch schon wieder sah er nicht, was er erwartete zu erblicken. Wilhelm stand allein in einem Zimmer mit bunten Farbflecken an der Wand und die Tür war offen. Eilige Schritte auf dem Flur ließen ihn aufhorchen und er folgte den aufgebrachten Schwestern nach draußen.
"Sie ist oben!"
"Gott, steh uns bei."
"Erbarme dich Allmächtiger, lass sie wieder zu Verstand kommen."
In dem Hof angekommen, empfing ihn eine reichlich aufgeschreckte Schar von Leuten. Einige waren dabei, sich eifrig zu bekreuzigen. Wilhelm folgte ihren Blicken und erkannte eine Gestalt auf dem Dach des Klosters. Es war Elisabeth, barfuss und in weißem Linnen mit wehendem Haar. Sie schlug mit den Armen als versuche sie fliegen zu können. Der Tanz der Verrückten war grotesk grazil und hatte etwas Anmutiges, sodass die Zuschauer gebannt starrten. Wie sie dort im Wind hin und her schwang, erinnerte sie an einen großen, weißen Schmetterling. Es erhob sich ein einstimmiges Geschrei, als das Wesen plötzlich einen Satz zurück machte und hinter der Mauer verschwand.
Maria blickte an die dunkle Mauer und betrachtete erneut das Bild, auf dem scheinbar Wilhelm zu sehen war. Was konnte das bedeuten? Es war nichts von Vorfahren seinerseits auf diesem Schloss bekannt. Verdammt, es war ja überhaupt nichts von diesem Schloss bekannt, die meisten wussten nicht einmal davon, dass es existierte. Sie musterte das Portrait. Es war anscheinend eines jener Bilder, deren Augen dem Betrachter durch den ganzen Raum folgen. Seltsam nur, dass die anderen Malereien nicht von dieser Art waren. Außerdem wirkte es frisch, so neu. Sie roch daran und es roch nach alter Ölfarbe, etwas muffig und feucht. Sie strich mit dem Finger darüber und fand die Leinwand eigentümlich warm, fast lebendig, fast, als hätte dieser Wilhelm ein Herz. Ein warmes Herz, das sich rühren ließ. Sie streichelte seine Gesichtszüge und schloss dabei die Augen. Es war ihr, als wären sie weich, als würde sie die Rundungen seiner Lippen spüren, seine Nase, die Vertiefungen der Augen. Ihr wurde ganz flau im Magen, gleichzeitig fühlte sie sich aber durchaus wohl, als auf einmal der Schrei eines Mannes ihr Träumen unterbrach.
Verwirrt blickte sie sich um. Die Türen waren geschlossen und doch hatte sie einen Schrei gehört, einen Schrei, der nicht durch Holz gedämpft war. Einen Angstschrei. Aber Wilhelm war es nicht gewesen. Sie atmete zunächst aus, dann wieder hastig ein. Wer konnte sich hier sonst noch herumtreiben, und wovor könnte man hier Angst haben? Erneut ein ängstlicher, erstickter Ruf, doch keine Worte, nur ein hilfloses, lautes Geräusch, das niemand verhindern kann, wenn die Furcht kommt und keine Hoffnung auf Hilfe da ist, wenn einen niemand hört.
Dieses Mal hatte Maria gemerkt, woher die Stimme gekommen war. Sie fasste sich ein Herz und ging die Stiegen hinunter, in eine dunkle Ungewissheit.
Das Herz blieb ihr fast stehen, als sie erneut die verzweifelte Stimme rufen hörte, sie vernahm Panik. Panik und Todesangst. Vor ihr befand sich eine zweiflügelige Tür, die weit offen stand. Dahinter war ein gewaltiger Raum, den ihre Öllaterne nur unzureichend und flackernd erhellen konnte, so dass lange Schatten an den Wänden entlang tanzten wie düstere Geister der Nacht. Was ihr als erstes in dem Raum auffiel, war, dass er voller Spinnenweben war. Alles war von einer dicken, staubigen Schicht weißer Seide überzogen. Dann sah sie eine Spur durch das Gewebe. Vermutlich war sie von demjenigen, der nun erneut einen gurgelnd ersterbenden Schrei ausstieß und danach vollkommen still war.
In der Mitte des Zimmers, leicht erhöht, stand eine gewaltige Holzkiste, deren Deckel an der Seite des Behältnisses lehnte. Die staubstarrenden Wände waren ebenfalls, wie bei der Kammer oberhalb, behängt mit Bildern. Doch war es auf den ersten Blick erkennbar, dass mit den Kellergemälden etwas nicht stimmte. Sie ging an verschwommenen und verzerrten Gesichtern an den Wänden vorbei und sah, an der Mauer lehnend, einige größere Zusammenballungen aus Spinnenseide, fast wie Kokons. Sie wunderte sich, dass sie niemanden finden konnte, bis ihr Fuß an etwas Menschliches stieß. Sie sprang mit einem Schrei zurück und sah zitternd, dass ganz auf dem Boden in der Ecke des Raumes ein Mann in einer dunklen Kutte lag, dessen Hände sich in der Wand festgekrallt hatten, so, als ob er versucht hätte, sich hochzuziehen. Hoch zu dem fremdartigen Portrait einer bleichen Frau mit schwarzen Augen und weißen Pupillen, das aussah, als würde es langsam zerfließen.
Der Mann war völlig reglos. Maria blickte sich furchtsam um. Da war nichts, was ihm solche Angst hätte einjagen können. Alles schien friedlich zu ruhen, unter einer Decke aus klebrigen, sanften Fäden. Sie fühlte den Puls des Kuttenträgers. Er lebte.
Ob sie das wohl überlebt hatte? Wilhelm hoffte es. So unheimlich ihm auch zunächst in der Gegenwart der Verwirrten gewesen war, so war sie doch die einzige Person hier, die er, selbst nach so kurzer Zeit, als jemanden Vertrautes ansah. Sie teilten ein Geheimnis, seinen Nachtspaziergang, ihren Tanz. Er eilte keuchend in die Außenanlagen des Klosters, um an die Außenmauer zu gelangen, wo sie hingesprungen war. Den geschockten Nonnen war er einige Schritte voraus, schließlich hängte er sie sogar ab, bis er zu der Stelle kam, die er als den Punkt einschätzte, wo Elli aufgekommen sein musste. Doch er sah sie nicht.
Irritiert bückte er sich und untersuchte den Boden. Er fand keine umgeknickten Grashalme, keine zertretenen Käfer im Gras. Ebenfalls keine Spur in dem buschigen Gestrüpp, das sich an der Mauer breitmachte. Die Nonnen waren inzwischen auch angekommen. Er schaute die klagenden Weiber ratlos an und zuckte mit den Schultern.
"Haben Sie sie gesehen?"
"Wo ist sie hin?" Wilhelm schüttelte bedächtig den Kopf und blickte nachdenklich in das Wiesental unterhalb des Klosters, in dem, an einem kleinen Bachlauf entlang, verkrüppelte Weidenbäume standen, die ihn aus ihren knorrigen Fratzen ratlos anstarrten.
"Ich werde noch ein wenig hierbleiben und schauen." Er hielt kurz inne. "Sie können sich ruhig schon anderswo umschauen, meine Damen. Ich mag diesen Ausblick und wenn ich Elli finden sollte, sage ich Ihnen Bescheid." Wilhelm sah den Nonnen nach, wie sie an der Mauer entlang gingen und endlich um eine Ecke verschwanden. Er wunderte sich, was einige noch so junge Frauen bereits im Kloster machten. Ihm leuchtete nicht ein, warum man sich bereits so früh einsperren sollte in eine scheinbar immergleiche Welt, wo einem doch die so lebendige Welt noch alle Möglichkeiten bot, beispielsweise... zu heiraten. Er kratzte sich am Kopf. Auf einmal erschien ihm diese natürliche Bestimmung ebenfalls als eine Art Gefangenschaft und ein weiteres Mal wunderte er sich darüber, wie er sich verändert hatte. Trotzdem war es irgendwie eine Schande, so nette Mädchen aus der Welt zu entfernen, schloss er den Gedanken.
Es fühlte sich fast wie ein wärmender Kuss an, als Sonnenstrahlen auf sein Antlitz fielen und er die Augen schloss. Er lehnte sich gegen das Gestrüpp an der steinwarmen Klostermauer und atmete tief ein und aus, ganz in den Moment versunken. Es wurde wieder ein wenig kühler, als sich, so dachte er, wohl eine Wolke vor die Sonne geschoben haben musste. Dennoch wollte er hier noch eine Weile stehen und seine Gedanken treiben lassen, als er erneut eine Art Kuss auf seinem Gesicht fühlte. Er lächelte und dachte an die warme Sonnenkugel, als er abermals eine Berührung fühlte. Wilhelm schlug blinzelnd die Lieder auf und blickte überrumpelt in ein dunkles Paar Augen. Eine schmale, weiße Hand hielt ihm den Mund zu, die andere fasste ihn an seiner Linken und zog ihn mit sich.
"Was soll das heißen, er ist verschwunden?" Mit entsetzt aufgerissenen Augen schaute Rohten die Schwestern ihm gegenüber eindringlich an.
"Bei der ganzen Aufregung wegen der armen Elli, äh… da haben wir ganz vergessen auf ihn zu achten. Zuletzt hat man ihn wohl an der Mauer stehen sehen, wo wir den verunstalteten Körper von Elli vermuteten. Nachdem aber dort keine Spur zu finden war, sind wir zurück in das Gebäude und haben hier alle Zimmer nach ihr abgesucht."
"Und dabei habt ihr ganz vergessen, auch Verantwortung den übrigen Patienten gegenüber zu tragen!" Beendete er die Erzählung, drehte sich wütend um und marschierte zu seiner eigenen Kammer. "Wenn man nicht auf alles selber acht gibt. Möge Gott uns beistehen!"
Bruder Gutfried, der sich in der Nähe aufhielt und das Gespräch mit angehört hatte, eilte seinerseits aus dem Sanatorium hinaus. Er hatte von der ganzen Aufregung bisher nichts mitbekommen und war dafür jetzt umso besorgter. Was hatte das zu bedeuten, dass die beiden verschwunden sind? Elisabeth hat sich ja schon des Öfteren mal in der Gegend rum getrieben, aber diesmal tagsüber und sogar noch mit jemandem zusammen! Er machte sich Vorwürfe, nicht genug acht gegeben zu haben. Sonst wusste er immer über jeden Schritt bescheid, den sie unternahm. Sogar die nächtlichen Tanzstunden hatte er heimlich beobachtet, natürlich aus sicherer Entfernung, um diesen Zauber nicht zu stören. Gestern allerdings hatte dies ein anderer getan. Er war nicht sicher, ob es sich dabei um Wilhelm handelte, aber früher oder später mussten die beiden sich ja begegnen. Vorsichtig hatte Gutfried noch Rohten persönlich darauf hingewiesen, dass es Zeit wurde, dem Mann ein wenig Bewegung zu gestatten. Und nun war er selbst nicht zugegen gewesen, wo er doch sonst jeden Tag Elisabeths Gegenwart gesucht hatte, obwohl im Kloster nicht gern gesehen wurde, dass Männer und Frauen sich trafen. Viel schlimmer allerdings als der Tadel ab und an durch eine der Schwestern, war die Erkenntnis, nicht ein einziges Mal einen Funken des Wiedererkennens in ihren Augen aufblitzen gesehen zu haben. Seit damals vor etwa zwei Jahren war er – Sebastian, nur noch Luft für die verrückt gewordene junge Frau. Einst hatte sie ihn aufrichtig geliebt, davon war er überzeugt. So lange Zeit schon schien vergangen zu sein, zwischen ehedem, als die Welt noch heil war, und jetzt, wo er in ahnungsvoller Bange dem kleinen Bachlauf entlang lief Richtung Wald. Seine Gedanken kreisten wieder um jene Tage, als sich alles verändert hatte, als seine Hoffnungen ergrauten, ergrauten so wie das Haar von Elisabeth.
Sie verschwand einfach aus dem Dorf, in dem sie gemeinsam aufgewachsen waren. Niemand wusste so recht, welchen Ruf sie vernommen hatte, der sie schließlich in die Wälder getrieben haben muss. Eigentlich konnte auch niemand genau sagen, wann dies geschah oder wie lange sie vermisst wurde. Aber an eines erinnerte Sebastian sich dafür um so deutlicher: der erste Blick in diese merkwürdig veränderten Augen, die nichts und niemanden mehr zu fixieren schienen. Der Blick war stets hinter die Welt gerichtet, oder vielleicht auf etwas Vergangenes. Und keine Zuneigung sprach mehr aus ihnen, genauso wie kein Wort mehr über ihre so wunderschön geschwungenen Lippen kam. Wie machte er sich erneut Vorwürfe, ihr in dieser Zeit nicht beigestanden zu haben. Es muss etwas furchtbares geschehen sein, das ihrer einst so dunkel glänzenden Haarpracht die Farbe stahl und ihren Verstand verwirrte. Tatsächlich büßte er für seine unterlassene Hilfeleistung an jedem Tag, den er sich zwang, in ihrer Nähe zu verbringen.
Jemand nahte, er konnte es hören in seinem umnebelten Geist. Irgend jemand war noch hier und er befühlte seinen Puls. Es war eine warme Hand, nicht so kalt und leblos wie all die anderen Dinge an diesem gottverlassenen Ort. Warum war er noch mal hierher gekommen? Er konnte seine Augen nicht öffnen, es fehlte ihm sogar die Kraft es zu wollen. Alles war in schwarze Schleier gehüllt, selbst seine Gedanken. Er spürte, dass jemand versuchte ihn aufzurichten, Aber warum nur? Nein, er wollte liegen bleiben, hier an diesem Ort seines Versagens. Nicht wieder zurückkehren in die Welt der Schmerzen, er hatte schon so viel gelitten. Etwas zerrte stetig an seinem Bewusstsein, wollte es wecken und wieder ins Licht ziehen. Er wehrte sich angestrengt; es war so viel einfacher sich seiner Ohnmacht hinzugehen. Keine Verantwortung, die man vernachlässigen konnte, keine Erinnerungen, die einen quälen könnten. Aber da, was war das? Ein schwacher Funke, ein kurzes Aufflackern von Energie. Er spürte, wie Flüssigkeit seine Kehle hinunter rann, gleichzeitig eine angenehme Berührung auf der Stirn. Es war eine wohltuende Wärme, die ihn auf einmal durchströmte. Das Gefühl von einem anderen Wesen für wichtig erachtet zu werden. Nicht wie diese andauernde Gleichgültigkeit, der er schon viel zu lange ausgeliefert war. Hier war einer, der ihn mochte. Und er entschloss sich, noch einmal den Kampf aufzunehmen. Vielleicht hatte er diesmal Unterstützung, würde sich nicht ganz so allein gelassen fühlen wie sonst. Seine Glieder kribbelten, ein Zeichen, dass wieder Leben in seinen Körper strömte.
Als er die Augenlider schließlich hob, schaute Sebastian in ein fremdes Gesicht, doch er fühlte sofort Sympathie für diese vor Lebenskraft strotzende Frau.
Sie sprang belebt über die kleinen, thymianbewachsenen Grashügel, an flüsternden Birken vorbei, durch das Sirren der sonnenbeschienenen Wiese, und Wilhelm, zu seiner eigenen Verwunderung, folgte ihr dabei ohne Nachzudenken. Ihre Hand war nicht so kühl, wie sie in ihrer Blässe ausgesehen hatte, im Mondlicht in der Nacht zuvor. Silberhaar umwehte ihr junges Gesicht. Er lief ihr nach, an ihre Hand gebunden, hinunter zum Bach, in die Böschungen aus Weiden und sanftgrünem Moos. Er fühlte sich frei, er fühlte sich, als wolle er jeden Augenblick die Füße vom Boden heben und nicht mehr auf ihn zurückkehren, er fühlte sich, als könne er fliegen.
Irgendwann, zwischen smaragdschillernden Libellen und dem hellen Fließen des Baches, setzten sie sich ans Ufer. Elli hängte ihre nackten Füße in das klare Wasser, Wilhelm entledigte sich seiner Schuhe und tat es ihr gleich. Sie strich über sein Haar, strich über seine Wange, fuhr mit ihren zarten Fingern die Rundungen seines Mundes nach, dann seine Nase, schließlich streichelte sie die weichen Vertiefungen seiner Augen. Er hielt seine Augen geschlossen und roch ihren schwachen Duft inmitten der würzigen Wiesenluft. Sie öffnete seine Augen zart mit ihren Fingern und blickte ihn an. Ihr dunkler, rätselhafter Blick fing ihn ein. Ein eigentümliches, schwarzes Glühen ging von ihr aus, tief aus ihrem innersten Selbst. Sein Selbst ging plötzlich durch einen langen, dunklen Pfad, gesäumt von sich wiegenden Bäumen. Es war ihm, als hörte er Musik, eine fremdartige, unharmonische Musik, die er nicht kontrollieren, nicht vorausahnen, nicht einordnen konnte. Hypnotisiert taumelte er weiter, an den schimmernden Augenpaaren am Rande des Weges vorbei, am Wispern aus der Dunkelheit abseits dieser einzigen Spur, die er hier hatte. Schließlich kam er zu einer Art Lichtung, auf der er einen marmornen Brunnen sah, von Blumen umstanden, die ihrerseits von Schmetterlingen umschwärmt wurden. Jemand, der ihm den Rücken zuwandte, zog gerade mit der Seilwinde einen Eimer Wasser aus dem Brunnen. Das Wasser funkelte in der Sonne und er näherte sich, um es genauer betrachten zu können. Die Gestalt drehte sich zu ihm hin, es war eine Frau. Sie hatte lange Haare, die sie umwehten. Sie nahm eine Handvoll Wasser aus dem Eimer und benetzte Wilhelms Augen damit. Ihr Gesicht schien das Ellis zu sein, nur, dass sie nicht ganz so bleich war wie sie. Erneut griff sie in den hölzernen Eimer und dieses Mal gab sie Wilhelm von dem glitzernden Nass zu trinken. Und in diesem Moment küsste ihn Elli.
"Ich habe wirklich keine Zeit, Frau von Reichenbach, bitte.. Es geht Ihnen doch gut. Hören Sie. Ein Patient.. er ist verschwunden. Mit, mit, mit einer Patientin. Können Sie sich das..?" Rohten hielt sich genervt die Hand vor das Gesicht. "Ja, ich denke schon, dass Sie sich das vorstellen können, verehrte Gräfin. Wo der Herrentrakt ist, wissen Sie ja bereits, wie mir zu Ohren kam. Entschuldigen Sie mich, Verehrteste, ich muss eine Suche organisieren." Rohten floh aus Parfümschwaden, leise auf den unnützen Adel schimpfend, der im Sanatorium die Plätze für die wirklich Kranken in Beschlag nahm. Er stürmte in den Frauentrakt. "Sieglinde! Sieglinde! Wo sind Sie? Ich brauche Sie. Wir müssen jemanden suchen!"
Er zuckte zusammen, als er eine kräftige Hand auf der Schulter fühlte.
"Na, na, nun reg' dich mal nicht so auf, Rohten. Was kann denn schon passiert sein?" Sie zwinkerte ihm zu.
"Schwester Sieglinde! Ich.. ich.. muss doch bitten, ich.. Vergessen Sie das. Hören Sie, ich brauche Ihre Hilfe, ich.."
"Ich habe bereits Franz geschickt. Er wird dieser Frau Bescheid sagen, die Wilhelm immer besuchen wollte, Maria, nicht?"
"Was? Was? Warum? Das ist völlig verfrüht, das.. Was werden die denken?" Sie strich ihm über den Rücken.
"Ganz ruhig, war nur ein Scherz, Rohten. Du solltest wirklich mal gelassener werden, mein Gott! Schau dich nur an!" Sie lachte. "Das wird dich noch irgendwann ins Grab bringen, und das wollen wir doch nicht?" Sieglinde tätschelte ihm über den Kopf. Halbherzig fuchtelnd versuchte er, ihre Hand abzuwehren. Rohten schluckte.
"Bitte, Sieglinde! Wir.." Sie wies auf ihre Füße. Sie trug hochgeschlossene Wanderstiefel. "Und du, bist du auch schon bereit, mein Lieber?"
"Ich .. äh.. ich brauche noch.. geeignete.. Schuhe.. bin .. gleich.. zurück." Sie winkte ihm nach. "Ich warte vor dem Tor." Sie begann zu summen, während Rohten sich auf die Suche nach geeignetem Schuhwerk machte. "Am Brunnen vor dem Tore, da stand ein Li-hindenbaum, mir träumt in seinem Schatten..." Dann ging sie in den strahlenden Sonnenschein hinaus und wartete auf Rohten, während sie, leise singend, die Formen der Wolken am Himmel betrachtete.
"Also, hier ungefähr müsste Elisabeth aufgekommen sein, wenn sie denn gesprungen ist." Sieglinde deutete auf eine Stelle am Boden.
"Plattgetretenes Gras." murmelte Rohten.
"Genau, genau, du lernst dazu. Es ist ja nicht so, dass Hellsehen unbedingt eine präzise Sache ist, ein bisschen Logik schadet auch nicht." Sie kicherte dunkel.
"Psst. Du sollst doch nicht darüber reden."
"Rohten, hör mir zu. Gott hat mich so geschaffen, wie ich bin. Ich bin mir sicher, dass ich ihm gefalle, jedenfalls tue ich mein Bestes. Wir sind hier ganz allein, ich meine, zu zweit, niemand stört uns, wer bitte sollte mich hören?"
"Ist ja gut, Sieglinde, tut mir leid." er schnaubte. "Mach weiter."
"Eine Wanderung zu zweit, das wollte ich schon lange mal machen, Rohten, und auch noch bei so wunderbarem Wetter. Schhht, ruhig, ich muss mich konzentrieren, sie sind dort entlang." Die Schwester wies in das Wiesental, in dessen Mitte ein schlangenförmiger Streifen aus Bäumen und Gestrüpp den Bach umgab. Sie packte Rohtens Arm, hängte sich bei ihm ein und zog ihn entschlossenen Schrittes mit ins Tal hinab.
"Wer sind Sie?" Kam es wie aus einem Munde und beide lächelten schwach. Es war nicht der richtige Ort, um lautstark los zu lachen, obwohl es vielleicht ein wenig das beklemmende Gefühl genommen hätte. Noch immer beherrschten tanzende Schatten das Gemäuer und die flackernde Öllampe erhellte nur einen kleinen Kreis.
"Bitte, lassen Sie uns zuerst aus diesem furchtbaren Raum verschwinden. Ich fühle mich schon wieder besser." Sie half ihm hoch und beide beeilten sich die Stufen nach Oben zu erklimmen ohne noch einmal einen Blick zurück zu werfen.
"Vermutlich haben Sie mir das Leben gerettet. Dafür muss ich Ihnen danken." In dem Saal stand nach wie vor der große Tisch, die Bilder hingen noch immer an den Wänden und weiter hinten konnte man die Statur des Schmetterlings sehen. Aber ein Gefühl der Erleichterung machte sich breit, beim Anblick dieser Vertrautheit. Es war eine andere Art der Stille hier, nicht so angefüllt mit abstrakten Gedanken wie das Zimmer in der Tiefe und beide atmeten tief durch.
"Was war das da Unten? Wovor hatten Sie solche Angst?" Etwas verwirrt schüttelte die Frau den Kopf. "Und was machen Sie hier eigentlich? Also mein Name ist Maria und mir gehört ein Gasthaus in der Nähe."
Er antwortete nicht gleich, klopfte sich zuerst die lange Kutte sauber, so gut es eben ging wenn man eine Weile auf dem Boden gelegen hat, und schien dann seine Worte mit Bedacht zu wählen.
"In dem Klostersanatorium nennt man mich Bruder Gutfried. Allerdings glaube ich, ist es angebracht, dass Sie mich mit Sebastian ansprechen." Etwas verträumt, fügte er hinzu: "So hat sie mich zuletzt gerufen… Die Frau auf dem Bild."
Maria war neugierig, mehr darüber zu erfahren, doch ihr Taktgefühl riet ihr, diesen Menschen, der nach eigener Angabe gerade knapp dem Tode entkommen war oder zumindest einem schlimmen Schicksal, nicht nach Einzelheiten über sein Privatleben zu fragen. Es mutete nur komisch an, dachte sie, dass dieses Gemälde von der Dame mit den eigentümlichen Augen schon so alt wirkte, ganz abgesehen von der merkwürdig verlaufenen Farbe. Aber sie war nicht feucht gewesen, davon hatte sie sich noch überzeugen können und es hatte auch nicht nach Öl gerochen dort.
"Aber was macht eine Person wie Sie hier mitten in der Nacht? Und ich verstehe nicht, was Ihnen geschehen sein kann, um diese missliche Lage in der ich Sie fand, zu rechtfertigen."
"Bitte lassen wir doch diese Förmlichkeiten. Und alles verstehen kann ich leider auch noch nicht, deswegen bin ich wieder hierher gekommen. Es muss ein großes Geheimnis sein, dass diese Mauern bergen, etwas, das mit Schmetterlingen zu tun hat und vielleicht auch mit dem Wald ringsum." Gemeinsam wanderten ihre Blicke zu der steinernen Figur. Ein leises Rauschen drang durch die Ritzen von draußen ins Innere, allerdings kein Laut, das einem lebendem Wesen gehören könnte. Sie waren die einzigen in dieser Welt, aber nun nicht mehr allein. In ihnen regte sich das Gefühl, gemeinsam den seltsamen Dingen auf den Grund gehen zu können., während sie aus den glitzernden Augen des riesigen Flügeltiers beobachtet wurden.
"Dort ist eine weitere Tür mit dem Symbol, direkt neben dem Bild eines Mannes, der aussieht, wie jemand den ich kenne." Geschockt starrte Sebastian seine neue Begleiterin an.
"Dann sollten wir uns beeilen. Um dir ein Leben wie das meine zu ersparen." Ohne Erklärung bezüglich dieser Worte, schob er sie in die angewiesene Richtung zu einer jener reichverzierten Pforten.
Überrumpelt öffnete Wilhelm seine Augen und sah, ganz nah, Ellis Gesicht. Ihre Lippen, die die seinen sacht und feucht drückten. Ihr schmales Gesicht, ihre geschlossenen Augen, ihr weicher Hals, der sich an seine Schulter lehnte. Wilhelm hielt ganz still und ließ es geschehen. Seine Gedanken schwirrten durch seinen Kopf wie Schmetterlinge und er war unfähig, irgend etwas zu tun. Elli legte ihre Hände um Wilhelms Hinterkopf und zog ihn zu sich. Sie legte ihre Wange auf seine und umarmte ihn, drückte ihn an sich. Da bemerkte er, dass sie sich kühl, fast kalt anfühlte. Er legte seine Arme um Elli, um sie wärmen zu können. Er spürte die kleinen Unebenheiten ihrer Wirbel unter seinen Fingern und folgte deren Verlauf, bis er merkte, dass er ihren Po berührte. Schuldbewusst zog er seine Hand viel zu schnell zurück, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel hintenüber auf das Gras der Böschung. Zum ersten Mal hörte er Elli lachen. Ihr Lachen war hell, doch rauh. Eine Stimme, die lange unbenutzt gewesen schien, belegt mit einer Schicht aus Einsamkeit. Sie lachte so laut, dass sie sich mit ihren Händen auf seinem Brustkorb abstützen musste. Wilhelm lag einfach nur da und starrte sie an. Ihr Silberhaar tanzte, als sie ihren Kopf mit einem Lächeln schüttelte. Jetzt sollte sie reden, dachte er. Aber Elli blieb stumm wie zuvor.
"Hast du das gehört, Sieglinde?"
"Was denn, Rohten? Schau mal hier, sie müssen am Bach entlang gegangen sein.."
"Es hat sich wie ein Lachen angehört, ganz komisch, ziemlich weit weg."
"Ich hab nichts gehört. Du musst dich getäuscht haben." Rohten brummte.
"Ich bin eigentlich recht sicher..."
"Schau dir lieber mal die Wolken da an.. gleich ists aus mit der Sonne. Wenn es erstmal regnet, finden wir sie auf keinen Fall mehr." Am Himmel hatten sich Schäfchenwolken verteilt und sammelten sich nun und ballten sich zu größeren Ansammlungen, die langsam dunkler wurden.
"Und was schlägst du also vor, Sieglinde?"
"Um ehrlich zu sein, ich bin ziemlich unsicher, Rohten. Normalerweise fühle ich, wo sich jemand befinden könnte, aber im Moment spüre ich einfach nur eine große Verwirrung. Es ist, als wolle jemand verhindern, dass wir die beiden finden. Jemand, etwas.. ich weiß nicht, Rohten. Kein gutes Zeichen. Etwas ist durcheinander hier, etwas geht nicht mit rechten Dingen zu.."
"Ist das nicht Aberglaube? Wie kann dich sowas beeinflussen? Reiß dich doch einfach zusammen, wenn du dich nicht konzentrieren kannst. Ich kann dich auch allein suchen lassen, wenn du meist, dass es dann besser geht." Er zuckte mit den Schultern und schaute Sieglinde an.
"Nein." Sie fasste seine Hand. "Mir ist das ein wenig unheimlich, und mir ist viel wohler, wenn du bei mir bist." Rohten verdrehte die Augen.
"Also gut.." sagte er und drückte ebenfalls ihre Hand. "Wenn es hilft. Aber um Gottes Willen, das bleibt unter uns." Sie kicherte.
"Keine Angst, Herr Doktor. Keine Angst."
"Allerdings.. was sollen wir jetzt genau tun?"
"Lass uns umkehren."
"Umkehren? Und - und - was ist mit Wandersleben und dieser Elli?"
"Komm schon!" Sie versuchte, ihn mitzuziehen.
Plötzlich drehte sich Elli von ihm weg, als würde etwas aus der Luft, aus dem Himmel, ihren Blick anziehen. Als Wilhelm ihrer Bewegung folgte, sah er kleine Wölkchen, die gerade dabei waren, zu größeren, dunklen Wolken zu werden. Er betrachtete die Gegend und es zeigten sich bereits schattige, wandernde Flecken auf den besonnten Wiesen und Feldern. Wind setzte ein und Mücken tanzten um Wilhelm und Elli herum. Auf einmal grummelte es irgendwo, weiter entfernt. Wilhelm schien es, als käme es aus Richtung des Waldes, der weiter bergan lag. Dort hatte sich bereits eine riesige, grauviolette Wand gebildet, die in Richtung des Wiesentales zog und den Himmel über ihnen zu verschließen begann. Es gab keine Lücke in dem dunklen Treiben, durch die Licht hätte kommen können. Ein Schatten legte sich über Elli und Wilhelm. Wilhelm war es, als könne er winzige, kühle Tropfen spüren, die immer wieder aus der Höhe auf ihn herabfielen. Er blickte zu Elli, die sich unruhig hin und her wand und seine Hand festhielt. Er fror urplötzlich, als ihm klar wurde, dass er keine Ahnung mehr hatte, wo sie sich befanden. Ganz ruhig. Sie würden nur dem Bach zurück folgen müssen, dem unbeeindruckt gurgelnden Bach.
"Ich werde die da nicht allein draußen lassen. Wir müssen sie finden. Es kann nicht angehen, dass Patienten einfach so verschwinden, Sieglinde. Reiß dich bitte zusammen." Rohten zog in die entgegengesetzte Richtung. "Reiß dich zusammen, oder ich werde allein gehen. Das ist mein letztes Wort. Das ist nur ein Unwetter, was soll schon groß passieren? Im schlimmsten Fall werden wir nass."
"Rohten!" Sieglinde zitterte. "Ich kann nicht, mir ist kalt, mir ist jetzt schon kalt. Es ist nicht gut. Ich.. komm, lass uns gehen." Sie warf sich an seinen Hals und versuchte, ihm einen Kuss zu geben. Er wehrte sie ab.
"Ich glaube es einfach nicht, Sieglinde! Lass mich zufrieden!" Er riss sich von ihr los und stapfte weiter. "Ich muss sie finden, du ja anscheinend nicht, aber, im Namen des Herrn, wir sind schließlich verantwortlich." Sie stand still und bebte, machte aber keinerlei Anstalten, ihn aufzuhalten. Nach einer Weile drehte sie sich um und ging zurück in Richtung 'Waldfrieden'.
Seine heilige Stätte wurde entweiht. Eindringlinge maßten sich an, diesen Ort seiner Macht zu erkunden und die Ruhe darin zu stören. Diese ewige Stille, in der kein Gedanke sich in die Welt der Materie manifestieren konnte. Nun aber hallten Schritte hohl an den Wänden wider und verklangen in den langen Gängen des Schlosses. Er konnte sie riechen, konnte ihre leise aufkeimenden Hoffnungen spüren. Dies war sein Reich und er würde es zu verteidigen wissen. Doch mit Vorsicht, denn das weibliche Wesen unter ihnen war stark. Sie kannte keine Angst und sie besaß eine Waffe. Es war ein mächtiges Schwert gegen das er nicht ankommen würde, denn deren Kraft war genährt durch den Glauben. Doch es gab vielfältige Methoden das Vergessen voran zu treiben. Der Andere war seinem Willen schon fast erlegen gewesen, es hatte nicht mehr viel gefehlt und kein Mensch hätte ihm noch helfen können. Ein weiteres Mal würde er sie nicht entkommen lassen, aus seinen Fängen der Düsternis, der Nacht des Geistes.
"Was für einen sonderbaren Wanderstock du da hast." Maria betrachtete den Stab in ihren Fingern und ein weiteres Mal dachte sie an früher, als sie noch klein war.
"Ja, er lag auf den Stufen vor dem Eingang und gehörte einst meinem Großvater."
"Du musst gut auf ihn Acht geben, jetzt wo er dich wieder gefunden hat." Sie blickten sich in die Augen. "Es gibt Dinge, die kann man nicht dem Zufall zuschreiben. So auch, dass wir uns hier begegnet sind."
"Ach, du bist sicher von den unergründlichen Wegen Gottes überzeugt. Ich bin hingegen in dem Glauben aufgezogen worden, dass alles einen Willen hat und ein Recht ihn zu verwirklichen."
Sie gingen nebeneinander her, folgten dem langen, schmalen Flur, der sich hinter der Schmetterlingstür aufgetan hatte.
"Ich bin nicht in das Kloster eingetreten, um meinem Glauben zu frönen oder den Rest meines Lebens gottgefällig zu verbringen. Es gibt andere Gründe, die mich dazu veranlasst haben."
Er wechselte das Thema, die Erinnerung an früher schien ihm unangenehm. "Was hat dich eigentlich hierher getrieben?"
"Ein Gast von mir wollte sich im Wald seiner Forschung widmen und ist seit Gestern nun nicht wieder aufgetaucht. Ich dachte mir, ihn sicher hier finden zu können." Ein fragender Blick traf sie und Maria fügte hinzu: "Ich wollte nicht schon wieder zulassen, dass jemanden verschwindet."
Schweigen. So hatten sie beide ihre ganz persönlichen Dinge, nach denen der jeweils andere sich nicht traute zu fragen.
"Ich hoffe, dass dieser Mensch es zu schätzen weiß, was du für ihn bereit bist, auf dich zu nehmen. Er muss etwas besonderes sein."
"Das muss die Frau auch sein, die dich anscheinend dazu gebracht hat, ein Gelübde abzulegen und dich aus dem Leben zurück zu ziehen."
"Ja, das war sie einmal. Ich kann mich leider nicht mehr an ihr früheres ich erinnern. Heute ist sie jemand anderer, mit einem anderen Gesicht und einem anderen Namen. Manchmal sehe ich in meinen Träumen, wie wir früher zusammen gelacht haben. Aber es ist ein verschwommenes Bild, so wie das Gemälde von ihr nur noch verschwommene Züge erkennen lässt." Falten bildeten sich auf seiner Stirn, als er versuchte die Erinnerungen wach zu rufen, doch sein Gedächtnis blieb leer.
"Was ist dann mit ihr passiert?"
"Wenn ich das nur wüsste."
"Der Wald scheint sich viele Opfer zu wählen." Sie dachte an ihre Großeltern.
"Jedenfalls werden wir verhindern, dass etwas ähnliches wieder passiert."
Sie bogen um eine Ecke. Die Laterne in Marias Hand flackerte und erlosch als ein starker Windzug plötzlich durch den Gang fegte. Auf einmal war wieder die Dunkelheit Herr des Schlosses.
Heerscharen von dunklen Wolkenbänken bedeckten das blaue Firmament und eine Armee von Regentropfen begann auf Gutfried hernieder zu prasseln. Seine Kutte war schnell mit Wasser voll gesaugt, doch das hinderte ihn nicht am zügigen Schritt. Er musste sie finden, dieses Mal würde er ihr beistehen können. Die Sonne schaffte es nicht mehr, ihre Sonnenstrahlen gegen die Dunkelheit ankämpfen zu lassen. Die Bäume begannen sich im aufkommenden Wind zu biegen und ein Rauschen begleitete ihn Schritt um Schritt, das ihn zu verhöhnen schien. Nein, er wollte seine Hoffnung nicht verfliegen lassen, ließ keine Zweifel sich Bahn brechen und holte nur um so schneller aus. "Elisabeth, oh Elisabeth!" Vor ihm die Spuren wurden vom kühlen Nass hinfort gespült. Er konnte bald kaum seine eigen Hand noch vor Augen sehen, da sich eine schwarze Wand vor ihm auftat. Die Naturgewalten wandten sich gegen ihn, wollten ihn am Vorankommen hindern und schlossen alle Wesen von ihm aus.
Die Schatten griffen weit aus und verschlungen schließlich die Sonne. Ein rasender Wind kam auf und peitschte die Halme der Wiese in bewegten Kreisen. Dann traf ihn der erste, dicke, kalte Tropfen Wasser. Rohten blickte irritiert zum Himmel, als hätte er nicht ernsthaft erwartet, nass werden zu können. Er musste weiter, die beiden finden - ihnen konnte sonst etwas zustoßen - außerdem könnten sie gegen die Regeln des Klosters verstoßen. Verdammt, er musste sie einfach finden. Warum hatte ihn Sieglinde nur allein gehen lassen, sie wusste doch genau, dass man Patienten nicht einfach so allein lassen konnte. Es waren nun einmal ... Patienten. Nicht ganz gesund, körperlich nicht und vor allem nicht mental. Nicht in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Er zuckte zusammen, als es laut in der Ferne donnerte und als die Dunkelheit sich auf ihn stürzte. Mit einem Mal befand er sich in einer feuchten, brausenden Schwärze, leicht lau, die ihren unheimlichen Atem ausblies in unregelmäßigen, unkontrollierbaren Stößen. Wie von einer gewaltigen Kreatur, die wildgeworden über das Land rannte, die aus Nacht bestand und die das niedergetrampelte Gelände verheerte. Rohten bemerkte kalten Schweiß auf seiner Stirn. Der Regen hatte eingesetzt und seine Augenlider zuckten nervös, versuchten die Himmelstränen loszuwerden, die sich kalt und bitter in seine Augen drängten. Er konnte nicht mehr richtig sehen und mit einem Mal wünschte er sich, Pflicht hin oder her, wieder im Sanatorium zu sein, wo er sicher wäre. Sicher vor einem Sturm, der ihm nicht mehr natürlich zu sein schien, der ihm etwas schien, was aus einer anderen Wirklichkeit herbeigekommen war, etwas Chaotisches, alle Schranken zerfetzendes. Dem man nichts in den Weg stellen konnte, weil es einfach bersten würde unter der ungeheuren Wut des Sturmes.
Von weit her im Wald hörte er das Krachen der Stämme, die umstürzten und Erde und Pflanzen mit sich in Abgründe rissen. Er war sich sicher, dass ihm zumindest kein Tier begegnen würde, denn niemand sollte bei diesem Orkan draußen sein. Auch er nicht. Ihn schauderte. Unwillkürlich faltete er die Hände und murmelte etwas. Als er es bemerkte, löste er zitternd die Hände voneinander und setzte sie wieder für die Balance seines Laufes ein. Er hatte nicht mehr die geringste Ahnung, wo er sich befand. Um ihn herum war nur tobende Düsternis mit einem Hunger auf Leben und ihm war, als wäre es sein Leben, das nun auf dem Spiel stand. Wirbel aus absoluter Finsternis bildeten sich in den donnernden Wolken. Ihm war eiskalt und er war bis auf die Haut durchnässt. Er krümmte sich unter einem plötzlichen Husten und sein Nacken gefror ihm fast, als etwas aus dem Nichts auf ihn herabstieß und ihn ins Taumeln brachte. Etwas hatte seinen Kopf getroffen, von oben. Er riss die Augen weit auf, versuchte, es zu finden, sah nichts, außer kreisendem, bebendem Schwarz. Erneut stieß das Ding auf ihn herab und dieses Mal fiel Rohten. Unter seinen Füßen hatte sich Gras befunden, fester Boden, und doch war es Rohten, als fiele er tiefer, viel tiefer, als er es sich jemals hätte vorstellen können. Mit dem Kopf voraus stürzte er in einen dunklen Tunnel, aus dem ein eigentümlich blaues Licht ihn sehen ließ, wie er tiefer und tiefer fiel. Er fiel durch einen Wirbel aus Nachtfaltern, auf deren Rücken er bleiche Totenköpfe erkennen konnte. Er fiel durch ein Pfeifen und Sausen durch das Auge eines allesverschlingenden Windes. Es war ihm, als lachten die Totenkopffalter leise und in hohen Tönen, die er nur mit Mühe überhaupt wahrnehmen konnte. Während er in die ungeheuere Tiefe immer schneller und schneller herabsauste, verlor er endgültig die Orientierung. Alles drehte sich nun und Lichtstränge wanden sich um seinen Körper; blaues, violettes, rotes Licht, ja sogar eine Art schwarzes Glühen fesselte ihn in dieses nicht enden wollende Loch, in das er herabraste. Und irgendwo in diesem Strudel verlor Rohten zuerst seine Hoffnung und dann seinen Verstand. Alles war nur noch Licht und Farben und ein endloser Fall. Und der zarte Flügelschlag eines Nachtschmetterlings, auf dessen schwarzen Körper Totenköpfe prangten.
Wie auf unirdischen Flügeln bewegten sich Elli und Wilhelm an der Böschung des kleinen Baches entlang. Sie rannten durch den Regen hindurch, der sie unbarmherzig mit Kälte überschüttete. Blitze erhellten für kurze Momente den Gipfel des Waldes und in verschwindend geringen Augenblicken konnte man irgendwo in den mächtigen Stämmen die Umrisse eines aus dunklem Stein gemauerten Schlosses erkennen, die den Winden und dem Brausen mühelos trotzten, der Panik der lebendigen Welt entrückt. Wilhelm konnte ahnen wie Elli schrie, doch er konnte es nicht hören. Der Sturm pfiff in ihren Ohren sein gewalttätiges Lied und auch er versuchte, zu schreien, allein, um seine Angst aus sich herauslassen zu können. Er schmeckte kaltschmerzenden Regen auf seiner warmen Zunge, doch er wusste nicht, was er sonst tun sollte, außer zu schreien. Das kreischende Krachen splitternden Holzes rannte durch den nicht mehr weit entfernten Wald auf sie zu, als würde sich eine Lawine aus Schall hinunterwälzen, die alles in ihrem Weg stehende verschlang. Nicht einmal über der Lichtung, an die Wilhelm glaubte, sich erinnern zu können, konnte man ein Licht sehen, auch dort war es düster, finster, schwarz – ewig schwarz. Außer ihnen konnte niemand hier draußen sein, niemand wäre so verrückt, sich noch hier aufzuhalten, während die Welt zu verschwinden schien, aufgefressen wurde in einem ständig mehr anschwellenden Brüllen, das über das Land fegte, das sie jetzt auch immer öfter stolpern ließ, das machte, dass sie sich an sich klammerten, während sie weiter taumelten, vorwärts, immer vorwärts, nur durch das Licht der Blitze von Zeit zu Zeit sich an dem kleinen Rinnsal orientierend, das sie zurück zum Kloster führen sollte.
Die Zeit stand still, als sich ein kaltes, dumpfes Grollen wie Lachen über dem Tal ausbreitete, auf das es hinab blicken konnte. Elektrische Entladungen tanzten entfesselt über der Welt der Lebenden und löschten hier ein Leben aus, entzündeten da Gehölze. Richteten Verwüstungen an. Das Wesen fühlte, wie Angst von allem Besitz ergriff und wie seine Macht mit der sich ausbreitenden Dunkelheit wuchs. Die Freude war in solchen Momenten klein und Furcht, Trauer, Ungewissheit übernahmen das Regiment, gingen durch das Erleben, bereit, umarmt zu werden und alle, die sie mit offenen Armen empfingen, mit ihrer kalten Energie zu erfüllen, sie zu lähmen, sie dazu zu bringen, mit offenen Augen das Nahen des Verderbens mit anzusehen, unfähig, sich zu rühren, unfähig, etwas zu tun.
"Bringe Licht in die Dunkelheit, und die Dunkelheit vergeht." Mit großen, offenen Augen betrachtete es den langsam nahenden Sonnenaufgang. Leichte Streifen von rosa-violettem Farbton überzogen den Horizont im Osten und ließen die Sterne dort verblassen.
"Wo soll man denn ein Licht hernehmen, wenn überall Dunkelheit herrscht?" Wilhelm war ratlos. Er wusste, dass das Kind ihm einen wichtigen Tipp gab, doch er konnte ihn nicht verstehen.
"In jedem brennt die Flamme des Geistes, darauf wartend ein Feuer zu entfachen, welches die Seele erhellt und aus ihrem düsteren Kerker befreit."
Wie immer wenn Wilhelm sich an diesem Ort wähnte, schwirrten kleine Insekten auf buntem Flügelschlag um seinen Kopf. Sie lenkten ihn vom Denken ab. Er war hier, um etwas wichtiges zu begreifen. Er brauchte Hilfe, irgendetwas bedrohte seinen Frieden. Unruhig fuhr er sich mit der Hand durchs Haar, schaute gebannt in die Richtung der aufgehenden Sonne und versuchte das Rätsel zu lösen.
"Wie bekomme ich ein Feuer im Innern entfacht, eines das stark genug ist, gegen die Dunkelheit anzukämpfen?" Der riesige Feuerball als Vergleich schien ihm zu hinken, sie war doch schon unermesslich stark in ihrer Macht über Tag und Nacht zu bestimmen. Sie besaß ein inneres Feuerwerk, das allem trotzen könnte. Doch er?
"Wie lange brauchst du, um glücklich zu sein? Nur so lange, wie du brauchst, um Freude zu empfinden. Willst du glücklich sein, dann sei es! Willst du dich stark fühlen, dann tu es einfach!" Eine Aufforderung klang in diesen Worten, als würde von seinem Erfolg sehr viel abhängen. Wilhelm fühlte sich schwer unter einer Last, die er nicht genauer bestimmen konnte. Doch zusammen mit der Verantwortung auf seinen Schultern, fühlte er auch aufkommende Unsicherheit an seiner Fähigkeit, dieser gewachsen zu sein.
"Wie lange brauchst du, um Angst zu haben? Genau so lange, wie du brauchst, um dich an deine Zweifel zu erinnern. Aber warum, bist du nicht immer ängstlich, wenn doch deine Zweifel immer begründet wären? Sie sind nur echt, solange du ihnen die Möglichkeit gibst, echt zu sein und sich eventuell auch zu bestätigen." Das waren kluge Gedanken, denen man leicht Glauben schenken wollte. Es war ihm aber zu wage, er musste verstehen, was zu tun war.
"Sag mir, was ich machen muss, um das Dunkel zu besiegen und ich werde meine Zweifel überwinden!" Ein fanatischer Funke glomm in seinen Augen auf. Ja, das Kind konnte ihm einfach erklären, wie er handeln musste. Das Kind war doch so klug, es musste ihm nur die nötigen Anweisungen geben und schon konnte ihn nichts mehr behindern. Doch das kleine Menschenwesen schaute etwas mitleidig in das ihm zugewandte, erwartungsvolle Gesicht.
"Wenn du erkennst, dass alles 'schlechte' im Leben, alles worunter du leidest und wovor du Angst hast, einen Sinn hat - dann musst du dich nicht mehr fragen, wie du es verändern kannst. Du musst nur akzeptieren, dass es gut ist. Alles ist einfach ein Teil des Lebens. Und wenn das Leben sinnvoll ist, hat alles Seiende einen Zweck. Dadurch, dass du die Dinge akzeptierst, veränderst du deine Einstellung ihnen gegenüber und dabei werden die 'schlechten' Dinge selbst zu etwas positiv empfundenem - so löst du das Problem mit ihnen auf. Setz dich nicht mit etwas auseinander, das du hinterfragst, aber nicht verstehen kannst. Nehme einfach dessen Gegenwart hin und die Erfahrung stellt dich nicht mehr vor Problemen."
"Einfach akzeptieren? Keine Angst mehr haben, keine Sorge vor Fehlern und deren Folgen?"
"Wie passt es denn zusammen, dass die Menschen einerseits sagen: 'Gott ist allmächtig' und andererseits sagen: 'Gott bestraft die Menschen für ihre Fehltritte'? Wenn es einen unfehlbaren Gott gäbe, der den Menschen geschaffen hat in seiner grenzenlosen Weisheit, könnte er doch nicht eine einzige Tat seiner eigenen Kreatur als etwas falsches betrachten. So würde Gott seinen eigenen Fehler eingestehen und damit seine Unbegrenztheit widerlegen. Doch es gibt nichts falsches."
Blasphemie! schrie es in Wilhelm auf, doch er war selbst nie ein gottesfürchtiger Mensch gewesen. Eigentlich war es ihm bisher reichlich egal, was Gott zu seinen Taten sagte. Man hatte ihn schon früh zu regelmäßigen Messen und Gebeten genötigt. Bei seinen Untersuchungen allerdings, hatte er nicht einen Gedanken an eine höhere Macht verschwendet. Ihm war es nicht wichtig erschienen, wer wohl die Welt erschaffen hatte oder wie, ihm war nur daran gelegen das Wesen des Daseins zu ergründen.
"Ist das die Wahrheit?"
Etwas ruhiger als zuvor sprach das Kind nun seinerseits, als würde es mit einem Kind reden.
"Alles ist Wahrheit. In jedem Gedanken steckt etwas wahres, denn er ist gedacht worden. Dabei ist Wahrheit nur ein Gefühl, etwas das du empfindest. Es ist der Umfang deines inneren Wissens. Jedes Glauben, alles, was du akzeptierst, wird in deinem Leben zu einer Wirklichkeit werden. Und deswegen kann es nicht auf andere übertragen werden, weder durch wissenschaftliche noch durch intellektuelle Schlussfolgerungen. Jeder hat seine eigene Wahrheit und Fakten, die die Wissenschaft macht, sind lediglich die gerade aktuellen Manifestationen des allgemeinen Bewusstseins – oder vielleicht sogar nur von dem jeweiligen Wissenschaftler. Erst durch das Gefühl, verleihst du den Informationen die Möglichkeit, für dich tatsächlich zu werden." Das rütteln an seinen wissenschaftlichen Überzeugungen, traf Wilhelm härter an, wo die Beweise für ihn doch als unumstößliche Tatsachen anerkannt werden mussten. An solchen Dingen hatte er nie gezweifelt und das erschien ihm jetzt als ein großer Mangel. "Aber jeder Glaube mit Grenzen kann erweitert werden, bis zu einem Punkt grenzenloser Wahrheit. An diesem Punkt existiert die unbegrenzte Freiheit. Und die Freiheit besteht darin, zu erkennen und zu akzeptieren, dass einfach nichts wahr oder unwahr ist – es IST nur. Letztendlich gibt es nur das Sein."
Wie dort am Firmament die Welt langsam begann, sich wieder in Farben zu kleiden und der Duft der umgebenden Natur das Phänomen begleitete, schien das Leben etwas wunderbares zu sein. Wilhelm wollte akzeptieren, wie man ihm geheißen hatte und er wollte an die schönen Worte glauben, die ihm irgendwie eine große Hoffnung einflößten. Es war eine Hoffnung, die er dringend nötig hatte.
"Das Leben ist kein Problem, das man lösen, sondern eine Wirklichkeit, die man erfahren muss."
Er atmete tief ein, schloss für einen Moment die Augen, um die Wärme der ersten Strahlen auf seinem Gesicht zu spüren. Wilhelm hörte noch, dass er nur an sich selbst glauben sollte, als ein Ruck durch seinen Körper ging und er wieder eine Hand fest in seine gekrallt fühlte. Der Sturm war so mächtig wie zuvor und tobte seine dunkle Gewalt an zerbrechlichen Geschöpfen aus.
Jemand reichte ihm eine Schüssel Suppe.
"Hier, essen Sie."
Er starrte die Frau ratlos an und erinnerte sich nicht, wie er an diesen Ort gekommen war. Er befand sich in einem Raum, der von Steinmauern umschlossen war, ähnlich denen einer Burg. Eine Frau mit weißem Haar reichte ihm eine Pilzsuppe. Durch ein Fenster des Raumes fiel Licht und machte die Augen der klaren Brühe glitzern. Spartanische Einrichtung, dachte er, jedoch gemütlich. Ein älterer Herr stieß durch die Eichentür zu ihnen, strich der älteren Dame durchs Haar und setzte sich dann zu ihm.
"Seien Sie willkommen. Woran erinnern Sie sich?"
"Ich weiß nur noch von einem blauen Tunnel aus Licht, sonst weiß ich nichts mehr, gar nichts. Nicht einmal.." er stockte "nicht einmal meinen Namen."
"Das macht nichts. Sehen Sie, meine liebe Maria und ich sind schon eine ganze Weile hier. Wir haben zwar nicht alles vergessen, so wie Sie, aber... wir wissen hier auch nicht recht weiter."
"Wo bin ich hier? Was für ein Ort ist das?"
"Wir befinden uns in einer Art Waldschlösschen. Außer uns und einer jungen Frau lebt niemand hier, soweit wir wissen. Obwohl wir ab und zu Schatten begegnen, die wiederum uns anschauen, als wären wir Geister. Wir haben versucht, diesen Ort zu verlassen, aber wann immer wir durch die verschlungenen Pfade des Waldes gegangen sind, sind wir schließlich wieder hierher gekommen."
"Und was ist mit der jungen Frau?"
"Sie heißt Myriel. Das war das einzige, woran sie sich erinnern konnte. Und an eine Nacht im Wald, in der sie hier her gelangt sein muss. Es muss ungefähr.. es ist jedenfalls noch nicht lang, dass sie hier ist. Zeit scheint hier kaum zu vergehen. Wie gesagt, es ist ein seltsamer Ort. Es hat nie schlechtes Wetter, immer scheint tagsüber die Sonne, nur nachts kommt es ab und an zu Gewittern. Und an besonders schaurigen Gewitternächten, so scheint es, gibt es Besuch... Auch Myriel kam damals zu uns, in so einer Nacht. Und noch jetzt scheinen sie solche Nächte magisch anzuziehen. Sie hat Sie gefunden, mein Herr. Sie geht so gern des Nachts im Wald spazieren."
"Wovon leben Sie hier? Wachsen Früchte, jagen Sie?"
"Wie durch ein Wunder ist die Speisekammer jedes Mal von neuem gut gefüllt, wenn man hineinschaut. Aber meine liebe Maria sammelt auch ab und an Pilze aus dem Wald, für die Abwechslung, und weil wir das früher auch schon immer gerne getan haben, Pilze sammeln."
"Und was tun Sie hier, tagein, tagaus?"
"Wir beschäftigen uns miteinander, reden, bereiten Essen, gehen wieder schlafen. Um ehrlich zu sein, wissen wir nicht, warum wir hier sind, also leben wir einfach unser Leben. Maria war übrigens schon länger hier als ich, aber ich kam vor einer ganzen Weile hier an und doch wusste ich, dass wir uns kennen, wenn ich auch nicht mehr genau weiß, warum. Wir haben beschlossen, zusammen zu sein, weil es uns natürlich schien, da wir uns ja auch gut zu kennen schienen. Es ist unerklärlich, es ist eines der Wunder hier. Ah, Sie sollten sich das Schloss anschauen, es steht voll seltsamer Bildnisse von Schmetterlingen, und in einigen Trakten auch Abbildungen und Skulpturen von Spinnen. Es war so staubig, aber wir haben alles nett gerichtet."
Die ältere Dame näherte sich und zog den Alten vom Tisch weg. "Lass unseren Gast erst einmal in Ruhe, Schatz. Wir werden etwas spazieren gehen." Sie lächelte den Weißhaarigen an, dann nickte sie ihm zu. "Keine Sorge, schauen Sie sich einfach um, dann wird Ihnen hier nie langweilig." Damit verschwanden die beiden durch die Tür.
Die beiden gingen dichtgedrängt, tasteten sich mit den Händen langsam vorwärts in die Dunkelheit. Marias Laterne konnten sie nicht wieder entfachen und so waren sie darauf angewiesen, dem schwachen Schein vom Ende des Ganges zu vertrauen und ihm entgegen zu gehen. Sie waren nicht mehr sicher, allein zu sein. In der plötzlich hereingebrochenen Düsternis traute sich niemand etwas zu sagen. Um sich her spürten sie verschiedenste Windzüge, begleitet von einem Rauschen, das an Flügelschläge erinnerte. Doch immer wenn sie nach etwas scheinbar Anwesendem greifen wollte, fanden die Finger nur schwarze Leere. Maria erinnerte sich an die 3 geisterhaften Erscheinungen im großen Saal, sie waren aufgetaucht und wieder verschwunden. Vielleicht waren dies auch nicht die einzigen verschwommenen Gestalten, denen man hier begegnen konnte. Etwas streifte ihr Haar. Auch vor dem Eingang des Schlosses ist sie aus dem Hinterhalt angegriffen worden. Maria umklammerte den Stab ihres Großvaters fester. "In der Natur gibt es Nichts, wovor du Angst haben müsstest, denn du bist ein Teil von ihr." hatte er seiner Enkelin einmal gesagt. Und schon als ganz kleines Mädchen war sie davon überzeugt gewesen, dass es Blumenfeen, Elfen und andere Zauberwesen gab, mit denen sie spielen konnte und die sie vor allem Bösen beschützen würden. Wollte man eine Pflanze dem Wald entreißen, musste man sich immer der Dankbarkeit bewusst sein, zu der man ihm gegenüber verpflichtet ist. Es sind Geschenke, so wie die kleinen Lichtspiegelungen im Wasser und der Gesang der Vogelwelt, an diejenigen, die es zu schätzen wissen.
Die aufkeimende Beklemmung legte sich wieder und mit sicherem Schritt ging Maria ihren Weg weiter, riss Sebastian mit sich und sie war sich auf einmal sicher, die Gegenwart unzähliger Geister um sich zu spüren. Tatsächlich konnte man glauben, ab und an einen Schatten auftauchen zu sehen, aber nur aus den Augenwinkeln und mit schemenhaften Umrissen. So dass man genauso gut hätte einer Einbildung erlegen sein können. Außerdem glaubte Maria Schritte zu hören, deren Ursprung nicht zu orten war. Sie lauschte angestrengt in die Stille. Unversehens wimmelt es um sie herum von verschiedensten Gegenwarten. Womöglich waren die beiden auch schon die ganze Zeit von ihnen umgeben gewesen, und erst die Abwesenheit jeglichen Lichts ließ sie empfänglich genug dafür werden. Das Rauschen schwoll an, es war in einer sehr tiefen Frequenz und wirkte wie das gleichzeitige Murmeln unzähliger Stimmen, nur schwer von einander zu trennen. Maria schloss die Augen, wollte sich ganz darauf konzentrieren und die Geräusche entwirren. Neben ihr ein undeutliches Wispern, vor ihr ein Raunen. Sie schritt schneller aus, von einer Ahnung getrieben, die sie selbst nicht erklären konnte. Es wurde etwas heller. Bis sie schließlich sicher war, in der Mitte des nächsten Raumes zu stehen, wo das Flüstern und Gurgeln am stärksten schien. Und dort schlug sie die Lider wieder auf.
Alles war wirr. Die wenigen Bäume um sie herum drohten zu brechen, wenn sie sich den wirbelnden Winden nicht beugten. Das Licht war konfus, die Blitze beleuchteten nur einzelne Stellen des bewachsenen Bodens und ließen ihn in einem lila Farbton leuchten. Das Haar wehte ihnen wirr ins Gesicht, ihre peitschenden Hiebe mischten sich mit den wirren Regentropfen, die auf die Erde hernieder trommelten. Sogar die Gedanken waren nicht mehr klar zu ordnen. Chaotische Erinnerungen stürmten auf Wilhelm ein, mischten sich mit den verwirrenden Sinneseindrücken der Gegenwart. So dass er nicht mehr sagen konnte, wie schnell die Zeit verging, ob sie nicht vielleicht stehen blieb, während sie vor dem Unbill der Natur fliehend in irgendeine Richtung rannten. Was klar blieb, war das Gefühl einen anderen Menschen bei der Hand zu halten, mit ihm zu fühlen und gemeinsam in einem Tunnel aus abwechselnd tiefschwarzer Nacht und violetter Traumwelt gefangen zu sein. Sie kamen nicht voran. Je mehr sich die Beine über den Boden zu bewegen glaubten, desto mehr schienen sie dennoch von der Außenwelt abgeschnitten zu sein und statt dessen in ihrer eigenen kleinen Hölle. Alles wirbelte durcheinander. Wilhelms Blick irrte auf der Suche nach festem Halt umher. Er zwang sich stehen zu bleiben und Elli ebenso. Seine Konzentration war wichtig, so versuchte er den Regen zu ignorieren, das heulende Gebrüll des Sturm zu verdrängen und die Augen auf einen festen Punkt zu fixieren. Und dann sah er es: rings um sie her bewegte sich alles. Die verwirrende Lebendigkeit der Wiese, des Baches und des Windes rührte von unzähligen kleinen Wesen her. Ein Grashalm wurde zur Anhäufung vieler sich zusammenrottender Spinnen. Es floss nicht länger Wasser den Bachlauf entlang, sondern in jeder Welle steckte die Bewegung von acht Beinen. Die feste Welt der Materie verwandelte sich in ein unbestimmtes Reich aus bloßen Spinnentieren.
Gebannt betrachtete er die Spinne vor sich. Es war eine wunderschöne Schnitzerei, die Augen glänzten geheimnisvoll, obwohl es sonst ein eher mattschimmerndes Material war. Mit der Hand fuhr Rohten die merkwürdigen Beine entlang, spürte die vielen kleinen Härchen, wie sie detailgetreu auf dem Körper des Riesentieres abgebildet waren. Und er fragte sich, wie eine Figur, noch dazu von solch einem Vieh, eine so starke Anziehungskraft ausüben konnte. Im Laufe seines Umherstreifens war er zu der Erkenntnis gekommen, dass es sich hier um ein altes Schloss handeln musste, obwohl das Alter schwer zu schätzen war. Die Räume schienen gründlich sauber gehalten zu werden und sogar die vielen Gemälde und Verzierungen waren weitgehend staubfrei. Allein das Werk der beiden Alten konnte es kaum sein, dachte er bei sich. Es gab kein einziges Anzeichen für die fortschreitende Verwitterung, der ein solches Gebäude eigentlich hätte ausgesetzt sein müssen. Es gab keine Veränderungen, kein Wachstum. Die Sonne ging jeden Morgen auf und jeden Abend wieder unter. Doch ein Tag glich dem anderen und nur die Neugierde auf diese neue, unbekannte Umgebung vertrieb ihm die Zeit.
Acht mal acht mal acht mal acht Beine und bis auf das Geräusch des abflauenden Sturms nur das Schaben von Chitinhaaren aneinander. Behutsam bewegten sich die beiden durch ein schwarz-braun-gräuliches Krabbeln, bemüht, nichts zu zertreten, keine Kreatur zu töten oder zu reizen. Obwohl jedes der winzigen Wesen kaum einen Laut erzeugte, schnitt ihre millionenhafte Anzahl kratzend die Luft. Zwischen den Wolken hatte sich eine winzige Lücke gebildet, in der sie einen bläulich leuchtenden Stern sehen konnten, dessen Strahlen nur aus einem kleinen Teil des Farbspektrums bestand. Als sie sich furchtsam anblickten, sahen sie nur das blasse, verunsicherte Blau ihrer Haut. Ihre Augen funkelten schwarz und ihr Haar war von den überbleibenden Luftwirbeln in Bewegung versetzt, so dass es sich in der feuchten Luft zu Strähnen zusammenklebte, die ihnen ins Gesicht hingen. Ihr Blick wurde von dem Sternenlicht gefesselt, das das einzige war, was aus den finsteren Wolken heraus die Gegend erhellte. Ein Licht, das bewirkte, dass nur ein Teil der Wirklichkeit sichtbar wurde, ein anderer jedoch verborgen blieb, so dass man den verbleibenden Teil um so erschreckend genauer wahrnehmen konnte.
Das Beinemeer wurde zu einem grauen, wimmelnden Strom, der dem Leitstern zuströmte, der sich jetzt genau über dem Gipfel des Hardenbergs zu befinden schien. Das Rascheln schwoll an, als sich die tausendäugige Lawine einen Weg ins Unterholz bahnte. Die Bewegung zog die beiden einfach mit sich; einen eigenen Willen zeigten sie nicht. Nur der panische Ausdruck in Ellis Gesicht zeugte von ihrer inneren Pein, beim Anblick des krabbelnden Getiers um sie her. Willhelm konnte ihre unterdrückten Schreie spüren in jedem nervösen Zucken ihrer Finger in den seinen und er musste machtlos mit ansehen, wie die Panik von ihr Besitz ergriff, während ihr Geist langsam das Bewusstsein verlor.
Nur ein schmaler Rand aus Blumen umfloss die lichtgesteuerte Masse. jedoch hinterließ sie in allen umgebenden Bäumen und Sträuchern ein schattenhaftes Gespinst, das sowohl jegliche Bewegung, als auch jegliches Licht einzufangen schien. Hinter der Myriade wurde es wieder dunkel und das Leuchten des Sterns fokussierte sich auf die stillen Mauern des Schlosses, die das Licht auf irgendeine Art zu reflektieren schienen. Als sie sich dem Eingangstor des Schlosses näherten, bemerkte Wilhelm, dass über den eisernen Torflügeln sich ein Bogen aus lebendigen, achtbeinigen Leibern gebildet hatte, die, von klebrigen Fäden in ihrer Position gehalten, das Symbol einer großen Spinne bildeten, die die beiden aus unzähligen Augen fragend anblickte, so, als ob das große Tier fragen wollte, warum sie Eintritt wünschten.
An einem anderen Tag war er wieder einmal in das unveränderliche Gemäuer gegangen, um darüber zu Rätseln. Er hielt inne. Wie Myriel, so hatte auch er an diesem sonst so friedlichen Ort etwas gefunden, das ihn beschäftigt hielt. Das ihn interessierte. Das ihn vergessen ließ, darüber nachzudenken, warum er sich überhaupt an diesem Ort befand. Er konnte aufhören, Nachzugrübeln, wenn er sich im Schloss befand, das ihn mit seinem beständigen, ruhigen Frieden umgab. Er fuhr den kühlen Stein mit seinen Fingern ab, der ihm so vertraut geworden war. Auf einmal jedoch war da etwas anders. Er hörte ein Klicken und in der gegenüberliegenden Mauer öffnete sich ein mannsgroßer Spalt. Seltsamerweise war es nicht dunkel in dem neu entstandenen Gang; ein schwaches, graues Licht erhellte den Flur leicht und so begab er sich nach kurzem Zögern hinein.
Er ging eine Wendeltreppe hinauf, dann kam er zu einer steinernen, zweiflügligen Tür. Wo die beiden Flügel zusammentrafen, bildete das Relief des Portals den Körper eines Schmetterlings. Links und rechts seines Zentrums waren arabeske Muster in den Stein eingearbeitet worden, die die Form von Schmetterlingsflügeln nachahmten. Türklopfer in Form von Fühlern stachen aus der Pforte heraus. Als er einen von ihnen in die Hand nahm und unwillkürlich damit laut gegen das Steintor schlug, öffneten sich die Toresflügel nach innen und der graue, geisterhafte Schein wich dem warmen Flackern eines Lichts aus vielen hundert Kerzen, die den nun folgenden Raum mit tanzenden Schatten ausfüllten. Er war nicht so sehr über den weichen Untergrund verwundert. Viel mehr als der in schwarz und gold gewebte Teppich mit seinen wilden Mustern nahm ihn der Anblick des lehmfarbenen Holzes der Regale gefangen, die sich an den Wänden der gewaltigen Halle befanden und in denen unzählige Bücher standen. Die Deckel der Bücher waren reich verziert. Goldlettern verkündeten die Titel unbekannter Werke ihm unbekannter Schreiber. Doch nicht nur die Buchstaben glänzten kostbar, die Bücher waren mit Edelsteinen ziseliert, die die Buchstaben in mannigfaltigen Weisen umgarnten. In den Facetten der Karfunkel spiegelte und verteilte sich das Licht der vielen Kerzen, die sowohl in herabhängenden Lüstern brannten, als auch in den Kerzenleuchtern, die hier und da auf einem der Tische standen und sich in der Mitte des Gangs durch die gewaltige Halle befanden. An ihnen standen reich beschnitzte Stühle, deren Lehnen Gesichter waren. Jede Lehne hatte ein anderes Gesicht, manche waren unerkennbare Fratzen, manche blickten nachdenklich und menschlich auf die hölzernen Tische vor sich und manche schließlich schienen die Antlitze von Tieren zu sein, die verständnislos in die flackernde Pracht des Raumes blickten. Auf jedem der Tische lag wiederum ein aufgeschlagenes Buch und ein an- und abschwellender Luftzug sorgte dafür, dass sich die schweren Seiten der Bücher immer wieder bewegten, so dass es aussah, als würde eine unsichtbare Hand ihre Seiten umblättern.
Völlig durchnässt und bis auf die Knochen durchgefroren, tauchte er wie ein Gespenster aus dem Gewitter auf und klopfte an die Pforten des Sanatoriums. Die Schwestern kamen in Scharen angelaufen und gingen ganz in der Aufgabe auf, sich rührend dem armen Bruder Gutfried anzunehmen. Sebastian hingegen versuchte sich dem Andrang zu entziehen und verschwand zähneklappernd Richtung seines eigenen Zimmers im anderen Trakt. Auf dem Weg dorthin stellte sich ihm Sieglinde in den Weg, musterte ihn von oben bis unten eindringlich und versengte ihren forschenden Blick in seinem Gesicht.
"Was wollen Sie von mir? Sie sehen doch, dass ich friere und dringend ein warmes Bad nötig habe."
"Etwas sehr merkwürdiges ist heute Nacht passiert und ich kann mich nicht daran erinnern, was es ist. Dieser Sturm dort draußen ist nicht normal und doch sind Sie heil aus ihm zurück gekommen. Was wollten Sie im Tal, was haben Sie dort gesehen?"
Er versuchte eine innere Mauer aufzubauen, um den bohrenden Augen Sieglindes stand halten zu können.
"Das ist doch meine Sache, wann es mir beliebt einen Spaziergang zu machen und wohin. Es ist mir nicht bekannt, dass ich damit gegen irgendein Gebot verstoßen würde."
Ein wenig entgegenkommender legte sie ihm nun eine Hand auf die Schulter und flüsterte: "Wir müssen uns unterhalten. Ich spüre die Anwesenheit einer Person, die es eigentlich nicht gibt… und ich weiß, dass es dir ähnlich geht. Es ist ein Gefühl, das in meinem Hinterkopf darauf wartet, beachtet zu werden. So als würde jemand nach mir rufen - oder etwas und ich kann nicht erkennen, was es ist. Ich komme mir wieder vor, wie ein kleines Mädchen, welches nichts mit ihren Empfindungen anzufangen weiß."
"Dann sollten Sie besser eine der Schwestern um Rat fragen. Ich kenne mich mit solchen Dingen nicht aus und jetzt entschuldigen Sie mich bitte."
Er drängt sich an ihr vorbei. Zu mitgenommen von dem Ausflug, machte er sich keine größeren Gedanken über diese Äußerungen, sonst wäre ihm sicher auch aufgefallen, dass er die sonst so selbstbewusste Sieglinde noch nie dermaßen verunsichert gesehen hatte. Doch Sebastian sehnte sich nur nach seinem Bett und verlangte heiße Kohlen, um sich wieder aufzutauen. Vor einem großen Fenster blieb er stehen und schaute in die stürmische Finsternis hinaus, wie sie mit den Bäumen spielte und sich anscheinend einen Spaß daraus machte, jene zu entwurzeln, die sich seinem Willen nicht weit genug beugen konnten.
In Wirklichkeit konnte er Sieglinde einfach keine Antwort geben, denn er hatte vergessen, weshalb er eigentlich raus gegangen war.
Halbtransparente Gestalten liefen durch den Saal, gingen teilweise durch andere Gestalten hindurch oder unterhielten sich miteinander, ohne dass Maria ihre Worte verstehen konnte. Unter ihnen waren junge Leute, sogar Kinder und gleichfalls gab es einige alte Menschen. Doch sie schienen sich gegenseitig nicht wahrzunehmen. In dem schwachen Licht leuchteten ihre Umrisse. Maria schaute fassungslos in die bunte Schar von Wesen, wie sie alle mit irgendetwas beschäftigt waren und eifrig ihre Taten verrichteten. Sie fühlte sich als stumme und teilnahmslose Zuschauerin in einem obskuren Bühnenstück, von dem sie weder den Titel noch die Handlung kannte. Sobald sie sich aber auf einzelne Gesichter konzentrieren wollte, verschwammen diese vor ihren Augen und es blieb nur eine wabernde, funkelnde Hülle. Auf ihre Rufe reagierte niemand und auch ihre Bewegungen blieben unbeachtet. Eine zunehmende Unruhe stieg in Maria auf, sie spürte ihre Unfähigkeit, etwas Sinnvolles beizutragen. Und als der Stock in ihrer Hand heiß wurde, ließ sie ihn erschrocken fallen, woraufhin die Gestalten um sie herum verschwanden. Ungläubig starrte sie in die Richtung, aus der sie gekommen war und blickte Sebastian mit offenem Mund entgegen, wie er dort langsam in den Raum trat. Sein nichtssagender Gesichtsausdruck ersparte ihr die Frage, ob er ebenfalls Zeuge dieses seltsamen Spektakels gewesen sei.
Er war gefangen vom Anblick der verwirrenden Pracht, die sich vor ihm auftat. Er ging langsam, Schritt um Schritt, auf einen der Tische zu, auf dem ein Buch lag, dessen Seiten wild im Wind blätterten. An diesem Tisch stand ein Stuhl, dessen Lehne von dem Gesicht eines fremdartigen Vogels, der gerade im Begriff war, zu singen, verziert wurde. Er setzte sich, wenn auch seine Hände und auch seine Knie anfingen, zu zittern. Als erstes schlug er das Buch zu, das sich seltsamerweise nicht zu sträuben schien. Der Einband des Buches war rot und ledern. An einigen Stellen war es mit blau schimmernden Steinen besetzt, in deren Facetten man die Flammen der Kerzen beobachten konnte. Eine Weile verlor er sich in deren Tanz, bis er seine Aufmerksamkeit zurückgewann. Er schaute auf den Titel des Buches. 'Mortimer Wandersleben'. Irgend etwas an diesem Namen kam ihm bekannt vor und so öffnete er den Deckel des Buches und begann, zu lesen....
"Kapitel Eins: Ich werde geboren.
Ob ich derjenige sein würde, der mein Leben gestaltet, der Held meines Lebens, oder ob ein anderer Mensch mein Leben bestimmen würde, das war bis jetzt noch nicht klar. Es war am Siebzehnten Februar des Jahres 1771, als ich ins weithin blühende Leben trat. Von der Amme wurde mein lautes Geschrei entschieden komplimentiert und bereits hier sollte sich recht bald herausstellen, dass ich in der Lage sein würde, Dinge wahrzunehmen, die andere einfach übersahen. Dazu kam, dass mein Leben, so wurde bereits meiner Mutter prophezeit, von unglücklichen Zufällen bestimmt werden würde, was sie daran festmachte, dass eben, als die Wehen einsetzten, auch die Milch überzukochen begann....."
Er schloss das Buch wieder. Es war augenscheinlich die Biographie des Mannes, dessen Name der Titel des Werkes war. Eine Autobiographie. Die Buchstaben waren dennoch nicht mit der Hand geschrieben gewesen, sondern in einer fein verzierten Schrift, deren Form vollkommen gleichförmig gewesen war. Das Buch musste gedruckt worden sein. Neugierig wandte er sich den anderen Büchern zu, während das Buch, das er zurückgelassen hatte, sich wieder in Bewegung versetzte und spielerisch mal auf diese, mal auf jene Seite blätterte.
Er fand Namen aller Arten. Namen von Frauen, Namen von Männern, Namen von denen er nicht einmal wusste, welchem Geschlecht oder welchem Land die Träger dieses Namens wohl angehörten. Er war gefangen in einer Welt voller Namen und von Erinnerungen, die sich um seinen Geist sponnen wie ein unsichtbares Netz, von Nornen gewoben, die das Schicksal spinnen und von Zeit zu Zeit einen Menschen einspinnen in seinem Schicksal, bis es schließlich so verwirrt in all den Fäden ist, dass ihnen, um das Gewebe der Zeit intakt zu halten, nichts anderes mehr übrigbleibt, als den Faden einfach durchzuschneiden und das Wesen, dessen Schicksal mit ihm verknüpft ist, fallen zu lassen. Es wird sich in den vielen umgebenden Fäden verheddern und verwirren, doch werden sie keinen Halt geben und irgendwann ist da nicht einmal ein einzelner Strang zu sehen, an den es sich klammern könnte und, obwohl das Netz der Zeit nun immer noch intakt ist, ist es das vor allem, weil ein Moment des Lebendigen sich nun völlig außerhalb des Webstuhls befindet.
Er wollte den anderen von seiner Entdeckung erzählen. Doch als er an die Tür ging, um die Bibliothek der Schicksale wieder zu verlassen, fand er, dass sie sich gegen seine Öffnungsversuche wehrte. Sie war scheinbar auf irgendeine Weise von außen befestigt worden. Einen winzigen Spalt konnte er sie aufreißen und einen Blick heraus werfen, bevor sie sich mit aller Macht wieder zu schließen begann. Außerhalb des Raumes hatte sich ein dichtes, klebriges, tropfendes Gespinst aus weißen, seidig schimmernden Fäden breitgemacht, das, in einer chaotischen Weise geordnet, die Flügel des Portals in seine Richtung zerrte, bis sie gänzlich unlösbar mit dem Gewebe verbunden waren. Zugleich hörte er, wie von weit her, aus einer anderen Zeit, ein Rascheln, das durch die Welt draußen ging. Als er genauer hinhörte, nahm er das Krabbeln unzähliger Beine wahr, die sich über einen unebenen Untergrund bewegten. Und doch war da noch etwas. Hinter den Geräuschen der Bewegung konnte er ein Flüstern erahnen, ein Raunen, eine Ahnung, dass außer diesem Schloss noch ein anderes existieren könnte. Die leisen Stimmen, die in ihn drangen, erzählten von einem Riss in der Welt und gleichzeitig durch diesen Riss. Dass die Nacht nicht mehr Nacht war und dass das kalte Licht der weit entfernten Sterne dem empfindlichen Gewebe einen Schnitt zugefügt hatte. Nun, zur Heilung, waren die Myriaden geschickt worden, von denen die Laute ihm flüsterten. Ihm wurde kalt, doch einen kurzen Moment später war die unheimliche Empfindung auch schon wieder verflogen und, für einen Augenblick, sah er das beruhigende Gesicht eines Kindes vor seinem inneren Auge, das ihm aus einem ihm unbekannten Grund freundlich zulächelte. Er vergaß es sofort wieder.
Wie in Trance gingen sie dem Licht entgegen. Die Gedanken verstummten und die nervösen Zuckungen Ellis wichen einer hypnoseartigen Fixierung auf die große Tür vor ihnen, die sich im Tempo ihrer Schritte langsam näherte, während die abertausenden Spinnen erwartungsvoll in ihren Bewegungen inne hielten. Es würde nur noch einen winzigen Augenblick dauern, um bei dem Ziel ihrer Wanderung anzukommen, als sich plötzlich ein einzelnes Wesen aus der Masse löste und sich in Wilhelms Blickfeld drängte. Es war ein überdurchschnittlich großer Nachtfalter und allein schon seine Anwesenheit, störte den magischen Bann dieses Momentes und ließ Wilhelm aufschauen. Das erschreckenste, dem er gewahr wurde, waren die geweiteten Pupillen von Elli, und in ihnen konnte er eine gefangene Frau erkennen, eingesperrt in einem Körper, der mal der ihre gewesen sein musste, doch der sich selbst verleugnete. Er hielt sie fest, denn ihre Beine wollten dem Schloss noch immer entgegengehen, doch leistete sie willenlos, wie sie war, keinen Widerstand. Er wusste nicht wo er sich befand, oder wie er hierher gekommen ist, aber er wusste, dass er Vertrauen haben musste in seine Intuition. Und diese riet ihm, einem kleinen schwarzen Schmetterling seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken, der sich wohl unbemerkt hier eingeschlichen hatte. Als dieser gegen die tosenden Winde ankämpfend, dicht vor seinem Gesicht angelangt war, fingen die Flügel an zu leuchten und mit jedem Schlag spürte Willhelm den Übergang von dieser Zeit zu einer anderen, ihm mittlerweile schon fast vertrauten.
"Ach, Wilhelm, du hast nicht auf mich gehört."
"Wie soll ich denn auf dich hören, wenn ich nicht verstehe, was passiert?"
"Dass ihr immer alles verstehen wollt… Reicht es nicht zu akzeptieren, wie es ist und daran zu glauben, dass alles einen Sinn auf dieser Welt hat?"
Wilhelm fühlte sich wie ein kleines Kind gescholten und beobachtete das eigentliche Kind dabei, wie es den dunklen Schmetterling küsste und dieser sich auf einmal in prächtige Farben kleidete.
"Aber statt dessen, lässt du dich von der Neugierde fesseln und in die andere Welt hinein ziehen. Dabei hast du sogar ein gutes Beispiel an deiner Seite, was dann aus dir werden würde."
"Weißt du etwa, was mit Elli geschehen ist? Weißt du etwa auch, wie ich ihr helfen kann?"
"Nein, das weißt nur du." Eindringlich schauten die großen Augen ihn an. "Gut, ich werde dir eine Geschichte erzählen, damit du versuchen kannst, zu begreifen, was für keinen menschlichen Verstand greifbar ist."
Sie gingen ein Stück über die Wiese, dabei fiel Wilhelm auf, dass etwa die Hälfte des Tales in einem merkwürdigen Schatten lag, der wohl von den nahen Bäumen ausging. Der Rest wurde von den frühen Sonnenstrahlen in ein buntes Farbenmeer verwandelt und ließ die Knospen um die Wette funkeln mit den verzierten Leibern der Flügelwesen.
"Der junge Tag kommt so rein und hoffnungsvoll und man kann morgens die Erwartung des Kommenden spüren."
Wilhelm fuhr sich nervös über die Stirn, er erwartete eine sehr ausführliche Erzählung und war sich nicht sicher, ob die Zeit dafür ausreichte. Aus irgendeinem Grund hatte er es eilig. Davon unbeeindruckt, streckte das Kind seinen nackten Körper dem wärmendem Licht entgegen und begann:.
"Am Anfang gab es nichts als die Ewigkeit und mit ihr alle Möglichkeiten des Seins. Und du kannst dir sicher denken, welche unendliche Anzahl es davon gibt. Als sich nun der Gedanke, also die Idee von etwas anderem als nur der Möglichkeit, mit der Ewigkeit paarten, entstand das Vergängliche: die Materie. Alles, was im Reich der stofflichen Welt existiert, hat eine Begrenzung: nämlich die Schranken von Raum und von Zeit. Aber alles, das aus der Ewigkeit geboren wird, ist auch ein Teil von ihr und auf ewig als Wissen gespeichert. Damit ist jedes Teil unbegrenzt in der Erinnerung." Es machte eine kurze Pause "Das Wissen oder das Nichtswissen wird zum Schlüssel für die Existenz und wer darüber die Macht hat, kann alles beeinflussen. Denn etwas, das von niemandem wahrgenommen wird, kann nicht existieren, hier, wo die Wahrnehmung alles bestimmt. Man muss sich nur einmal mit den philosophischen Gedanken von Kant auseinander setzen. Hast du sie gelesen, Wilhelm? Er stellt die Frage: 'Wenn im Wald ein Baum fällt und niemand es hört, macht er denn trotzdem ein Geräusch?' Kann es ihn überhaupt geben, frage ich, wenn ihm überhaupt von nix und niemandem Aufmerksamkeit geschenkt wird?" Furchen waren auf Wilhelms Stirn zu sehen, als er angestrengt versuchte, den Gedankengängen so gut es ging zu folgen.
"Stell dir vor, das Vergessen wird zu einer Kraft, verwandelt sich in eine Form, denn auch dieses abstrakte Wesen kann erdacht werden. Und stell dir vor, es würde in die Welt der Sterblichen gelangen. So würde es über Sein oder Nichtsein bestimmen, indem es dafür sorgen kann, dass Dinge einfach nicht mehr erinnert werden." Wilhelm lief es kalt den Rücken runter. Wenn es so ein Wesen tatsächlich geben würde…
"Jemand, der vergessen worden ist, kann nur noch in einer Welt des Vergessens existieren. Was sind wir denn mehr, als bloße Erinnerung? Die Summe der Wahrnehmungen anderer von uns und die eigene Vorstellung über unser Sein? Die Welt, wie du sie kennst, basiert doch nur auf die Interpretation deines Gehirns unzähliger Nervenimpulse." Diese physikalisch-biologische Darstellung des Menschseins, wollte einfach nicht in Wilhelms Kopf und das Thema wurde fallen gelassen.
"Nun, die einzige Energie, die gegen das Vergessen, oder Nichtwissen ankämpfen kann, ist der Glaube, das überzeugt sein von einer Existenz, ohne sie zu kennen.
Gott ist so mächtig, wie der Glaube an ihn. Warum haben all die alten Götter keine Macht mehr, wo sie doch früher unumstritten das Leben hunderttausender Menschen beeinflussen konnten? Nur, weil es niemanden mehr gibt, der sich daran erinnert oder noch daran glaubt.
Wenn du von etwas überzeugt bist, gibst du ihm die Kraft deines Geistes." Das Kind tippte sich an den Kopf . "Also hat jeder, der zu Gedanken fähig ist, die Möglichkeit, die ganze Welt zu erschaffen oder sie zu vernichten. Einmal Gedachtes kann nicht mehr zerstört werden in dem großen Reich der gesamten Erinnerungen. Sein Einfluss auf Erden ist dagegen oft nur sehr schwer zu erkennen, aber deswegen nicht weniger wirksam." Erst kraftvoll mit Elan erzählt, schaute es nun etwas traurig in Wilhelms Gesicht. "Leider hat der Mensch vergessen, dass auch er ein Gott ist. Dabei ist seine ganze Freiheit nur den Flügelschlag weit weg, den es braucht, sie zu wollen!"
Eine kleine Waldmotte, braun wie ein Stück Rinde, verschwand vor ihren Augen tanzend im unergründlichen Wald. Obwohl er gerade so licht schien, in den grauhellen Schein des Himmels getaucht, konnte man sich noch immer darin verlieren. Wie oft hatte sie versucht, die Wege durch den Wald zu verlassen, diesen Ort, an dem sie sich befand, zu erweitern. Doch immer, wenn sie ein wenig in die Baumwelt vorgedrungen war, an Moosen und Bächen vorbei, durchs flüsternde Laub und über den stummen Nadelboden, so war sie nach einiger Zeit wieder auf einen der ihr nur allzu bekannten Pfade gelangt, die, steinig und lehmig, gewunden wie Schlangen, die kleine, rätselhafte Insel um das Schloss herum umgaben. Es war allerdings weitaus frustrierender, immer wieder auf die Wege zu gelangen, als würde sie dort ein Meer sehen zu können, wenigstens eine Möglichkeit, dass etwas anderes existierte. Oder wenigstens eine Felswand, die trotzig da gestanden hätte, um ihr den Ausgang zu sperren. Die unverständliche Weise jedoch, auf die sie immer wieder zum Ausgangspunkt ihrer Fluchten zurückkam, ließ sie langsam der Verzweiflung näher kommen. Allerdings war ihr klar, dass sie weiterhin versuchen würde, zu flüchten.
Es war rätselhaft, sie alle hier gefangen zu wissen. Und nun war auch noch ein weiterer Besucher in ihre kleine Welt gelangt. Ein Mann, dessen Züge sinister waren; diese Düsterkeit wurde jedoch langsam, jedes Mal, wenn sie ihn gesehen hatte, ein wenig mehr abgelöst von einem Ausdruck von Verwunderung und Ratlosigkeit, der die düstere Bestimmtheit Stück für Stück aus ihm verdrängte. Gedankenverloren lief sie in die hohen Stämme hinein, setzte sich auf einer Lichtung auf einen Grashügel und versuchte ein weiteres zweckloses Mal, am hellen Himmel die Sonne auszumachen, als sie auf einmal eine ihr unbekannte Stimme hörte.
"Er braucht dich, weisst du."
"Wer?"
"Der Verlorene ist im Schloss, Myriel. Er hat sich in die Schicksale verstrickt und nun ist er gefangen."
Verwirrt blickte sie sich um, doch sie sah nichts weiter als einen Schmetterling mit einem rotgoldenen Muster, der sich anschickte, wieder zwischen die Baumwipfel aufzusteigen.
Etwas hatte sich verändert, das konnte sie spüren. Wenn auch das seltsam drängende Gefühl in ihr sie zu beschwichtigen versuchte, ihr sagte, es wäre alles wie immer, ihr zu erklären versuchte, dass alles, was um sie herum war, genau so war, wie es sein sollte. Sie spürte jedoch, dass das nicht stimmen konnte. Sie vermisste jemanden, wusste jedoch nicht genau, wen. Es hatte jemanden gegeben, an dem sie ganz besonders gehangen hatte, und seit dem Unwetter war er verschwunden. Als sie diesen Gedanken notierte, krampfte ihre Hand und sie musste Buchstabe für Buchstabe sorgfältig auf das Papier drücken. Selbst dann versuchten ihre Finger ab und an, die Buchstaben zu verändern, sie auszustreichen, andere hinzuzufügen, die keinen Sinn ergeben sollten. Sie hielt ihre Hand eisern fest, um sie zurück auf ihren Weg zu zwingen, schaffte es schließlich, die Erinnerung auf das Pergament zu bringen, bevor sie ihr wieder entkommen konnte. Als sie mit dem Schreiben fertig war, nahm sie eine kleine Kassette aus Ebenholz unter ihrem Bett hervor, schloss sie mit einem kleinen, silbernen Schlüssel auf, legte das Pergament hinein, schloss die Kassette wieder ab und räumte sie wieder unter ihr Bett. Dann verließ sie ihren Raum, um im Sanatorium nach dem Rechten zu sehen, wie es, so schien es ihr, jetzt ihre Aufgabe war.
Der feuchte Wind blies durch die steinerne Eingangshalle, als Sieglinde auf ihrem Rundgang schließlich dort ankam. Sie sah eine Masse aus besorgt murmelnden Nonnen, die sich vor dem offenen Tor um eine zusammengesunkene Gestalt versammelt hatten, die vor ihnen auf dem Boden lag. Mit einem energischen Impuls schloss Sieglinde das eherne Portal. "Steht hier nicht so herum. Wer ist das überhaupt?"
"Klothild hat ihn gefunden, Sieglinde. Er hat am Tor gekratzt und sie hat es gehört. Wir haben ihn hereingeholt."
"Aber nicht das Tor geschlossen. Bereitet ein Bad vor. Der arme Mann wird sich den Tod holen. Auf!" Sie scheuchte die Frauen in Schwarz und Weiß fort, dann betrachtete sie den Elenden vor ihr.
Er war klatschnass und in eine Kutte gekleidet, die einem der Mönche im Sanatorium hätte gehören können. Obwohl seine Gesichtszüge kaum Falten aufwiesen, war sein Haar weiß, als wäre er uralt. Er war bleich und ein Film aus Nässe bedeckte sein Gesicht. Was für eine fremdartige Gestalt, dachte sie, und beugte sich zu ihm herunter, strich ihm übers Haar. "Es ist für alles gesorgt." Er hauchte sie an. "Rohten." Dann schloss er seinen Mund wieder. Für einen kurzen Moment schien ihr diese Äußerung einen Sinn zu ergeben, bildete sich ein klares Bild vor ihrem Auge, doch dann lenkte sie ein Donnerschlag ab, der das Kloster erschütterte, und es roch nach Feuer. Sie zerrte den Mann auf eine der Holzbänke der Eingangshalle und eilte davon, um der Lage Herr zu werden.
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Tag der Veröffentlichung: 07.01.2012
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Widmung:
danke an meinen Schreibpartner für seine Ideen