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Es war einmal ein Wassertropfen . . .

 

 

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Winzige Perlen frischen Taus glitzerten im Morgenlicht an tausend Fäden seidiger Spinnennetze.
Weißer Raureif bedeckte die Blätter von niedrigen Sträuchern, wo die schwachen Sonnenstrahlen ihre schmelzende Kraft noch nicht entfalten konnten.
Durch den aufsteigenden Atem der grad erwachten Wiese in Bewegung versetzt, liefen einige Wassertropfen die langen Stiele der Blumen und Gräser hinab, sich im Kern saftiger grüner Blätter zu treffen, um gemeinsam die Kraft und den Mut für ihre weitere Reise zu sammeln - ein jeder Tropfen seinen vorbestimmten Weg.

 

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Unser Wassertropfen war einer von ihnen und doch glich ihm kein zweiter.
Geboren aus feuchtem Nebel wie zahllose Generationen vor ihm, behütet erwachsen im Schutze einer wilden Knospe, erblickte er das Licht der Welt an diesem schickssalsschweren Morgen. Die Sonne entlockte ihm ein tiefes Seufzen, kitzelte seine Sinne hervor und spiegelte sich munter in seinem Körper als winzig kleine Regenbögen.
Ein faszinierendes Spiel der Farben begann und weckte in ihm die tiefe Lust am Leben.
Sein Blick schweifte verträumt über die Gegend, sog jede unbedeutende Winzigkeit in sich auf und setzte es in Gedanken zu einem wohlwollenden Bild des Ganzen zusammen:
Vom moosbedeckten Baumesstumpf, der den Kampf gegen zahllose Pilze längst verloren hatte und sich nun als Behausung für neueres Leben hergab; über die lichtbehangenen Kronen windschief gewachsener Erlen mit ihren zwitschernden Nestern im Haar; bis zum kleinsten Kieselstein in einem beruhigend waberndem Meer aus Grün.
Alles wuselte irgendwie durcheinander. Von seinem eigenen geheimen Rhythmus beseelt schien das Treiben dennoch im Einklang mit sich selbst und allem anderen zu sein.
Kein Fremdkörper störte das einträchtige Chaos, kein Abtrünniger wagte es, sich den stillen Gesetzen der Natur zu widersetzen, keinen Moment lang gab es eine Unterbrechung im steten Prozess des Werdens.

Am Ende des Blickfelds angekommen, entbrannte ein unerklärliches Verlangen im Tropfen, das die Begrenztheit der Umgebung - sei sie auch noch so vielfältig in ihrer natürlichen Einfachheit - bald nicht mehr zu stillen vermochte.
Der Wind flüsterte ihm beschwörend von Freiheit, von unbeschwertem Tanz durch die Lüfte auf seinen Schwingen. Der Bach - nur durch Lauschen zu erahnen - murmelte indes von Abenteuer, von aufregender Wanderung dem Lauf entlang zu fernen Ufern. Die Fantasie versprach ihm unbegrenzte Möglichkeiten, wollte er sich ihnen nur nicht länger verschließen.

Der Wassertropfen erlag dem Ruf.
Er quol hervor aus der schützenden Blüte, keinen Gedanken an die lauernden Gefahren verschwendend. Energie durchströmte ihn im Angesicht der glühenden Mittagshitze, wärmte ihm sein kleines nasses Herz und fing an, seinen Leib zu verbrennen.
Mehr durch den Schock denn den Schmerz überrascht, dacht er kurz an die Sicherheit eines taktischen Rückzugs. Doch noch während das Denken mühsam erlahmte und die Kraft ihm entwich als wäre er undicht, erfüllte eine Stimme sein ganzes Wesen. Lockend und aufmunternd zog sie seinen Blick gen Himmel, dem langsam der Rest von ihm folgte.
Seinem Körper entledigt stieg er hinauf, ließ für einen kurzen Moment noch den Umriss seiner Erscheinung auf dem Blatt als schwachen Schatten zurück.
Seine bisherige Heimat unter sich lassend, strebte er formlos dem Licht entgegen. Er fühlte sich unendlich frei, als die dumpfe Qual gleichfalls der Angst von ihm abfiel und einer ungeahnten Freude Platz machte.
Eins mit der ganzen Welt, die sich unter ihm dar bot, und bestrebt nichts von dessen Anblick zu versäumen, ging es immer schneller und immer höher hinauf.
Die Luft um ihn herum vibrierte vor stummer Erwartung, machte den Wasserdampf schaudernd, bis es merklich kühler wurde, im gleichen Maße wie die Atmosphäre an Dichte verlor.

Ein plötzlicher Kälteschock ließ den Tropfen innehalten, in seinem Flug erstarren und zu einem glänzenden Kristall erfrieren.
Hier oben erst, schwerelos, gefangen in einer Wolke aus Staubkörnern und gefrorener Feuchtigkeit, wurde er sich der Gesellschaft von Gleichartigen bewusst.
Gemeinsam mit ihm oder teils auch schon eher, mussten sie dem Lockruf gleichermaßen verfallen sein, um mit vereinter Kraft aus Sonnenenergie und Wind in diese Höhen zu gelangen. Ein andächtiges Raunen ging durch die Reihen und man begrüßte die Neuankömmlinge mit schweigender Aufmerksamkeit.
Alles wartete gespannt!

Während das Land gemächlich unter ihnen dahinzog, auf dem das Kollektiv seinen ausgefransten Schatten warf, veränderte sich langsam das Bild.
Grünen Hügeln mit bunten Tupfen wichen gelbe Dünen, in denen das Leben zunehmend spärlicher wurde. Vereinzelte Palmen wiegten sich in einer auffrischenden Brise.
Das Licht wurde stetig trüber und irrisierende Farben tauchten jäh am Firmament auf, von denen der Wasserkristall bisher nicht einmal zu träumen vermocht hatte.
Ein schwaches Orange, gefolgt von intensiver werdendem Rot, gepaart mit violetten Streifen, umhüllte den Feuerball in der Ferne, der sich bedächtig dem Horizont näherte.
Überrascht erfüllte ein unbekanntes Geräusch den Eistropfen, welches entfernt an starke Windböen erinnerte, doch mit erschreckender Regelmäßigkeit an- und wieder abschwoll.
Nächtliche Dunkelheit hatte sich mittlerweil über die Welt gelegt und verhüllte seinen Blick auf das laute Ungetüm unter ihm.
Unruhe bemächtigte sich seiner, breitete sich wie eine Woge über die Wesen aus und begann an allen Nerven zu zerren. Die Luft war elektrisiert und voll Energie geladen.
Noch immer harrte man der Dinge, die unweigerlich kommen mochten!

Als ein grelles Licht unerwartet die Wolke von einer Sekunde auf die andere durchflutete, gefolgt von plötzlicher Finsternis und krachendem Donner. Der Tropfen zitterte gemeinsam mit den anderen. Helle Panik übermannte ihn angesichts der Naturgewalten um sich her. Erneut durchzuckte ein Blitz die Luft und gab für einen kurzen Moment die Sicht frei auf das tobende, schwarze Etwas mit wütenden weißen Schaumkronen darauf. Dort unter sich sah er nichts als die grenzenlose Weite des Ozeans.
Vereinzelt lösten sich die Eiskristalle aus ihrer Starre, die Masse geriet in Bewegung, schien auseinander zu brechen. Hier und da zerriss die Wolke in Fetzen, von Blitzen geteilt. Ein Ruck erfüllte den Luftraum, als er seine Schleusen schließlich öffnete und die kostbare Ladung preis gab.
Wie Tränen des Himmels fielen die Tropfen hinab Richtung Erde, beschleunigten im freien Fall auf Höchstgeschwindigkeit, um sich als nasse Krieger auf die Welt zu stürzen - unser Wassertropfen mitten unter ihnen.
Sirrend zog die Luft an ihm vorbei, Empfindungen rasten durch sein Gemüt, die viel zu schnell schon neuen wichen, um sie ordnen zu können. Und noch ehe er sich versah, war nichts als Schwärze um ihn herum. Der Tropfen - nun endlich wieder in seiner ursprünglichen Form - fühlte für einen Sekundenbruchteil so etwas wie Befriedigung in sich aufkeimen, als ihm die Erfüllung seines Schicksals kurz bevorstand.

***


Andächtig sank er ins Meer und verlor sich in der Unendlichkeit des Seins.

 

 

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. . . und wenn er nicht gestorben ist, dann regnet es noch heute!

 

 

Impressum

Texte: Die Texte sind mein geistiges Eigentum, jedwede Verwendung (auch von Ausschnitten) nur nach Rücksprache!
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
inspiriert durch die wunderbaren Werke von "smaragdscherben"

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