„[…] Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich, umringt von Hoffenden und Gelobenden.
Also sollte man sterben lernen; und es sollte kein Fest geben, wo ein solcher Sterbender nicht der Lebenden Schwüre weihte! […]“ Also sprach Zarathustra, Erster Teil, Vom freien Tode
Prolog
Es war Nacht, Stille lag über dem weißen Sandstrand, als plötzlich ein kleiner, fünfjähriger Junge mit schwarzem Haar und großen blauen Augen im Schilf lag. Langsam stand er auf, machte ein paar wackelige Schritte. Er fiel hin, rappelte sich schnell wieder auf und lief auf das einsame Haus am Ende des Weges zu.
Seine kleinen Schritte führten ihn die knarrenden Stufen der Veranda hinauf und er musste sich auf Zehenspitzen stellen um an die Haustürklingel zu gelangen.
Eine Frau mit langem dunklem Haar öffnete, blickte sich suchend um, bis sie dann erst den kleinen Jungen vor sich stehen sah.
„Wer bist du denn?“, fragte sie nachdenklich und kniete sich vor ihm hin. Er presste seine kleinen Finger gegen seine Schläfen und schüttelte wild den Kopf, als er an seiner Jacke zog und in etwas Feuchtes fasste – eine rot glänzende Flüssigkeit – Blut.
Vorsichtig streckte sie die Hand nach ihm aus und führte ihn hinein. „Warte hier, lauf nicht weg, ich muss nur jemanden anrufen“, sagte die Frau und verschwand um die Ecke.
Der Junge hörte Wortfetzen von „einem merkwürdigem Kind“ bis zu „nirgends Eltern“ und „Trauma“, dann kam die Frau wieder. „Hör zu; gleich kommen nette Leute und holen dich ab – du musst ihnen alles erzählen, was sie dich fragen, okay?“
Er nickte zaghaft, seine Augen füllten sich mit Tränen.
„Hey, nicht weinen, sei ein großer Junge“, murmelte sie und fuhr ihm durch die widerspenstigen Haare.
Es klingelte, Männer in Uniform waren es, bei ihnen ein Auto mit Blaulicht. Die Polizei.
Ein dicker Mann mit Schnauzbart nahm den Jungen auf den Arm und trug den inzwischen Schlafenden zum Wagen, dann fuhren sie davon. Die Frau schaute ihnen hinterher, bis sie endgültig verschwunden waren.
Zwölf Jahre später …
Erstes Kapitel
„Alles Gute zum Geburtstag“, sagte er dem jungen Mann im Spiegel, der immer noch Ähnlichkeiten zu dem Fünfjährigen von damals hatte. Nur hatte er, nun Siebzehnjähriger, dunkle Schatten um die Augen, und war blass wie der Sensenmann selbst.
Er biss sich auf die Lippen, damit diese wenigstens ein bisschen Farbe bekamen, doch es half nichts, sie nahmen nur einen eigenartigen Blauton an.
Es klingelte, der Junge schrak zusammen – es hatte noch nie dort geläutet.
Langsam schlurfte er zur Tür, fast stolperte er über seine ausgelatschten Turnschuhe. Ein bisschen wütend schaute er sie an, als gebe er ihnen die Schuld, dass er sein Leben nicht mochte. Die rote Farbe war schon fast ausgeblichen, so lange trug er sie schon – das einzige Relikt seines Lebens, welches er nicht nach ein paar Wochen leid war.
Er blieb stehen, den Türgriff schon in der Hand. Sollte er oder sollte er nicht?
Er öffnete schließlich, eine Person blieb auf dem Treppenabsatz stehen, drehte sich um.
Das Mädchen lächelte. „Ich dachte schon mir macht niemand mehr auf“
„Warum?“, murmelte er zaghaft.
Sie lachte kurz auf: „Weil ich hier mindestens zehn Minuten gewartet habe!“
Nachdenklich kratzte er sich am Kopf; so lange hatte er gebraucht?
„Oh“, sagte er schließlich.
Sie blieben voreinander stehen, schauten sich an. „Du bist ganz schön versifft, hast du niemanden der sich darum kümmert, dass du dich mal richtig anziehst?“, sagte sie, fast ein wenig vorwurfsvoll und schaute an ihm vorbei in seine Wohnung. „Und überhaupt, wann hast du das letzte Mal bei dir geputzt?“
Er verdrehte die Augen. „Was geht dich das überhaupt an?“, konterte er.
„Eigentlich nichts. Aber ich wollte nur Freundschaften schließen, bin neu in diese Stadt gezogen“, antwortete sie.
„Dann machst du das nicht sehr gut“, meckerte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
Sie schlug mit der flachen Hand vor ihre Stirn. „Ich hab es also wieder versaut“, murmelte sie mit einem zittrigen Lächeln und wandte sich zum Gehen.
„Warte!“
Sie blieb stehen: „Was denn noch?“
Er schluckte, kratzte sich wieder am Kopf, dann antwortete er: „Willst du vielleicht mit rein kommen? Die Wohnung ist nur nicht sehr … aufgeräumt“
Das Mädchen machte ein paar Schritte in seinen Flur, fiel über seine Turnschuhe – diesmal verfluchte er sie wirklich. Sie rappelte sich wieder auf und trat in sein Wohnzimmer. Es war einfach möbliert, nur ein Sofa, ein kleiner Tisch, wo eine Schachtel Kippen und ein Buch drauf lagen, und ein Stuhl, worauf – wer hätte das gedacht – sich weitere Bücher stapelten.
„Wie heißt du eigentlich?“, sagte er gedankenverloren, als sie sich setzte und er an die Wand gelehnt dastand. „Nora“, murmelte sie und spielte mit ihrem Pulloverärmel, „Du?“
„Elias“, sagte er, mit einem traurigen Unterton in der Stimme, „Einfach nur Elias“
Dann griff er nach der Schachtel Zigaretten, seine Finger zitterten, und er schüttelte eine heraus.
„Gibst du mir kurz das Feuerzeug?“
Nora reichte es ihm und lächelte. „Wohnst du hier ganz alleine?“, fragte sie um das Gespräch zu überbrücken. Elias nickte nur und zog kräftig an seiner Kippe.
Sie biss sich auf die Lippe, schluckte und zögerte, bis die Frage aus ihr herausbrach.
„Warum?“
Wütend starrte er sie an, drückte die Zigarette aus und fingerte eine Neue aus der Packung.
Er rauchte schweigend und starrte aus dem schmutzigen Fenster, dann atmete er einmal tief ein: „Wie spät ist es?“
„Fast Mittag, wieso?“, fragte Nora ein wenig verwirrt, denn, um ehrlich zu sein, sie fand Elias ein wenig merkwürdig und sie konnte einfach nicht aus seinem Gesicht herauslesen, was er gerade dachte.
Wie auf Kommando knurrte sein Magen. „Zeit fürs Essen“, sagte er schlicht, schmiss den Zigarettenstummel in den überfüllten Aschenbecher und richtete sich auf. „Kannst ja mitkommen“
Zweites Kapitel
Elias Hand wanderte zu seinem Wecker, es war erst drei Uhr morgens. Erschöpft rieb er sich die Augen, dann wanderten seine schmalen Finger zu seinen Schläfen. Er strampelte die Decke weg, die auf ihm lag, ihm war zu heiß, und er liebte die sanfte Kühle auf seiner Haut.
Seine Hand streckte sich nach dem Licht aus, welches vom Mond aus durch sein Fenster fiel.
Vielleicht sollte er bei Nora klingeln, sie war doch auch allein.
Nein, formte er mit dem Mund, Du bist ein Mann, du bist nie einsam!
Langsam setzte er sich auf und rieb seine kalten Zehen, dann tapste er den Flur entlang und setzte sich auf sein Sofa, zündete sich eine seiner unzähligen Zigaretten an. Elias fing unwillkürlich zu summen an, und erschrak, als es an seiner Tür klopfte. Es kam in den letzten Tagen ganz schön oft vor, dass jemand für ihn da war.
„Elias? Ich bin’s Nora“, erklang ihre Stimme von der Tür, er sprang auf und öffnete.
Ihr tränenüberströmtes Gesicht tauchte vor ihm auf, dann umklammerte sie ihn schon und schluchzte an seiner nackten Brust.
„Was ist passiert?“, murmelte er und schob sie an sich vorbei durch den Flur.
Er zog wieder eine Kippe aus der zerfledderten Packung, während Nora dasaß, die Knie fest aneinander presste und mit ihren Fingern spielte.
Ihr Blick war stur auf seine Hand an seinem Mund gerichtet, er lächelte nur, wie immer, wenn er eine rauchte.
„Elias, was hast du erlebt?“, sagte sie plötzlich und durchbohrte ihn förmlich mit ihrem überraschend sanften Blick.
„Ich möchte nicht darüber reden, Nora“, sagte er nur, während sein Gesicht wieder diesen aufbrausenden Ausdruck bekam. Doch sie ließ nicht locker. „Warum?“
Elias sprang auf, kippte den Stuhl mit dem ohnehin schon wackeligen Bücherstapel um, warf eines davon an die Wand und wischte den Aschenbecher mit einem Schwung seiner Hand vom Tisch. „Halt doch einfach deine Klappe, Nora, ich will darüber nicht reden!“, brüllte er und ein Funkeln lag in seinen großen blauen Augen.
Blut tropfte aus dem Schnitt seiner Handfläche, die Wunde brannte und er bereute seinen Ausbruch sofort.
„Es tut mir leid, Nora, ich wollte nicht …!“, murmelte er und raufte sich durch sein unordentliches Haar. Doch sie stand nur auf und nahm seine Hand, begutachtete den Riss, der tief in sein Fleisch ging. „Hast du Desinfektionssalbe bei dir zu Hause?“
Elias schüttelte den Kopf und schwankte ein wenig, als Nora auf den Wundrand drückte.
Plötzlich pressten sich ihre sanften Lippen auf seine, er schmeckte herb, nach Rauch und Kaffee, und seine Haut war gleichermaßen kühl wie warm.
Elias klammerte sich an sie, wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz, genauso atmete er – flach, unregelmäßig und dem Ersticken nahe.
Nun schwankten sie gemeinsam, Arm in Arm, während ihre Münder sich in einem unbändigen Rausch gefangen hielten und ihre Zungen miteinander verschmolzen.
Sie lösten sich von einander, Nora wich zurück, jedoch immer noch ein Lächeln auf den vollen Lippen. Sie legte den Kopf schief, dann fing sie an zu sprechen:
„Elias, darf ich heute Nacht bei dir bleiben, ich habe Angst allein bei mir in der Wohnung – da kommen die Schatten“
Der Junge nickte, so war auch er nicht allein, obwohl er sich das kaum einzugestehen wagte.
Vorsichtig krochen sie beide unter die Decke, die Elias immer noch unangenehm heiß vorkam. Nora kuschelte sich an seine Brust, ihre Hand lag an seinem Arm.
„Danke Elias“, murmelte sie, bevor ihr Atem regelmäßiger wurde und sie in einen tiefen Schlaf sank. Nur Elias konnte nicht schlafen, seine Augen waren weit geöffnet und zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich nicht unendlich einsam.
„Danke Nora“, erwiderte er, obwohl sie ihn schon längst nicht mehr hörte, dann schlief auch er ein.
Drittes Kapitel
Die Bahn fuhr wackelig und es war eng dort, eine Frau hatte einen Kinderwagen abgestellt und zwei Jugendliche trugen einen Fernseher, noch säuberlich eingepackt, mit sich rum. Ein kleiner Junge ließ seinen Fuß immer und immer wieder gegen eine der Absperrwände donnern und Elias fragte sich, wie lange er das noch aushalten sollte. Bei jeder Haltestelle schnappten die übrigen Passagiere nach Luft – es stank entsetzlich dortdrin. Er beobachtete Nora, die vor ihm saß und nachdenklich eine Augenbraue hochgezogen hatte. Sie war schön, ohne Zweifel, mit ihrem langen kastanienbraunen Haar und den großen grünen Augen, welche wie ein Bild von dichten schwarzen Wimpern umrahmt wurden.
Sie kicherte und rümpfte dabei ihre sommersprossige Nase, als der Junge versuchte an Elias’ Haaren zu ziehen. „Lach nicht“, herrschte er, woraufhin Nora auch sofort verstummte – doch ihr Mundwinkel zuckte immer noch, als wolle sie sich gleich auf dem Boden kugeln.
„Warum musst du zu diesem Psychiater?“, fragte sie Elias auf einmal und schaute ihn interessiert an, während sie sich eine Strähne aus dem Gesicht pustete.
Er lachte: „Weil ich eine Gefahr für mich selbst bin“
„Inwiefern?“
„Ich habe versucht mich umzubringen“, sagte er ernst und blickte auf den dreckigen Fußboden. Dann fasste er zittrig in die Tasche seines schwarzen Mantels, holte die zerdrückte Schachtel mit den Zigaretten raus und zündete sich eine an.
Eine alte Frau mit Krückstock blickte ihn finster an, schüttelte den Kopf und murmelte etwas, was so klang wie: „Diese Jugend von heute“
Es waren nur ein paar Straßen weiter, von der Haltestelle und so standen die Beiden ein paar Minuten später vor der Tür des Psychiaters, doch Elias machte keine Anstalten rein zu gehen, er starrte nur verzweifelt zum oberen Fenster hoch.
Er wandte sich zu Noras zitterndem Körper – es war ungewöhnlich kalt für Mitte Juli.
„Kommst du mit rein?“, fragte er verstimmt, „Ich meine, es wäre toll …“
„Natürlich“, murmelte sie und lächelte ihm aufmunternd zu.
Eine Dame mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck führte die Beiden in das Patientenzimmer, wobei sie Nora vollends ignorierte.
Elias war kurz davor sie anzuschreien, aber Nora hielt ihn mit einer sanften Armbewegung zurück. „Nicht“, war das einzige Wort was sie sagte, doch er nickte.
Der Doktor war ein kleiner dicker Mann mit einer runden Brille, die ihm das Aussehen eines Kauzes verlieh. Er trat ein und begrüßte Elias.
„Ist es schlimm, dass ich eine Freundin mitgebracht habe, ich kann sonst nicht denken“, fragte er und grinste Nora an. Der Mann schaute sich suchend um, „Wo denn?“
„Neben mir?!“, murmelte Elias verwirrt und legte den Kopf schief.
Der Psychiater räusperte sich und kratzte sich am Kopf. „Nun gut, konzentrier dich, Elias, … erzähl mir von ihr“
„Sie heißt Nora und wohnt im Moment bei mir“, sagte dieser, und zuckte mit den Schultern.
„Wie sieht sie denn aus, mein lieber Junge, beschreib sie doch mal!“, führte der Doktor fort und lächelte ihn sanft an, wie ein Herrchen, was seinem Hund den Kopf tätschelt.
„Sie sitzt doch neben mir!“, rief Elias aufgebracht und sprang auf. Er kochte innerlich, das sah man ihm an.
„Elias, mein Junge“, murmelte er beschwichtigend, „du hast eine zu große Fantasie!“
„Was wollen sie damit sagen?“
„Elias“, setzte der grauhaarige Psychiater an, „Nora ist nicht da – du bildest sie dir ein“
Verwirrt sah er zu Nora, die wütend neben ihm saß. Das konnte nicht sein, warum sah der Doc sie nicht?
„Man nennt das eine Halluzination. Du brauchtest so sehr jemanden, damit du nicht einsam bist, da hat sich dein Gehirn, schwups“, er schnippte mit seinen Fingern, „Nora ausgedacht!“
Da kippte Elias von dem Sofa, alles wurde schwarz.
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2011
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