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Sie hatte ihr Zimmer seit Wochen nicht verlassen. Der Herbst schickte oft Regen, der ungleichmäßig gegen die Fensterscheiben schlug und in willkürlichen Bahnen an ihnen hinab rann. Früher hatte sie sich so oft an den bunten Blättern im Innenhof erfreuen können, die den dunklen Kies und das feuchte Moos bedeckten. Heute war sie alledem überdrüssig geworden.
Der kastanienbraune Rock reichte ihr knapp über die Knie, sein Saum wippte sanft, als sie ins Wohnzimmer ging und vor einem Regal stehenblieb. Andächtig fuhr sie mit dem Zeigefinger über die breiten, einladenden Buchrücken. Sie hatte sie alle hier vereint, all die Größen der deutschen Literatur. Seite an Seite, Band an Band standen sie hier aufgereiht, Goethe, Mann, Dürrenmatt. Eine stolze Sammlung war es, die sich in den vergangenen Jahren hier zusammengefunden hatte. Es waren Erbstücke und Schätze, die sie auf Flohmärkten und in Antiquariaten erworben hatte. Die Vergangenheit hatte diese Bücher zu ihrer neuen Leidenschaft gemacht. Sie standen ihr immer zur Seite, so klar verständlich, so offen und ehrlich. So unverzerrt. Sie waren alles, was sie in dieser Welt vermisste. Behutsam umfasste sie eines der Bücher, die aus der Reihe ein wenig hervorstanden. Diese Bücher hatte sie nicht etwa unachtsam weggeräumt. Es waren ihre liebsten Werke, die sie stets griffbereit hatte. Ein Gedichtband war es, den sie aus dem Regal zog und für einen Augenblick innig an ihre Brust drückte. Ihre Augen schlossen sich, ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Da sprudelten sie nun in ihren Händen, die Abenteuergeschichten und unerwiderten Lieben, die ihr Herz erfrischen könnten. Sie würde darin lesen und sich weiter davon tragen lassen, als der Wind vor ihrem Fenster es je vermochte.
Impulsive Jazzmusik erfüllte den hohen Raum, als sie sich setzte. Der drängende Rhythmus erreichte sie nicht, als sie vollkommen entspannt ihren Rock glatt strich, die Beine adrett überschlug und schließlich das Buch in ihren Händen auf ihrem Oberschenkel bettete. Andächtig schlug sie das hübsch verzierte Sammelwerk auf, atmete mit genüsslich geschlossenen Augen den Geruch der alten, porösen Seiten ein.



Ein Adlersjüngling hob die Flügel
Nach Raub aus;
Ihn traf des Jägers Pfeil und schnitt
Der rechten Schwinge Sennkraft ab.
Er stürzt' hinab in einen Myrtenhain,
Fraß seinen Schmerz drei Tage lang
Und zuckt' an Qual
Drei lange, lange Nächte lang:
Zuletzt heilt ihn
Allgegenwärt'ger Balsam
Allheilender Natur.
Er schleicht aus dem Gebüsch hervor
Und reckt die Flügel. Ach!
Die Schwingkraft weggeschnitten!
Hebt sich mühsam kaum
Am Boden weg
Unwürd'gem Raubbedürfnis nach,
Und ruht tieftrauernd
Auf dem niedern Fels am Bach;
Er blickt zur Eich' hinauf,
Hinauf zum Himmel,
Und eine Träne füllt sein hohes Aug'.



In Momenten wie diesen erschien das Leben ihr lebenswert. Die Verse schnürten ihr auf angenehme Art und Weise die Kehle zu. Sie lächelte, als eine stumme Träne ihr Gesicht herab lief. Als ihr Blick wieder auf die Seite fiel, schlug sie das Buch zu. Jemand war an der Tür. Eilig legte sie das Buch auf das weiche Polster neben sich, ehe sie sich erhob und raschen Schrittes zur Haustür ging, um sie zu öffnen. Knapp nickte sie dem Postboten zu, der sie erstaunt betrachtete und ihr den Brief übergab, nachdem er emsig in seiner Tasche gewühlt hatte. Dann schloss sie die Tür und ging in ihr Arbeitszimmer, um dort aus einer Schublade den Brieföffner zu suchen.
Bereits beim Lesen der Adresse hatte sie sich gewundert. Es war ein Brief von ihrer Tante, die geschäftlich nach Zürich verreist war. Sie teilte ihr vieles mit über moderne Medizin und neue Technologien, über Geräte, so schrieb sie, die kranken Menschen den Alltag erleichtern konnten. Ärgerlich legte sie den Brief samt Öffner zurück in die Schublade, ohne das Geschriebene zu Ende gelesen zu haben. Soetwas musste sie sich nicht bieten lassen. Die Stirn in Falten gelegt ging sie zurück ins Wohnzimmer, um die Jazzplatte vom Spieler zu nehmen. Den Sprung hatte sie gar nicht wahrgenommen. Jetzt ärgerte sie sich, als sie die Platte zurück in den Schrank legte und von der Garderobe im Flur ihre Jacke nahm. Sie würde hinaus gehen. Hinaus in den Regen, in den Wind, in den Herbst, den sie früher so geliebt und in den letzten Jahren immer mehr gemieden hatte.
Hinaus in den Regen, die Straße hinunter, weiter in Richtung des Kanals ging sie. Sie ging gemächlich. Dass ihr braunes Haar in Windeseile nass an ihren Schultern und in wenigen Strähnen auch in ihrem Gesicht klebte, störte sie gar nicht weiter. Auf der anderen Straßenseite erblickte sie eine alte Bekannte. Das Gesicht der Frau war verzerrt, ihr Mund weit aufgerissen, als sie ihr heftig zuwinkte. Sie lächelte und nickte der Frau knapp zu, bevor sie sich abwandte und weiterging. Sie wollte etwas Summen. Eine alte Melodie, die sie an ihre Jugend erinnerte. Doch der Ton blieb ihr im Hals stecken. Sie schreckte ein paar Tauben im Umfeld auf, als sie sich auf einer Parkbank niederließ. Beinahe hätten es die Tauben geschafft, sie aufzuschrecken. Viel zu lang war sie nicht mehr draußen gewesen. Es war, als hätte die Welt seit dem Unfall ihren Reiz verloren.
Der Regen, der nicht mehr prasselte. Der Wind, der nicht mehr rauschte. Das Laub, das nicht mehr raschelte.
Nun ruhte ihr Blick auf dem Kanal. Das Wasser warf wilde Wellen und ließ ein kleines Papierschiff bedrohlich Schaukeln. Ein Kind musste es am Nachmittag losgeschickt haben. Sie vermisste das Kinderlachen. Ihre Söhne waren längst erwachsen, längst außer Haus. Sie hatte die beiden lange nicht mehr lachen sehen. Die aufgeschreckten Tauben kamen zu ihr zurück, plusterten sich auf, tapsten ungeduldig zu ihren Füßen auf und ab. Lächelnd wandte sie sich vom Wasser ab und betrachtete die Vögel am Boden, ehe sie in ihrer Jackentasche nach ein paar Krümeln fühlte, die sie den Tieren hinwerfen konnte. Hektisch stürzten sich die Vögel auf die wenigen Krumen am Boden, die zwischen Zigarettenstummeln und dem Dreck der belebten Straße aufgekommen waren. Doch die Vögel wirkten dankbar. Sie pickten und schlugen mit den Flügeln und gaben sich zufrieden mit der bescheidenen Gabe. Sie zogen weiter zur nächsten Bank. Eine alte Dame brach gemächlich Stücke von einem vertrockneten Brot ab. Es war ihr gleich. Der Regenschauer lichtete sich einmälig und ihr kam das Gedicht in den Sinn, an dem sie sich des Nachmittags so hatte erfreuen können. Eine Schmach, dass sie das Lesen nicht vollendet hatte. Doch sie kannte das Gedicht in und auswendig. Adler und Taube, eines ihrer liebsten Werke von Goethe. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, als sie sich den Rest des Gedichts in den Sinn rufen wollte. Die letzten Verse, die ihr immer klarer vor Augen kamen.



Da kommt mutwillig durch die Myrtenäste
Dahergerauscht ein Taubenpaar,
Läßt sich herab und wandelt nickend
Über goldnen Sand am Bach
Und ruckt einander an;
Ihr rötlich Auge buhlt umher,
Erblickt den Innigtrauernden.
Der Tauber schwingt neugiergesellig sich
Zum nahen Busch und blickt
Mit Selbstgefälligkeit ihn freundlich an.
"Du trauerst", liebelt er:
"Sei guten Mutes, Freund!
Hast du zur ruhigen Glückseligkeit
Nicht alles hier?
Kannst du dich nicht des goldnen Zweiges freu'n,
Der vor des Tages Glut dich schützt?
Kannst du der Abendsonne Schein
Auf weichem Moos am Bache nicht
Die Brust entgegenheben?
Du wandelst durch der Blumen frischen Tau,
Pflückst aus dem Überfluß
Des Waldgebüsches dir
Gelegne Speise, letzest
Den leichten Durst am Silberquell
O Freund, das wahre Glück
Ist die Genügsamkeit,
Und die Genügsamkeit
Hat überall genug."
"O Weise!" sprach der Adler, und tief ernst
Versinkt er tiefer in sich selbst,
"O Weisheit ! Du red’st wie eine Taube!"



Einen Augenblick saß sie reglos da. Ihr Blick war auf den Straßenmusiker auf der anderen Seite des Kanals gefallen. Er spielte Gitarre, sein Mund stand offen. Er sang. Zwei Kinder tanzten neben ihr. Sie hörte ihn nicht. Sie würde ihn nicht hören, stünde sie direkt neben ihm. Hier draußen, wo das Leben tausend wunderschöne Lieder spielte, lächelte sie und wippte mit dem Kopf leicht einen Takt mit, den sie nur erahnen konnte, so munter, wie die kleinen Kinder tanzten. Die Abendsonne brannte auf ihrem Gesicht. Es hatte aufgehört zu regnen.


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Tag der Veröffentlichung: 08.01.2012

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