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Das erste Treffen



Jo
Sie brauchte es. Sie brauchte es und es ärgerte sie, dass sie es zum ersten Mal seit langem so deutlich spürte. Sie brauchte neuen Stoff. Sie brauchte das Gefühl, endlich wieder frei zu sein, wieder fliegen zu können und alles zu vergessen, was um sie herum passierte. Jo Scott ärgerte sich nicht einmal über die Tatsache, dass sie dieses Bedürfnis verspürte, für sie war das vollkommen normal geworden, nein, es ärgerte sie, dass sie unvorsichtig wurde, wenn sie sich in diesem Zustand befand. Vorhin an der U-Bahnstation hätte sie sich beinahe dabei erwischen lassen, wie sie eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank eines Kiosks mitgenommen hatte. Ärgerlich wäre das gewesen, sehr ärgerlich, denn die verbliebenen 2 Dollar hätte sie nicht für etwas ausgeben wollen, das sie im Grunde genommen nicht unbedingt gebraucht hätte. Gestern war es Houston, heute war es Dallas und wenn ihr das Brunnenwasser hier irgendwann nicht mehr schmeckte, würde sie eben weiterziehen. Nicht, dass Jo sich mit Brunnenwasser zufrieden gegeben hätte, nicht, dass das nötig gewesen wäre, dafür hatte sie ihre Begabung längst viel zu sehr verinnerlicht, und trotzdem müsste sie vorsichtig bleiben. Wenn sie die Aufmerksamkeit zu sehr auf sich lenkte und das wiederholt, würde man sie im Auge behalten. Und dann würde sie Dallas schneller wieder verlassen, als es ihr lieb war. Die Cola hatte sie auf einer Mauer nahe der Station getrunken, vielleicht die Hälfte in der Flasche gelassen, die sie schließlich in der Innentasche ihrer Jacke hatte verschwinden lassen. Ihrer Jacke. Irgendwie klang das falsch. Nicht, dass Jo sich für derartige Formalitäten interessiert hätte, doch eigentlich hing diese Jacke noch vor zwei Wochen in der Umkleidekabine einer jungen Mutter, die nur kurz das T-Shirt in einer Nummer größer hatte suchen wollen. Jo hatte die Zeit genutzt, um sich die Jacke und ihre Geldbörse zu suchen - erfolgreich. Da störte es sie auch nicht weiter, dass ihr die Jacke sicherlich zwei Nummern zu groß war. Sie stellte keine Ansprüche, und nur deswegen kam sie mit diesem Leben so unwahrscheinlich gut klar. Wenn Jo etwas brauchte, dann nahm sie es sich eben, sobald sich ihr eine Gelegenheit bot und dann dürfte die Jacke auch zwei Nummern zu groß sein, solange sie ihren Zweck erfüllte. Wenn Jo etwas brauchte, dann nahm sie es sich, und genau deswegen wusste sie genau, wo diese Nacht sie hinführen würde.

Jo war kein dummes Mädchen und vor allem war sie nicht naiv. Ihr war klar, dass alles seinen Preis hatte, was sie nicht aus einem Supermarkt oder einer Umkleidekabine mitnehmen konnte. Ihr war klar, dass Leistung immer eine Gegenleistung erforderte. Doch bevor sie sich über den Preis Gedanken machen wollte, müsste Jo erst einmal über die Ware Bescheid wissen. Sie war neu in der Stadt, doch für ein Mädchen wie sie hieß das nicht auch gleich, dass sie keinen Anschluss fand. Sie kannte die Regeln der Straße, und die waren in den amerikanischen Großstädten eben doch immer gleich. Sobald sie es geschafft hatte, sich in einen Club zu drängeln, musste sie sich um ihre Drinks keine Sorgen mehr machen und wenn sie die richtige Anspielung fallen ließ, hatte sie zehn Dealer um sich geschart, die alle scharf darauf waren, eine neue Kundin an Land zu ziehen. Und sobald das der Fall war, musste Jo abschätzen, wie es ihr am besten gelingen könnte, die gewünschte Ware zu ihrem Preis zu erhalten. In einem Szeneclub würde ihr das jedenfalls nicht gelingen. Gut also, dass Dealer auch immer Junkies anzogen und ehe sie es sich versah, hatte Jo einen todsicheren Plan. Pete hieß er und Jo machte sich keine Gedanken darüber, ob das eine Abkürzung war oder ob er einen Nachnamen hatte. Ihr genügte es zu wissen, dass er fair war und eine Wohnung hatte, in der er scheinbar wöchentlich seine Junkies um sich scharte, um sie bei Laune zu halten. Geschlossene Türen ermöglichten einer Jo, die im klaren Zustand zu diesem Pete gehen würde, natürlich einiges. Sie müsste nur zusehen, dass sie vorsichtig blieb. Genau deswegen war sie später zurück zu ihrem Versteck in der Lagerhalle gegangen, hatte weitere 35 Cent aus einer ihrer Taschen hervorgekramt und war losgezogen, um ihre 2,35 Dollar sinnvoll in eine halbe Schachtel Zigaretten eines betrunkenen Penners zu investieren. Er war betrunken, ja, also wäre es für sie ein Leichtens gewesen, die Zigaretten auch umsonst zu bekommen, doch auch wenn Jo sich eindeutig in einer höheren Liga sah, war er doch irgendwie einer von ihrer Sorte. Und seinesgleichen bestahl man nicht. Vielleicht war es auch nur ein kleiner Funken Mitleid, der in ihrer Brust aufflammte, als sie ihm das Geld in die faltige Hand drückte. Vielleicht war eine Zigarette kein wirklicher Ersatz für ein paar Pillen oder einen Joint, aber das Rauchen beruhigte sie.

Und als sie sich am Abend nur ein wenig in Schale warf, ihre Haare mal wieder kämmte und schließlich loszog, um die Wohnung dieses Petes zu finden, fühlte Jo sich auf eine merkwürdige Art und Weise ausgeglichen. Vermutlich, weil sie genau wusste, dass sie im Endeffekt nichts zu verlieren hatte. Es war nicht schwierig, seine Wohnung zu finden. Um diese Zeit schienen da wohl einige Menschen zu sein, die ihrem Dealer einen Besuch abstatten wollten. Musste ja ein ganz toller Hecht sein, dieser Pete, was sie bisher so gehört hatte, klang zumindest ziemlich vielversprechend. Letztlich war es ihr auch egal, wie er aussah, wie er drauf war und all das, solange sie nur bekam, was sie wollte, für den Preis, den sie bereit war zu zahlen. Und ehe sie es sich versah, war sie auch schon drin. In seiner Wohnung. Scheinbar ein beliebter Treffpunkt für irgendwelche Gleichgesinnten und Versager, die teilweise schon zugedröhnt in einer Ecke lagen, teilweise aber auch lachten und geradewegs dabei waren, sich zu betrinken. Man kannte sich hier und Jo wusste, dass es niemanden stören würde, würde sie sich einfach zu einer Gruppe dazu gesellen, einfach, weil die meisten Leute es gar nicht merken würden, dass sie gerade Jo nicht kannten, aber Jo war nicht wegen der Leute hier. Sie suchte Pete und gerade deswegen dürfte dieser auch auf sie aufmerksam werden. Weshalb sie sich nun also auf den Boden setzte und sich an die Wand in ihrem Rücken lehnte, die sie kühl und rau durch den dünnen Stoff ihres schwarzen T-Shirts spürte, welches sich ein wenig fusselig, aber weich an ihre Haut schmiegte. Erst einmal umsehen. Als Dealer müsste er sich abheben, so viel war klar, und es gab nur wenige junge Männer hier, die noch nicht am Boden lagen. Er war groß und blond, ziemlich muskulös. Jo mochte, wie er seine Haare trug. Und er sprach mit einem kleinen, verpeilten Kerl, der sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen schien. Für Jo stand fest, dass er Pete war. Also würde sie ihn jetzt ein wenig beobachten und versuchen, auf diesem Weg mehr über ihn herauszufinden. Und wenn er sie bemerken würde - umso besser. Dumm nur, dass jemand ihr scheinbar einen Strich durch die Rechnung zu machen schien. Jedenfalls war ihr klar, dass es um sie ging, als sie die Stimme eines jungen Mannes hörte, der ganz offenbar auf sie zugekommen war und inzwischen neben ihr stand. Sie stand also nicht in seinem Buch? Na, dann wollte sie ihn sich doch einmal genauer ansehen und wandte mürrisch ihren Blick von dem vermeidlichen Pete ab, um zu einem Kerl aufzusehen, der vielleicht kleiner war als der Blonde da drüben, aber sicherlich nicht weniger sicher auftrat. Vielleicht ein guter Freund, ein Edeljunkie oder sonst jemand, der sich etwas auf seine Existenz einbildete aus Gründen, die Jo nicht bekannt waren und sie eigentlich auch nicht interessierten. Immerhin war sie einfach für Pete hier und würde sich auch nicht plump von der Seite anmachen lassen. “Du hast ein Buch?” Ein freches Schmunzeln zuckte um ihre Lippen herum. Sie ging ihn nichts an, er ging sie nichts an. So einfach war das doch. Sowieso grenzte es in Jos Augen an ein Wunder, dass er lesen konnte. War ihr aber eigentlich auch egal.


Pete
Der Abend war okay. Pete hatte nun nicht wirklich das Gefühl, den Tag über genug geschlafen zu haben, aber er kam zurecht. Caoimhin gehörte zu den Ersten, die hier auftauchten. Ihn schickte Pete noch weg, weil der ihn nervte. Caoimhin würde sicherlich bald auf Nahrungssuche gehen, und deswegen schickte Pete ihn weg, noch etwas zu Essen holen. Und es war ihm egal, ob der das jetzt machen würde oder nicht. Es war egal. Pete hatte diese Zeit genutzt, indem er sich auf seine Matratze warf und noch etwas schlief. Er war allein zu Hause, Steve musste arbeiten. Und alle Andere hatte Pete weggeschickt. Er konnte noch etwas schlafen und hielt es so ein wenig länger aus, ehe er sich einen neuen Schuss setzte. Kurz bevor es klingelte, und Pete seine kleinen Schützlinge rein lassen konnte. Sie waren ihm egal, wichtig war ihm nur, dass er sein Geld bekam. Aber irgendwo tief in seiner Brust, war es ihm lieber, dass sie in seiner Wohnung lagen und erst wieder rausgingen, wenn die Wirkung der Drogen nachließ. Gerade im Winter, wenn es draußen doch kalt werden konnte, sollten sie die Nacht lieber bei ihm verbringen. Und eigentlich taten sie ja gar nichts böses, sie brachten Pete viel Geld und mit manchen konnte man ziemlich gut reden. Wenn man mal etwas klarer war, und nicht nur dämlich vor sich hin kicherte. Denn das kam natürlich auch mal vor.
Pete setzte sich in eine Ecke und ließ ein Mädchen etwas Körperkontakt zu sich aufnehmen. Sie war anhänglich, wahrscheinlich hoffte sie auf ein Geschenk, nur weil er ihr letzte Woche noch etwas geschenkt hatte. Das Willkommensgeschenk, das bekam jeder. Aber jetzt war sie nicht mehr neu, und jetzt würde Pete ihr auch nichts mehr kostenlos geben. Trotzdem ließ er sie, auch wenn er diese Liebkosungen nicht erwiderte. Er war zu sehr von den kommenden Menschen abgelenkt. Sein Blick strich über jedes der Gesichter, sobald er sie erkannte wandte er den Blick auch wieder ab. Aber wenn man etwas von Pete wollte, dann sollten sich selbst kommen. Sicherlich rannte er ihnen nicht schwanzwedelnd hinterher und wollte ihnen unbedingt etwas andrehen. Das hatte er nicht nötig.
Pete lief zwar recht schäbig herum, das aber auch nur weil er oft zu faul zum waschen war – ob sich oder seine Klamotten. Aber er war nicht arm, denn Pete achtete gut auf sein Geld und machte zwar faire Preise, aber billig war er auch nicht. Dafür war sein Stoff gut, und alles von ihm selbst getestet. Das war doch mal ein Service, oder?

Der Abend schritt voran, und Pete hatte mal seinen Arm um das anhängliche Mädchen gelegt. Sie nervte ihn, aber er hatte keine Lust auf Ärger. Und eigentlich war sie ja ein hübsches Ding, wenn auch sehr anhänglich. Zu anhänglich fast schon. Pete ließ es geschehen, jetzt hatten die meisten Leute hier, was sie wollten. Es war ein gemütliches Stelldichein. Jeder hatte jemanden, um sich zu unterhalten. Oder um andere Dinge zu tun, Pete konnte es ziemlich egal sein. Und das war es auch. Sein Kopf sank an die Schulter des Mädchens und Pete schloss für eine Weile seine Augen. Er war müde, sehr müde. Es war warm, und die Geräuschkulisse um ihn herum so ermüdend.
Er war müde, und eigentlich würde er jetzt gerne schlafen. Steve war da, Steve würde auf ihn aufpassen. Denn Steve war der Einzige hier, dem man wirklich vertrauen konnte. Steve würde aufpassen, dass niemand was klaute. Und dass man Pete in Ruhe ließ, wenn er mal schlafen musste. Er war schließlich ständig wach, und manchmal vergaß er völlig, zu schlafen. War ja auch nicht so wichtig, Steve würde aufpassen.
Deswegen ließ Pete seine Augen mal geschlossen, und ließ diese ganze Stimmung auf sich wirken. War ja auch eine verdammt schöne Stimmung.

Langsam öffnete Pete wieder seine Augen. Er hatte keine Ahnung, ob er eingeschlafen war, oder ob erst ein paar Minuten vergangen waren. Und es kümmerte ihn auch gar nicht weiter.
Pete öffnete seine Augen wieder und versuchte schnell herauszufinden, wer alles neu gekommen war. Alle kannte er, bis auf ein junges Mädchen. Etwas länger betrachtete er sie, aber er kannte sie wirklich nicht, so viel war sicher. Daher entzog er sich dem Klammergriff des Mädchens neben sich und stand auf. Einen kurzen Moment schwankte er, sein Körper musste erst wieder wach werden. Ein paar Schritte waren noch unsicher, aber als er jetzt neben der Fremden stand, war er wieder selbstbewusst und stand sicher. Er schaute zu ihr runter, wusste noch immer nicht, was er von ihr halten sollte. Normalerweise stellte man sich dem Gastgeber vor, das war nur höflich. So gehörte sich das, aber so wie sie aussah, hatte sie keine Ahnung von Anstand.
Also stand er neben ihr, und schaute auf sie runter. Und dann sagte er auch endlich mal was. „Du stehst nicht in meinem Buch.“ Wozu hatte er den so ein hübsches Gästebuch, wo man sich drin verewigen durfte. Und jeder seiner Junkies hatte ein Profil hier, damit Pete ihn kannte. Und dieses Mädchen hier stand eindeutig nicht in seinem Buch. Daher zog sich sein Mundwinkel jetzt leicht nach oben, als er ihre Frage vernahm. Scheinbar hatte er ein Buch, sonst hätte er ihr das ja nicht gesagt. Ein Peter Cassidy lügt nicht, er erfindet die Wahrheiten nur neu, wenn es nicht anders ging. Und ein Buch spielte im Leben keine große Rolle, daher würde er sich das nicht ausdenken. Ja, auf diese absurde Idee wäre er gar nicht gekommen. Dazu hatte Pete viel zu wenig Fantasie, das wusste er ja selber.
Jetzt also schaute er auf sie runter und hob leicht seine Augenbrauen, indem er das Gesicht leicht verzog.
„Aber das nur mal so dahin gestellt, darf ich dich fragen, was dich in meine Wohnung verschlagen hat? Ich denke nicht, dass dich hier jemand kennt – nicht, dass das jemanden kümmert.“
Pete schwieg nach diesen Worten, auch wenn er eigentlich noch sagen wollte, dass er ungern fremde Menschen in der Wohnung hatte. Aber so stimmte das ja auch gar nicht. Es war ihm ziemlich egal, ob er jemanden kannte oder nicht. Nur sollte man sich vorstellen, denn so kannte Pete einen dann auch. Er sagte es nicht, denn ein Peter Cassidy lügt nicht.


Jo
Da stand er nun also und schien der festen Überzeugung zu sein, genau dort hinzugehören. Dumm, dass er nicht wusste, dass kein Mann an die Seite einer Jo Scott gehörte. Vermutlich war sie ohnehin die totale Einzelgängerin. Natürlich, immerhin war sie alleine losgezogen und hatte auch nicht vor, das so bald zu ändern. Allein kam sie eben doch noch am besten zurecht. Sie musste sich auf niemanden verlassen, außer auf sich selbst und ihren Instinkt, sie musste nicht teilen, sie hatte nur sich selbst zu versorgen und niemand erwartete etwas von ihr. Niemand wollte ihr sagen, was sie zu tun oder zu lassen hatte, niemand bestahl sie, während sie schlief und wollte am nächsten Morgen nichts davon wissen, niemand beobachtete sie, wenn sie sich wusch und niemand machte sich einen Spaß daraus, sie als das Küken der Truppe aufzuziehen. Niemand gehörte an ihre Seite und schon gar nicht in diesem Ton. Was bildete er sich denn ein, dass er sie im wahrsten Sinne des Wortes so von oben herab betrachtete, ohne selbst einmal auf die Idee zu kommen, sich vorzustellen. Es war Jo doch vollkommen egal, ob sie nun in seinem Buch stand, oder nicht. Vielleicht hatte er ja in einem Lexikon nach Mädchen gesucht und ihr Gesicht nicht finden können zwischen all den Buchstaben. Falls er so etwas überhaupt besaß. Auch wenn er sicherlich nicht dumm war, so konnte Jo einfach nur schwer daran glauben, dass viele von den Leuten hier Bücher nicht nur besaßen, sondern hin und wieder sogar lasen. Jo konnte lesen, tat es aber nicht oft. Da wollte sie sich ja gar nicht als etwas Besseres erachten. Hin und wieder las sie mal ein paar Schlagzeilen auf Zeitschriften oder Werbeplakate an U-Bahnhöfen, aber das war es dann auch. Ihr war es egal, ob jemand ein Buch über sie schreiben würde und ihm sollte das eigentlich auch egal sein.

Was es nur scheinbar nicht war, denn ganz offensichtlich hatte er die Abweisung in ihrer Stimme entweder tatsächlich nicht erkannt, oder aber sie beflissentlich überhört. Jo wusste nicht, welche der beiden Versionen ihr lieber gewesen wäre, aber da ihr beide lästig waren, war das auch gar nicht von größerem Interesse. Sie wollte zu Pete, aber wenn er nun ihre Aufmerksamkeit wollte - bitteschön. Nicht, dass Jo wirklich daran glaubte, dass dieser kurze Kontakt für sie noch nützlich sein könnte, aber vielleicht würde sie ihm ja noch die Laune und die Lust auf sein dämliches Buch verderben und sich damit den Abend ein wenig versüßen. Wie gemein sie heute doch war! So war das eben, wenn man sich ihr ungebeten in den Weg stellte. Egal, wie zuckersüß ihr Lächeln war, unterschätzen sollte man sie nicht. Die meisten machten diesen Fehler auch nur einmal. Dass sie klein und zart war und es auch keinen großen Unterschied machen würde, wenn sie jetzt aufstehen und sich neben ihn stellen würde, statt sitzen zu bleiben, änderte nichts an der Tatsache, dass sie definitiv gelernt hatte, sich durchzusetzen. Sie wusste für gewöhnlich schon, wie sie sich durchboxen konnte. Wenn man es auf sie abgesehen hatte, hätte sie vermutlich keine Chance, auch nicht gegen einen Kerl wie ihn, aber für gewöhnlich konnte sie sich die größten Plagen vom Leibe halten. Und hier drin würde sowieso nicht viel passieren. Er pöbelte, sie stichelte zurück und hoffentlich würde er sich bald verziehen. Wirkte bloß nicht so, jedenfalls schien er ja ganz versessen darauf zu sein, dieses Gespräch in Schach zu halten. Na schön.

Immerhin war es dann ja doch nicht ganz uninteressant, was er zu sagen hatte. Seine Wohnung? “Deine Wohnung?” Sehr gut. Seine Wohnung also. Das änderte das ganze ja doch ein wenig und hatte zur Folge, dass Jo sich zumindest nicht mehr nur mit dem Gesicht, sondern auch dem Rest ihres Körpers in seine Richtung drehte. Wenn das hier nun also gar nicht Petes Wohnung war, sondern seine. Oder wenn sie so etwas wie eine WG hatten? Vielleicht war Pete auch gar nicht so männlich, wie er aussah, sondern schwul und der niedliche Kerl hier war sein Freund? Oder er war sein Bruder. Jo hätte stundenlang munteres Rätselraten betreiben können und am Ende alles auf einen Trip schieben können, den er gerade fuhr, aber was hätte ihr das gebracht? Nichts, richtig. Genau deshalb zog sie nun fragend die Augenbrauen zusammen, wobei sich ihre Stirn in leichte, sicherlich kaum sichtbare Falten legte. Und dann war es wieder da, dieses zuckersüße, unverbindliche Lächeln. Und während ihre Finger über den dreckigen Boden strichen, auf den sie sich stützten, beschloss Jo, sich jetzt einmal Klarheit zu verschaffen und herauszufinden, ob der blonde Kerl da drüben tatsächlich Pete war. “Weißt du, wenn du so genau wissen willst, was mich in deine Wohnung verschlagen hat”, begann sie und untermalte ihre Worte mit einem leisen Lachen, “Ich suche Pete.” Sollte ihm alles sagen, was er wissen musste. Und entweder, er sagte ihr, wer dieser Pete war und verschwand dann, oder er verschwand sofort. Anderenfalls würde Jo sicherlich auch kein Problem damit haben, wieder das vermeidliche Objekt ihrer Begierde ins Auge zu fassen und darauf zu warten, dass er sie bemerkte und wohlwissend schon von selbst auf sie zukam. Klar war sie neu und vielleicht waren einige der Leute hier doch klarer, als sie es erwartet hatte, sodass man sie direkt als die Neue erkannt hatte, aber das hier war ihr dann doch nicht so recht. Ohnehin brauchte sich niemand hier ihr Gesicht merken. Wer wusste schon, ob man sie hier noch einmal sehen würde? Das hing ganz davon ab, wie der Abend so verlaufen würde. Was wiederum allein an Pete lag, sofern dieser sich bald einmal finden ließ.


Pete
Witzige Begegnung. Zumindest wollte Pete es als witzige Begegnung bezeichnen. Würde er nachher jemandem davon erzählen, wären das wohl seine Worte. Egal, ob es nun witzig war oder nicht. Eigentlich ja nicht, schließlich lachte niemand. Aber sein Gehirn war anders als die Gehirne anderer Menschen. Und in seinem Gehirn war es eine witzige Begegnung. In einem Jahr würden sie darüber lachen. Falls sie sich in einem Jahr noch kennen würden. Falls er in einem Jahr noch leben würde. So genau konnte das niemand wissen, und Pete wollte auch gar nicht an die Zukunft denken. Zukunft war noch so weit weg, und wenn es nur der folgende Tag war. Auch der war weit weg, und das wussten sie alle. Daran dachte man besser nicht, weil manchmal eben doch der Augenblick zählen sollte. Pete wollte schon nicht daran denken, wann er wieder den nächsten Schuss brauchte. Dieses Gefühl, dass einem jemand ein Messer tief in den Bauch bohrte, war kein Gefühl, an das man denken wollte. Es kam irgendwann, und sobald man sich mit einer kleinen Spritze Abhilfe geschaffen hatte, vergaß man, dass man irgendwann mal dieses unangenehme Gefühl gehabt hatte. Unangenehm, so konnte man es auch nennen. Es war wesentlich mehr als unangenehm, es war die Hölle. Und Pete hatte den gequälten Ausdruck in den Gesichtern seiner Kunden gesehen, er wusste wie das aussieht. Pete wusste, wie sich das anfühlt, auch wenn man es sofort vergisst, wenn es einem besser geht.
Eine seltsame Geschichte, diese Drogen. Eine interessante Geschichte. Pete war zufrieden, er liebte sein Leben.
Und wenn er das nächste Jahr erleben würde, würde er sagen, dass dies hier eine witzige Begegnung war.

Pete schaute zu ihr runter, folgte dann ihrem Blick. Wieso genau ließ sie Steve eigentlich nicht aus den Augen. Zumindest nicht lange. Wieso?
Steve sah gut aus, natürlich. Aber das taten viele hier. Und niemand war nur auf eine Person fixiert. Wenn man sich die Mädchen hier betrachtete, und sich dann die jungen Männer anschaute, dann wusste man, dass jedes Mädchen schon mit jedem Jungen hier geschlafen hatte. Und vielleicht auch die Mädchen mit den Mädchen. Mann mit Mann war Pete zu schwul, daran würde er niemals denken. Allein der Gedanke ließ ihn würgen. Schwul, schrecklich schwul. Doch wenn man der Realität ins Auge sah, dann waren viele ihr so zugedröhnt, dass es anders nicht ging. Sogar Pete war es egal, solange er es nicht sehen musste. Und solange es nicht auf seiner Matratze passierte.
An seine Matratze wagte sich jetzt aber sowieso niemand mehr, denn wenn Pete einen erwischte, dann rastete er gerne aus. Dann riss er das Paar auseinander, und trat auch mal zu. Seine Matratze gehörte ihm, und sonst niemandem. Vielleicht auch Steve, für Steve würde Pete eine Ausnahme machen, aber das war einfach blindes Vertrauen zu seinem besten Freund. Egal was sie beiden verband. Und deswegen verstand Pete nicht, wieso dieses unbekannte Ding Steve nun nicht aus den Augen ließ.
Hatte Steve sie vielleicht angeschleppt? Wahrscheinlich nicht, Pete wüsste das. Steve hätte sie ihm vorgestellt. Steve wusste, dass Pete ungern namenlose Menschen in seiner Wohnung hatte. Fremden Menschen konnte man nicht vertrauen, und mit ihnen sollte man sich lieber nicht abgeben. Steve wusste das, und Steve hätte Pete dafür geweckt, um ihm dieses Mädchen vorzustellen. Sie passte nicht zu Steve, und deswegen gehörte sie nicht zu ihm. So einfach war das in seinen Augen.

Aufklärung erhielt er dann auch recht schnell. Er ging in die Hocke und starrte ebenfalls Steve an.
Pete suchte sie also. Tja, manchmal ist man näher an den Dingen dran, als man denkt. Daher grinste er auch kurz und sah das Mädchen neben sich dann wieder an.
„Wenn du Pete suchst, frage ich mich, wieso du meinen besten Freund anstarrst, als wäre er ein Stück billiges Fleisch.“ Wenn das hier jemand war, dann ja wohl eindeutig sie. Steve war nicht käuflich, aber das Ding schon. Mädchen sind alle käuflich, da gab es keine Ausnahme. Man musste nur rausfinden, womit man sie bezahlen musste. Käuflich waren sie alle.
„Was willst du von mir?“
Pete versuchte, zu lächeln. Aber eigentlich sah er den Grund dafür nicht, und deswegen sah er sie nun recht ausdruckslos an. Sie sollte ihm sagen, was sie wollte, und dann sollte sie sich wieder verziehen. Solche Dinger wie sie hatten hier nichts zu suchen. Sie sah sie jung aus, sicherlich war sie erst 14 Jahre alt, und somit eindeutig zu jung. Hey, vielleicht war sie ja vom Jugendamt, von der Polizei. Und sie spielte den Lockvogel. Dann aber würde er sie finden und ihr ihren hübschen kopf abreißen. Soviel stand fest. Das würde sie niemals vergessen, womit auch, wenn er mit ihrem Kopf Fußball spielen würde.
Aber wie vom Jugendamt wirkte sie nun auch nicht.


Jo
Jo war kein verständnisvoller Mensch. Für gewöhnlich waren ihr die Schicksale anderer Menschen egal, sie versuchte nicht, irgendwas zu rechtfertigen, was in diese Welt passierte, weil sie wusste, dass die einzigen Dinge, bei denen man begründet nach einer Rechtfertigung suchen müsste, sich einfach nicht rechtfertigen ließen. Es interessierte sie nicht, was in anderen Menschen vorging, sie waren ihr schlichtweg egal, solange zumindest, bis sie sich ihr in den Weg stellten. Er hier schien ja genau das vorzuhaben. Scheinbar suchte er ihre Aufmerksamkeit, ihre Nähe, irgendwas, ganz ohne sie zu kennen oder zu wissen, wer sie war, was sie hier wollte, wonach sie suchte. Wofür Jo absolut kein Verständnis hatte. Musste ja ein aufregendes Buch sein, wenn er nur deswegen hier aufkreuzte. Wenn er sie störte, indem er sie darauf hinwies, dass sie nicht in seinem dämlichen Buch stand. Genau dafür hatte Jo also kein Verständnis, während er ja eine Menge Spaß zu haben schien, folgte man mal seinem dümmlichen Grinsen, als er sich hinhockte und ebenfalls den vermeidlichen Pete in Augenschein nahm. Hatte sie also recht? Immerhin hatte sie ihm ja jetzt gesagt, was er wissen wollte. Sie suchte Pete und in dieser Wohnung schien das ja eigentlich kein Verbrechen zu sein. So wie die Leute hier aussahen, hatten sie Pete längst gefunden, ganz im Gegensatz zu ihr. Und auch wenn sie eigentlich noch recht ruhig war, wusste sie, dass es an der Zeit wurde, dass sie diesen Kerl endlich fand. Sie brauchte neuen Stoff und dann würde sie auch schon wieder gehen. Ihre Absichten waren vollkommen friedlich, bisher zumindest. Aber so langsam machte es sie wütend, dass es hier scheinbar Leute gab, die sie daran hindern wollten, diesen Absichten so auch nachzukommen. Bis sich Verwunderung in ihr breit machte und diese vermeidliche Wut vorerst verdrängte.

Sein bester Freund? Na, wenn diese hier schon seine Wohnung war und der Kerl da vorne sein bester Freund? Wenn der Blonde also nun gar nicht Pete war, sondern eben auch nur einer von vielen? Bloß eben einer, der auffiel, weil er vielleicht fertig aussah, aber gut? Weil er groß war, jemanden zur Sau machte und Jo dabei zufällig ins Auge gefallen war? Immerhin war Jo nicht blöd und wenn man sie so offensichtlich anstubste, konnte sie eins und eins gerade noch zusammenzählen. Sie hatte Pete gesucht und scheinbar hatte Pete sie gefunden. So konnte es gehen. Aber gut, ihr sollte es nur recht sein. Immerhin hatte sie jetzt Pete neben sich und nahezu auf Augenhöhe und somit fast genau da, wo sie ihn haben wollte. Der Kerl da vorne war also sein bester Freund und sie sah ihn also an, wie ein billiges Stück Fleisch. Nun interessierten Preise Jo reichlich wenig, aber das musste Pete ja nicht wissen. Und ob der Kerl leicht zu haben war, interessierte Jo auch nicht. Solange er nicht Pete war, war er ihr egal, immerhin war sie nur wegen Pete hier und würde hier auch schleunigst wieder verschwinden, sobald sie hatte, was sie wollte. Ein billiges Stück Fleisch also, welches es nicht wert war, weiter darauf einzugehen, wie Jo doch fand. Vielleicht sah er gut aus und vielleicht hätte sie das dem wahren Pete auch sagen können, aber das hätte doch zu nichts geführt. Ablenkung war vollkommen überflüssig und darum gab Jo es jetzt auch auf, diesen anderen Typen zu beobachten, wenn Pete doch bei ihr war und für diese Tatsache einen zufriedenen Blick ihrerseits erntete.

Sowieso waren seine Worte kaum als Frage betont gewesen und da war es doch nur höflich, dass Jo sich erst wieder äußerte, als er sie wirklich etwas fragte. Eine sehr kluge Frage, wie Jo im Übrigen dachte und sie kam zu dem Schluss, dass Pete sicherlich nicht nur ein Buch hatte und vielleicht sogar ab und an mal las. So klug, wie er war. Eigentlich gefiel Jo diese direkte Art. Es brachte ja nichts, lange um den heißen Brei herumzureden. Aber ein Gedanke blieb Jo doch, nämlich der, dass es schlau von ihm war, sie zu fragen, was sie von ihm wollte, aber dass es eigentlich offensichtlich sein müsste, was sie von ihm wollte. Offensichtlich war sie ja zum ersten Mal hier, sie war eine Neue und stand auch nicht in seinem merkwürdigen Buch. Vielleicht ja ein Freundebuch. Meine besten Junkies. Irgendetwas in der Richtung, ihr sollte es egal sein. Wer wusste schon, ob sie mal wieder hier vorbeischauen würde? Und selbst dann brauchte niemand zu wissen, wer sie war. Einfach, weil das niemanden zu interessieren hatte und niemanden etwas anging. Es war offensichtlich, was sie hier wollte und das machte sie Pete dann auch mal deutlich. “Was wollen die Anderen denn von dir, Pete?” Sie zwinkerte ihm zu, streckte ihre Beine kurz aus, nur um dann doch eines wieder näher an ihren Körper heranzuziehen, während sie den ausgestreckten Fuß leicht kreisen ließ. “Ich bin neu in der Stadt”, fügte sie schließlich leicht nachdenklich hinzu, als sie kurz ihren Fuß beobachtete, ehe sie Pete wieder sanft anlächelte. Wenn er Pete war, war sie lieb. So einfach war das doch. Solange alles nach Plan verlief, war sie die Ausgeglichenheit in Person. Wunderbare Angelegenheit. “Man gab mir deine Adresse und jetzt bin ich eben hier.” Sie nickte schließlich knapp und lächelte dann, machte deutlich, dass sie mehr erst mal nicht zu sagen hatte. Witzige Geschichte, die Pete bald sicher gar nicht mehr so witzig finden würde. Aber so weit waren sie ja noch gar nicht.


Pete
Ein wirklich seltsames Mädchen. Irgendwie ja ganz niedlich, aber seltsam. Und für Pete war klar, dass er sie nicht mochte. Niemand sollte in seine Wohnung kommen, und dann mit ihm so umgehen. Niemand sollte irgendjemanden hier anstarren, wenn man ihn nicht kannte. Auch wenn Pete fand, dass es sich so nicht gehörte. Diese Sache hatte nichts mit Anstand zu tun. Sie nervte ihn einfach nur. Er hockte jetzt neben ihr, und fühlte sich so unendlich genervt von ihr. Vielleicht würde es bald wieder Zeit werden, vielleicht hatte er wirklich länger als gedacht geschlafen, oder gedöst, oder die Augen geschlossen gehalten. Wie auch immer. Vielleicht wurde es langsam Zeit, und das nervte ihn. Weniger als dieses Mädchen es tat, aber sie ging ihm schrecklich auf die Nerven.
In seinem Bauch rumorte es, und in seinen Armen kam das Bedürfnis auf, sich anzuspannen und ihr einfach eine zu verpassen. Ein Schlag, wahrscheinlich würde ihr hübsches Gesicht nicht mal irgendwelche Spuren zurückbehalten, wenn es abgeheilt war. Aber er fand, dass sie es irgendwie verdient hatte, dass man einfach mal seine persönlichen Bedürfnisse an ihr ausließ. Sein Bedürfnis war gerade, einfach loszulassen und all diese Genervtheit an ihr auszulassen. Sie war ja auch dafür verantwortlich. Vielleicht nicht dafür, dass es um ihn herum langsam zu laut wurde, dass diese Menschen um ihn herum ihn schrecklich nervten. Natürlich nicht. Aber sie konnte etwas dafür, dass er genervt war, und langsam empfindlich wurde. So ein kleines Ding, und konnte mit wenigen Handlungen so viel zerstören, und so viel nerven. Schon erstaunlich. Wenn er Zeit hatte, würde er darüber etwas genauer nachdenken. Nicht jetzt. Jetzt würde er sich um sie kümmern. Wenn sie bekam, was sie wollte, würde sie wieder gehen. Soviel war klar. Außerdem hatte er sie was gefragt. Und er wollte verdammt nochmal ihre Antwort hören.

Ihre Antwort, die ihm so auch nicht passte. Aber er konnte ihr natürlich nicht vorgeben, was er hören wollte. Das nicht, deswegen hörte er ihr zu und sah dann zu seinen kleinen Junkies. Sie waren irgendwo alle ziemlich niedlich, wenn man es mal so betrachten wollte. Sie saßen einträchtig beieinander, stritten sich nicht und teilten, als wären sie Geschwister. Er liebte sie nicht, aber er hatte sie gern. Und wenn einer von ihnen eine Überdosis bekam, dann würde er selbstverständlich den Krankenwagen rufen. Irgendwo fühlte er sich hin und wieder dann doch verantwortlich, schließlich verkaufte er ihnen diesen ganzen Mist. Wie auch immer.
Sie hatte ihm gesagt, was sie wollte. Nämlich das, was alle von ihm wollten. Daher zuckte wieder ein verächtliches Lächeln in seinen Mundwinkeln, als er ihren Kommentar in Gedanken nochmal wiederholte. Das, was alle von ihm wollten.
„Sex. Anerkennung. Ruhm. Drogen. Liebe. … Sex.“ Er lachte leise auf. Mehr wollten sie nicht von ihm. Sie wollten ihn nicht mal kennenlernen. Sie wollten nur seinen Körper und vielleicht auch seinen genialen Verstand. Schließlich war er nicht blöd. Deswegen wusste er auch, was sie von ihm wollte.
„Da du mich nicht kennst – schließlich bist du ja neu in der Stadt –„ kurz äffte er sie unbewusst nach. „gehe ich davon aus, dass du was kaufen willst. Und daher wiederhole ich meine Frage nochmal. WAS willst du von mir.“
Pete hatte gerne neue Kunden, aber er war kein Kiosk auf einer Einkaufsmeile, er lebte nicht von Laufkundschaft. Pete hatte Stammkunden, er kannte sie mit Namen, und er kannte ihre Bedürfnisse. Er wusste, wann er was besorgen musste. Und wenn er nicht immer alles bekam, so suchte er doch immer nach Alternativen.
Pete hatte Stammkunden, die gerne bei ihm saßen. Und denen gab er gerne kleine Kredite, weil sie alle bezahlen würden, ohne dass Pete es ihnen sagen musste. Und sie waren ihm dankbar und würden ihn im Gegenzug nicht verraten, wenn was war. Es war ein Geben und Nehmen hier. Es war Vertrauen.

Diesem Mädchen vertraute Pete nicht. Und deswegen sah er sie jetzt auch wieder misstrauisch an.
„Sag mir, was du brauchst. Gib mir Geld, und ich gebe es dir. Nicht nur den Stoff, ich kann dir noch viel mehr geben, aber das nur mal so dahingestellt.“
Langsam wurde sein Sitz unbequem, daher sank er nach hinten zurück und setzte sich hin, streckte die Beine kurz aus, und zog sie dann zum Schneidersitz zurück. „Aber bevor du es bekommst, will ich deinen Namen wissen. Niemand bekommt etwas, wenn ich ihn nicht kenne, da mache ich keine Ausnahme. Du kommst zu mir, dann musst du auch mit meinen Regeln spielen. Sonst kannst du auch zum Bahnhof gehen, da stehen auch ein paar Dealer rum. Stillos, stinkend. Schlechter Stoff. Ich kenne sie. Aber denen ist es egal, wer du bist. Also solltest du zu ihnen gehen.“
Es war nur eine Bemerkung, und Pete wusste selbst nicht so wirklich, was er davon hielt. Er war genervt, schrecklich genervt. Er wollte, dass sie ging. Dass sie alle gingen. Er wollte Pizza bestellen, und dann seine Ruhe haben. Mehr wollte er gar nicht.


Jo
Pete schien ein kluges Kerlchen zu sein, so viel stand fest. Sie dürfte ihn nicht unterschätzen, auch das war Jo bewusst. Aber wenn er Spielchen spielen wollte, konnte er das gerne haben. Er wusste genau, weshalb sie da war, er wusste das genauso gut wie sie. Seine Frage war clever und dumm zugleich gewesen, irgendwie seltsam, und Jo wusste, dass sie genau darüber nachdenken würde, wenn sie den neuen Stoff hätte und zurück in ihr kleines Versteck in der Lagerhalle gekehrt wäre. Sie würde endlich wieder in ihrem geliebten Rausch schweben und sich derartigen Belanglosigkeiten voll und ganz hingeben. Wie hatte er das denn geschafft? Clever und dumm vereint, das war seltsam. Und Jo war sich nicht sicher, ob ihr so etwas jemals zuvor begegnet war. Dieser war jedoch definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken und es war auch nicht der richtige Zeitpunkt, um sich den richtigen Zeitpunkt auszumalen. Nein, sie hatte ihm seine clevere, dumme Frage beantwortet und damit sicherlich nicht ganz das gesagt, was er sich erhofft hatte. Ihr war das bewusst gewesen, doch eigentlich war es auch egal. So eine kreative Antwort hatte sie zumindest nicht erwartet, und dennoch lachte sie trocken auf, als sie hörte, was er sagte. Und wenn sie sich hier so umsah, würde es schon stimmen, was er sagte. Klar, warum sollte er auch lügen? Aus mehr bestand die Welt der meisten Leute hier sicherlich nicht. Sex, Drogen und die ewige Suche nach Anerkennung. Das mit der Liebe war ihr noch ein wenig suspekt, aber das war Liebe im Allgemeinen. Und darum war das auch gar nicht weiter wichtig. War schließlich auch so ein Begriff, den man sehr weit auslegen konnte, wenn man nur wollte. Ihr war das nämlich eigentlich auch ziemlich egal. Die Leute hier waren ihr egal und vielleicht wäre dieser Pete ihr auch egal, wenn sie nicht etwas von ihm wollte. Ja, ziemlich sicher wäre er ihr egal, was ihm wiederum egal wäre. War ja auch egal.

Immerhin war er auch ohne ihre Hilfe zu dem Schluss gekommen, dass sie etwas kaufen wollte. Dass sie mit dem Wort kaufen schon bei dem ersten Problem angelangt waren, wusste er allerdings nicht. Musste Jo sich jetzt also nur noch überlegen, wie sie ihm das beibrachte. Dazu wäre es natürlich besser, er wäre auf Augenhöhe. Wenn sie sich so an ihn anlehnte, würde er sicherlich umkippen, das hing dann davon ab, ob er etwas getrunken oder schon etwas genommen hatte. Und so, wie er roch, war das sicherlich der Fall. Nicht, dass Jo gesagt hätte, er würde stinken, da hatte sie schon Schlimmeres erlebt, aber man roch eben doch, wo er herkam. War so gesehen also ziemlich deutlich, dass diese hier wirklich seine Wohnung war. Nur gut also, dass er nach seiner kleinen Moralpredigt auch selbst zu dem Schluss kam, dass er sich besser setzen sollte. Kurz hatte Jo nämlich überlegt, ob sie ihn nicht dazu auffordern sollte. So war es aber natürlich besser, war schließlich seine Wohnung, da müsste sie sich nicht als manierliche Gastgeberin aufführen. Ohnehin wusste Jo nie so recht, was sie von festen Wänden und tiefen Decken um sich herum halten sollte. Es war okay, aber auf lange Sicht könnte sie sich hier sicher nicht wohl fühlen. Sie war es eben anders gewohnt. Aber sie hatte auch gar nicht vor, länger hierzubleiben. Und da er nun schon mal saß, rückte sie kaum merklich ein Stückchen näher an ihn heran, ehe sie schließlich zögerlich in den Raum blickte und vielleicht sogar leicht amüsiert an einer Antwort feilte. “Hm...”, begann sie zögernd, ihr Blick blieb kurz an den Beinen von Petes bestem Freund hängen, wie er ihn betitelt hatte. “Crack. Heroin. Koks. Ecstasy. Cannabis. ... Crack.” Ein Lächeln traf sein Gesicht. Und dann fiel ihr ein, dass er ihr ja noch eine Frage gestellt hatte. Eine Frage, die sie ihm vielleicht besser beantwortete, um ihn ein wenig zu besänftigen. Immerhin gab es da ja noch etwas, das sie ihm beibringen musste. “Und ich bin Jo.” Nicht, dass das wichtig gewesen wäre. In ihren Augen waren Namen vollkommen überbewertet. Und doch war es hilfreich gewesen, seinen Namen zu wissen, um ihn zu finden. Nur würde er sie besser nicht finden, wenn sie einmal von hier verschwunden war. Sie baute ungerne Kontakt zu Menschen auf. Und wenn sie es tat, wäre es ihr nur recht, man würde sie und ihr jugendliches Gesicht schnell wieder vergessen.

Bevor sie nun aber ging und er sie besser vergessen sollte, hätten sie beide nun noch etwas auszuhandeln. “Also Pete”, begann sie daher. “Da ich dich nun gefunden habe, oder... du mich gefunden hast, und da du nun weißt, wer ich bin und was ich will...” Warum lange um den heißen Brei herumreden? Jo beugte sich ein wenig vor und wandte ihm ihr Gesicht zu, lächelte verschwörerisch, als sie sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. “Ich denke, zwischen uns beiden ist jetzt fast alles geklärt. Es gibt da nur ein Problem.” Und eigentlich konnte er sich jetzt doch sicherlich schon denken, was für ein Problem das war, er war doch ein cleveres Kerlchen. Und trotzdem kam Jo zu dem Schluss, dass es klug wäre, es ihm direkt zu sagen. Am Ende wäre er noch wütend und würde sie gleich rauswerfen. Sie musste vorsichtig sein. Immerhin war sie auch nicht auf den Kopf gefallen. Und vor allem war sie eine junge, ansehnliche Frau. Das war sicherlich ihr klarer Vorteil. Und darum streifte ihr Bein nun auch - natürlich rein zufällig - seines, während das Lächeln auf ihren Lippen sich verfestigte. “Das Geld.” Aber Pete war doch ein cleveres Kerlchen. Und ihm würde sicherlich einfallen, wie sie nun trotzdem das bekommen könnte, was sie von ihm wollte. Jetzt, da er ja wusste, was sie von ihm wollte.


Jo
Pete schloss einen kurzen Augenblick seine Augen. Er war müde. Irgendwie sehr müde, aber das würde man ihm sicherlich verzeihen. Man kannte das schon, der Letzte macht die Tür zu. Also musste Pete sich nur bald entscheiden, mit wem er ins Bett gehen würde. Vielleicht mit Steve. Natürlich nicht, um zu kuscheln oder mehr zu machen. Das wäre ja schrecklich schwul. Schrecklich widerlich. Aber er könnte sich mit Steve in sein Schlafzimmer verziehen, sie könnten noch ein kaltes Bier aus der Küche holen, und sich dann noch etwas unterhalten. Steve war unterwegs gewesen, Pete hatte ihn drei ganze Tage nicht gesehen. Es war schrecklich gewesen. Pete war momentan der Meinung, dass ihm niemand wichtiger war als Steve. Schrecklich schwul war das. Dabei sprachen sie nicht ständig miteinander, wenn noch andere Leute da waren. Aber Steve blieb ja vielleicht einfach noch da. Oder auch nicht. Vielleicht würde sich Pete auch ein süßes Mädchen suchen, und mal seinen sexuellen Gelüsten nachgehen. Irgendwie sowas. War ja auch schon lange her, und wenn er hier ständig befummelt wurde, war es kein Wunder, dass auch er mal schwach wurde. Er war schließlich auch nie ein verfluchter Mann, und dem konnte man sowas ja wohl sicherlich verzeihen, oder nicht? Ach, bestimmt. Pete war sich da ziemlich sicher, und er sah sich jetzt schon mal um. Ein paar süße Mädchen waren ja wirklich da. Mit eigentlich allen war er schon im Bett, aber das hieß ja nicht, dass er das nicht wiederholen wollte. So oft kam hier eben kein frischer Wind rein.

Auch, wenn gerade frischer Wind neben ihm saß. Und irgendwie doch ganz amüsant antwortete. Schließlich tat sie dasselbe wie er eben, und irgendwie fand er das sympathisch. Musste nur niemand wissen, und würde er auch niemandem sagen. Soweit käme es wohl nicht, also wirklich.
Crack wollte sie also. Und Pete wusste nicht wirklich, ob er etwas dazu sagen sollte. Natürlich, irgendwie fand er es stilvoll. Es gab nicht viele Menschen, die Kokain rauchten. Die meisten Menschen schnupften, und fühlten sich dabei noch richtig cool. Pete fand sie nicht cool, er fand sie nur erbärmlich. Er genehmigte sich auch mal eine Nase, natürlich. Aber er fand diese reichen Kids erbärmlich, die das nur taten um Anerkennung zu bekommen. Drogen verdienten keine Anerkennung. Drogen verdienten Mitleid, und Abneigung. Genau das. Nur vom Dealer nicht, der sollte einen lieben. Und der Dealer sollte die Drogen lieben.
Man traf nicht oft Menschen, die Crack rauchten. Es war stilvoll. Aber es sagte auch über sie, dass sie harte Dinge nicht gewohnt war. Denn Crack hatte Wirkung, aber nicht so viel wie andere chemische Substanzen. Schnupfen wirkte besser, aber Pete fand rauchen besser. Er rauchte lieber, aber in seinem Körper war sowieso immer irgendein Stoff, wahrscheinlich war er immer high, und bemerkte es deswegen gar nicht mehr. War ja egal. Sie wollte Crack. Er hatte Crack. Dann würden sich wahrscheinlich ins Geschäft kommen.

Würde es da nicht dieses Problem geben. Geld. Und schon wusste Pete, dass sie kein Geld hatte.
Er betrachtete sie skeptisch von der Seite und zog leicht seine linke Augenbraue etwas hoch. Machte sie ihn da gerade an? Wirkte fast so. war sie wirklich der Meinung, dass sie sich ihr Zeug kaufen konnte? Mit Sex oder irgendwelchen Gefälligkeiten. Dann war sie vielleicht wirklich das einzige billige Stück Fleisch hier. So sah sie gar nicht aus, irgendwie. Aber in dieser Szene hatte man es einfach drauf. Man wusste, womit man was bekommen sollte. Ihr Pech war, dass er es nicht nötig hatte, sich mit Sex bezahlen zu lassen. Daher beugte er sich näher zu ihr, und strich ihr die braunen Haare vom Ohr weg. „Du hast nur ein Problem Kleine. Ich brauch grade was ganz anderes als ein Mädchen in meinem Bett.“ Er schwieg kurz, ehe er wieder weiter sprach. „Und wenn ich es brauche, dann nehme ich es mir. Ohne, dass ich dafür danach Stoff rausgeben muss.“
Pete könnte es sich leisten, zweifellos. Aber er wollte es sich nicht leisten. Er kannte sie nicht, sie nervte ihn irgendwie. Und wahrscheinlich nervte sie ihn nur, weil er sie schon anziehend fand. Klar, sie war süß und klein. Wer wollte nicht mal leicht pädophile Neigungen ausleben. Auch wenn sie garantiert nicht 14 war. Niemals. Vielleicht 16, vielleicht auch schon 17. Und sie wäre etwas Neues. Sie war frischer als die Mädchen hier. Sie wäre es schon wert, aber er wusste nicht, ob er ihr vertrauen konnte. Wahrscheinlich schon. Aber was auch immer. Oder wie auch immer.
Er ließ wieder von ihren Haaren ab, zog seine Hand zurück. So langem begann er sicherlich zu schwitzen, auch wenn er das selbst gar nicht bemerkte. „Heiß hier drin.“ Bemerkte er, mehr für sich selbst. Dann sah er die Kleine neben sich wieder an. „Also Jo. Du hast also kein Geld. Das ist ziemlich blöd.“ Stimmt ja auch. Braver Pete. Dafür würde er sich nachher selbst mit einem Keks belohnen. Feiner Peter, ganz fein gemacht.
Pete hob seine Hand wieder, strich mit seinen kühlen Fingern einmal kurz über Jos Wange. Sie war süß, aber er wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Und er wusste, dass er sich lieber Steve krallen sollte, und mit dem etwas quatschen. Das wäre der beste und schlauste Plan, blöd nur dass Peter selten etwas gut durchdachtes tat.


Jo
Pete war müde, das sah man ihm an. Verübeln konnte Jo es ihm nicht, sie kannte ihn nicht, sie wusste nicht, wie er seinen Tag verbracht hatte, die vorhergegangenen Nächte und Tage verbracht hatte und es war auch gar nicht wichtig. Wichtig war nur, dass er müde war und sicherlich gerade ganz andere Sorgen hatte, als ein Mädchen, das scheinbar nicht ganz nach seinen Regeln spielte, obwohl er sie genau dazu aufgefordert hatte. Gut nur, dass Jo seine Regeln nicht vollständig kannte. Aber am Ende war Pete vielleicht doch nur wie alle anderen. Klar, das mit der Wohnung war Jo neu, aber Jo hatte es auch nicht so mit Wohnungen. Woher auch? Aber sonst? Und wenn er so war, wie alle anderen, dann hätte sie sicherlich leichtes Spiel. Nicht ganz so leicht vielleicht, wie sie es erwartet oder sich zumindest erhofft hatte, aber das lag auch daran, dass Pete cleverer war, als sie es erwartet hatte. Nicht zu clever für eine Jo Scott, wie diese momentan glaubte, aber vielleicht doch ein wenig zu clever für ihren Geschmack und ihre momentane Situation. Sie brauchte ja gar nicht viel. Aber fest stand, dass sie es brauchte, und zwar bald. Pete würde das wissen, aber es würde ihm sicherlich an seinem Hintern vorbeigehen, weil es ihn nichts anging. Das waren die Sorgen anderer, das waren nicht seine Sorgen und Jo konnte es ihm nicht verübeln, dass er so dachte. Er war Dealer. Wenn er an die Probleme seiner Junkies denken müsste, würde er sicherlich eines Tages wahnsinnig werden. Ihn interessierte es ja auch nicht, warum sie müde war. Und ihm war es egal, dass sie Stoff brauchte, solange sie kein Geld hatte, um ihn zu bezahlen. Eigentlich gefiel Jo diese Einstellung. Nur jetzt war das eigentlich etwas, was sie mal so gar nicht gebrauchen konnte.

Aber vielleicht stand sein Entschluss ja doch noch gar nicht so fest, der armen, kleinen, ach so schutzlosen Jo einfach mal nicht entgegen zu kommen und ihr alles zu verweigern, was sie von ihm wollte. Vielleicht unterschied sie sich in diesem Punkt mal so gar nicht von seinen Junkies. Was sie von ihm wollte, war doch ziemlich einseitig. Ein schlechtes Gewissen hätte das Mädchen deshalb allerdings nicht gehabt. Diese Gleichgültigkeit war etwas Beidseitiges. Am Ende waren sie alle irgendwie gleich, sie spielten eben nur auf verschiedenen Ebenen. Es wunderte Jo gar nicht weiter, dass er sie nun also doch berührte. Seine Finger waren kühl, es störte Jo nicht. Eigentlich war das fast angenehm, auch wenn ihr das hier nichts bedeutete. Er war nicht der erste Mann, der ihr das Haar zurückstrich. Ohnehin hatte die Erfahrung Jo gelehrt, dass kein Mann lange so sanft blieb. Ihr bedeutete das nichts, und dennoch lächelte sie und blickte kurz zu Boden, als seine Fingerspitzen eher zufällig ihr Ohrläppchen berührten. Es war egal. Viel wichtiger war doch, was er ihr zu sagen hatte. Und langsam nickte sie, hob einmälig wieder den Blick, um seinen einzufangen. Ihr war klar, dass er recht hatte, aber das hatte ihr auch vorher schon klar sein müssen. Er brauchte sie nicht, aber sie brauchte ihn. Diese Abhängigkeit passte Jo auch nicht. Aber sie wäre eben nicht Jo, wenn sie nicht davon ausgegangen wäre, schon noch das zu bekommen, was sie wollte. Was sie brauchte. Sie wollte ihn nicht und sie brauchte ihn nicht. Alles, was sie brauchte, war das, was er ihr verkaufen könnte. Und wenn sie nun einmal kein Geld hatte, müsste sie eben andere Wege finden, eben das zu bekommen. Sie war keines dieser verwöhnten Upperclass-Mädchen, und trotzdem wusste Jo, dass es stimmte, wenn sie sagte, dass sie meist eben doch das bekam, was sie wollte. Wohin das führen konnte, war dann immer noch eine andere Geschichte.

Klar hatte er Recht, aber was sollte Jo dazu schon sagen? Er brauchte sie nicht, das wussten sie beide, also brachte es ja nichts, ihm damit zu kommen. Aber wenn er sie nun einmal berührte, schien er doch ganz so abgeneigt gar nicht zu sein. Er war clever, aber Jo war eben auch nicht dumm. Und mit dem, was er sagte, war doch ganz klar, dass er darüber nachdachte. Wenn dieser Ansatz in seinen Gedanken erst einmal vorhanden war, war es jetzt doch eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich durchgesetzt hätte. Ganz sanft und einmälig, damit er sich jahe nicht überrannt fühlte. Schien ja ziemlich an seinem Stolz zu kratzen. Und wenn Jo das wusste, war sie doch auch ein liebes Mädchen und war bereit, da Rücksicht drauf zu nehmen. Solange es sich denn für sie lohnte. Theatralisch und doch leise seufzte sie auf. “Ja, das ist wirklich... blöd.” Ein Lächeln traf sein Gesicht. Eigentlich sah er doch ganz nett aus. Hässlich war er jedenfalls nicht. Nein, er sah eigentlich wirklich ganz nett aus. Müde und angespannt, aber nett. Sicherlich war er wirklich so fair, wie alle sagten, sicherlich war er mit dem blonden Kerl wirklich gut befreundet und vielleicht war es nicht bloßer Kapitalismus, dass er seine Junkies hier verkehren ließ. Er war also ein netter, nicht ganz abgeneigter Kerl und das war für Jo doch schon mal ganz gut. Für sie stand jedenfalls fest, dass sie hier nicht eher verschwinden würde, bis sie das hatte, was sie wollte. Da war es ihr so ziemlich egal, wie sie ihr Ziel erreichte. Momentan waren sie doch aber auf einem ganz guten Weg. Fand Jo zumindest. Die löste nämlich eine Hand vom Boden und strich mit ihren Fingern leicht über sein Knie, legte ihre Hand schließlich auf seinen Oberschenkel und lehnte sich ein wenig an Pete an, nur um sich ein wenig zu strecken und ihm schließlich ins Ohr zu flüstern: “Aber du bist doch ein netter Kerl, oder?” Natürlich war er das. Und was für ein netter Kerl er war, da war Jo sich sicher. Und darum strich sie jetzt auch mit ihrer Nasenspitze an seinem Hals entlang und legte ihren Kopf schließlich auf seiner Schulter ab. Er war Dealer, irgendwo musste er kaltherzig sein. Aber eigentlich war er doch auch nur ein Mann. Und irgendwo war er sicher wirklich ein guter Kerl, da könnte er Jo diesen einen Gefallen doch tun.


Pete
Pete wandte den Blick wieder von ihr ab. Sein leerer Blick ging in die Menge, strich über die leeren Gesichter seiner Junkies. Wie spät es wohl war?
Pete bildete sich ein, dass es schon weniger wurden. Nach 12 hauten die Meisten wieder ab. Sie hatten bekommen, was sie wollten. Und jetzt würden sie allein miteinander feiern. Oder ganz allein. Pete wollte gar nicht wissen, wie viele seiner Junkies allein in ihrem Zimmer lagen und kichernd alles über sich ergehen ließen. Genug Eltern schauten sich das einfach mit an. Vielleicht wollten sie nicht wahr haben, dass es vollkommen offensichtlich war, was ihre Kinder da taten. Glück für die Kinder, dass sie einen Dealer gefunden hatten, der sie nicht beschiss. Pete hatte vielleicht seinen Preis, gerade bei schwer zu besorgendem Stoff. Aber er schaffte alles heran, und alles war von Qualität. Man konnte sich glücklich schätzen, wenn man bei Pete kaufen durfte. Das wussten alle, und das wusste er. Vielleicht durfte er sich deswegen eine gewisse Art von Hochnäsigkeit durchaus erlauben. Denn tief in ihm schlug ein ziemlich arrogantes Herz.
Damals in der Schule war er noch nie ein Mädchenschwarm gewesen. Aber er wusste, würde er mehr aus sich machen, könnte er beliebter sein. Und doch fühlte er sich nicht sehr stark und versteckte sich lieber. Bloß nicht auffallen. Wer bemerkt wird, an dem lässt man seine Wut aus. Also versteckte er sich, und blühte erst auf, als er nach Dallas kam. Und plötzlich konnte Pete nicht genug auffallen. Jetzt würde er sich als gutaussehend bezeichnen. Und er wusste, dass er beliebt war. Nicht nur, weil er Stoff in seinen Taschen hatte. Er sah gut aus, und hin und wieder war er ganz nett. Nicht nur hin und wieder, eigentlich immer. Es war eher eine Ausnahme, dass Pete mal völlig durchdrehte. Blutvergießen fand meistens nur in seinem Kopf statt, aber selten machte sich Pete wirklich selbst die Hände dreckig. Er sah gerne zu, weil er das Gefühl liebte. Das Gefühl, macht über jemand anderen zu haben. Und in solchen Momenten, ja da verstand er sogar was seinen Vater lachen ließ, wenn er auf den kleinen Peter einschlug.

Der kleine Peter war jetzt ein großer Pete. Und der beobachtete seine kleinen Schützlinge, die gar nicht so klein waren, während er Jo machen ließ. Er war es gewohnt, dass man ihn ständig berühren musste. Vielleicht war er für manche Menschen so etwas wie die heilige Madonna, und man musste ihn berühren, um Glück zu haben. Die meisten Mädchen hier begehrten ihn nicht wirklich. Sie begehrten das, was er ihnen geben konnte. Und vielleicht auch den kurzzeitigen Ruhm, dass sie Pete wieder rumgekriegt hatten. Auch wenn dafür nicht sehr viel nötig war. Pete war es egal, mit wem er schlief. Es war seine zweite Sucht, das wusste er. Klar konnte er auch mal einen Abend ohne Sex, aber wozu? Alle waren leicht bekleidet, alle boten sich an. Und wieso musste er dann den Gentleman spielen, und mal verzichten? Er war ein beschissener Texaner, er musste sich ausleben. Und wie ging das wohl am besten als mit Drogen, Sex und Alkohol?
Eben. Und daher drehte er sich jetzt leicht zu Jo, schaute sie nachdenklich an. Weil er nicht so recht wusste, was er eigentlich wollte. Ihm war warm, nein ihm war sogar heiß. Und was er jetzt nicht gebrauchen konnte, war ein warmer Mädchenkörper bei sich. Und noch mehr schwitzen. Welch Schmach es doch wäre, würde er mitten drin einen Kollaps kriegen, nur weil er sein blödes Heroin nicht bekam. Heute nervte es ihn wieder. Vielleicht, weil er nicht wusste, wie lange die letzte Ladung her war. Eine Uhr besaß er nicht, nur sein Handy. Und das war zu tief in seine Hosentasche gezwängt. So, dass es ihm schmerzhaft ans Bein drückte, aber das war gut. Es war ein angenehmer Schmerz, der einem zeigte, dass alles kein Traum war.
Das wäre auch was, aufwachen und realisieren dass man kein Dealer war, sondern nur ein kleiner verschissener Psycho. Seltsam, aber irgendwie doch ganz beruhigend. Weil das Leben, welches er sich hier erträumte, viel besser war als das eines Psychos. Er war glücklich, und auch wenn man es seinem leeren Gesicht nicht ansah, er war es auch jetzt. Also strich er Jo nochmal über die braunen Haare. Weich waren sie nicht, eher trocken und vielleicht etwas verfilzt. Manchmal sehnte sich Pete nach schönen, gepflegten Mädchen. So eine kleine Tussi, die unbedingt gegen ihre Eltern rebellieren musste, und deswegen mit einem wie ihm ins Bett sprang. Irgendwie wäre das doch mal ganz witzig, es wäre was Anderes. Mopp zählte nicht, die hatte zwar Geld, aber sie rebellierte schon lange nicht mehr. Alle, die hier waren, waren zu gleichgültig um sich noch Gedanken um irgendwas zu machen.

Pete seufzte leise auf. Weil er nicht wusste, was er tun sollte. Er vertraute ihr nicht, und sie wäre für ihn nichts. Er brauchte nicht sie, wenn dann brauchte er ihren Körper. Und das würde sie auch wissen. Wozu also sollte er mit Crack bezahlen, wenn er es vollkommen kostenlos haben konnte, und ein Mädchen noch seinen Namen durchs ganze Viertel schrie. Wo war da der Reiz?
Pete, der immer den Reiz suchte, weil er sonst drohte vollkommen in seine Gleichgültigkeit zu fallen. Immer wieder musste er sich mühsam herausziehen, und merkte immer wieder aufs Neue, dass es nichts gebracht hatte.
So war es mit Jo. Sie wäre nichts Neues, es gab keinen Reiz an der Geschichte. Andererseits wusste er nicht, ob sie nicht manchmal sogar Geld hatte. Und auch wenn sie nicht eingeladen worden war, sie war neu. Und ein kleines Willkommensgeschenk hatte sich eigentlich jeder verdient. Das war nur fair, und hielt neue Kunden bei Laune.
Erneut seufzte Pete auf und lehnte seinen Kopf mit geschlossenen Augen an die kühle Wand hinter sich. So angenehm kühl. Was er jetzt brauchte war frische Luft, und vielleicht eine Hauswand, an die er kotzen konnte. Sein Viertel markieren, aber stilvoll. Und widerlich. Er war Dealer, er musste widerlich sein. So sah es doch mal aus.
„Also.. Jo..“ Er schluckte und öffnete seine Augen langsam wieder, sah sie an. Und plötzlich musste er lachen. „Weißt du, was dir gut tun würde? Eine Dusche..“ War doch so. Irgendwo stimmte es doch wirklich. Aber es lenkte ihn trotzdem nicht davon an, dass sein Körper Glück brauchte. Das Gefühl, dass alles egal war.
Heroin, besser als jeder Orgasmus. Aber vielleicht würde der ja auch genügen. Und wenn man sich ihm schon so anbot.. Er nahm ihre Hand, und schob sich dichter an seinen Schritt heran.
„Das willst du für ein bisschen Crack tun? Ich hätte erwartet, dass du erst mal betteln würdest. Schließlich bin ich ein netter Kerl, vielleicht wäre ich bei deinem Dackelblick ja weich geworden?“
Gute Frage. Er sollte besser Quizmaster werden.


Jo
Lief doch eigentlich alles ganz gut, oder? Jedenfalls stand fest, dass er sich ihr unverkennbares Angebot einmal durch den Kopf gehen ließ. Vermutlich nicht nur einmal, anderenfalls säßen sie jetzt nicht mehr hier. Vielleicht war Pete müde, aber so langsam würde er auch nicht denken. Er war unentschlossen, das war klar, ansonsten hätte er sie doch längst von sich gestoßen oder mit in ein anderes Zimmer entführt. Obwohl die Leute hier nicht danach aussahen, als würde es sie noch großartig interessieren, wobei man sie sah oder eben nicht sah. Aber eine Spur mehr Stil traute Jo diesem Pete dann doch zu. Nicht, dass das hier irgendetwas bedeuten würde, und doch glaubte sie, das Pete vielleicht vieles mit den Menschen hier teilte, aber eben auch nicht alles. Dabei hätte Jo gar nicht sagen können, wie sie reagieren würde, würde er ihr Angebot annehmen, aber hier bleiben wollen. Darüber brauchte sie aber auch nicht nachdenken, solange dieser Fall gar nicht eintrat. Bis jetzt schwieg er. Bisher duldete er sie an seiner Seite und bisher schien er schlichtweg nicht ganz abgeneigt zu sein. Jedenfalls gab er Jo den Anlass zu einem zufriedenen Lächeln, als er abermals über ihr Haar strich. Klar, wenn er nicht wollte, brauchte er nicht, das war ihnen ja beiden klar. Sollte er sich mal die Zeit nehmen, die er brauchte. Solange es sich nur lohnen würde, könnte Jo auch warten. Bisher ging sie davon aus, dass es sich lohnen würde, denn sonst würde er ihre Berührungen nicht mehr dulden. Vielleicht war er das auch schon gar nicht mehr anders gewohnt, Jo wollte gar nicht wissen, was er hier schon mit wem angestellt hatte, und duldete es deshalb, aber er musste eben nicht. Und darum war Jo bisher rundum zufrieden mit ihrer Situation.

Zumindest so zufrieden, wie man in ihrer Situation hätte sein können. Sie liebte es, wenn ein Plan funktionierte, aber auch Jo wäre es lieber gewesen, sie hätte Pete einfach bezahlen und dann wieder gehen können. Sie brauchte ja nichts Großartiges und wenn er faire Preise bot, warum nicht? Natürlich wäre es Jo am liebsten gewesen, Drogen wären so leicht zu bekommen, wie Brieftaschen, Wohnungsschlüssel und Handys. Petes Handy hätte sie längst zu ihrem machen können, ohne dass er es gemerkt hätte, und da war sie sich sicher, aber dafür war sie nicht hier. Irgendwo tief in ihr steckte eben doch noch ein Funken Anstand. Wenn sie nicht mit Geld bezahlen konnte, dann musste sie ihm eben irgendeinen anderen Gefallen tun können. Eine Hand wusch eben die andere. Natürlich bestimmte der Händler auch den Preis, aber das hieß ja nicht, dass Jo ihm kein anderes Angebot machen konnte. Ihr war es egal, ob ihr Angebot für ihn nun besser wäre, als das Geld. Eigentlich wusste sie, dass er von dem Geld mehr hätte. Er brauchte weder sie, noch ihren Körper. Man musste sich hier nur einmal umsehen und würde sicherlich zehn Mädchen entdecken, die nicht nur ab und zu mal zufällig einen Blick auf Pete warfen. Er war der Dealer, er saß an der Quelle. Egal, was er wollte, Drogen, Sex, Alkohol, er hatte hier alles. Es war eben seine Wohnung. Und trotzdem gab Jo nicht auf und sah ihn neugierig, aber noch immer lächelnd an, als er wieder ihren Namen sagte. Klar, war ja nur höflich, immerhin sprach er sie an, dann dürfte sie ihn auch ansehen. Nicht, dass Jo sich sehr für Höflichkeitsfloskeln interessieren würde. Hauptsache, Pete würde ihr bald sagen, was er zu sagen hatte, und eine Entscheidung treffen, die für sie beide zufriedenstellend sein konnte.

Auch wenn Jo vorher nur matt grinste, als sie seine Worte hörte. Klar, er hatte Recht. Treffen konnte er sie damit nicht, wen er das meinte. Es war lange her, dass Jo sich mal wieder wirklich hatte waschen können. Sicherlich roch sie nicht gerade nach Rosenblüten, ihre Haare waren fettig und die Haut an ihren Händen war ziemlich trocken. Aber erst mal sagte sie nichts dazu, beobachtete mehr den Weg, den ihre Hand dank seiner zurücklegte. Und schmunzelte, ehe sie wieder zu Pete aufsah. “Und du weißt also, was gut für mich ist?” Sie lachte leise, lächelte schließlich wieder sanft, auch wenn sie kurzzeitig eine Augenbraue hochzog. Irgendwie war er ja ein witziger Kerl. Umso besser. Dann hätte sie vielleicht sogar noch Spaß an der ganzen Sache und hätte hinterher auch endlich das, was sie wollte. Den Grund, aus dem sie eigentlich hier her gekommen war. Und so, wie sich das alles gerade entwickelte, wirkte es ja doch so, als würde er ihr Angebot annehmen wollen. Zumindest strichen Jos Finger leicht an der Stelle auf und ab, an der Pete ihre Hand abgelegt hatte. Ihnen war klar, worauf das hinauslaufen würde. Auch wenn Jo nicht ganz sicher war, ob sie das, was er schließlich sagte, niedlich finden oder als Beleidigung auffassen sollte. “Betteln?” Ihr Lächeln verzog sich nur kurzzeitig zu einem fragenden Schmunzeln. Dann lächelte sie wieder. “Das ist nicht mein Stil.” Ihre Prinzipien gingen ihn nichts an. Und genau darum würde sie jetzt also ihrem Teil der nicht ganz direkt ausgesprochenen Vereinbarung nachkommen. Ihre Nasenspitze strich seinen Hals hinauf und stieß schließlich leicht gegen seine Wangenknochen. Er hatte eine Frage gestellt, er sollte seine Antwort bekommen. “Du bist ein netter Kerl, ich bin ein nettes Mädchen.” Und genau deswegen tat sie das hier. Einen Funken Würde trug sie wohl doch noch in sich, ganz gleich, wofür sie das hier tat und wie würdelos das eigentlich war. Wenn sie etwas von fairen Leuten wollte, konnte sie auch fair sein. Und Pete sah nicht schlecht aus, Pete war amüsant. Er war ein netter Zeitvertreib und am Ende nicht mehr, als ein Mittel zum Zweck. Das wussten sie beide und das war gut. Und schließlich waren es ihre Lippen, die leicht geöffnet über sein Kinn strichen, ehe sie ihre kleine Antwort vollendete. “So gleicht sich das aus.” Ihre Stimme war inzwischen kaum mehr als ein Flüstern, das von einem leichten Lachen untermalt war, aber er würde sie schon verstanden haben. Sicherlich entging einem wie Pete nichts. Vermutlich hatte Jo gerade deswegen so viel Spaß an dieser ganzen, seltsamen Geschichte.


Pete
Naja, warum eigentlich nicht. Ihre Hand lag da, wo sie liegen sollte. Und Pete war nicht abgeneigt. Natürlich nicht. Hätte er sie nicht entdeckt und hätte sich deswegen bewegen müssen, wäre er schon lange nicht mehr in diesem Raum. Dann wäre er auf seiner Matratze und würde sich gar keine Gedanken mehr machen, sondern sich das nehmen, was er wollte. Und es wäre ihm egal, ob es dem Mädchen gefiel. Man musste sich auf ihn einlassen wollen, und wenn man es tat hatte man Pech gehabt. Nicht immer, aber Pete war kein rücksichtsvoller Liebhaber, das nun wirklich nicht. Er konnte sanft sein, wenn er wollte. Aber er wollte eigentlich nie, und Pete war sich ziemlich sicher dass kaum es Mädchen es mit ihm wirklich genoss. Es war die Tatsache, dass er es war, die sie immer wieder zu Pete trieb. Genuss war es nicht, und sie taten es nur, um es sich mit ihm nicht zu verscherzen, sie waren bereit und sie kamen wenn er nach ihnen rief. Es war kein Genuss, und das wusste er. Für die Mädchen war es dann wahrscheinlich doch schöner, mit Caoimhin zu schlafen, egal wo das war. Vielleicht war eine enge Bartoilette sogar wirklich besser, als seine schäbige Matratze. Aber es war seine Wohnung, und deswegen durfte er bestimmen. Und solange die Mädchen über sich bestimmen ließen, war es ihm ziemlich egal, ob es ihnen gefiel. Er vergaß ihre Namen wieder, und er warf sie weg wie Abfall. Weil sie mehr in seinen Augen nicht waren, so leid ihm das auch manchmal tat. Sie waren für ihn nichts, und außer Steve würde er auch niemanden vermissen, wenn er einfach verschwand. Es kümmerte ihn nicht, ob sie gestorben waren oder clean wurden. Es war ihm egal, und er würde sich nicht um sie sorgen. Dann waren sie eben weg, aber Drogen und Sex würden niemals out werden, es würden also immer wieder neue Kids kommen. So wie neue Dealer kommen würden, wenn er mal nicht mehr auf der Welt war. Doch das war jetzt ziemlich egal. Das alles. Denn er schob sich noch dichter zu ihr, kniete beinahe über ihr, und drückte seine Lippen auf die Ihrigen. Das kannte man von ihm, er fiel nicht über sie her. Aber ein Kuss war in der Menge noch okay. Man sah aus Höflichkeit nicht hin, so wie Pete nicht hinsah, wenn zwei sich nicht mehr beherrschen konnten. Gleich würde er ihre kleine Hand nehmen, und sie mitnehmen. Weg von allen hier. Und dann konnten die tun und lassen, was sie wollten. Dann waren alle um sie herum auch scheiß egal. Waren sie jetzt sowieso schon. Dann nahm er sich jetzt eben das, was er wollte. Dann würde sie auch bekommen, was sie wollte. Und vielleicht sogar schon etwas früher, weil er ja bekanntlich ein netter Kerl war. War er wirklich, auch wenn er seinen Ruf nicht verlieren wollte.

Pete löste sich von ihren Lippen und ließ seine Lippen über ihren Hals streichen. Runter, und wieder hoch. An ihrem Hals stoppte er. „Und das nur für ein bisschen Crack. Ihr seid süß..“
Und damit meinte er sie alle. Alle diese Kids, die alles dafür tun würden, nur um endlich mal wieder high zu werden. Dabei hielt dieses Gefühl nicht lange an, und das wussten sie auch. Und sie alle würden wieder zu ihrem Dealer angekrochen kommen, egal wie sehr sie ihn manchmal hassten. Und eigentlich hassten sie ihn doch alle. Gut also, dass ihm das ziemlich egal war. Weil ihm alles egal war. Er würde sie nicht vermissen, aber ihnen würde etwas Wichtiges fehlen, wenn er mal nicht mehr da war. Oder wenn er mal einen Abend nicht da war. Es war etwas anderes, es fehlte Pete. Und sie vermissten ihn. Genau dies war ein Wissen, welches Pete brauchte, um sich wieder so gut zu fühlen, wie er es jetzt gerade tat. Und daran trug Jo vielleicht auch ein wenig Schuld. Sie hatte seine Launen erlebt. Er war genervt, und wollte, dass sie wieder ging. Und jetzt wollte er eigentlich nur noch sie, eine witzige Geschichte. Aber so war er eben. Deswegen konnte man ihn auch nicht durchschauen, weil er sich selbst nicht wirklich verstand. Manchmal war er von seinen Gedankengängen dann doch ziemlich verblüfft, weil er sich eine solche Raffinesse gar nicht zugetraut hätte. Und doch war er ein kleines Genie, das wusste er. Pete war doch ziemlich zufrieden mit sich, und mit diesem Augenblick. Lief doch eigentlich alles super.
„Warte kurz..“ brummte er, und erhob sich schwerfällig. Einen Augenblick brauchte er wieder, um seine Balance zu finden, dann torkelte er aus dem Zimmer. Sehr viel würde er jetzt nicht mehr schaffen, also würde er ihr das Zeug holen, und sie dann ins Schlafzimmer zerren. Dann konnten sie ja gemeinsam rauchen. Eigentlich ließ sich das ja genial vereinen. Wozu sollte er einen Weg zweimal gehen, wenn er jede Station einmal schnell abklappern konnte.
Also machte er wieder kehrt, und ging ins Wohnzimmer zurück. „Komm!“ es war ein Befehl und keine Bitte. Aber er wurde ungeduldig, weil er jetzt wieder irgendwas in seinem Blut brauchte. Dopamin oder Adrenalin. Was auch immer, irgendwelche dämlichen Hormone. Die würden ihn glücklich machen, und das wusste. Also nahm er Jos Hand, als sie bei ihm war, und brachte sie in sein Schlafzimmer, wo er ein nervend rumleckendes Pärchen vertrieb. Die hatten dich alle irgendwie ein zu Hause, mussten sie ihn dann damit belästigen? Schrecklich, er hasste das. Genügte es nicht, dass er wusste, was sie nahmen? Musste er auch noch wissen, mit wem sie schliefen? Nein, musste er nicht. Er wollte es gar nicht wissen, sie kotzten ihn an. Es war gut, dass sie gingen und ihn in Ruhe ließen.

Pete hockte sich auf den Boden und drückte ein Dielenbrett hoch, zog ein kleines Päckchen heraus und warf es Jo zu. Wer bei ihm schon mal etwas gekauft hatte, wusste wo er seine Sachen aufbewahrte. Das war nichts Neues. Aber sie wussten auch, dass er sie suchen und finden würde, würden sie es wagen ihm etwas zu klauen. Also machte er kein großes Geheimnis daraus. Jo hatte, was sie wollte. Und er wollte jetzt auch was haben. Mit einem Rumms fiel die Holzplatte wieder auf ihren Platz zurück. Pete schloss die Tür und setzte sich auf seine Matratze.
„Lass uns zusammen rauchen, ich brauch auch was.“ Er klopfte neben sich und bemühte sich, zu lächeln. Es war nicht gerade leicht, weil sein Körper was anderes wollte als so ein dämliches Lächeln.


Jo
Ging doch. Es war ein gutes Gefühl, jetzt, da Jo sich gewissermaßen in Sicherheit wog. Jedenfalls war Pete sicherlich vertrauenswürdiger, als sie es war. Er war fair und ihr kleiner Handel war gültig. Für Drogen hatte Jo schon viel mehr getan, glücklicher Weise aber auch schon weniger. Wenn ein besoffener Bardealer in der Ecke lag, war es natürlich seine eigene Schuld, wenn er später verkatert und ausgeraubt aufwachte, ohne eine Ahnung zu haben, wo er war, oder wo sein Stoff war. In solchen Fällen hatte sie nicht einmal besonders umsichtig handeln müssen. Gerade in einem öffentlichen Club hätte er ja kaum rumschreien können, ein kleines Mädchen, welches er noch eben unsittlich berührt hatte, hätte nun seine komplette Wahre für einen Abend mit sich genommen. Das meiste konsumierte Jo selbst, wählerisch war sie noch nie gewesen. Im Laufe der Zeit hatte sie bloß begonnen, mehr auf Qualität zu achten. Trotzdem wusste Jo, dass sie keine Ansprüche haben durfte. Sie hatte schon weniger für Drogen getan, sie hatte schon mehr für Drogen getan. Pete war in Ordnung, sie würde sich daran schon nicht kaputt machen. Und so war es immer noch angenehmer, als mit irgendwelchen wirklich stinkenden, widerlichen Kerlen in irgendwelchen Gassen, Kneipen oder Hinterhöfen, die dann auch noch Geld wollten oder irgendeinen anderen Gegenwert. Verzweifelt genug, um soweit zu gehen, war Jo schon lange nicht mehr gewesen. Das hier war schon in Ordnung. Küssen konnte dieser Pete ja, das musste man ihm lassen, auch wenn er sich dazu dann ja doch schneller entschlossen hatte, als Jo es erwartet hätte. Aber sie war zufrieden und ging nur allzu gerne darauf ein. Irgendwie genoss sie seine Aufmerksamkeit dann ja doch. Es war vielleicht nichts Besonderes für sie und die teilweise skeptischen, teilweise neidischen Blicke aus verschiedenen Richtungen, als Pete sich an ihrem Hals zu schaffen machte, waren ihr egal, und trotzdem war Jo entschlossen, irgendwie das beste aus der Situation zu machen und Spaß zu haben. Jo spielte eben doch nach ihren Regeln.

Ja. All das für ein bisschen Crack. Jo schwieg über seine Worte, hatte nur kurz die Augen geschlossen, seinen warmen Atem auf ihrer Haut genossen. Natürlich für Crack. Wofür auch sonst? Auch wenn es gerade wohl anders aussehen musste, war Jo eigentlich nicht zum Vergnügen hier. Sie kam nur, weil sie etwas wollte, was sie sich alleine nicht ohne Weiteres beschaffen konnte. All das nur für ein bisschen Crack, sehr süß war das eigentlich nicht. Eigentlich war das sicherlich traurig, erbärmlich und trostlos, aber Jo war das egal. Wenn Pete das süß fand, umso besser. Machte nur umso deutlicher, dass sie nicht die einzige war, die genau wusste, was sie von Pete wollte. Allerdings glaubte Jo noch daran, dass sie die einzige wäre, bei der das hier eine einmalige Sache bleiben würde. Wenn sie wieder Geld hatte, würde sie es vermeiden, in irgendjemandes Wohnung zu gehen, um Drogen zu kaufen. Sobald sie erst mal wieder etwas geraucht hatte, würde sie sicherlich ausgeglichener und wieder vorsichtiger werden. Sie würde schnell wieder an das Geld ihrer seltendämlichen und unvorsichtigen Mitbürger kommen und sich dann und wann vor irgendeinem Szeneclub herumtreiben. So einfach könnte das sein, aber eben nicht jetzt. Jetzt war sie hier und verstand nicht so recht, warum Pete sie plötzlich hier zurücklassen wollte, als er aufstand. Auch wenn sie warten sollte, was wohl hieß, dass er wiederkommen würde. Na umso besser. Sie verstand es nicht, aber ihr sollte es Recht sein. Sie nickte und sah ihm verdutzt hinterher, seufzte einmal leise, als sie ihren Kopf zurücklehnte, gegen die kühle Wand in ihrem Rücken. Wirklich entspannen konnte sie aber nicht, scheinbar hatte er es sich ja irgendwie anders überlegt. Ein amüsiertes Schmunzeln zuckte über Jos Lippen, als sie geschickt aufstand und auf Pete zuging. Widerrede hätte er offensichtlich ja eh nicht geduldet, aber warum auch? Jo wusste ja, was sie wollte. So scharf war sie dabei nicht auf Zeugen, wirklich nicht. Kein Wunder also, dass sie ihm auch bereitwillig gefolgt wäre, hätte er nicht ihre Hand genommen. Aber wenn es im Spaß machte, warum nicht. Händchenhalten war jetzt wohl ohnehin die geringste Nähe. Für den Augenblick. Jedenfalls erkannte Jo ja recht schnell, wo er sie hinbrachte, auch ohne ein ziemlich fertig aussehendes Pärchen, welches offensichtlich hatte demonstrieren wollen, wie das hier alles funktionieren sollte. Jo störte sich nicht weiter daran, blickte sich nur mit kurzen, flüchtigen Blicken um und betrachtete schließlich die Matratze, die da recht trostlos am Boden lag. Und trotzdem war das schon wesentlich mehr Luxus, als Jo sich leistete.

Als ihr Blick wieder auf Pete fiel, verstand Jo dann auch, weshalb er aufgestanden war. Und Jo war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Sie hatte nicht mit ihm rauchen wollen. Sie hatte den Stoff bekommen und verschwinden wollen, für sich sein wollen in ihrem kleinen, gemütlichen Versteck, wenn sie sich endlich wieder beruhigte. Hierauf war sie nicht eingestellt gewesen, sie hatte ja nicht einmal ihre Pfeife mit. Aber sie wusste, dass sie sich nicht beklagen durfte. Wenn Pete teilen wollte, sollte sie das schon ziemlich freuen. Ohne Geld war das mehr, als sie erwarten durfte. Kein Wunder, dass sie sein kleines Versteck leicht amüsiert betrachtete, das Päckchen auffing und gar nicht fragen brauchte, um zu wissen, was das war. Scheinbar war es also nicht nur Müdigkeit, die ihn zurzeit belastete. Also schön. Lächelnd folgte Jo schließlich Pete und ließ sich - gemäß seiner Geste - neben ihm auf der Matratze nieder. “Pete”, begann Jo leise, als sie ihm das Päckchen hinhielt und ihn sanft anlächelte, “man hatte mir ja gesagt, dass du in Ordnung bist, aber hey... du bist echt in Ordnung.” Sie lachte leise, schüttelte kurz ungläubig den Kopf. Es war so albern, was sie sagte, aber erstens wollte sie nett sein und es sich mit ihm nicht verscherzen und zweitens stimmte es doch. Er war wirklich in Ordnung. Immerhin saß er jetzt hier mit ihr und war drauf und dran, sein Crack mit ihr zu teilen. Und wenn sie schon mal hier waren... Schien doch alles ziemlich fair. Dass er seinen Stoff so achtlos hier lagerte, hatte sie vorher ja nicht wissen können. Und jetzt war es für diese Erkenntnis vielleicht auch eine Spur zu spät, weshalb sie sich einfach wieder gegen Petes Schulter lehnte, einen Arm um seine Hüfte legte und ein paar Mal tief durchatmete. War vielleicht doch ganz gut, dass sie jetzt gemeinsam rauchen würden. Weil sie sonst so langsam wahnsinnig werden würde. Und wenn sie einmal hatte, was sie wollte, war ihr alles andere eigentlich auch egal.


Pete
Lief doch alles super. Pete war zufrieden. Er saß auf seiner Matratze und kam zum Schluss, dass er bald mal eine Neue besorgen musste. Oder die hier wenigstens mal umdrehen. Vielleicht sah die dann etwas ordentlicher aus. Die Bettdecke hatte er wie immer am Morgen gegen die Wand gebufft. Und mit Morgen war der heutige Nachmittag gemeint. Wieso sollte man eigentlich sein Bett machen? In ein paar Stunden würde das Bett sowieso wieder unordentlich werden. Es war Kraft, die man sparte, wenn man sein Bett nicht jeden Morgen machte. Und ein gemachtes Bett lädt sowieso mehr dazu ein, sich einfach reinzulegen. Pete kannte seine Pappenheimer. Und irgendwann würde er sicherlich auch dieses Zimmer abschließen müssen. Sie wurden übermütig. Und das war... weniger schön.
Aber es war auch egal, denn jetzt saß er auf der Matratze und rutschte etwas zurück und lehnte sich an die Wand hinter sich. Flüchtig fuhr er mit seinen Fingern durch seine schwarzen, verschwitzten Haare und seufzte leise auf. Er brauchte es jetzt. Das Gefühl, dass alles in Ordnung war. Und das ihm alles egal sein konnte. War ja wirklich so. Nur dafür müsste er jetzt erst mal rauchen.
Pete streckte sich, griff nach seiner Pfeife und hielt sie Jo hin. Sie war ruhiger als er, wahrscheinlich nicht ganz so ungeduldig. Er hatte Erfahrungen damit gemacht. Frauen konnten noch so scharf auf den Stoff sein, sie blieben ruhig. So blieb das meiste da, wo es hingehörte. Und doch schenkte er ihr ein Lächeln. Ja, vielleicht war er wirklich in Ordnung. Er fand sie manchmal ganz nett. Aber das lag daran, dass er wusste, wie sich das anfühlte, wenn man etwas brauchte. Und weil er wusste, dass man sich von jemandem abhängig machen musste. Ihm ging das auch so, und er war froh, dass er sich jetzt selbst beliefern konnte. Ja, er war in Ordnung. Pete mochte sich nicht sonderlich, aber das konnte ihm ja eigentlich egal sein. Alles war ihm egal. Er lächelte nur und sagte dazu nichts. Natürlich, er konnte in Ordnung sein. Aber wenn man ihn auf dem falschen Fuß erwischte, dann konnte er auch weniger freundlich sein. Manchmal konnte auch er wütend werden, und dann machte er sich auch gerne die Hände dreckig.
Doch jetzt war er ziemlich friedlich. Er war müde, er zitterte und er schwitzte. Er brauchte jetzt irgendwas und es war ihm egal, wer das Mädchen neben ihm war. Und es war ihm egal, was sie ihm nachher geben würde. Wer wusste schon, in welchem Zustand er nachher war? Vielleicht würde sie auch einfach gehen und ziemlich froh darüber sein, dass sie nichts für den Stoff hatte machen müssen. Er wäre zufrieden. Aber er würde sich für Drogen auch niemals verkaufen. Aber Frauen waren da eben anders als Männer, anders als er. Und wenn er heute nicht das wäre, was er heute war. Wer wusste, ob er noch leben würde oder was er für einen einzigen Schuss tun würde? Daran wollte er jetzt nicht denken, als er Jo ein Feuerzeug reichte, und seine Augen schloss.
Sie waren nicht miteinander verbunden. Er kannte sie nicht, und momentan wollte er sie auch nicht kennen. Er zwang Frauen nicht, das hatte er nicht nötig. Pete schlägt Frauen nicht, wenn sie nicht wollen, dann wollen sie nicht. Aber wenn sie sich anbieten, dann sollten sie ihre Meinung nicht plötzlich wieder ändern. Wenn Pete einmal wollte, dann wollte er. Selten war es echte Begierde, was er empfand. Es war Lust, und es war ihm egal, wie diese befriedigt werden würde. Hauptsache, die Spannung in seiner Hose ließ wieder nach. Schon lange hatte er nicht mehr von einer Frau geträumt und wollte mit ihr mehr. Es kamen Mädchen, und wenn sie wollten, dann sollten sie mit ihm schlafen. Aber er war ihnen auch nicht böse, wenn sie es nicht wollten. Doch zugedröhnt wollten sie ihm wohl alle ein Geschenk machen, ohne zu ahnen, dass es für ihn rein gar nichts bedeutete. Dass er lauter und voll ehrlichem Genuss stöhnte, wenn das Heroin sich in seinem Körper breit machte. Heroin war seine einzige Liebe.
Sie brachte ihn zum Stöhnen, besser als jeder Orgasmus. Und er vermisste sie, wenn sie nicht da war. So, dass es körperlich weh tat. Er sehnte sich nach seinem Heroin, aber jetzt musste er sich Ersatz holen. Seinen Körper reinlegen. Ein Mädchen, welches nicht sein geliebtes Heroin war, aber ihn trotzdem kurz glücklich machte. Crack. Crack war nichts. Und doch würde es ihn kurz glücklich machen, und das wusste er auch. Crack und Pete also. Und Jo, die ihm die Pfeife reichte, und Pete es ignorierte, sondern sich wieder zu ihr beugte, und seine Lippen auf ihre presste. Er atmete tief den Rauch aus ihrem Mund ein und sank wieder zurück. Sie war niedlich, und vielleicht war es ihm egal, wer neben ihm saß. Aber sie war ein Mädchen, welchem er in der Schule sicher mal nachgesehen hätte. Klar, irgendwo war sie eben auch niedlich. Aber sie war dreckig, und er wusste nicht wirklich was er von ihr halten sollte. Manchmal sehnte er sich dann eben doch nach einem normalen Leben. Und das würde er hier niemals bekommen. Normal war vielleicht nicht seine Bestimmung. Konnte ja gut sein. Und diese Gedanken wollte er schnell wieder vergessen. Also nahm er doch die Pfeife und zog tief den Rauch ein, ehe er sie wieder zu Jo reichte. Er wollte teilen, und Pete teilte fair. Schon jetzt merkte er, dass ihm dieser Ersatz hier nichts helfen würde. Er brauchte sie, seine große Liebe. Aber jetzt hatte er nur Crack und ein Mädchen neben sich. Ein Mädchen, welches er nicht kannte und er nicht wusste, was er von ihr wollte. Erschöpft lehnte er seinen Kopf an ihre Schulter und schloss wieder seine Augen. Seine Arme lagen um ihren schmächtigen Körper, und er versuchte, sich zu entspannen. Brauchte ihm ja eigentlich auch rein gar nichts, wenn er jetzt angespannt hier saß. Dann würde sein Körper noch viel schneller schreien und das verlangen, was ihn richtig glücklich machen konnte.
Pete wollte noch etwas sagen, aber ihm fehlten die Worte. Also schwieg er, und legte nur seine Lippen an ihren warmen Hals. Etwas Wärme genießen. Und dann würde man ja gleich weitersehen, wie es weitergehen würde.


Jo
Er schwieg. Er schwieg und wahrscheinlich war das auch ganz gut so. Sein Lächeln sagte eigentlich schon alles, was Jo wissen musste. Er schien in Ordnung zu sein, ein netter, fairer Typ. Auch wenn Jo sich nicht sicher war, ob er zu der Sorte ‘harte Schale, weicher Kern’ zählte. Denn wenn man sein Leben führte, durfte der Kern sicherlich nicht zu weich sein. Vielleicht war seine Nettigkeit eben auch nur Erschöpfung und seine Fairness das, was Jo selbst als Anstand bezeichnen würde, obwohl man eigentlich kaum daran glauben wollte, dass gerade Jo auch nur einen Funken Anstand in ihren Knochen trug. Sie, die keinen Unterschied machte zwischen allein erziehenden Müttern und Großstadtsnobs, denen es gar nicht wehtat, wenn ihre Rolex plötzlich nicht mehr am eigenen Handgelenk hing. Pete und Jo waren Menschen, die Regeln und Prinzipien hatten, nach denen sie handelten, und die passten sich ganz und gar auf ihren Lebensstil an. Jo konnte es sich nicht leisten, zu differenzieren zwischen Arbeiterklasse und Oberschicht, genauso, wie sie es sich nicht leisten konnte, Ansprüche zu stellen. Dem Penner auf der Straße würde sie aber dennoch niemals das Geld aus seinem kleinen Pappbecher klauen. Das gehörte sich einfach nicht. Handtaschen und Geldbörsen waren eine Sache, aber Pappbecher eine ganz andere. Irgendwann musste man eben doch nochmal abwiegen, wer es nötiger hatte. Und Jo wusste eben ganz genau, was sie nötig hatte. Und Diebin hin oder her, manchmal war es eben doch ein Geben und ein Nehmen. Sie hatte ihre Prinzipien, er hatte seine, und sie bewunderte das. Das wusste er jetzt und vielleicht wäre er dann auch ein wenig besser auf sie zu sprechen. Ganz gleich, ob das überhaupt wichtig war. Sie waren sich doch eigentlich egal. Aber jetzt saßen sie hier auf seiner Matratze und lehnten sich irgendwie Arm in Arm gegen die kühle Wand, klammerten sich aneinander und suchten eigentlich nur noch Halt. Obwohl Jo eigentlich nur noch den Boden unter ihren Füßen verlieren wollte.

Pete gab ihr das, was sie brauchte. Er wusste das, sie wusste das. Es war ihr nicht Recht, aber was wollte sie denn sagen? Genau darum war sie doch hier. Sie machte sich einfach nicht gerne von anderen abhängig, das war alles. Genau deswegen war sie inzwischen in Dallas und nicht mehr in Houston oder sonst wo. Von einem Drecksloch ins nächste. Sie machte sich nicht gerne von anderen abhängig, aber jetzt ging es eben nicht anders. Und genau darum seufzte sie dankend auf, als sie ihm die Pfeife und das Feuerzeug abnahm. Der erste Zug war erlösend wie immer. Jo hatte die Augen geschlossen und sich gewünscht, dass die Zeit für einen Augenblick stillstehen würde, so gut hatte es sich angefühlt. Sie hatte losgelassen, nur für einen kurzen Augenblick. Nur sie und das Crack und neben ihr Pete, der sie halten würde, egal, was jetzt passierte, während das Feuerzeug sicherlich noch irgendwo auf der Matratze lag, eben da, wo sie es eben achtlos und mit leicht zitternden Fingern hingeworfen hatte. Sie hatte sich zusammengerissen so gut es ging, aber jetzt spürte sie umso intensiver, wie sehr ihr Körper sich danach gesehnt hatte. Nach diesem einen, kurzen Augenblick, indem sie alles um sich herum vergessen konnte. Sogar Pete. Und dann war es gerade er, der sie plötzlich vollkommen aus der Fassung zu bringen schien. Denn gerade hatte sie wieder ansatzweise in den Moment zurückgefunden, seliger denn je gelächelt und Pete seine Pfeife hingehalten, als dieser sie nicht wie erwartet annahm, sondern sie küsste. Ein Kuss, den Jo nicht so sehr genießen konnte, wie diesen einen Zug und den sie trotzdem erwiderte. Und schließlich seufzte sie leise und lächelte, schmiegte sich ein wenig näher an Pete. Er war ihr egal, aber im Moment machte er sie glücklich.

Es machte sie glücklich, dass er mit ihr teilte, obwohl sie kein Geld hatte, es machte sie glücklich, dass er ihr Halt gab und sie sich einmälig wieder beruhigte. Egal, wie gerne sie jetzt allein gewesen wäre. Pete war da und das war gut. Das musste sie nicht aussprechen, das musste er nicht sagen. Vermutlich hätte jedes Wort ohnehin wieder zu viel Realität in diesen Raum fließen lassen und alles zerstört, was in der kleinen Jo gerade vorging. In der kleinen, glücklichen Jo, die im Moment einfach mal nicht daran dachte, dass sie später noch einen Weg zurücklegen müsste, der zu dieser Zeit nicht ganz ohne war. Bisher war ihr nie etwas Ernsthaftes passiert, aber am Ende war sie eben doch nur ein einsames, kleines Mädchen, das sich irgendwie durchschlug. Und wenn sie nicht die richtigen Schlupfwinkel kennen würde, wusste Jo, dass ihr hübsches Gesicht inzwischen sicherlich ganz anders aussähe. Sie dachte nicht an das, was später sein würde oder morgen, spätestens übermorgen, wenn sie sich wieder quälen würde, weil sie nicht hatte, was sie brauchte. Sie dachte nicht daran, dass sie Geld brauchte. Weil sie im Moment alles hatte, was sie brauchte. Crack und Pete. Ja, für den Augenblick sollte ihr das genügen. Die Pfeife in der Hand, die nach jedem Zug erschöpft niedersank und seine weichen Lippen an ihren Hals, während Jo einfach nur lächelte. Mit der geringsten Kraft, die sie gerade aufbringen wollte, reichte sie die Pfeife wieder an Pete weiter, seufzte leise und sank gemächlich an der kühlen Wand zurück, rutschte etwas weiter nach unten und konnte schließlich ein bisschen verträumt zu Pete nach oben lächeln. Wenn man es so betrachtete, war er ein wahnsinnig toller Kerl. Eigentlich jedenfalls. Er war nett zu ihr gewesen, obwohl er es nicht musste. Das rechnete sie ihm dann doch irgendwie an. Vermutlich drückte sie sich deswegen ein wenig nach oben, indem sie sich auf seinen Beinen abstützte, um ihre Lippen auf seine zu legen. Und dann legte sich ein Arm um seine Schultern, mit der anderen Hand stützte sie sich leicht an seiner Brust ab. Nicht, dass sie ihm hätte wehtun können, und trotzdem wollte sie ihn auch nicht mehr belasten, als es nötig war. Er war ein toller Kerl und im Moment tat seine Nähe ihr gut. Auch wenn Jo seinen Namen in ein paar Tagen sicherlich nicht mehr kennen würde, wenn man sie danach gefragt hätte. Mit ein wenig Kraftaufwand schaffte Jo es schließlich, sich wieder besser aufzusetzen, auch wenn sich an ihrer Position sonst nicht viel veränderte. “Danke”, flüsterte sie Pete ins Ohr. Mehr musste nicht gesagt werden. Es war anständig, sich zu bedanken, aber eigentlich wollte Jo gar nicht, dass er etwas dazu sagte. Eigentlich wollte Jo gerade nur, dass er sie festhielt. Nur noch einen Augenblick.


Jo
Manche Momente sollen einfach nicht zu Ende gehen. Wie dieser hier. Was war eigentlich Schlimm daran, ein Mädchen in seinen Armen zu halten, und sie zu wärmen, sie zu halten? Eigentlich sollte das doch genau so sein, oder nicht? Er war ein junger Mann, und er sollte dieses Mädchen in seinen Armen halten. Oder zumindest ein Mädchen. Mehr zählte eben auch nicht. Also saß er jetzt hier und hielt sie fest, auch wenn er schon wieder vergessen hatte, wie sie hieß. In seinem Kopf gingen andere Dinge vor sich. Er wollte zittern, er wollte loslassen. Aber das ging nicht, weil er nicht schwach sein sollte. Er sollte stark sein, und ihr auch Halt geben. Sie war wahrscheinlich gar nicht schwach, ihr ging es gut. Sie rauchte jetzt, und bekam das, was ihr Körper brauchte. Vielleicht war sie in diesem Moment schrecklich verletzlich. Aber sie war auch stark, schließlich hatte sie lange genug stand gehalten, und ließ jetzt erst los. Sie war ein starkes Mädchen, und wahrscheinlich viel besser als er. Denn Pete merkte, dass er etwas brauchte. Und dann kämpfte er mit sich selbst, und ließ dann am Ende eben doch los. Er fühlte sich so schrecklich schwach, während er neben ihr saß und seine Arme um sie geschlungen hatte, die Lippen an ihrem beinahe schon heißen Hals. Vielleicht musste er ihr nicht Halt geben, vielleicht war es umgekehrt. Und vielleicht wussten sie das beide. Zumindest fühlten sie sich wohl, davon ging Pete jetzt aus. Er hatte die Augen halb geschlossen und nahm es hin, hier mit einem fremden Mädchen zu sitzen, und mit ihr sein Crack zu teilen. Auch wenn er das gar nicht brauchte. Er brauchte etwas Anderes, aber dennoch war er jetzt ziemlich zufrieden. Pete seufzte einmal leise auf und nahm die Pfeife an sich, zog zweimal stark daran. Ein leichtes Glücksgefühl machte sich in ihm breit, aber es genügte ihm nicht. Es war nicht so stark wie das Glück, welches er empfand, wenn er etwas anderes nahm. Nichts war so gut, wie panisch nach einer Vene zu suchen. Nichts war so gut, wie der kurte, stechende Schmerz wenn die Nadel sich in seine haut bohrte. Nichts war so gut, das wusste er. Aber jetzt würde er seinem Körper dieses Gefühl nicht geben. Nicht jetzt, jetzt wollte er nichts, als sie in seinen Armen halten. Und Pete war zufrieden. Glücklich vielleicht nicht, aber zufrieden. Und das musste ihm in diesem Moment einfach mal genügen, auch wenn Glück ihm wesentlich lieber gewesen wäre.

Pete reichte die Pfeife an das Mädchen zurück und schloss seine Augen ganz. Er war müde, und sie war warm. Natürlich würde er jetzt am liebsten einfach nur schlafen. War ja eigentlich auch nichts Schlimmes dabei.
Und doch schreckte er hoch, als es an die Tür klopfte, und diese geöffnet wurde. Steve schob grinsend seinen Kopf durch den Türspalt, und trat dann ganz ein. Steve, der einzige, der in dieser Wohnung durch eine geschlossene Tür gehen darf. Und Steve wusste auch, dass sonst niemand das durfte. Vielleicht war deswegen gerade so gut gelaunt. Oft waren Türen hier nicht verschlossen, und wenn ja, dann durfte nur er sie öffnen und eintreten. Darauf konnte er sich auch etwas einbilden. Hätte er Pete jetzt bei einer eindeutigen Handlung erwischt, wäre er gar nicht hier drin. Dann würde er draußen warten, so viel Respekt hatten sie dann eben doch. Pete ja auch, selbst wenn er das jetzt abstreiten würde.
Steve also trat ein und strich sich durch die blonden Haare, während er von Pete zu dessen Begleitung schaute.
Er würde jetzt nach Hause gehen, erklärte er. Er hätte ein Mädchen dabei, und er würde jetzt gehen. Pete nickte und hob eine Hand. Wie zum Gruße. Wären sie allein, vielleicht hatte er Steve kurz umarmt und ihn eingeladen, allein mit ihm morgen zu essen. Sie mussten mal wieder richtig miteinander reden, lange Gespräche führen. Wenn jemand dabei war, redeten sie eigentlich nie. Aber Pete brauchte wohl mal wieder ein Gespräch unter richtigen Männern, ein Gespräch mit seinem besten Freund. Manchmal musste auch ein Mann mal wieder richtig reden. Nur jetzt nicht.
„Nimm die Anderen mit.“ Brummte Pete. Ja, manchmal musste auch er sich mal den Frust von der Seele reden können. Jetzt aber lächelte er Steve nur kurz an, und wandte sich dann wieder dem Mädchen neben sich zu, begann vorsichtig ihren Hals zu küssen.
Die Tür schloss sich, Pete war also wieder allein. Also hob Pete seinen Kopf etwas und begann den Hals des Mädchens zu küssen. Er wusste gar nicht, was er wollte. Er wusste nur, dass er ein wenig Liebe und Zuwendung brauchte. Sie musste ja nicht drauf eingehen. Er war zufrieden, so wie es gerade war. Sie konnte ihr Crack rauchen, und er würde sich in der Zeit einfach einbilden, dass es Liebe aus der Welt gab. Und dass sie sie eines Tages noch bekommen wird. Dass dieses Mädchen ihm die Liebe schenken würde, wenn auch nur für eine Nacht.


Jo
Für einen Augenblick war alles gut. Jo wurde in solchen Momenten erst bewusst, dass eigentlich gar nichts gut war. Sie führte ein Leben, welches beschissen war. Dass es für sie normal war, weil sie es nicht anders kannte, machte es nicht besser. Sie wollte unabhängig sein und machte sich vielleicht abhängiger als jeder andere in dieser Wohnung. Sie war abhängig von den Menschen, die dumm genug waren, immer wieder Wertsachen in Umkleidekabinen liegen zu lassen, weil sie natürlich nur nochmal kurz nach einer anderen Größe oder Farbe Ausschau halten wollten. Sie war abhängig von unaufmerksamen Leuten, die einem nicht nur die Auskunft nach dem richtigen Weg, sondern auch noch die Armbanduhr gratis dazu gaben. Sie war abhängig von unzähligen unvorsichtigen, gleichgültigen, dummen Menschen. Sie war abhängig von dem Gefühl, frei zu sein. Sie war abhängig von dem Gefühl, allein zu sein und sie war abhängig von Alkohol, von Drogen, von allem, was sie eigentlich verabscheuen sollte, und das wusste sie. Und nun machte sie sich auch noch abhängig von Pete. Dass sie sich das nicht eingestand, änderte nichts daran, dass es genauso war. Und so war es doch. Sie war nicht hier, weil sie ihn mochte oder weil er sie mochte oder weil sie ihn ganz in Ordnung fand. Sie war nicht einmal hier, weil er ein netter Kerl war. Er teilte mit ihr, aber am Ende war das eben auch purer Eigennutz. Warum sonst sollte er das tun? Er kannte sie nicht. Und er war Dealer. Wenn es um seine Ware ging, hätte er Hintergedanken, und wenn er nur hoffte, dass sie eines Tages wiederkommen würde und dann Geld dabei hatte. Jo würde nicht wiederkommen. Sie wollte sich nicht abhängig von Pete machen, Qualität hin oder her. Sie wollte abhängig von niemandem sein, auch wenn sie in dieser Welt darum gar nicht herum kommen würde. Dennoch wären namenlose, gesichtslose Bardealer ihr lieber. Sie hätte leichtes Spiel, ein gutes Gefühl und könnte allein sein in ihren schwachen Momenten. Pete hielt sie. Er sollte sie halten, aber eigentlich sollte er sie loslassen. Jo wusste es nicht, sie war verwirrt und so lange sie jetzt hier war und das hatte, was sie wollte, könnte ihr vielleicht alles egal sein. Es würde sowieso nicht besser werden.

Egal, wie beschissen das gerade alles war, es war vor allem fair. Immer wieder reichten sie die Pfeife hin und her, gaben sich Halt und auch wenn Jo genau wusste, dass sie hier drin eigentlich nichts wert war, mussten sie doch gerade irgendwie gleichwertig wirken. Irgendwie so. War vielleicht alles gar nicht so wichtig. Interessierte hier doch niemanden, Jo selbst wollte eigentlich gar nicht darüber nachdenken. War also ganz gut, dass ihre Gedanken auseinander drifteten, weil eine neue Bewegung im Raum ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war Petes bester Freund. Der, den Jo zunächst für Pete gehalten hatte. Jetzt, da sie den leibhaftigen Pete so nah bei sich hatte, an der Pfeife zog und ihn von hier aus betrachtete, fand Jo ihre eigene Vorstellung von vorhin ziemlich absurd. Sie wusste nicht, wie er hieß, aber er sah doch schon gar nicht wie ein Pete aus. Ihr war es ziemlich egal, wer er war und eigentlich war es ihr auch egal, was er zu sagen hatte, auch wenn sie dennoch mit einem Ohr zuhörte, als er sich von Pete verabschiedete. Er hatte ein Mädchen dabei, wie nett. Armes Mädchen, wenn er zu dem genauso nett wäre, wie zu dem armen Kerlchen von vorhin. Aber das ging sie alles nichts an und interessierte sie nicht. Sie würde sein Gesicht vergessen haben, sobald er die Tür wieder hinter sich verschlossen hatte. Alles, was Jo von diesem Gespräch wirklich aufnahm, war das, was Pete sagte. Er solle die anderen mitnehmen. Kurz war Jo versucht, ihm beizupflichten, was für eine gute Idee das war, doch sie ließ es. Wenn sie später von hier verschwinden würde, wollte sie niemanden sehen. Sie wollte sich nicht verabschieden, sie wollte einfach verschwinden und so unentdeckt diesen Ort verlassen, wie sie ihn vorhin aufgesucht hatte. Aber soweit waren sie noch nicht. Und als dieser Kerl schließlich die Tür schloss, seufzte Jo einmal leise auf.

Weil das sein musste. Weil das ein erleichterndes Gefühl war, einfach mal zu seufzen. Mal alles raus zu lassen. Zumindest das, wofür sie gerade die Kraft aufbringen konnte. Bald würde sie sich wieder sammeln, das wusste sie. Bald wäre sie wieder stark und verschlossen wie eh und je. Und bis dahin würde sie einfach versuchen, zu genießen. Irgendwie war es ja auch schön. Es war zu viel Nähe, viel zu viel Nähe, aber es war schön. Und die Aussicht darauf, dass sie bald wieder allein sein könnte, beruhigte Jo ungemein. Darum versuchte sie jetzt auch, sich zu entspannen und einfach einen Augenblick so auszuharren, Pete einfach mal machen zu lassen, weil es eben doch gut tat. Und weil Jo ein nettes Mädchen war, konnte sie nicht bloß tatenlos herumsitzen. Die Hand, die sich noch eben bloß auf seiner Brust abgestützt hatte, begann langsam über seinen Oberkörper zu streicheln, leicht über seinen flachen Bauch zu streichen. Sein Körper fühlte sich kühl an, das war angenehm. Ihr war wahnsinnig warm, ihr schien es, als sei es wahnsinnig stickig in diesem Raum, da tat es gut, seine kühle Haut durch den Stoff seines Shirts zu spüren. Die Finger ihrer anderen Hand tasteten, wenn auch etwas umständlich, nach seiner Wange, während Jo die Augen schloss und den Kopf für einen Augenblick weiter zurück lehnte. Jo hatte keine Ahnung, worauf das alles hier hinauslaufen sollte. Sie hatte bekommen, was sie wollte, wenn auch nicht da, wo sie es wollte, aber damit konnte sie leben. Was er im Moment von ihr wollte, konnte Jo nicht sagen. Aber ihr wäre gerade alles recht und alles egal. Sie genoss es gerade so, wie es war und mehr zählte eigentlich auch nicht.


Pete
Pete spürte warme Haut an seinen kühlen Lippen. Er schmeckte einen leichten Salzgeschmack auf seiner Zunge, ohne das wirklich wahrzunehmen. Weil es nicht wichtig war, weil es Haut war. Mehr nicht. Und weil der Hals dieses Mädchens genauso schmecken musste, und nicht anders. Und er genoss es, während sein Herz sich langsam wieder beruhigte. Wozu brauchte er Heroin, wenn er diese Nähe hier haben konnte? Er brauchte eigentlich nichts, bis auf dieses Mädchen. Seine Arme um ihren dünnen Körper gelegt. Sie die ihm vorsichtig über die Brust strich. Unschlüssig, was das alles werden sollte. So wie Pete unsicher war. Pete wollte dieses Mädchen, er wollte weiterhin das Gefühl von viel zu vielen Hormonen in seinem Körper spüren. Und er wollte dieses Mädchen besitzen, nur diese eine Nacht. Er wollte sich in ihren Armen geborgen fühlen, er wollte loslassen. Viel zu lange schon war er angespannt, viel zu lange schon hing er seinen Gedanken hinterher, ohne wirklich einen fassen zu wollen. Pete wollte nicht mehr, und während er beinahe sanft ihren Hals küsste und einmal vorsichtig mit der Zunge über ihren Kehlkopf strich, wurde ihm das bewusst. Er wollte einfach nicht mehr. Jetzt wollte er nur abschalten und das geschehen lassen, was eben geschehen musste.
Sie waren allein, die Anderen waren eben lärmend gegangen, mürrisch und doch erleichtert. Weil auch für sie alles endlich ein Ende fand. Welch Erleichterung für sie alle.
Sie waren allein, und Pete zog das Mädchen enger an sich. Ihr Name.. er wusste ihn. Nur war dieser jetzt vollkommen egal. Es zählte nichts. Namen bekam man, und Namen waren nicht wichtig. Sie sagen nichts über einen Menschen aus. Erst der Mensch schafft die Bedeutung des Namens. Namen sind egal, und deswegen versuchte Pete gar nicht erst, sich an ihren Namen zu erinnern. Es war egal. Das einzige, was nun zählte, war dieses Mädchen und ihre viel zu weiche Haut an seinen Lippen.
Automatisch schob seine Hand ihr dunkles T-Shirt etwas hoch, strich über ihre nackte Haut. Aber eigentlich hatte das alles gar keinen Sinn. Er wollte es. Er wollte es nicht. Eigentlich wollte Pete gar nichts. Alles was er jetzt bräuchte, wäre diese Spritze und dann Schlaf. Aber würden er und sein geliebtes Heroin wieder zueinander finden, konnte er wieder ewig nicht schlafen. Er wollte nicht verschlafen, wie wundervoll es war. Lieber verschlief er die Entzugserscheinungen. Das Zittern, das Frieren, das Schwitzen. Die Einsamkeit und das Gefühl, Jahre nicht mehr allein gewesen zu sein. Aber das konnte er nicht verschlafen. Davon würde er aufwachen, und das wusste er. Es war zum verzweifeln, und doch war es irgendwie beruhigend. Weil es ein Alltag war, den man liebte. Irgendwie zumindest. Ein Alltag, den Pete jetzt komplett ausblenden wollte, indem er dieses Mädchen küsste. Indem seine Lippen nach ihren suchten, und sie sanft küssten. Heute war sie seine Prinzessin, morgen wäre sie ihm egal. Aber jetzt in diesem Moment sollte es nichts Wichtigeres für ihn geben. Und das musste auch so sein.

Es wurde langsam dringend. Das war Pete klar. Und deswegen ließ er nach einiger Zeit doch wieder von dem Mädchen ab und sank schwer atmend zurück. Er schwitzte, aber das hatte nichts mit Erregung zu tun, die dennoch in seinem Körper war. Keuchend rieb er sich aus Gewohnheit seine Armbeuge und krabbelte auf allen Vieren von seiner Matratze runter. Früher, als er noch ein richtiges Bett hatte, war er viel zu oft auf den Boden gefallen. So war es besser, sehr viel besser.
Ohne Jo eines Blickes zu würdigen, zog Pete aus seinem Klamottenstapel sein Besteck und suchte nach seinem Feuerzeug, bis er es auf der Matratze entdeckte.
Mit zittrigen Händen bereitete er alles vor und entspannte sich erst, als sich ein warmes Gefühl in seinem Körper breit machte. In letzte Zeit war er gut, in letzter Zeit konnte er es wirklich hervorragend hinauszögern. Anfangs nur ein paar Minuten, aber bestimmt war jetzt schon eine Stunde vergangen, seit er eigentlich wieder hätte drücken müssen. Er war stolz auf sich, und würde er Steve davon erzählen, wäre der sicherlich ebenso stolz auf ihn. Beide waren stolz, ein stolzes Paar. Irgendwie sowas.
Es war schön. Das Leben war schön. Und deswegen konnte Pete jetzt auch lächelnd wieder auf seine Matratze krabbeln und sich neben das Mädchen legen. Seine heutige Traumfrau. Für heute, und vielleicht irgendwann wieder. Aber morgen nicht. Morgen würde er eine noch hübschere Frau treffen und ihr seine Liebe schwören, wenn sie es wollte. Das war der einzige Reiz, den er in seinem Leben hatte. Und jetzt ärgerte er sich wieder, weil er das Heroin doch gar nicht gebraucht hätte. Er hatte ein wunderschönes Mädchen neben sich, und mehr brauchte er im Leben nicht. Gut, dass er jetzt wieder seine Arme um sie legen konnte, und lächelnd sein Gesicht in ihre halsbeuge schmiegen konnte. Er brauchte er keinen Sex, er brauchte nur diese Nähe.


Jo
Die Bewegung der Menschen im Nebenraum ließ sich wahrnehmen, wie eine unsichtbare, dafür umso geräuschvollere Welle. Waren noch eben Gelächter, Stimmen und Stöhnen dahingeplätschert, hatte Petes Freund die Tür hinter sich verschlossen und das Geräuschmeer aufgewühlt wie ein heftiger Sturm. Poltern, Lachen, Ächzen, Trampeln, schleifende Schritte und schließlich die Tür, die lauter als notwendig ins Schloss viel, was noch einige Sekunden in Jos Kopf nachklang. Und dann war es still und Jos wirre Gedanken über Salzwasser und angriffslustige Möwen verzogen sich wieder. Meer. Ohnehin absurd, dass sie darüber nachdachte. Sie hatte das Meer nie gesehen. Sie hatte Fotos gesehen an Ständen mit Fischbrötchen und sie hatte Leute darüber reden hören. Manchmal hatte sie es im Hintergrund irgendwelcher kleinen Fotos in Geldbörsen gesehen, aber sie wusste, dass sie niemals selbst dort sein würde. Egal, wie viel sie umherzog, sie gehörte nach Texas. Eigentlich störte sie das gar nicht weiter. Wofür bräuchte sie das Meer, was würde es ihr geben? Es war Wasser, einfach nur Wasser. Nicht einmal genießbar nach allem, was sie gehört hatte. Möwen, die kleinen Kindern den Spaß an Eis nahmen und ihr Geschäft im Fliegen verrichteten, zum Leidwesen irgendwelcher Passanten. Und Sand. Dreck. Den konnte sie hier auch haben. Sie brauchte das alles nicht. Sie brauchte kein Meer, kein Salzwasser, keine Möwen und keinen Sand. Das alles brauchte sie rein gar nicht. Die Leute waren gegangen, das war alles. Sie war nicht ganz bei sich, das spürte Jo nur allzu deutlich. Sie kannte das. Sie kannte das, wenn ihre Gedanken davon schwebten und über Dinge sprechen wollten, von denen sie keine Ahnung hatte. Darum schwieg sie. Was immer in ihrem Kopf gerade vor sich ging, es war nicht wichtig. Wichtig war nur das hier und jetzt. Das Crack, welches seine Wirkung gezeigt hatte und Pete, dessen Nähe sie genoss, der ihr Halt gab. All das könnte ein bisschen Wasser ihr nicht geben.

Jetzt waren sie also allein. Was auch immer das änderte. Die Ruhe tat gut, ja, aber sonst? Pete hätten auch die Menschen im Nebenraum nicht gehindert, was auch immer zu tun oder zu lassen und andersrum sah es nicht anders aus. Immerhin musste Jo sich einmälig fassen und wenn sie es so sah, hatte sie ihr Crack doch bekommen, und das für einen geringeren Preis, als sie zu zahlen bereit gewesen wäre. Denn was auch immer wie hier taten, Jo glaubte, Pete gut einschätzen zu können. Er war genauso unentschlossen wie sie. Jo genoss seine Nähe, seine Berührungen und musste zugeben, dass sie ihm so viel Zärtlichkeit gar nicht zugetraut hätte, doch sie wusste genauso wenig, was sie davon halten sollte und sie glaubte, dass Pete sich anders verhalten hätte, wäre er auf mehr aus gewesen. Ihr war es egal. Ihr war das alles einfach nur egal. Sie brauchte das hier und sie brauchte ihn, aber eigentlich brauchte sie nichts und niemanden. Und was immer passieren oder eben nicht passieren würde, es wäre schon okay. Weil sie es sich scheinbar so ausgesucht hatte, und zwar ganz genau so. Er hatte sie zu nichts gezwungen und das würde sich sicherlich auch nicht ändern. Aber er schien ohnehin gerade ganz andere Sorgen zu haben. Jo machte sich nicht die Mühe, ihm nachzusehen, als er sich von ihr löste. Nur ein kurzer Blick aus halb geöffneten Augen heraus zeigte ihr, was er da tat. Das ging sie nichts an. Stattdessen wartete sie geduldig und lächelte vielleicht viel zu ehrlich, als er sich wieder an sie schmiegte. Für diesen Augenblick war er der perfekte Mann.

Jo hatte keine Ahnung, wie lange sie so beide so da saßen, sich küssten, sich Halt gaben. Weiter war da nichts gewesen, was für sie kein Problem war. So nötig hatte sie es wirklich nicht. Es war eine Option gewesen, um an Crack zu kommen. Wenn Pete ihr das leichter machen wollte, war das seine Entscheidung. Inzwischen schlief er, das war nicht zu verkennen. Im Laufe der Zeit hatte er sich immer mehr auf sie gelehnt, sein Atem war ruhiger geworden und inzwischen sah der ruhelose Pete viel zu friedlich aus, um wach zu sein. Was nicht heißen musste, dass auch Jo zur Ruhe gekommen war. Sie kannte Pete nicht und sie hatte bekommen, was sie wollte. Für sie gab es keinen Grund, hierzubleiben. Genau deswegen hatte sie sich vorsichtig aus seiner halben Umarmung gewunden, wecken musste sie ihn schließlich nicht, nur weil sie gehen wollte. Er würde schon merken, dass sie weg war, wenn er aufwachte. Falls er sie überhaupt vermissen würde. Vielleicht würde er sich gar nicht mehr an sie erinnern, wenn er wieder wach war. Jo gab sich gar keine große Mühe, ihre Haare wieder in Ordnung zu bringen oder ihre Klamotten zu Recht zu rücken. Stattdessen stand sie eine Weile still im Raum, sah sich um. Sie wusste, dass sie sich hier nicht wohl fühlte. Und das lag keineswegs an dem Chaos, welches für sie paradiesisch hätte wirken müssen, oder an Pete, nein, das lag einfach an der Tatsache, dass sie sich in einer Wohnung befand. Einer Wohnung, die sie am liebsten nie wieder betreten wollte. Sie würde das hier hinter sich lassen und Pete gleich mit. Ab sofort würden sie wieder getrennte Wege gehen, jawohl. Und darum war Jo inzwischen auch wieder ruhiger und ganz die Alte. Es war nichts Persönliches, aber es war dumm von Pete gewesen, ihr sein Versteck zu zeigen. Sicherlich hatte er unter der losen Diele nicht alles, aber Jo war doch ziemlich zufrieden, als sie vorsichtig das Brett anhob und sich ein bisschen bediente. Es war nicht viel, was sie zurückließ, pure Höflichkeit. Oder so. Ein letzter, skeptischer Blick traf auf den schlafenden Pete, ehe Jo zurück ins Wohnzimmer ging. Sie war fast an der Wohnungstür angelangt, als ihr neben eben dieser etwas auffiel. Ein Buch. Ein einzelnes Buch und daneben ein Stift. Noch einmal blickte sie kurz zu Petes Schlafzimmertür, obwohl Jo sich sicher war, dass er selig und ruhig schlief. Und dann schlug sie die ersten Seiten auf und grinste. Ein Gästebuch. Na schön, sie stand also nicht in seinem Buch? Das ließe sich doch sicherlich ändern. Sie blätterte weiter, überflog nur wenige Einträge mit hochgezogenen Augenbrauen in Kombination mit tiefem Desinteresse, bis sie schließlich einen freien Platz auf der letzten beschriebenen Seite entdeckte. Nur zwei Worte. “Danke. Jo.” Und dann ging sie.


In den Straßen von Dallas


Jo
Dallas war okay. Wirklich, Jo hatte sich hier schnell eingelebt und die Straßen und Gassen dieser Stadt erforscht. Ihre Sachen hatte sie größtenteils in einer alten Lagerhalle untergebracht und das, was wirklich wichtig war, trug sie eben wie immer bei sich. Nicht, dass das wirklich viel wäre. Das Bargeld, das sie momentan hatte, das trug sie immer bei sich, manchmal ein wenig Alkohol, eine Schachtel Zigaretten und so das, was man eben noch übrig hatte, wenn man mal wieder einen Dealer erwischte. Was nicht sehr häufig vorkam und auch nur dann, wenn sie es darauf anlegte. Dass sie es zuletzt darauf angelegt hatte, war inzwischen schon eine Weile her und Jo dachte gar nicht weiter darüber nach, auch wenn sie wusste, dass sie vorsichtig bleiben musste. Dieser Peter Cassidy schien hier eine ganz schön große Nummer zu sein und wenn sie von ihrer kleinen Aktion erzählte, dann gratulierte man ihr vielleicht manchmal, aber vor allem wünschte man ihr danach Glück. Nur sah Jo das gar nicht weiter eng. Sie tat das hier ihr Leben lang, sie war gut darin. Und so viel Angst, wie die Leute hier vor Pete zu haben schien, wurde er sicherlich nicht oft bestohlen. Außerdem sollte er sich nicht so anstellen. Sie waren doch beide ganz nett zueinander gewesen und immerhin hatte sie sich bedankt. Jetzt stand sie in seinem Buch und das wollte er doch. Sie würde auch nicht wiederkommen. Sie hatte bekommen, was sie wollte und mehr bekommen, als sie erwartet hatte, auch wenn jetzt eigentlich nichts mehr von ihrem Beutezug über war. Einen Teil hatte sie für sich behalten, den anderen Teil hatte sie weiterverkauft, um sich von dem Geld Zigaretten kaufen zu können. Hin und wieder legte außerdem auch eine Jo Scott gerne etwas auf die hohe Kante. Schwachsinn, aber man musste sie nicht fragen, wofür sie das Geld brauchte. Es genügte doch, wenn sie es wusste. Mit dieser Einstellung hatte sie also abgewunken und sich dennoch etwas zurückgezogen. Die Nächte verbrachte sie im Park oder in der Lagerhalle, in der ihre Sachen waren, je nach Gefühlslage. Es war Sommer, warm genug wäre es sogar für die Bank oder den Platz vorm Bahnhof, nur hatte Jo das nicht nötig. Sie suchte sich lieber einen Platz für sich allein und genoss es einfach, dass man sie in Ruhe ließ. Sie tat schließlich auch keiner Fliege etwas zu leide. Sie nahm die Dinge doch nur den Leuten weg, die einfach zu leichtfertig waren und denen es nicht weh tat. Pete zum Beispiel. Und weil es ihm nicht weh tat, hatte Jo auch keine Angst, dass er ihr wehtun würde. Er hätte sicherlich eine Weile versucht, sie zu finden, doch eigentlich ging Jo davon aus, dass er das längst aufgegeben hatte. Er würde sich doch damit abgefunden haben und sie hätte dieses kleine Spiel gewonnen. Den Triumph hatte sie bereits gebührend gefeiert.

Es war Freitagabend. Jo wusste nicht, was der Abend ihr bringen würde. Sie wusste ja selten, was der nächste Augenblick ihr bringen würde. Momentan saß sie auf einer leeren Mülltonne in einer kleinen Seitengasse und betrachtete ihre Beine, die von ihrer kurzen, löchrigen Jeans nur bis zum Knie bedeckt wurden. Schöne Beine hatte sie. Vielleicht ein paar blaue Flecken und Schrammen zu viel, von denen Jo selten wusste, woher sie stammten, aber sonst? Und eigentlich gehörten diese Flecken und Schrammen eben zu ihr. Sie merkte es ja kaum noch, wenn sie sich stieß, kein Wunder, dass sie gar nicht bemerkte, dass sie blaue Flecken bekam und diese später nicht mehr zuordnen konnte. Sie hätte so viel tun können. Wenn sie wollte, könnte sie sich an irgendeinen Kerl vor irgendeinem Club ranmachen oder sich diskreter, dafür aber auch mit etwas mehr Aufwand verbunden hineinschmuggeln. Sie könnte in den Park gehen oder bis zur Nacht warten und im See schwimmen gehen. Das hatte sie viel zu lange nicht mehr getan und besonders gut schwimmen konnte sie auch nicht, doch ihr wahr danach. Sie hätte so viel tun können. Vielleicht hätte sie heimlich bei Pete vorbeischauen können, um zu gucken, wie es ihm ging, aber das wäre noch zu riskant, da war sie sich sicher. In drei, vier Wochen, da könnte sie es wagen, aber bis dahin würde sie sich fernhalten. Heute würde sie Dallas unsicher machen. Sie würde sich durch eine Clubschlange drängeln und ein wenig reicher in irgendeinen Kiosk gehen, was Trinkbares kaufen und mal sehen, was sich dann so ergab. Ein guter Plan. Beinahe schon euphorisch rutschte Jo von dem Deckel der Tonne und wischte sich ihre Hände an ihrem dunklen Top ab, wobei sie ihre dünne, hellbraune Stoffjacke leicht zur Seite schob. Dann könnte sie jetzt also gehen. Etwas genervt zischte sie, als sie aufsah. Sie hatte Schritte gehört und eigentlich war Jo davon ausgegangen, dass die Bewohner dieses Wohnblocks längst schliefen. Doch als sie dann sah, wer es war, der da in die kleine Gasse eingebogen war, stellte sie fest, dass sie nicht die einzige war, die erstaunt war.

Pete hatte sie wohl recht schnell erkannt und schien jetzt nicht so recht zu wissen, was er davon halten sollte. Ob er sie gesucht hatte? Jo war es eigentlich egal. Sie wusste nämlich, was sie hiervon halten würde, und das war nicht viel. Und darum musste sie ihren Plan jetzt wohl spontan ändern und in die andere Richtung laufen. Und das ziemlich schnell. Was Pete allem Anschein nach zum Anlass genommen hatte, ihr nachzulaufen. Uneigenständiger Kerl. Wenn er spielen wollte, sollte er sich einen Hamster kaufen oder einen Hund. Jo hatte da gerade keine Lust drauf. Kein Wunder, dass sie seine gereizten Rufe ignorierte. Als würde sie stehen bleiben. Glaubte er wirklich, dass sie so dumm war? Wenn er wollte, dass sie stehen blieb, dann tat es ihm wohl noch immer etwas weh, dass sie dem armen, kleinen Pete das weggenommen hatte, was ihm wohl doch ziemlich wichtig war. Sie würde jetzt einfach ein wenig laufen und sich dann irgendwo verstecken, wenn sich die Gelegenheit bot. Sie hatte Vorsprung, sie war kleiner, sie war schneller, sie war wendiger und sie hatte dieses Spiel schon viel zu oft gespielt. Eigentlich fühlte Jo sich also doch ziemlich überlegen. Wenn sie schon mitspielte, dann wollte sie doch auch gewinnen. Das funktionierte auch ziemlich gut, weil Jo einen kleinen Zaun rechtzeitig sah und geschickt halb darüber klettern, halb darüber springen konnte. Und Petes Rufe ließen sich eigentlich ziemlich gut ausblenden. Beinahe hätte sie es amüsant gefunden, wie er scheinbar wirklich davon ausging, dass sie Wert auf seine Worte legen würde. Bis sie dann doch überrascht zum Stehen kam und dabei viel zu scharf abbremste. Beinahe wäre sie gestürzt, doch sie hielt sich gut, als sie sich umdrehte und Pete ansah, der langsamer zu werden schien. “Hast du mich gerade Prostituierte genannt?” Also bitte. Wenn er sie beleidigen wollte, sollte er doch die gängigen Worte benutzen. Vielleicht war es dumm, dass sie stehen geblieben war. Aber was sollte er schon tun? Zur Polizei gehen könnte er wohl schlecht, weil er dann wohlmöglich noch tiefer in der Sache drinstecken würde, als sie. Und umbringen würde er sie nicht, weil er scheinbar ja noch etwas von ihr zu wollen schien. Eigentlich hatte Jo gedacht, dass sie sich das alles hier sparen könnten. Doch Pete glaubte wohl, noch eine Rechnung mit ihr offen zu haben, und wenn dem so war, dann würden sie dieses Spiel in nächster Zeit noch ziemlich oft spielen. Und darauf hatte Jo keine Lust. Jetzt war sie eigentlich viel zu erstaunt, um weiterzulaufen. Dann würden sie das eben alles heute hinter sich bringen. Nur sollte er ihr jetzt mal sagen, warum er nicht einfach Schlampe sagen konnte. Scheinbar spielte Pete ja mit unfairen Mitteln.


Pete
Das Leben in Dallas war für viele Menschen vielleicht schrecklich beschwerlich. Deswegen jammerten die Menschen auch immer. Sie beschwerten sich in einer Tour über die schreckliche Hitze und über die schlechte Luft in dieser Stadt. Es war ihnen zu laut und zu stickig. Es waren zu viele Menschen da, und die Kriminalitätsrate war ihnen zu hoch. Eigentlich jammerte in Dallas jeder darüber, wie schrecklich das Leben doch in dieser Stadt war. Es passte ihnen nicht, dass sie arbeiten gehen mussten, damit sie leben konnten. Ihre Wohngegend war ihnen zu dreckig und die Wohnung für die wenigen Quadratmeter einfach zu teuer. Die Wohnungen waren ihnen zu schäbig, aber mal zu renovieren, das war ihnen eben auch zu viel.
Egal, wo Pete unterwegs war, um ihn herum wurde immer nur gejammert und gemeckert. Den Menschen konnte man es nie recht machen. Sie jammerten immer nur und wussten meistens noch nicht mal wirklich, worüber sie gerade jammerten. Dann saßen sie Abends vor ihren viel zu großen Fernsehern – „Ich bin pleite und weiß nicht, wie ich meine Kinder ernähren soll!“ – und schauen Nachrichten. Ausdruckslos nahmen sie hin, was so passierte in der Welt. Sie sahen, dass Menschen durch den Monsum starben und selbst in den Flüchtlingslagern nicht sicher waren, weil Seuchen drohten und es eigentlich nur noch eine Frage von wenigen Stunden war, bis der erste erkranken würde.
Sie sahen mit ausdruckslosen Gesichtern zu, wie in einem Überwachungsvideo beobachtet werden konnte, dass ein Mafiamitglied einen Mann auf öffentlicher Straße erschoss und alle anderen Menschen einfach nur über die Leiche hinweg stiegen. Sie nahmen es einfach so hin, dass Menschen starben.
Menschen in dieser Stadt jammerten immer nur, dass Dallas so schrecklich war und sahen dabei das richtige Elend in dieser Welt nicht. Sie wollten nicht sehen, dass irgendwelche Menschen aus dämlichen Glauben heraus sich und 200 andere Menschen in die Luft sprengten.

Pete schaute keine Nachrichten und doch wachte er manchmal mit einer Gänsehaut auf. Er wusste, dass es der Welt schlecht ging. Und er wusste, dass er diese Stadt hier nicht gemütlicher machte. Eher im Gegenteil. Er stürzte diese Stadt noch mehr ins Elend, aber genauso fühlte er sich wohl. Er liebte Dallas und deswegen war er hier. Er war frei, man ließ ihn in Ruhe. Man respektierte ihn, und er hatte sich erfolgreich in kurzer Zeit einen Namen machen können. Viele Anhängige versuchten am Ende, selbst zu dealen. Aber sie nahmen das meiste ihres Stoffes dann selbst, und krochen am Ende wieder zu ihrem ersten Dealer zurück. Der erste Dealer ist wie die erste Liebe. Man denkt immer wieder an ihn, und man wird ihn niemals vergessen. Der erste Dealer ist mehr als die erste Liebe. Der erste Dealer ist das Universum, um das sich der kleine Junkie drehte, und mehr wollte er auch nicht sehen. Mit großen und bewundernden Blicken starrt er seinen ersten Dealer an. Bewundernd, weil der Dealer so willensstark ist, nicht all seine Drogen selbst in sich rein zu schütten.
Pete liebte seine Junkies, so als wären sie seine Kinder. Und er liebte diese Stadt. Er hatte sich wunderbar arrangiert. Er verdiente nicht schlecht und lebte trotzdem nicht in einer großen Villa oder in einem sauberen Haus. Seine Wohnung war vollkommen okay. Sie war klein, aber das Haus war es eben auch. Seine Nachbarn waren eigentlich nie da, und so störten sie niemanden, wenn sie laut Musik hörten, oder lachend durch den winzigen Garten trampelten. Diese Stadt wunderbar, und Pete sah das Elend nicht, welches hier geben sollte. Er wusste, dass Menschen starben, aber meistens waren sie dann selbst schuld. Wenn sie Mitglied in einer Gang wurden, dann waren sie an ihrem Tod selbst schuld. Besonders dann, wenn sie selbst Menschen getötet hatten. Wenn man sich bei einem Überfall als Held aufspielt, ist man selbst schuld, wenn man das Messer am Ende im Bauch hat. Man ist häufig selbst schuld. Aber die Menschen, die einfach in die Luft gesprengt werden, weil irgendjemand sich geil fühlt, die haben keine Schuld. Und genau diese Menschen taten Pete dann Leid.

Pete war in dieser geliebten Stadt unterwegs. Er könnte auch woanders leben, aber diese Hitze und dieser Dreck taten ihm gut. Er lebte schrecklich gerne hier, und wenn er einen Überfall beobachtete, dann ging er schulterzuckend weiter. Wenn er wollte, dass man ihn in Ruhe ließ, dann würde er die anderen Menschen auch einfach mal machen lassen.
Heute war ein schöner Abend. Den Tag hatte er schlafend verbracht. Steve musste arbeiten, und das schon seit drei Tagen. Es würde schwul klingen, würde Pete sagen, dass er Steve vermisste. Aber genau das war der Fall. Er hatte sich am Morgen mit irgendetwas betäubt, Pete könnte jetzt nicht mal mehr sagen, was es war. Momentan schlief er nicht sonderlich gut, also knallte er sich lieber die Birne voll. Er hatte gut geschlafen, diesen Tag. Aber jetzt musste er noch einiges erledigen. Pete war ein schrecklich freier Mensch, aber trotzdem musste er mal arbeiten. Also hatte er sich eine Jacke angezogen – Leder, schwarz, eng – und hatte sich die Taschen vollgestopft. Momentan war es ruhig in Dallas, wie er fand. Sicherlich lag das an der Ferienzeit. All die Schüler, die bei ihm Aufputschmittel kauften waren jetzt im Urlaub. Steve war weg. Und einige ließen sich momentan auch nicht mehr bei ihm blicken. Pete hatte also nur seine Bestseller geschnappt, harmloses Zeug, und würde das jetzt unter die Meute bringen. Laufkundschaft war schrecklich anstrengend. Weil man sie ansprechen musste, und weil er die meisten einfach nicht mochte. Man wusste auch nie, ob nicht irgendwo ein Polizist versteckt war. Pete hasste diese Öffentlichkeitsarbeit. Aber manche Dinge musste man eben machen, auch wenn sie einem keinen Spaß machten. Also hatte sich Pete auf den Weg gemacht, Musik im Ohr und irgendwie dann doch guter Dinge. Pete war kein Mensch, der immer Musik hören musste. Meistens summte eine fremde Stimme in seinem Kopf sowieso eine ihm ebenfalls fremde Melodie. Aber heute war ihm nach Musik gewesen, und deswegen summte er jetzt leise Silverstein mit. Das Lied, das den Nagel auf den Kopf traf, wie er fand. Spontan könnte er nicht sagen, wie das Lied hieß. Aber er fand es, wenn es sein musste. Und deswegen summte er jetzt auch entspannt vor sich hin, während er durch die dunklen Straßen dieser Stadt schlich. Er wollte in einen Club, da wurde man den Stoff schnell los. Und den Rest der Nacht könnte er auf ein Haus klettern und vom Dach aus den Sternenhimmel beobachten. Die Nacht war klar, und eigentlich sollte er das schon genießen und sich freuen, dass er frei war. Einfach nur frei.

Pete bog um eine Ecke und stutzte. Bewusst gesucht hatte er nach ihr schon länger nicht. Er wusste, dass man ihm irgendwann sagen würde, wo die Kleine sich aufhielt. Und er wusste, dass er sie schon irgendwie finden würde. Aber das hier, das war wirklich ein sehr glücklicher Zufall. Ein hämisches Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Automatisch zog er mit einer Bewegung den Ohrstöpsel aus dem Ohr, weil die Musik ihn plötzlich störte.
Er wollte vielleicht gleich den Nachthimmel beobachten, aber gefunden hatte er etwas sehr viel besseres. Jo, diese kleine Diebin, die es verdient hatte, dass Steve sich mal ihrer annahm. Steve war aber nicht da, und das war auch ganz gut so. Das hier, das wollte Pete selbst erledigen, er wollte selbst mal Spaß haben. Deswegen wurde er auch immer schneller und rannte schließlich hinter ihr her, während er ihr nachrief, dass sie stehen bleiben sollte. Aber warum sollte sie das tun? Er würde genauso handeln wie sie. Wie ein Kaninchen Haken schlagen und einfach nur weg. Blöd nur, wenn es keinen Kaninchenbau ging, in den man sich retten konnte, weil Pete alle Verstecke vorher zugeschüttet hatte. Irgendwie so, auch wenn das ein seltsamer und nicht zutreffender Vergleich war.
Jo rannte, und Pete folgte ihr fluchend. Sie blieb nicht stehen, und das war für Pete vollkommen okay. Würde er sie heute nicht bekommen, dann eben ein anderes mal. Pete hatte Geduld, und irgendwann würde sie schon eingefangen werden.
Ob sich wohl auch jemand für ihn in die Luft sprengen würde? Ach, garantiert.

Pete wurde langsamer. Er rauchte wie ein Schlot, und hatte keine Kondition. Er konnte nicht mehr, und Schwitzen wollte er schließlich auch nicht. Also musste er zu einem Mittel greifen, das sie dazu bewegen würde, stehen zu bleiben.
Und wie geht das am besten? Wirf einer Frau das Schlimmste an den Kopf, das man einer Frau sagen kann.
„Jo, du Prostituierte!“ Er musste sie nicht mal bitten, stehen zu bleiben. Wie erwartet bremste Jo hart ab und fiel fast hin. Würde ihr auch mal recht geschehen. Weg rennen war schließlich im Leben noch nie die richtige Lösung. Schon, wenn Pete darüber mal nachdachte. Jo rannte sicherlich oft genug weg, und irgendwie war er damals ja auch selbst weggelaufen. Das allerdings war jetzt vollkommen egal.
Sie blieb stehen und Pete konnte nochmal tief durchatmen, damit er nicht keuchend zu ihr kam. Das würde schließlich den vollkommen falschen Eindruck hinterlassen und sie würde ihn nur auslachen. Respektlos war sie ja sowieso schon, und allein dafür sollte er ihr eine verpassen. Er aber war wundervoll erzogen wurden, und deswegen würde er ihre frage jetzt beantworten. Er hatte nämlich Anstand, im Gegensatz zu diesem kleinen Monstrum. Und allein dafür hatte sie schon eine verdient.
„Bist du doch.“ Also eine Prostituierte. Und er wusste das schließlich ganz genau, sie war nicht die erste, der ihr Körper egal war, solange sie ihren Stoff bekam. Sie war eindeutig eine Prostituierte, er hatte sie also nicht beleidigt sondern nur Tatsachen ausgesprochen.
Pete war jetzt bei Jo, und am liebsten wollte er sie in den Dreck schubsen. Aber das würde albern und schwul wirken. Ein Schlag mit Schmackes, das wäre besser. Aber vielleicht würde sie sich ja einsichtig zeigen, dann konnte er sich die Kraft sparen, und gleich doch noch in den Sternenhimmel schauen.
Erstaunt sah Pete dieses dreckige Ding wieder an, als es wirklich wagte, mit ihm zu sprechen. Wieso er sie nicht gleich Nutte nannte. Gute Frage eigentlich, aber darauf gab es nur eine richtige Antwort, und das würde sie ja wohl verstehen.
„Das ist ein Beruf wie jeder andere auch. Und Prostituierte ist wenigstens politisch korrekt.“ Als würde er hier rumlaufen und wahllos arme Frauen beleidigen. Die brauchten ihr Geld schließlich auch irgendwofür. Vielleicht um ihren großen Fernseher finanzieren zu können. Vielleicht für ihre schäbige Wohnung.
Vielleicht auch nur für einen Joint, um danach in den Sternenhimmel zu schauen.

Jo
War es das eigentlich wert? Das war eine Frage, die sich die Menschen viel zu oft im Leben stellten. War es das alles wert? Was hatte Jo von diesem Pete schon bekommen? Ein bisschen Crack dafür, dass er nicht allein einschlafen musste. Wenn Jo es recht bedachte, war es ihr das wert gewesen. Immerhin hatte Petes überhebliche Art sie ein wenig genervt, aber eigentlich hatte sie doch auch ein wenig Spaß gehabt. Und auch wenn es nicht so gelaufen war, wie sie es erwartet hatte, hatte es sich gelohnt, zu ihm zu kommen. Der Aufwand war es ihr wert gewesen. Und als sie aufgewacht war, und Pete noch schlief, da hatte sie sich eben noch ein bisschen was für unterwegs und später eingesteckt, aber was war schon dabei? Dann würde sie eben nicht zu Pete zurückkehren, sondern sich ein paar andere Dealer suchen, zugedröhnte Junkies bestehlen oder einfach die richtigen Clubs besuchen. Sie würde hier schon über die Runden kommen. Sie könnte eben nicht mehr zu Pete kommen und am besten würde sie in Zukunft auch das Viertel meiden, in dem er wohnte, damit konnte sie Leben. Das war es ihr wert. Die Menschen fragten sich viel zu oft im Leben, ob es das alles wert war. Lohnte es sich, dass man sich im Beruf immer nur mit unfähigen Kollegen und einem notgeilen Chef herumärgerte? - Die Frau im Café mit dem netten Perlenarmband, das sie sicherlich nicht vermisst. Musste es wirklich sein, dass man sich immer wieder das Auto des besten Freundes auslieh, weil man eigentlich zu geizig war, sich selbst eines zu kaufen, um Sprit zu sparen, von der Versicherung ganz zu schweigen, wenn man dafür immer mehr den Zorn jenes besten Freundes auf sich zog? - Der Typ an der Bushaltestelle, der an diesem Tag nicht das Auto bekommen und zu allem Überfluss auch noch sein Handy verloren hatte, das Jo gegen etwas Alkohol und zwanzig Dollar vorm Bahnhof eintauschte. War die neue Grillstelle mit Räucherofen es wirklich wert, dass es immer mehr Ärger mit den Nachbarn gab, die sich durch den Gestank und den vielen Qualm belästigt fühlten und einmal sogar schon die Feuerwehr riefen? - Die alte Dame im Park, die unachtsam genug gewesen war, um die teuren Manschettenknöpfe ihres Mannes wohl beim Entenfüttern mit den Krumen in den See geworfen zu haben. Musste man denn wirklich immerzu nur lernen, wenn man gute Noten haben wollte? Konnte man nicht einfach mal die Hausaufgaben vom Kursstreber abschreiben und ihn verprügeln, wenn er die Lösungen nicht rausrücken wollte? Musste man am Ende doch lernen, um nicht den Zorn der Lehrer auf sich zu ziehen, die irgendwann sicher hinter den Betrug kämen? - Der picklige Möchtegern-Womanizer, der seine Geldbörse erst gar nicht vermisste und schließlich davon ausging, sie einfach zuhause liegen gelassen zu haben. War es das eigentlich wert? War es das alles wert? Für Jo war Reue schon immer ein Zeichen mangelnder Entscheidungskraft gewesen. Und ihr war es das hier wert. Dieses ganze alberne Katz-und-Maus-Spiel. Ihr war es das wert.

Wenn es sein musste, hätte sie noch eine ganze Weile laufen können. Sie war geübt darin, auch wenn sie gerade hier eigentlich nicht mehr oft rennen musste. Manchmal tat sie es einfach, wenn sie sich in Sicherheit wog, um schnell bei ihren Sachen in der alten Lagerhalle zu sein und dort ihre Errungenschaften genauer zu betrachten. Manchmal tat sie es auch nur, weil ihr danach war. Wenn sie nachts allein im Park war und einfach nur rennen wollte. Ja, wenn Jo eines konnte, dann war es rennen. Und in einem Punkt war sie sich sicher, nämlich in dem, dass sie Pete hätte abhängen können, wenn sie es gewollt hätte. Denn vielleicht war er mehr oder weniger fit, aber er war eben abhängig. Er würde nicht so rennen können, wie Jo es oft tat. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie gekonnt und wenn es ihr nicht einmälig zu bunt geworden wäre, wäre sie wohl auch nicht stehen geblieben. Nicht hier, wo sie wie auf dem Präsentierteller stand und das auch noch in irgendeinem muffigen Hinterhof. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte, ob sie hier standen oder mitten im Zentrum dieses geliebten Drecklochs. Von Zivilcourage hatte man hier zumindest noch nicht gehört, so viel war klar. Das hielt sich hier in Texas wohl überall gleich. Zugegeben, er hatte sie doch etwas aus der Fassung gebracht. Nein, viel mehr hatte er sie in Erstaunen versetzt. Sie hatte keine Lust mehr, zu rennen, auch wenn sie noch gekonnt hätte. Sie könnten dem ganzen Spiel hier schnell ein Ende setzen, dann hätten sie das auch mal hinter sich und sie könnten glücklich und zufrieden weiter aneinander vorbei leben. Sie stand ihm doch nicht im Weg. Sie hatte seinen Weg nur einmal gekreuzt und ihr Abschied hätte ihm sagen müssen, dass es das letzte Mal gewesen wäre, ginge es nach ihr. Na, ihretwegen. Er nannte sie also Prostituierte, was formal so gar nicht stimmte. Nicht, dass sie eine feste Berufsbezeichnung gehabt hätte. Mal abgesehen davon, dass er so Unrecht vielleicht auch gar nicht hatte. Sie hatte mehr als einmal mit einem Mann geschlafen, um zu bekommen, was sie wollte, und das Vergnügen im Bett war das eher selten, das brauchte sie nicht. Und wenn Pete gewollt hätte, wäre sie mit ihm auch weiter gegangen - ihr war das doch egal. Doch wenn sie überlegt hätte und man sie nach einer Berufsbezeichnung gefragt hätte, hätte sie es wohl charmant ausgedrückt und ihre Haupteinnahmequelle benannt. Sie war Taschendiebin. Vielleicht auch Ladendiebin, aber eigentlich war sie meist draußen unterwegs. Oder sie stahl Taschen und Jacken und Geldbörsen in Läden. Sie war Taschendiebin und keine Prostituierte und auch wenn Pete das vielleicht nicht wusste, könnte er ihr doch sicherlich eigentlich ansehen, dass sie keines der Mädchen war, die nachts vorm Bahnhof standen und nur darauf warteten, dass man sie mitnahm. Sicherlich hatte er ein Näschen dafür. Er kannte sich hier doch aus.

Sie war keine Prostituierte und eigentlich ging sie davon aus, dass Pete das auch klar war. Also fragte sie ihn einfach mal, warum er nicht Nutte sagte. Oder Schlampe, oder Hure, die gängigen Begriffe eben, wie sie in Gedanken noch anfügte. Zu viel reden brachte ja nichts, er verstand auch so ganz gut, worauf sie hinauswollte. Dumm war er schließlich nicht, auch wenn Jo es ihm gerne unterstellen wollte. Dass er ein Buch hatte, erstaunte sie bis heute ja noch ein wenig. Obwohl er ihr mit seiner Wohnung weit voraus war. Wenn sie lesen konnte, warum sollte er es nicht können? Ganz gleich, dass Jo ihn um die Wohnung nicht beneidete. Sie liebte ihr Leben so, wie es war und eigentlich wollte sie ihre Zeit nicht mit solch sinnlosen Gesprächen vergeuden. Sollte er ihr also mal sagen, weshalb er nicht reden konnte, wie jeder andere hier auch. Und seine Antwort erstaunte sie dann wirklich. Skeptisch hoch sie die Augenbrauen an. “Seit wann interessiert es denn einen dreckigen Dealer, was politisch korrekt ist?” Fragte sie sich ja wirklich. “Und ich würde nicht sagen, dass ich eine Nutte bin.” Wäre ja noch schöner, wenn sie sich hier jetzt rechtfertigen müsste. “Leben ist Geben und Nehmen. Ich dachte eigentlich, das hättest du gemerkt?” Leise lachte sie, besann sich aber schnell wieder und neigte den Kopf leicht zur Seite, die Arme vorm Bauch verschränkt, als sie ihn wieder skeptisch betrachtete. “Also, Pete, was willst du?” Jo konnte sich ziemlich gut vorstellen, was er wollte. Doch genauso gut musste er sich doch vorstellen können, dass sie sein Zeug nicht mehr hatte. Dazu war das alles schon viel zu lang her. Ob es ihm das wert war? Warum machte er sich denn all diesen Stress, warum sprach er jetzt überhaupt noch mit ihr, wenn er doch wusste, dass es für ihn schlecht aussah? Ging es dabei jetzt um verletzten Stolz oder irgendwelche Dealerprinzipien? Wollte er nicht, dass die Sache bekannt wurde, wollte er seinen Ruf retten? Scheinbar war es ihm das alles wert. Nur brauchte er nicht erwarten, dass Jo bereuen würde, was sie tat. Denn wenn sie sich in diesem muffigen Hof so umsah und Pete betrachtete, dann wusste sie, dass es ihr all das hier wert gewesen war.


Pete
Manche Menschen froren als erstes an den Fingern. Sie spürten, dass das Blut sich aus den Händen zurück zog und merkten dadurch, dass es kalt um sie herum war. Der Körper konnte am besten auf die Zehen und die Finger verzichten, wichtig waren eben die Organe. Irgendwann berührten sie mit ihren kalten Fingern ihre nackte Haut und merkten dann erst, dass ihnen kalt war. Oder zumindest bald kalt werden würde. Manche Menschen hatten genau dieses Phänomen an ihren Zehen, aber eigentlich war es immer dasselbe. In diesem Fall merkte es aber meistens jemand anderes, das es kalt war. Natürlich, man fasste sich eher selten mit den Zehen an die Hand oder ins Gesicht.
Kälte war schrecklich. Manche Menschen froren als erstes an der Nasenspitze. Die Nase kühlte völlig ab und begann irgendwann zu tropfen. Das war vollkommen okay, weil die Nase sich wieder beruhigte, sobald es warm wurde. Frieren ist ein Zeichen des Körpers, dass es kalt ist. Und gegen Kälte kann man immer etwas machen. In manchen Bundesstaaten konnte man die Heizung anstellen, in Dallas konnte man die Klimaanlage etwas hinunter drehen.
Ein Problem aber war die Kälte, die Pete hin und wieder empfand. Es war die innere Kälte, die einen frieren ließ. Es war die innere Kälte, die einem eine Gänsehaut verursachte und auch wenn Pete wusste, dass er es wissen könnte, er konnte nicht wirklich sagen, wieso er unter dieser Kälte litt. Manchmal war er Gefühlskalt, manchmal brauchte er nur einen Menschen anzuschauen und seine kleinen Jünger taten die ganze Arbeit. Pete wusste, dass er anders sein konnte, und er wusste, dass sein Leben anders verlaufen wäre, wenn nicht.. Ja, wenn alles von Anfang an anders verlaufen wäre. Er wusste es, aber ändern konnte er daran nichts.
Pete war glücklich, aber manchmal war ihm eben so schrecklich kalt.

Gerade fror er. Er spürte, wie sie die feinen Härchen auf seinen dürren Armen aufstellten. Er bemerkte eher unterbewusst, dass er seine Arme vor der Brust verschränkte, vielleicht um sich selbst zu schützen. Vielleicht, dass ihm endlich mal wieder etwas wärmer werden würde. Auch, wenn er nicht fand, dass es hier besonders kalt war. Die Nacht war noch warm, und diese kleine Hinterhof war noch aufgeheizt von der Sonne, die den ganzen Tag auf das Pflaster schien. Es war angenehm hier, beinahe mollig. Und doch war ihm kalt. Vielleicht weil er wusste, dass er mit dieser Kleinen hier nicht reden wollte. Er würde es schaffen, natürlich. Aber das war es nicht, was er wollte. Er wollte ihr weh tun, er wollte sie vor Schmerzen schreien hören. Vielleicht, weil sie dann das vertonen würde, was so lange schon in ihm schrie. Es war seltsam, und vielleicht sah er diese kleine Rotzgöre jetzt auch leicht ausdruckslos an. Ihm war kalt, und ihre Worte gingen ihm schrecklich auf den Keks. Allein dafür wollte er ihr schon eine Ohrfeige verpassen. Er wollte sie schreien hören, sie sollte endlich mal ihren Mund halten. Und er wollte ihr weh tun, dafür brauchte er keinen Steve. Sie hatte ihn bestohlen, sie verdiente all diese Schmerzen. Fand Pete zumindest.
Deswegen legte er seine Stirn jetzt auch in Falten und starrte Jo beinahe schon frustriert an. Er hatte sie endlich gefunden und plötzlich wusste er nicht, was er zuerst machen sollte. Er wusste nicht, ob er erst mit ihr Reden und dann zuschlagen wollte, oder ob er es lieber anders rum tat. Eigentlich wollte er ihr weh tun, aber er müsste ihr dann doch seine Bedingungen nennen, sonst wäre das alles ja sinnlos.

Pete seufzte leise und schaute kurz in den hellen Nachthimmel. In dieser Stadt wurde es nie richtig dunkel, wahrscheinlich konnte er deswegen nie richtig einschlafen. Seit sie ihn beklaut hatte, war er wachsam und gingen allen damit auf die Nerven. Er fauchte seine armen und treuen Kunden an und hatte lieber seine Ruhe. Pete wollte eigentlich nur sein geliebtes Heroin wieder im Körper spüren, aber die Wut in ihm, konnte er jetzt gut nutzen. Und danach, wenn sie wimmernd in einer Ecke lag, dann könnte er sich selbst etwas Gutes tun.
Erst aber müsste er sie los werden, denn gerade ging sie ihm wirklich schrecklich auf die Nerven. Sie kotzte ihn an und Pete löste schon seine Arme aus der eigenen Umklammerung. Nur mit Mühe konnte er die Hand zurückhalten, die sie einfach nur schlagen wollte. Jo würde es vielleicht weh tun, aber sie würde diesen einen Schlag gut vergessen können. Er würde unwichtig, wenn Pete diesen ganzen Zorn mal zuließ.
Sie nannte ihn dreckig. Pete fragte sich ernsthaft, für was sie sich hielt. Sie schien der Meinung zu sein, sich alles leisten zu können, nur weil sie ihn beklaut hatte. Er hatte nicht aufgepasst, aber aus diesem Fehler hatte er gelernt. Er vertraute niemandem mehr, bis auf Steve. Und auch den beobachtete Pete immer mit Argusaugen. Jo hatte etwas zerstört und jetzt beleidigte sie ihn auch noch. Pete wollte es nicht, er wollte sich zurück halten und doch traf seine flache Hand auf ihre leicht kühle Wange. Er könnte so viel sagen, aber momentan fehlten ihm dann doch die Worte. Er musste sich schon jetzt auf das Wesentliche konzentrieren.
Er grummelte leise, als sie fragte, was er wollte. Dabei wusste sie es doch selbst eigentlich sehr gut. Sie würde seinen ganzen Stoff nicht mehr haben, also brauchte er das nicht verlangen. Pete war schlau, und er wusste, dass sie auch das Geld nicht hätte. Aber wie sie es besorgte war ihm egal. Und wenn sie Abends am Bahnhof stehen und sich verkaufen würde, das war ihm egal. Gerade ging es ihm nur um sein Geld und um mehr eben auch nicht. Der Rest war eben auch vollkommen unwichtig für ihn. In dieser Welt zählt eben nur Geld.
„Ich will mein Geld.“ Er bräuchte nicht reden, sie wüsste es doch sowieso. Deswegen hob er jetzt auch genervt eine Hand, weil sie ihren dreckigen Mund wieder aufmachte. „Ich will 200$ von dir, und du kannst mir glauben, dass ich es auch kriege. Ich würde ja glatt behaupten, dass ich dich umbringe und dein Zeug verkaufe, aber das ist es nicht wert.“ Das war sie einfach nicht wert.
Außerdem hatte er keine große Lust, als Mörder zu gelten. Ein Leben in Qual war eine bessere Strafe als der Tod. Dann bemerkte man davon ja nichts mehr.


Jo
Im Leben gibt es Optimisten und Pessimisten. Es gibt halbvolle Gläser und halbleere Gläser. Es gibt die, die alles beschönigen und die, die sich selbst alles madig machen. Und dann gibt es da noch Jo Scott. Das Mädchen, das gar nicht erst aus Gläsern trinkt und sich darum auch gar keine Gedanken darüber zu machen braucht, ob ihr Glas nun halbvoll oder halbleer war. Eine Realistin durch und durch. Warum sollte man auch zu viel nachdenken, wenn man sowieso nichts ändern konnte? Alles kommt, wie es kommt und nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Eigentlich verrückt, wenn man bedachte, dass die einzige warme Mahlzeit in ihrem Leben, an die Jo sich auch wirklich erinnern konnte, eine nicht einmal mehr lauwarme Erbsensuppe von irgendeinem dahergelaufenen Möchtegernwohltäter in Houston war. Damals war sie elf Jahre alt gewesen und hatte sich hinterher davon übergeben müssen. Ja, Jo nahm das Leben so, wie es eben kam. Leben für den Augenblick, so gut das eben möglich war, wenn man ihr Leben führte. So hatten ihre Eltern es ihr beigebracht, so kannte sie es, so liebte sie es. Doch wenn Jo ein Glas gewesen wäre, dann hätten Optimisten gesagt, dass sie halb leer war und Pessimisten hätten sie längst abgeschrieben. Und dann wäre da noch immer Jo Scott, die sich um Vergangenheit und Zukunft gar keine Gedanken machte und die gar nicht merkte, wie leer ihr Leben tatsächlich war. Und egal ob Optimistin, Pessimistin oder Realistin, so kannte Jo eigentlich doch nur ein Gefühl, das sie nicht zuordnete. Es war Gleichgültigkeit. Diese große, klaffende Leere, die sie erfüllte. War das nicht paradox? Erfüllende Leere? Wie gut, dass Jo über soetwas nicht nachdachte. Allgemein dachte sie nicht viel nach. Sie dachte nicht darüber nach, wie sie morgen an Essen kommen sollte. Wenn es soweit wäre, wüsste sie es und mit diesem Grundgedanken sparte sie sich ihre Zeit für andere Dinge auf. Dafür, sich zu überlegen, wie sie mal an so einen schicken Aktenkoffer kommen könnte, wie ihn die wichtigen Männer in noch wichtigeren Anzügen hatten, die ständig hektisch in irgendwelchen meterhohen Glaskästen ein und aus gingen. Dafür, auf die gestresste Bäckerin einzureden und so dafür zu sorgen, dass sie gar nicht merkte, dass sie ihr am Ende drei Brötchen zum Preis von einem halben verkaufte. Dafür, einfach mal zu diesem Pete zu gehen und zu gucken, was der Abend bringen würde. Leben für den Augenblick, so gut das eben ging. Doch im Augenblick sah Jo die Folgen der Vergangenheit, über die sie nicht nachdenken wollte. Und was hatte ihr all das gebracht, nichts als Ärger? Aber Jo war Realistin. Auch das würde vorübergehen. Und egal, wie leer ihr Leben war, im Augenblick war das Glas halbvoll.

Vielleicht ärgerte sie sich wirklich darüber, dass Pete jetzt hier war, dass sie in die falsche Richtung gerannt war und sie jetzt mit ihm reden musste, anstatt irgendetwas Anderes zu tun. Etwas, wonach ihr gerade war. Denn nach Smalltalk mit einem scheinbar überreizten Pete, der vielleicht nicht gut geschlafen hatte oder sich selbst auf Entzug setzte, war ihr gerade ganz sicherlich nicht. Danach wäre ihr auch niemals, so gut kannte Jo sich dann doch. Doch momentan hoffte sie auch, dass das für die Zukunft gar nicht wichtig wäre. Mit etwas Glück wäre diese hier ihre letzte Begegnung und sie könnten wieder getrost aneinander vorbei leben. Hatte immerhin siebzehn Jahre lang wundervoll funktioniert, oder? Was auch immer dieser Dealer sich eigentlich einbildete. Er sollte sich mal nicht so haben. Diese Stadt schien eine wahnsinnige Angst vor ihm zu haben, wenn Jo erzählte, dass sie ihn bestohlen hatte, dann würden sie ihn vielleicht kurz auslachen, ihm aber noch nicht einmal ins Gesicht sagen, dass er ein dreckiger Dealer war, dem das auch mal ganz Recht geschah, weil sie Angst hätten, dass er mit ihnen das machen würde, was er mit Jo machte. Auch wenn sie bei dieser Ohrfeige kaum mit den Wimpern zuckte. Sie biss vielleicht die Zähne zusammen und kniff kurz leicht die Augen zu, sah Pete dann aber doch recht Ausdruckslos an. Die hatte sie vielleicht verdient. Als sie sich in seiner Wohnung getroffen hatten, da hatte er wirklich nicht nach Rosenöl geduftet, aber seine Hand auf ihrer Haut hatte keinen Dreckfilm abgesondert. Und wenn sie nicht so schrecklich blass und viel zu blass für diesen Staat gewesen wäre, hätte man den roten Abdruck auf ihrem Gesicht, der sicherlich schnell wieder versiegte, gar nicht bemerkt. Wie sollte man aber auch braun werden, wenn man in der Nacht lebte? Sollte er mal seinen Trotz ausleben, ihr war das doch egal. Ja, die hatte sie vielleicht wirklich verdient und darum sagte sie auch nichts. Beeindrucken konnte er sie im Moment wirklich nicht. Er war ein Dealer und egal, wie groß er in dieser Stadt war, am Ende war er nicht wert, als jeder andere von diesen erbärmlichen Junkies, und das wusste er auch. Sie selbst war nicht besser. Aber anders als er, wusste sie sich noch zu benehmen, wenn sie gerade mal nicht auf irgendeinem Trip war. Gut, sie hatte ihn dreckig genannt, aber normaler Weise stimmte das. Und sonst fand Jo eigentlich, dass sie ein ziemlich nettes Mädchen war. Aber vor einer Weile hatte sie auch noch geglaubt, dass Pete ein netter Kerl war. Momentan glaubte Jo viel mehr, dass er ein kleiner Griesgram war, der sie jetzt ziemlich undefinierbar anschaute. Spaß verstand der wohl auch nicht, oder? Ihr war doch klar, dass er sein Geld wollte. Wollte Jo ihm jetzt auch erklären, nur wollte Pete das scheinbar nicht.

Na schön. Dann würde sie ihm eben nicht erklären, dass sie genaugenommen gar kein Geld von ihm gestohlen hatte und dass sie es ohnehin nicht mehr hätte, selbst wenn er es nun wiederhaben wollte. Er wollte sein Geld, na schön. Auch wenn Jo ihn ungläubig betrachtete, als er die Worte zweihundert Dollar formte. Endlich hatte sie ihn mal beeindruckt. Zweihundert Dollar, der Kerl war doch völlig abgehoben. Es war an der Zeit, dass er mal auf den Boden der Tatsachen zurückkehrte. Dann wäre ihm nämlich auch klar, dass seine Worte sie nicht treffen konnten. Er hatte ja Recht. Für ihren Kram würde er fünf, vielleicht zehn Dollar bekommen, wenn es hoch kam. Ein paar Zigaretten, ein paar Decken, abgetragene Klamotten und davon nicht sehr viele. Die würden sogar in der Altkleidersammlung aussortiert und verbrannt werden, war ihr doch egal. Und mit Sicherheit war Pete nicht der erste Idiot, der ihr mit dem Tod gedroht hatte. Den Mut hatten sie am Ende alle nicht. Ganz zu schweigen von einem wirklichen Motiv. Nein, diese Worte überhörte sie gepflegt, lächelte nur ruhig und atmete tief durch. “Also, Pete, zwei Dinge. Erstens habe ich dein Geld nicht. Und zweitens war das Zeug niemals im Leben zweihundert Dollar wert.” Das wusste er doch selbst, der Spinner. Wenn er fair spielen wollte, okay. Auch wenn Jo sich nicht sonderlich unfair fand. Vorsicht war immer besser als Nachricht, eigentlich sollte er ihr dankbar dafür sein, dass er diese Lektion jetzt vielleicht endlich mal gelernt hatte. Gut, dann war er ein undankbarer, dreckiger Dealer und wollte, weil er doch noch klug genug war, um zu wissen, dass sie den Stoff längst nicht mehr hatte, zumindest den Gegenwert. Aber selbst dann käme er auf siebzig, achtzig, vielleicht hundert Dollar. Aber niemals zweihundert. Eigentlich wollte Jo ihn nicht als dumm bezeichnen, aber Mathematik schien nicht seine Stärke zu sein. Oder er hatte Wucherpreise. Dass Jos Rechenkünste sicherlich nichteinmal an seine heranreichten, tat dabei ja gar nichts zur Sache. Wenn es ihm ums Prinzip ging, dann sollte er auch die Ehre haben und realistisch bleiben. So oder so würde er von ihr nicht einen einzigen Dollar sehen. Es war weg, alles weg. Und Jo hatte nicht vor, sich das alles wiederzuholen. Nicht für ihn.


Pete
Gleichgültigkeit ist eine seltsame Angelegenheit, wie Pete fand. Immer wieder wurde einem zum Vorwurf gemacht, dass man zu gleichgültig ist. Als er sechszehn Jahre alt war, hatte er in der Highschool eine Freundin. Es ist diese klassische Highschool-Liebe, die jeder Amerikaner mal hatte. Wahrscheinlich war es einfach der Druck der Gesellschaft, der ihn dazu trieb. Der Druck seiner Mitschüler, denn man musste ja normal sein, und Pete wünschte sich auch nichts anderes. Obwohl er sehr genau wusste, dass er niemals normal werden würde, dazu war seine ganze Familie einfach zu verkorkst. Es lag ja nicht nur an seinem prügelnden und saufenden Vater, oder an der toten Mutter. Es lag auch am Rest der Familie, die alle einfach nicht ganz richtig im Kopf waren. Fand zumindest Pete. Damals hatte er dunkelblonde, kurze Haare zu blauen Augen. Er konnte lachen, aber tat es eher selten. In Petes Augen gab es nichts, worüber man lachen sollte. Das Leben war immer schon zu grausam gewesen, als dass man lachend in Burger-Läden sitzen sollte. Fand zumindest Pete. Und so warf man dem unscheinbaren, aber hübschen Pete immer wieder vor, dass er zu gleichgültig sei. So wirklich konnte er damit auch nicht umgehen, weil er nicht wusste, was daran so schlimm sein sollte. Wenn man gleichgültig ist, dann lässt man nicht alles an sich heran. Pete war lieber gleichgültig als ignorant. Er wollte nicht ignorieren, was um ihn herum geschah. Und das konnte er auch nicht. Wenn er das Kind nebenan wieder schreien hörte und dabei noch die Mutter, die leise wimmerte, da wusste Pete, was los war. Er konnte darüber hin weg sehen, indem er gleichgültig war. Es ging ihn doch gar nichts an, was da draußen los war. Aber er konnte nicht neben seiner Zahnspange tragenden, in der Band spielenden Nerd-Freundin sitzen und über die neuste Sitcom um Fernsehen lachen. Das ging nicht, das konnte er irgendwie nicht mit seinem leise in ihm brodelnden Gewissen vereinbaren. Pete konnte vielleicht weg sehen und nichts sagen, wenn er seine Nachbarn traf. Aber er konnte auch nicht an andere, völlig nichtige, Dinge denken.

Pete war auch jetzt gleichgültig. Und wenn er an seine Freundin von damals zurück dachte, die ihm immer und immer wieder sagte, dass er zu gleichgültig war, dann musste er schmunzeln. Er erinnerte sich noch genau an ihren Namen – Amy-Mary – und an die Art, wie sie ihn verlegen küsste. Das alles begann damit, dass Pete sie einfach mal ansprach. Er wusste, dass er eine Freundin brauchte, und deswegen suchte er sich eine aus, die zu ihm passen würde. Pete war damals nicht wie jetzt. Er war unscheinbar und blass. Pete fiel nicht auf und konnte doch wahnsinnig schnell rennen. Und deswegen sprach er Amy-Mary nach ihrem Mathekurs an. Der Schulball stand kurz bevor, und Pete sollte vielleicht mal hingehen. Wenn er sich normal benahm – ob er es nun war, sei einfach mal so dahin gestellt – desto zufriedener war sein Vater mit ihm. Außerdem war Amy-Mary ja auch ein süßes Mädchen, wenn sie mal nicht ihre alberne Banduniform trug. Denn die fand Pete nun wirklich unter aller Sau. Pete war es egal, wie verliebt sie am Ende in ihn war. Er hatte sie gewählt, weil er wusste, dass sie mit ihrer festen Zahnspange nicht sehr beliebt war. Sie war das wahnsinnig schlaue Mädchen, mit dem eben nur die Nerds befreundet sein wollte. Oder mussten, das wohl eher. Gleich und gleich gesellt sich gern, und Pete gesellte sich dazu, weil es ihm egal war mit wem er aß.
Pete musste genau jetzt daran denken, wie sie neben ihm auf seinem schmalen Bett saß und ihm sagte, dass er zu gleichgültig sei. Das war ihr einziges Problem mit ihm, was ja eigentlich für ihn sprechen müsste. Jetzt aber hätte sie noch andere Probleme, schließlich trug sie in ihrer Freizeit gerne Leinen, und Pete war es egal, wofür Tiere starben. Er trug eine Lederjacke, weil er sie tragen konnte und weil er sie sich leisten konnte. Pete lebte nicht schlecht, und das wahrscheinlich, weil er zu gleichgültig war. Deswegen sollten ihm jetzt auch die Worte der kleinen Diebin egal sein. Es wäre ihm egal, wenn nicht wahnsinnig viele Faktoren zusammen spielen würden. Nichts ist so einfach, wie man denkt. Nichts geschieht aus einem einfachen Grund, es spielen immer mehrere Faktoren mit. Wenn Pete sich nur mit ihr unterhalten würde, dann würde er reden und sich schnell langweilen. Er würde ihr ruhig etwas von Zinsen erklären. Das Problem war aber, dass Pete sowieso schon in einer aggressiven Grundstimmung lebte. Und dann hatte er noch das Problem, dass er vielleicht noch nicht wirklich auf Entzug war, aber sich schon nah dran befand. Er brauchte sein Heroin und das sein Herz jetzt wütend etwas schneller schlug, half ihm da nicht weiter. Eher im Gegenteil. Und das ärgerte ihn gerade wahnsinnig, soviel zur Gleichgültigkeit.

Jo also wurde frech. Pete könnte ihr ruhig etwas von Zinsen erklären. Aber das konnte er gerade nicht. Stattdessen ließ er seinen Körper einfach mal machen. Was geschehen sollte, musste eben geschehen. Deswegen legte sich seine Hand automatisch an ihren Hals, direkt an ihre Kehle. Pete wirkte vielleicht schwächlich, auch damals in der Schule schon, aber er hatte Kraft. Und so konnte er dieses kleine Monster an eine raue Hauswand schieben und ihr mit einem knurrenden Unterton in der Stimme erklären, dass sie das verdient hatte. Mit den 200 Dollar würde sie auch seine Arbeit bezahlen, die er dank ihr hatte. Er hatte Zinsen und wenn man ihn bestahl, musste man dafür eben büßen. Das würde sie doch verstehen, blöd war sie sicherlich nicht. 200 Dollar waren vielleicht viel Geld, aber Pete wollte es haben. Und wenn sie es nicht hatte, dann musste sie es eben besorgen. Genau das sagte er ihr jetzt auch, ehe er von ihr abließ. Für ihn war die Sache erledigt. Er hatte gesagt, was gesagt werden musste, und wenn sie klug genug war, würde sie ihm einfach das Geld besorgen und hätte dann ihre Ruhe vor ihm. Er misstraute ihr vielleicht, aber er würde sie vergessen, sobald er ihr Geld hatte. So fair war Pete dann eben doch. Oder gleichgültig, das könnte natürlich auch sein.

Die Kleine schien nicht klug zu sein, denn sie quäkte ihm ins Wort. So war es kein Wunder, dass Pete nicht mehr an sich halten konnte. Er ließ all die Emotionen raus, alles entlud sich in ein paar wenigen Tritten.
Und dann war es auch vorbei. Pete trat ein paar Schritte zurück und atmete schwer, aber tief durch. Langsam beruhige er sich wieder. Deswegen spuckte er noch einmal auf sie. Traf aber nur den staubigen Boden des Hinterhofes. Zielen war vielleicht gerade doch nicht so sein Ding, aber das war gar nicht so schlimm. Es war die Geste, die zählen sollte.
Er wollte ihr noch sagen, dass er verdammt noch mal sein Geld haben wollte. Doch während er den Mund öffnete, wandte er sich um. Ein junger Mann näherte sich ihnen mit einer gelben, prall gefüllten Mülltüte in seiner linken Hand. Rechts hielt er einen Schlüssel. Also warf Pete noch einen letzten Blick auf das kleine Monstrum und wandte sich dann zum gehen.
Während er an dem jungen Mann, der ihn etwas dümmlich anschaute, vorbei ging, klopfte er ihm auf die Schulter. Der würde sicherlich gleich einen Krankenwagen oder so rufen. Gut, dass Menschen dann doch etwas Anstand besitzen und sich um andere Menschen kümmern. Das sind vielleicht Menschen, die in Burgerläden sitzen und lachen. Aber das sind eben auch Menschen, die die Polizei rufen, wenn nebenan ein Kind misshandelt wird.
Pete aber war mit seiner Gleichgültigkeit sehr zufrieden.


Im Krankenhaus


Jo
Gerechtigkeit. Was war eigentlich Gerechtigkeit? Fanden ein paar Polizisten sich gerecht, weil sie auf Verdacht ein paar Jugendliche zusammenschlugen, nur um später festzustellen, dass sie das Zeug in ihren Taschen wirklich nur ein, zweimal geraucht hatten und nicht verkaufen wollen? Immerhin hätten sie ja gar nicht zuschlagen müssen, weil die Jugendlichen viel zu eingeschüchtert gewesen wären, um sich gegen die Polizei als eine höhere Macht aufzulehnen. Fanden die Wohltäter vom roten Kreuz sich gerecht, weil sie den Familien ihre Klamotten abknöpften und sagten, sie würden die spenden, obwohl sie schließlich nur aussortiert, weggeworfen und zurückbehalten wurden, wenn sie noch zu gebrauchen waren? Fand die Regierung es etwa gerecht, zuzulassen, dass sie in einer Klassengesellschaft lebten, die krasser nicht hätte ausgelebt werden können? Fanden die kleinen Grundschullehrerinnen mit ihren Püppchengesichtern es etwa gerecht, dass sie nur den Kindern etwas beibrachten, die Eltern hatten, die ihnen das Geld in ihre dreihundert Dollar-Ärsche pusteten? Und dass sie dabei auch noch ihre Lieblinge hatten? Fand die Bahnhofsmission es etwa gerecht, irgendwelche armen, abhängigen Seelen vor der Polizei auffliegen zu lassen, damit sie im Knast verrecken konnten? Fanden die aufgepumpten Kaufhausdetektive es denn gerecht, nach Lust und Laune irgendwelche Mädchen abzutasten und Jo dabei vollkommen zu ignorieren, die als einzige aus dem Laden stolzierte, ohne etwas bezahlt zu haben? Vielleicht wollte man sie ja nicht abtasten, weil sie eigentlich nicht stolzierte, weil sie gar nicht stolzieren konnte. Jo war das doch egal, sie hätte besagtem Detektiv in die Weichteile getreten und ihm erklärt, dass sie sich sexuell belästigt fühlte. Sie hätte die Vergangenheit irgendeines missbrauchten Kindes anklingen lassen und er hätte sich bei ihr entschuldigt und sie nie wieder angerührt. Man kannte das doch alles. Man erlebte genug, wenn man den ganzen Tag auf den Straßen irgendwelcher texanischer Großstädte unterwegs war. Ja, gewissermaßen entwickelte man sich in diesem Leben kreativ immer weiter. Was war eigentlich Gerechtigkeit? Fanden diese ganzen gerechten Menschen sich wirklich so gerecht? Und Robin Hood war dann der Rächer der Gerechten? Für Jo Scott war Robin Hood auch nicht mehr, als ein jämmerlicher Dieb und ihr war das doch egal. Sie kannte Robin Hood nur von irgendwelchen Kinoplakaten, für sie verstarb nicht die Illusion irgendwelcher Kindheitshelden, die sie nie gehabt hatte. Nein, Robin Hood war ein jämmerlicher Dieb und kein Deut besser als sie und wenn die ungerechte Oberschicht dann zurückschlagen wollte, dann war das nur gerecht. Was bedeutete Gerechtigkeit denn dann nun? Wohltat, Wohlwollen, Wohlergehen? Gutmenschsein, helfen, Zivilcourage. Sie waren in Dallas. Dallas war nicht gerecht. Dallas war gar nicht dafür gemacht, gerecht zu sein. Manchmal hatte man verdient, was das Schicksal einem brachte und manchmal eben nicht, aber so war das dann halt. Dallas war nicht gerecht. Und Jo befürchtete, dass sie das hier verdient hatte.

Viel erkannte Jo nicht, als sie ihre Augen öffnete. Nur einen Spalt breit. Sie erkannte Licht und ein paar schemenhafte Umrisse, mehr war da nicht. Und dafür lohnte es sich doch nicht, die Energie aufzuwenden, die Augen offenzuhalten, oder? Sie merkte schnell, dass sie nicht da war, wo sie sein sollte. Wo auch immer das sein sollte. Im Park vielleicht oder in der Lagerhalle, in der ihre Sachen lagen. Eigentlich gab es da keinen festen Platz. Aber dieser sterile Geruch und dieses künstliche Licht verrieten Jo, dass sie hier nicht sein sollte. Sie wusste, dass sie hier weg wollte, aber für den Augenblick fehlte ihr die Kraft, sich aufzulehnen. Sie fühlte sich müde und erschöpft, ein wenig benebelt, obwohl sie sich sicher war, dass sie nichts genommen hatte. Die Erinnerung kehrte nur langsam zurück. Während Jo sich in ein absurd weiches Nichts fallen ließ, kniff sie nachdenklich die Augen zusammen. Sie dachte nach, wollte wissen, wie sie hierher geraten war. Langsam kamen die Bilder zurück. Die dunkle Gasse, der Hinterhof, jedes Klischee eines schlechten Krimis war gedeckt. Der Dealer war da, nur der Junkie fehlte. Zumindest gehörte sie ihm nicht. Sie konnte sich auch ganz gut ohne Pete durchschlagen. Ja, so langsam erinnerte sie sich. An seine Hand an ihrer Kehle, an die Wand irgendeiner Garage. Die Bilder wurden in dem Moment schwammig, in dem Jo sich stürzen sah, geradewegs gegen den Griff der Metalltür. Wenn sie es sich recht überlegte, tat ihr Kopf wahnsinnig weh, er dröhnte fast und wenn sie ihre Augen nochmal einen leichten Spalt öffnete, dann sah sie, dass irgendetwas Weißes auf ihrer Nase war. Doch davon wollte sie sich nicht ablenken lassen. Die Bilder kamen langsam zurück, aber sie kamen und immer deutlicher spürte Jo, wie schwer ihr das Atmen fiel, wie weh es tat. Das letzte, woran sie sich erinnern konnte, war der blutige Geschmack, der ihr von der Nase direkt in den Mund gelaufen war und Petes Schritte, die langsam verhallten. Wenn sie es sich also recht überlegte, war sie wohl in einem Krankenhaus. Eines dieser Gebäude, dass sie noch nie zuvor von innen gesehen hatte. Zugegeben, viel sah sie im Moment auch nicht. Sie hatte keine Lust, die Augen zu öffnen, es war zu anstrengend. Zu anstrengend war es auch, darüber nachzudenken, dass sie den Leuten hier garantiert nichts bezahlen würde. Sie hatte niemanden darum gebeten, sie hier her zu bringen. Sie hätte sich auch allein wieder aufgerafft, das hatte sie schon so oft getan. Denn im Gegensatz zu den Menschen hier drin, konnte sie nicht nur groß reden. Sie wusste, wie das Leben da draußen war und sie wusste, wie viele Menschen da draußen einsam starben oder sich mit Wunden herumschlugen, die sicherlich schlimmer waren als ihre. Pete hatte sich ein wenig an ihr ausgetobt, na gut. Aber sie hätte sich nicht hierher geschleppt. Krankenhäuser bedeuteten Versicherungen, die sie nicht hatte und am Ende gäbe es Ärger mit irgendwelchen Behörden und sie könnte zusehen, wie sie aus der Nummer wieder rauskam. Ja, Jo riss sich mal ein wenig zusammen und versuchte, ihre Augen zu öffnen. Und dann würde sie gleich aufstehen und gehen, wohin auch immer. Irgendwohin, wo man sie in Ruhe ließ.

Momentan schien es ihr nicht vergönnt zu sein, ihre Pläne einfach mal so in die Tat umzusetzen, wie sie sich das vorstellte. Lästiges Pack um sie herum. Gereizt kniff Jo ihre Augen wieder zusammen, zischte leise, weil sie sich tatsächlich etwas erschrocken hatte. Musste diese schrille Frauenstimme, die so ungesund süß roch, auch so laut reden? Und was redete sie überhaupt für einen Schwachsinn von irgendeinem Freund? Jo hatte keine Freunde. Und vor allem hatte Jo keinen Freund. Es gab ein paar Menschen, an die sie sich wandte, mit denen sie hin und wieder teilte, aber Freunde würde sie die nicht nennen. Ab und an schlief sie mit irgendwem, so war das Leben doch. Aber verdammt nochmal, sie hatte keinen Freund und diese Frau wusste doch rein gar nichts über sie. Wie kam sie also auf diese idiotische Idee? Eigentlich wollte Jo sie anschnauzen, ihr sagen, dass sie sich verpissen und sie in Ruhe lassen sollte, weil sie jetzt eigentlich nur noch aufstehen und gehen wollte. Sachen packen brauchte sie ja nicht. Sie hatte keinen Freund. Aber das sagte Jo nicht. Dazu fehlte ihr einfach die Kraft und die Motivation. Stattdessen riss sie sich nun also wirklich mal zusammen, knurrte nur etwas genervt und sah sie mit müden Augen an. Ja, Jo bemühte sich sogar, sich ein wenig aufzurichten und sich auf ihren aufgeschürften Ellenbögen abzustützen. Ihr Blick sollte fragend wirken, aber dieses dumpfe Gefühl im Hinterkopf verriet ihr, dass ihr das nicht gelingen würde. Und dann war es ganz plötzlich auch egal. Denn ihr Magen zog sich unsanft zusammen, als da eine unscharfe Gestalt hinter der pummligen, viel zu stark geschminkten Duftwolke auftauchte. Das Bild wurde immer klarer. Und hätte Jo geglaubt, dass es ihr nicht noch dreckiger gehen könnte, was sie aus der Erfahrung heraus einfach nicht getan hätte, dann wäre sie jetzt vom Gegenteil überzeugt worden. Denn dieses merkwürdig schiefe Lächeln, das ließ sich ganz leicht zuordnen. Pete. Und irgendwie hatte Jo gerade wirklich keine Lust mehr. Also ließ sie sich wieder zurück in das absurd weiche Nichts fallen und schloss leise stöhnend die Augen. Wenn sie ihn nicht sah, dann sah er sie vielleicht auch nicht und würde wieder gehen. War Jo doch egal. Hauptsache, sie sah ihn nicht. Was er tat, interessierte sie nicht. Er sollte sie nur in Ruhe lassen.


Pete
Bereuen. Pete konnte sich nicht wirklich daran erinnern, jemals etwas bereut zu haben.
Worte, natürlich. Wenn er mit sieben Jahren etwas Falsches sagte und sein Vater deswegen ausflippte. Pete war dumm und wenn man mit sieben Jahren fragt, wo die Mutter ist, oder was genau eine Prostituierte macht, dann bereut man es danach. Obwohl Pete lange Zeit nicht wusste, dass es Prostituierte heißt. Sein Vater nannte es immer Nutte, und Pete wusste nicht, was das ist. Er fragte Lehrer, was das ist, und die waren entsetzt. Und dann musste sein Vater ihn abholen und verprügelte ihn meist schon auf dem Weg zum Auto. Pete bereute viele Dinge, als er klein war, und er lernte, sich zurückzuhalten. Er lernte, erst nachzudenken, ob man nun etwas sagen sollte, oder nicht. Einmal sagte er seinem Vater, dass er ausziehen wollte, und zwar so schnell wie möglich. Einmal ging er wirklich zu einer Jugendschutzgesellschaft in seiner Stadt und bat um Hilfe. Er erzählte, dass sein Vater ihm schlug und wie schrecklich es zu Hause ist. Er bat darum, nicht seinen Vater anzurufen. Aber sie taten es natürlich trotzdem, weil sie meinten, dazu verpflichtet zu sein. Sein Vater kam und brach ihm den Arm, als er Pete aus dem kleinen Büro zerrte. Eine schmächtige Frau konnte nichts gegen Petes Vater ausrichten, sie versuchte Pete festzuhalten. Und sie rief die Polizei, aber die kam erst, als Pete schon heulend im Auto saß. Pete hatte in seinem Leben schon viele Dinge bereut, und wenn er mal so darüber nachdachte, dann müsste er die ersten achtzehn Jahre seines Lebens bereuen. Er hatte es sich nicht ausgesucht, und das wusste er. Aber trotzdem bereute er es.
Pete bereute viele Dinge, ohne dass er darüber sprechen musste. Jetzt bereute er, dass er die kleine Diebin verprügelt hatte. Obwohl das so auch wieder nicht stimmt. Er bereute es nicht, sie hatte es wirklich verdient. Aber es tat ihm Leid, dass sie gestürzt war und danach schrecklich aus der Nase blutete. Pete fand es nicht schlimm, dass sich mal jemand die Nase brach. Das war das Natürlichste der Welt und er selbst hatte sich schon mehr als einmal die Nase gebrochen. Das war nicht schlimm. Aber er wollte nicht ihre schöne Nase ruinieren, deswegen hatte er nur auf ihren Oberkörper eingetreten. Sie sollte mit jedem Atemzug an ihn denken, aber hässlich sollte sie wirklich nicht werden.
Und genau deswegen tat es ihm leid. Bereuen war wohl das falsche Wort. Pete hatte sich vorgenommen, niemals wieder etwas zu bereuen. Nie wieder.

Pete hatte sie verprügelt, jetzt aber musste er dafür sorgen, dass er sein Geld wirklich bekommen würde. Also fuhr er nach Hause, verschaffte sich endlich Seelenfrieden und konnte sich erneut an die Arbeit machen. Er fuhr zu diesem ‚Tatort‘ zurück und klingelte an allen Türen, bis er den Müllmann fand. Und den fragte er jetzt also so höflich er konnte, wo die Kleine denn hingebracht wurde. Er musste den Eindruck machen, dass es ihn wirklich interessiert. Obwohl, es interessierte ihn ja. Nur lag dieses Mädchen ihm nicht sonderlich am Herzen. Mit einem Lächeln dankte er und fuhr ins Medical Center. Das hätte er sich auch denken können, schließlich war das auch gar nicht so weit entfernt von Ort der bösen Tat. Und es sparte wirklich erheblich Benzin, wenn man ins nächste Krankenhaus fuhr und nicht erst mal jemanden mit ein paar gebrochenen Rippen durch die ganze Stadt kutschierte. Wieso auch immer man jemanden ins Krankenhaus bringen musste, der sich nur ein paar Rippen gebrochen hatte. Das würde sowieso schon wieder von allein zusammen wachsen. So ging das Geld der armen Steuerzahler verloren. Gut, dass Pete es nicht einsah, Steuern zu zahlen. So sparte er wahnsinnig viel Geld, und richtig Arbeiten ging er ja auch nicht. Wieso also sollte er Geld an den Staat zahlen. Die Staatsgewalt war ihm sowieso eher lästig. Polizei kommt immer genau dann, wenn man sie gar nicht gebrauchen kann. Lästiges Pack!

Im Krankenhaus sprach er sofort eine Krankenschwester an und bemühte sich, sehr verzweifelt zu wirken. Seine Freundin wurde eingeliefert. Mit zerzausten, braunen Haaren. Ziemlich klein und noch sehr jung. Die Krankenschwester wirkte skeptisch, aber schickte ihn schließlich doch auf eine Station, wo eine pummelige und stark nach künstlichen Blumen riechende Schwester ihn zu einem Zimmer führte. Sie war ungefähr so groß wie er, aber dreimal so breit. Er wunderte sich wirklich, dass sie noch arbeiten konnte und durch die Zimmer passte. OP-Schwester werden war sicherlich immer ihr heimlicher Wunsch, aber den konnte sie sich nie erfüllen, weil sie einfach nicht in den Operationssaal passte. Arme Krankenschwester, ein wenig tat sie Pete dann doch leid. Irgendwie. Sicherlich bereute sie jetzt täglich, als Kind soviel Schokolade in sich hineingestopft zu haben und jetzt keine Diät durchzuhalten. Sobald sie aber zur Seite trat, konnte Pete sie auch wieder aus seinen Gedanken streichen und sich komplett auf die kleine Diebin konzentrieren, die schwach im Bett lag. Sie hatte ihn gesehen, aber schloss wieder die Augen. Sie brauchte hier gar nicht zu übertreiben, so schlimm war das nun auch wieder nicht. Er hatte sich selbst schon mehrmals die Rippen gebrochen und er lag nicht leidend und einem Krankenhausbett. Ja, und litt. Pete zog einem Stuhl zu ihrem Krankenbett und ließ sich darauf fallen. Kurz überlegte er, ob er sich aus der Lederjacke schälen sollte, aber dann ließ er es doch lieber. Er hatte sie auch zu Hause halb anbehalten und nur seinen Arm freigelegt. Jetzt war er gut gelaunt und entschloss sich, die Jacke anzulassen. Lange wollte er schließlich nicht bleiben, dazu gab es keinen Grund. Er würde Jo sagen, was Sache war, und dann würde er nach Hause gehen. Schließlich wollte er sich noch den Sternenhimmel anschauen, also musste er vor Ende der Nacht hier raus sein, damit er noch ein paar Sternbilder erkennen konnte. Er saß also neben ihrem Bett und legte seine kühle Hand auf ihre warme Stirn. Sie war zurecht warm, schließlich war es hier drin wahnsinnig heiß. In Krankenhäusern wollte man die Patienten auf gar keinen Fall frieren lassen, also schmiss man sogar hier in Dallas die Heizung an. Pete fand das unsinnig, wollte aber lieber an wichtigere Dinge denken. Deswegen zwang er sich zu einem Lächeln und strich Jo eine dreckige Haarsträhne aus der Stirn.
„Du siehst schrecklich aus!“ Beinahe konnte man ein Lachen in seiner Stimme mitschwingen hören. Schrecklich sah sie wirklich aus, aber trotzdem würde er nicht bereuen, was er hier getan hatte.
„Wer hat die das angetan Kleine? Ich sag dir.. ich bring ihn um!“ Niemand hatte das Recht, unschuldige Mädchen zu verprügeln und ihnen die hübsche Nase zu brechen. Aber zu ihrem Leidwesen war sie eben nicht unschuldig, und deswegen hatte sie das verdient. Mehr als nur verdient. Das konnte man ihr so aber nicht sagen, wenn ihr noch eine alte Dame im Zimmer lag, die die beiden lächelnd beobachtete. Also musste er auf liebenden Freund machen. Er hatte warmes Heroin im Blut, also fand er die momentane Situation einfach nur witzig.
Er beugte sich zu ihr und küsste sie leicht auf die Wange. „Wenn ich in zwei Wochen mein Geld nicht habe, bringe ich allerdings dich um. Das klingt wie eine leere Drohung, ich weiß. Aber ich meine es ernst! Ich bringe dich um, weil ich keinen Bock auf Stress wegen eines unwichtigen kleinen Mädchens habe.“ Sie war es ja nicht mal wert, dass er mit ihr sprach. Dann aber setzte er sich ruckartig auf. „Das mit deiner Nase tut mir aber ehrlich leid. Und wenn sie hässlich zusammen wächst, dann bezahle ich die eine Operation. Das war nämlich wirklich keine Absicht!“ Eine Operation, an der die arme Krankenschwester ja nicht teilnehmen konnte. Die Arme, sicherlich würde sie wirklich bereuen, nicht abgenommen zu haben, jetzt wo sie Hand an Jo anlegen dürfte.


Jo
Ob Pete einen Plan hatte? Jo fand, dass Pete nicht wie jemand aussah, der plante. Er hatte auf sie nie gewirkt wie jemand, der plante. Dass seine Junkies kamen, das wusste er, das plante er nicht. Er hatte nicht mit eingeplant, mal von einem der Mädchen bestohlen zu werden, die er mit in sein Schlafzimmer nahm. Insgeheim war Jo auch ganz klar, dass er nicht geplant hatte, auf sie einzutreten. Vielleicht würde er tatsächlich eine Weile nach ihr gesucht haben, aber als er sie gesehen hatte, hatte es zu lange gedauert, bis er lief. Jo wusste, dass er überrascht gewesen war. Pete wirkte nicht wie jemand, der einen Plan hatte. Er wirkte nicht wie jemand, der einen Plan hatte, als er auf diesem Hinterhof mit ihr sprach, wenn man es so nennen wollte. Vielleicht wusste er, was er wollte, aber er wirkte nicht so, als hätte er schon einen Plan, um das auch so bekommen. Und dass er schließlich auf sie eingetreten hatte, das war Wut gewesen und Trotz und vielleicht auch ein bisschen verletzter Stolz, ein paar Entzugserscheinungen vielleicht, da hatte viel zusammengespielt. Jo hatte ihn provoziert und am Ende konnte sie vielleicht zufrieden damit sein, dass es gewirkt hatte. Wenn sie nicht die leidtragende Person gewesen wäre. Eigentlich litt Jo kaum. Wenn es nach ihr ginge, würde sie aufstehen und gehen. Die würde sich selbst entlassen. Die Sachen müsste sie ja nicht mal packen, die hatte sie nicht. Sie würde aufstehen und gehen und nie wieder hier her kommen. Warum auch? Einfach aufstehen und gehen, das war Jos Plan. Eigentlich war Jo auch niemand, der Pläne hatte. Und Pete auch nicht, da war sie sich sicher. Vielleicht lag es einfach an dem Leben, das sie führten. Vielleicht konnten sie einfach gar nicht planen, oder sie brauchten es einfach nur nicht zu tun. Wofür hätte Jo auch planen sollen? Für wen, für welches Ziel? Was sollte sie planen, ihr Leben? Sie lebte in den Tag hinein, sie klaute, wenn sie etwas brauchte oder wenn ihr danach war, wenn sie etwas wollte, dann nahm sie es sich und wenn das nicht so einfach ging, dann kämpfte sie sich eben durch. Sie war hartnäckig und geschickt und eigentlich auch vorsichtig genug, um sich später nicht mehr von Leuten wie Pete erwischen zu lassen. Wie es schien bestätigten Ausnahmen also tatsächlich die Regel. Und Pete? Der konnte seinen Alltag doch gar nicht planen. Sicherlich hatte man als Dealer keinen Alltag. Die wenigsten Junkies hatten einen wirklichen Rhythmus. Sie merkten, wann das Wochenende kam, wenn sie noch zur Schule gingen oder wider Erwarten arbeiteten und feierten dann. Aber ein Dealer hatte die ganze Woche lang zu arbeiten, Sonntage zählten nicht und die wenigsten Junkies hatten einen festen Tag in der Woche oder im Monat oder sonst wann, um immer die selbe Menge des selben Stoffs zu kaufen. Was sollte Pete also planen? Er würde wissen, was gut ging und offenbar wusste er für gewöhnlich auch, wie er sein Geld bekam und wie er sich durchsetzen konnte. Wenn es um Jo ging, hatte sie bisher immer den Eindruck gehabt, er hätte keinen Plan. Jetzt war er hier und Jo war sich da gar nicht mehr so sicher. Vielleicht wollte er einfach nur mal triumphierend nachsehen, was er da bei ihr so angerichtet hatte, ja, wohlmöglich erfüllte ihn das jetzt alles einfach nur mit einer perversen Freude, die Jo sonst wo vorbeiging. Oder Pete hatte einen Plan.

Bisher wollte Jo sich da nicht festlegen. Sie hatte keine Ahnung, ob es für ihn leicht oder schwer gewesen war, sie hier zu finden. Alles, was Jo inzwischen schonmal wusste, war, dass sie in einem Krankenhaus war. Welches Krankenhaus es war, wie sie hierher gekommen war, wer das bezahlen wollte und unter welchem Namen sie hier lief, das wusste sie nicht. Vielleicht hatte Pete sie ja selbst hier her gebracht, aber das bezweifelte Jo aus dem simplen Grund, dass er dann jetzt nicht so besorgt zu tun brauchte. Ging sie auch nichts an, sie wollte aufstehen und gehen. Einfach nur gehen und sehen, was das Leben für sie so bereithielt. Jo wusste gar nicht, ob Pete ihr gefolgt war, wenn er sie nicht selbst hier her gebracht hatte, sie wusste nicht, wie viele Krankenhäuser er hier wirklich in Erwägung gezogen hatte. Jo kannte sich da doch nicht aus. In ein Kinderkrankenhaus wäre sie sicherlich nicht gekommen, aber was nun Sinn, Zweck und Mission einer Universitätsklinik war, das war ihr doch egal. Sie wusste nur, dass es soetwas in Dallas gab. Pete kannte sich sicherlich besser aus, was das anging, aber nachfragen würde sie nicht. Wichtig war es ihr nicht. Aber wenn sie gewusst hätte, wie das alles gelaufen war, hätte sie sich eher darauf verständigen können, dass Pete sich offenbar doch einen kleinen Plan zusammengebastelt hatte. Wenn er es nicht getan hatte, war er momentan vielleicht noch dabei. Oder er machte es, wie Jo es immer machte. Er guckte, was der Augenblick so bringen würde und entschied dann spontan über den nächsten Schritt. Ob man das auch als Plan durchgehen lassen konnte? Wenn man Schritt für Schritt nachdachte? War vielleicht auch gar nicht so wichtig. Fest stand, dass Pete sich irgendetwas zum Anlass genommen hatte, Jo hier zu besuchen. Sollte er nur tun, aber dass sie dankbar darüber war, musste er nicht erwarten. Niemand sonst hätte sie vermisst, gesucht oder besucht, aber Jo war das doch egal. Jo war gern allein, nur deshalb war sie nach Dallas gekommen. Wenn sie nicht allein sein wollte, musste sie nicht allein sein. Aber sie wollte es so. Sie wollte es genau so. Darum brauchte Pete nun auch gar nicht so besorgt tun. Obwohl das die Puderquaste ja schwer zu beeindrucken schien. Sollte er mal machen. Jo würde ihn gerne gegen sein Schienbein treten, damit er wieder verschwand. Sie hatte keine Lust auf seine nervigen Spielchen, hatte er das inzwischen denn nicht verstanden?

Scheinbar nicht, denn jetzt holte er sich also einen Stuhl und Jo wollte gerne genervt mit den Augen rollen. Na ja, zumindest in Gedanken tat sie das wohl auch. Würde Pete ja sowieso nicht sonderlich beeindrucken, die Mühe konnte sie sich also auch sparen. Und wenn er ihre Stirn anpatschen wollte, dann würde sie ihm den Spaß lassen. Die Mimose musste sie jetzt ja nicht mimen, er hatte schon andere Stellen ihres Körpers berührt, ohne dass es sie weiter gestört hätte. Was das alles sollte, verstand Jo aber trotzdem nicht so wirklich und so scheinheilig fragen brauchte er schon dreimal nicht. Aber der glücklich abrauschenden Puderquaste zuliebe, wollte Jo mal nur nett lächeln, was im Augenblick bedeutete, dass sie einen Mundwinkel leicht hochzog. Im Hintergrund schmatzte irgendetwas, woraus Jo schloss, dass sie noch immer nicht allein waren. Dann würde sie jetzt eben mal gute Mine zum bösen Spiel machen und so tun, als wäre sie Petes kleine Freundin und Opfer eines bösen Verbrechens geworden. Wo ein Wille war, war auch ein Weg und so schaffte Jo es dann doch, ihren zweiten Mundwinkel auch ein wenig anzuheben. Scheinbar war das so eines von Petes liebsten Hobbys, Morddrohungen auszusprechen. Ob er glaubte, damit Eindruck zu schinden? Am Ende würde sich doch sowieso niemand von ihm umbringen lassen, weil Pete dann sagte, dass das auch nicht sein musste. Da im Hinterhof wollte er sie doch auch schon umbringen, oder etwa nicht? Nur verging Jo das Lächeln wirklich ziemlich schnell. Nämlich da, als er sie auf die Wange küsste. Weil ihr da ein eiskalter Schauer den Rücken runter lief. Wollte er also wirklich schon wieder irgendwelche Spielchen spielen. Scheinbar wurde ihm ja nicht sehr schnell langweilig. Jo schwieg, regte sich auch gar nicht weiter, als er mit ihr sprach. Gut, schien ihm ja ernst zu sein mit seinem Geld. Aufspielen musste er sich deshalb noch lange nicht. Dann würde sie eben etwas sparen, wenn sie wollte und eine Extraschicht einlegte, hatte sie die zweihundert Dollar doch schnell zusammen. Ihretwegen. Und gerade, als sie begonnen hatte, ihn etwas ernst zu nehmen, musste er etwas so absurd dummes sagen, dass Jo beinahe gelacht hätte, wäre ihr gerade nicht so gar nicht nach Lachen zumute gewesen. Gut, dann war das jetzt ja auch geklärt. Jo richtete sich doch ein wenig auf, rückte ein Stück zurück und sah, dass das Schmatzen einer alten Frau entstammte, die irgendwelche Pralinen in sich hineinstopfte. Dann musste man sie also hier her bringen und ihr auch noch Gesellschaft aufzwingen? Grausam. Kein Wunder, dass die Menschen hier drin krank wurden. Gut, Pete wollte spielen, dann spielte Jo jetzt eben mit. Sie war ja nicht so. “Du bist süß”, lachte sie leise auf. Wenn sie mitspielte, wurde ihm vielleicht doch langweilig. Und wenn er sein Geld hätte, hätte sie vielleicht endlich ihre Ruhe. Jetzt also lächeln und Pete erklären, dass er sich das Geld für die Operation gerne sparen konnte. Er sollte seine Finger bloß von ihrer Nase lassen, was dabei rauskam, wenn er es nicht tat, sah man ja jetzt. Überhaupt wollte Jo nicht mehr als möglich mit ihm zu tun haben. Und darum lächelte sie ihn jetzt auch erwartungsvoll an und hoffte insgeheim doch, dass er jetzt wieder verschwinden würde. Für den Moment hatte er doch alles, was er wollte, oder?


Pete
Glück und Zufriedenheit. Mehr empfand Pete gerade nicht. Er wusste, woran es lag. Das Heroin hatte sich in seinem Körper ausgebreitet und verschaffte ihm so dieses herrliche Glücksgefühl. Er wusste, dass es am Heroin lag, auch wenn das Glück am Anfang größer war. Damals fing alles so an, dass ein Typ ihn fragte, ob er es mal versuchen wollte. Und wieso eigentlich nicht? Pete wollte alles machen, was sein Vater ihm niemals erlaubt hätte. Und einmal Heroin, das war auch nicht so schlimm. Wenn es bei diesem einen Mal blieb, dann konnte ihm auch nichts passieren. Pete wollte es ausprobieren, er war ein junger Mann und er wollte neue Dimensionen betreten. Deswegen ließ er sich von diesem Dealer das Heroin spritzen. Er fand es interessant, die ganze Zubereitung und worauf man dann eben doch immer achten müsste. Angst vor Nadeln hatte er auch keine, es war also eigentlich nur ein spannendes – und ungefährliches – Abenteuer.
Und so ein Glück wie damals hatte Pete noch nie erlebt, und wahrscheinlich kam auch heute nichts daran. Er lag einfach nur auf dem dreckigen Teppichboden und starrte grinsend an die Decke. Er war glücklich, das Leben war toll. Dallas war die beste Stadt der Welt und er hatte Freunde gefunden, wie es keine besseren geben könnte. Pete war wahnsinnig glücklich. Er liebte sein Leben, und er liebte genau diesen Moment. Da war es kein Wunder, dass er zwei Tage später wieder zur Spritze griff, weil er von seinem Bauleiter rausgeschmissen wurde. Pete arbeitete scheinbar nicht ordentlich genug, und so zog er sich eben zu den besten Freunden der Welt zurück, um da wieder wirklich glücklich zu sein. Es gelang ihm, doch aus diesem Loch kam er eben nicht wieder heraus. Wer will schon aus der Drogenabhängigkeit entkommen, wenn er dabei doch dank Heroin wahnsinnig glücklich und wahnsinnig witzig sein konnte.
Pete fühlte sich nicht nur witzig, er wusste auch, dass er witzig war. Würde er jetzt einen Witz erzählen, würde sicherlich das ganze Krankenhaus lachen, das war ja wohl klar. Nur kannte Pete keine guten Witze, die er jetzt erzählen könnte. Denn natürlich müsste es ein Krankenhauswitz sein, und so einer fiel ihm eben gerade nicht ein. Aber das war sehr unwichtig, weil er eben trotzdem wahnsinnig glücklich war. Er konnte Lachen und grinsen, und er ließ sich nicht von diesem kleinen Gör vor sich nerven. Sie war ein Monster, aber er war zu gut gelaunt, um das irgendwie zu beachten.

Er saß an ihrem Krankenhausbett, aber Mitleid hatte er sicherlich nicht mit ihr. Sie hatte verdient, was er ihr angetan hat. So schlimm war das auch gar nicht, weil er ja eigentlich nur klar machen wollte, was er von ihr verlangte. Dass er dann mehrmals und fester als gewollt zugetreten hatte ließ sich durch verschiedene Faktoren erklären. Sie ritt ihm auf die Nase herum, er hatte Durst, er war hinter seiner Heroinzeit, er wollte eigentlich Sterne gucken und war deswegen irgendwie überrascht, Jo getroffen zu haben. Sie nervte ihn, aber das hatte sich jetzt geändert. Deswegen saß er jetzt auch hier, um doch nochmal mit ihr zu sprechen und ihr voller Ernst zu sagen, dass das mit der Nase keine Absicht war. Was ja stimmte, weil er dafür ja nicht verantwortlich war. Sie war doof an den Metallgriff gefallen, und wenn es nicht so wahnsinnig schnell gegangen wäre, dann hätte er sie sicherlich irgendwie festgehalten. Aber es ging für seine langsamen Reflexe zu schnell und ihre Nase war eben gebrochen. Pete hatte damit also so gesehen gar nichts zu tun. Und trotzdem tat es ihm leid, und das wollte er ihr jetzt auch sagen. Er sagte es, und sie wirkte leicht amüsiert. Sie lachte nicht. Natürlich nicht, schließlich hatte er ja keinen Witz gemacht. Hätte er einen Witz erzählt, würden Jo und ihre Bettnachbarin lachen. Pete liebte Schokolade, und am liebsten wollte er der älteren Dame die Pralinen aus der Hand reißen. Stattdessen schaute er in das leere und für ihn amüsierte Gesicht von Jo. Er kannte die Straße und Pete wusste, dass die Mimik wahnsinnig viel aussagen konnte, ohne dass sie zu übertrieben wurde. Man musste nicht laut lachen und man musste nicht breit grinsen, ein Zucken im Mundwinkel konnte wahnsinnig viel über einen Menschen und seine Emotionen aussagen. Pete bemerkte, dass seine Worte sie amüsierten und als sie schließlich sprach, triefte sie nur so vor Ironie. Pete würde lachen, aber er wollte nicht. Pete lachte sowieso nie, weil die Mimik eben viel mehr über einen Menschen aussagen konnte. Er lächelte also nur. Wenn sie nicht wollte, dann sollte sie eben mit einer hässlichen Nase herum laufen, ihm war das doch egal. Sie hatte eine schöne Nase gehabt, aber wenn Jo eine krumme Nase behalten wollte, dann war das eben ihr Problem. Dann wäre sie vollkommen uninteressant weil ihr einziges schöne Körperteil eben entstellt war. Pete war das vollkommen egal, deswegen sagte er dazu nichts. Er hatte ihr gesagt, was er wollte. Er wollte sein Geld, und das so schnell wie möglich. Sie brauchte auch gar nicht glauben, dass er sie wieder aus den Augen verlieren würde. Er wusste jetzt wo sie sich rumtrieb, und irgendwann würde er sie schon wieder einfangen, schließlich hatte er genug Spione in der ganzen Stadt verteilt. Und wenn er sein Geld nicht bald bekam, würde er sich jemanden suchen, der sich aus dieser Welt herausschaffen würde. Pete duldete viele Dinge, aber er ließ nicht alles mit sich machen.

Langsam erhob er sich und strich über seinen Bauch. Das bisschen, das da war. Dankend wandte er sich zu der älteren Dame, die ihn beinahe schon anschmachtete und ihm deswegen eine Praline anbot. Natürlich nahm Pete die gerne an und schob sich die Schokolade in den Mund, während er sich wieder zu Jo drehte.
„Wie wir das mit der Rückzahlung regeln klären wir morgen. Du siehst nämlich scheiße aus, und ich fürchte, dass du dir das nicht merken kannst, wenn ich dir jetzt was sage.“ Er sprach leise und lächelte dabei. Morgen war schließlich auch noch ein Tag, man musste ja nichts überstürzen. Er wollte sich jetzt die Sterne anschauen, Sterne waren nämlich sehr toll.
Deswegen küsste er Jo nochmal auf die Stirn und wünschte ihr und ihrer Bettnachbarin eine gute Nacht. Morgen würde er mal mit den Ärzten sprechen und Jo dann mitnehmen. Als würde er akzeptieren, dass er sein Geld nicht bekam und sie sich den Bauch mit Krankenhausnahrung vollschlug.


Jo
Eigentlich wären sie beide ein gutes Team. Wenn Pete ihr nicht so fürchterlich auf die Nerven gehen würde, währen sie tatsächlich ein gutes Team. Die kriminellen Köpfe dieser Stadt, er Dealer, sie Diebin. Er gab den Menschen, was sie brauchten und sie nahm den Menschen, was sie nicht brauchten. Er gab den Menschen das, wovon sie glaubten, dass sie es brauchten und sie nahm den Menschen das, was ihnen zumindest nicht wichtig genug zu sein schien, um besser darauf aufzupassen. Sie beide wären ein gutes Team, ein wenig wie Bonny und Clyde, nur nicht so dick aufgetragen und ohne diese albernen Kopfbedeckungen immerzu. Alles, was Jo trug, war manchmal eine Wollmütze. Nie im Leben hätte sie freiwillig einen so grässlichen Hut getragen und behauptet, er würde ihr gefallen. Sie wären ein gutes Team. Sie würden Dallas zu einem glücklicheren Ort machen. Geld allein konnte schließlich auch nicht glücklich machen. Also würden Pete und Jo den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen und sie schließlich resistent gegen das dumpfe Gefühl der Enttäuschung machen. Eigentlich wären sie beide ein gutes Team. Eigentlich. Denn leider war es nuneinmal so, dass er ihr fürchterlich auf die Nerven ging und das vor allem in diesem Augenblick. Außerdem hielt Jo nicht allzuviel davon, Menschen zu bedrohen oder zu verletzen. Sie fand Überfälle albern, einfach weil sie wusste, dass es auch viel friedlicher ging. Zumal die heutigen Bankräuber ohnehin absolute Nieten zu sein schienen, so oft, wie die gefasst wurden. Und in einer Stadt wie Dallas wollte das schon etwas heißen, weil die Polizei manchmal gar nicht erst auftauchte und wenn doch, erst kam, als das Geld schon weg und die Kunden der Bank ach so traumatisiert waren. Die hatten doch keine Ahnung vom Leben. Die hatten doch keine Ahnung, was in der Welt da draußen los war. Dass ein armer Wicht mit einer kleinen Knarre kam und Geld wollte, das war niedlich. Klar, die Polizei in dieser verdreckten Stadt war korrupt, aber Jo störte das nicht weiter. Sie wäre als Polizistin auch nicht ausgerückt für so einen niedlichen kleinen Banküberfall. Das war doch lächerlich. Menschen hingen einfach viel zu sehr an ihrem Geld. Ihnen musste doch klar sein, dass jemand es bekommen würde, wenn er es wollte, ob er ihnen nun überteuert irgendwelchen Schwachsinn verkaufte, es ihnen buchstäblich aus den Taschen zog oder eben ihre Konten leerräumte bei einem putzigen Banküberfall. Wirklich putzig. Jo sollte auch mal eine Bank ausrauben und das wesentlich stilvoller. Dann würde sie den Kleinganoven von heute einmal zeigen, dass das auch friedlich ging. Jo würde ein paar Menschen über die Schulter schauen, wenn sie Geld abhoben, zehn Minuten später würde sie die Bankkarten an sich nehmen und dann einfach eine halbe Stunde lang einen Schalter für sich beanspruchen. Sie würde da viel ausreizen und nach und nach hätte sie ein kleines Vermögen zusammen. So würde Jo das machen. Ohne Blutvergießen. Sie würde wie eine normale Kundin heraus spazieren und ein paar Bettlern ein kleines Vermögen zukommen lassen. Für die waren zehn Dollar doch schon ein kleines Vermögen. Und den Rest würde Jo dann vielleicht auch mal ganz gönnerhaft bei Pete lassen. Man gönnte sich ja sonst nichts. Der Plan war perfekt. Eigentlich wären Pete und Jo ein gutes Team. Aber mal abgesehen davon, dass er ihr wahnsinnig auf die Nerven ging, musste Jo feststellen, dass sie ihn gar nicht brauchte.

Gut also, dass er aufstand. Er sollte endlich verschwinden. Irgendwann demnächst würde sie ihm mal ein bisschen Geld vorbeibringen. Fünfzig, sechzig Dollar, vielleicht hundert, mehr aber auch nicht. Dann sollte er sich zufrieden geben und sie in Ruhe lassen, konnte doch nicht so schwierig sein. Denn Jo sah ja ein, dass er sein Geld zurückbekommen wollte, bevor er sie einfach mal ihren Weg gehen ließ, aber zweihundert Dollar waren einfach wahnsinnig überzogen und das wusste er doch auch. Zweihundertdollar waren eine Verhandlungsbasis, auf der Jo gar nicht verhandelte. Hundert Dollar höchstens, mehr würde er von ihr nicht sehen. Und die hätte sie schnell zusammen. Zur Not würde sie sich eine Nacht an den Bahnhof stellen, aber momentan war Sommer, die Menschen trugen wenig und so war es leicht, an Geld zu kommen. Selbst in Dallas wurde die Kleidung im Sommer knapper, da waren Geldbörsen gerne mal in Hosentaschen geschoben und Jo wurde doch so gerne angerempelt, damit sie gegen irgendwelche idiotischen Kerle stolpern konnte, die schräg grinsten und ihr gönnerhaft versicherten, dass das gar kein Problem war. Da war Jo ja beruhigt, da gab sie die siebzig Dollar doch gerne mit einen Lächeln auf den Lippen aus. Natürlich sparsam, sie brauchte ja nicht viel. Irgendwie würde er sein Geld schon kriegen, gut also, dass er aufstand. Sollte er mal gehen, der treusorgende Freund. Sie würde ihm keine Träne nachweinen und wenn ihre Bettnachbarin sie fragen würde, dann würde sie kein Wort sagen. Irgendwie schienen die Menschen sich gerne aufzudrängen. Sie taten wohlwollend und interessiert und wollten am Ende eigentlich nur einen ihrer billigen Triebe stillen, ihre grenzenlose Neugierde nämlich über Dinge, die sie einfach gar nichts angingen. Niemand hier interessierte sich wirklich dafür, wie es Jo ging. Die Pralinenschachtel jedenfalls schien eher ein Auge auf Pete geworfen zu haben und träumte nun davon, wie es wohl wäre, wenn sie nochmal so jung und seine Freundin wäre. Jo könnte sie beruhigen und ihr sagen, dass sie nichts verpasste, aber dazu hatte sie keine Lust. Außerdem war Pete ja noch da und der schien der Schachtel ja beinahe einen Gefallen damit zu tun, dass er sich eine Praline in den Mund schob. Er war widerlich. Nicht, dass es Jo gestört hätte, sie wollte das so nur nochmal für sich feststellen. Wie nett, dass er wieder mit ihr Sprach und um der Schachtel auch mal nett gegenüberzutreten, lächelte sie auch brav und dümmlich vor sich hin, als sie Pete ansah. Ein Blick, den man übrigens wundervoll erlernen konnte, wenn man auf der Straße lebte. Da rannten täglich tausende ach so verliebet Pärchen an einem vorbei. Eigentlich wollte sie ihm sagen, dass er sie in Ruhe lasse und verschwinden sollte. Sie wollte ihm sagen, dass er schon kriegen würde, was er wollte und dass er sich nicht so aufspielen brauchte.

Alles, was sie ihm nachsagte, als er ging, war ein schwärmendes: “Ich dich auch, mein Schatz!” Die Pralinenschachtel schien zufrieden zu sein, Jo wollte sich gerne übergeben. Momentan ging sie allerdings davon aus, dass das hier nicht auf allzu große Begeisterung stoßen würde, würde sie den Boden verschmutzen. Interessierte Jo zwar nicht, aber da sie ja auch gehen wollte, würde sie nicht das Risiko eingehen wollen, da am Ende noch reinzutreten. Wie sie spürte, war sie nämlich barfuß. Und wenn sie sich mal umsah, sah sie, dass da ein Schrank war. Und im Moment konnte sie nur hoffen, dass ihre Schuhe darin waren. Wenn man auf den Straßen von Dallas unterwegs war, dann bekam man vieles und das spielend leicht. Wenn man nur ein paar Stunden am Nachmittag bei den Umkleidekabinen in der Mall verbrachte, hatte man einen halben Kleiderschrank zusammen. Die Menschen verloren kleine Dinge auf der Straße und ließen Jacken oder eigene T-Shirts und Hosen für kurze Zeit in den Kabinen liegen. Man bekam spielend leicht, was man brauchte. Aber was man schwierig bekam, waren Schuhe. Und wenn die weg waren, dann würde Jo irgendetwas in diesem Haus anzünden, bevor sie ging. Nun würde Jo sicherlich keinen sehr vertrauenswürdigen Eindruck erwecken, egal, wie viel Mitleid die Menschen hier für sie hatten, würde sie nach Benzin und einem Feuerzeug fragen. Blieb also nur zu hoffen, dass die Schuhe noch da waren. Ansonsten ging sie eben barfuß. War ihr doch egal. Genervt erwiderte sie das Lächeln ihrer Bettnachbarin und verzog dann das Gesicht, als die beleidigt eine weitere Praline in sich hineinstopfte. Kein Wunder, dass sie so aussah, wenn sie den ganzen Tag nur hier rumlag und Pralinen fraß. Da konnte sie doch auch gar nicht gesund werden. Jos Sorge sollte das nun aber nicht sein. Sie würde jetzt von hier verschwinden, ganz bestimmt. Ächzend richtete sie sich auf, blieb einen Augenblick so sitzen. So wirklich wusste sie nicht, was mit ihr los war. Gut, ihre Nase war gebrochen, das stand wohl außer Frage. Aber das, was sie da fühlte, das war nicht ihre Nase. Das waren ihre Rippen. Verdammtes Arschloch. Leise stöhnend schlug Jo ihre Bettdecke zurück.

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Tag der Veröffentlichung: 15.08.2010

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