Ein Trommelwirbel schnitt von beiden Seiten des Manegenrandes durch die Stille im Zelt. Dem dichtgedrängten Publikum stockte der Atem und alle Blicke hafteten auf mir. Niemand bewegte sich, einzig das Sägemehl unter meinen Füßen waberte im Kreis der Fackeln. Selbst dem schwachsinnigsten Bauerntölpel war klar, dass mein letztes Kunststück, die Sensation des Abends bevor stand.
Mein Blick glitt über die Zuschauer. Manch einer – solche Spannung nicht gewohnt – rief etwas in meine Richtung und erntete böse Blicke oder den Ellbogen des Sitznachbarn.
Das alles habe ich zu oft gesehen.
Ich befand mich wie immer vor meinem Sprung in der Hocke, das Gewicht auf den Fußballen und die Hände flach auf dem Boden. Fast unmerklich wiegte ich mich vor und zurück, die Muskeln zum Zerreißen gespannt. Bis zu diesem Augenblick hatte ich brav meine Aufgabe erfüllt, mich zur Belustigung des Volkes erniedrigen lassen und nichts getan, was Misstrauen erregt. Der Dompteur in seinem speckigen Kostüm rückte den Zylinder zurecht und wedelte ungeduldig mit der Peitsche.
Jetzt!
Ich stieß mich ab, nahm Anlauf und setzte zum Sprung an. Anstatt jedoch auf allen Vieren auf das Podest und durch die drei Feuerreife zu springen, drehte ich nach links ab. Ich schoss hoch, tat aufrecht drei Schritte, riss die Knie hoch und sprang dem Dompteur mit voller Wucht vor die Brust. Er taumelte nur kurz rückwärts, doch es genügte, um außer Reichweite seiner Peitsche zu gelangen.
Die Entscheidung war getroffen. Ab diesem Moment gab es kein Zurück mehr. Zu lange hatte ich mich ohnmächtig den Launen und Interessen anderer ausgeliefert. Die Wut und der Hass eines gesamten Lebens in Knechtschaft brachen aus mir hervor. Meine Seele spuckte Gift und Galle. Diese Menschen glauben, alles zu wissen. Nichts wissen sie und man sollte die Blindheit und Respektlosigkeit aus jedem und jeder einzelnen prügeln.
Ich stieß meinen wildesten Schrei aus und huschte zwischen zweien der Zirkusarbeiter hindurch, die entlang des Manegenrandes postiert waren. Mitten auf der Zuschauertribüne schrie ich erneut und schlug blindlings um mich, versuchte zu kratzen und zu beißen. Einem Jungen riss ich ein Büschel Haare vom Kopf, dass es blutete. Einer alten Frau schmetterte ich ein herumliegendes Stück Kantholz gegen die Stirn. Chaos brach aus. Die Zuschauer suchten Abstand, doch standen sie sich gegenseitig im Weg.
Trotzdem griff ich oft ins Leere, was meinen Zorn nur noch weiter steigerte. Ich verfüge nicht über die Kraft, jemanden ernsthaft zu verletzen, doch ließ ich mich davon nicht beirren. Trotziger Triumpf pumpte durch meine Adern. Das erste Mal in meinem Leben tat ich nicht, was man von mir erwartete. Ich widersetzte mich meinen Peinigern im vollen Wissen, dass es vermutlich meinen Tod bedeutete, den einzigen Ausweg aus der Trostlosigkeit meines Sklavendaseins.
Die Zirkusleute bahnten sich von allen Seiten einen Weg durch die Zuschauer, um meine Flucht zu verhindern. Sie gestikulierten und riefen einander Anweisungen zu. Jeder wollte sich als der Tüchtigste erweisen und so die Gunst des Direktors erlangen. Vergebens. Ich bin zwar nicht stark, aber flink. Außerdem mussten sie Rücksicht auf die Besucher nehmen, was ihr Bestreben erschwerte. Mehrmals entkam ich ihrem Griff um Haaresbreite und der Gedanke flackerte auf, ich könnte es tatsächlich schaffen, zu fliehen. Wohin würde ich gehen? Wie würde mein Leben aussehen?
Die Wirklichkeit holte mich schmerzvoll ein. Beim Versuch, über einen zusammengekauerten Zuschauer hinweg zu springen rutschte ich ab und stürzte über eine der Sitzbänke. Für einen Moment wusste ich nicht, wo oben und wo unten war. Starke Hände schlossen sich um meine Fußgelenke. Ich wurde nach draußen geschleift und in den Dreck getreten. Von allen Seiten prasselten Schläge auf mich ein.
"Genug!" Die Schläger traten zurück und Direktor Hargjöns stand über mir. Er musterte mich und sein Mund zuckte vor Wut. "Bist du von Sinnen? Noch einmal und ich lasse dir alle Knochen brechen, Halbohr! Wir sind noch zehn weitere Tage in Schrababsolom und deine Nummer kann ich nun schlecht nochmal aufführen. Das bedeutet weniger Publikum und somit Verluste! Aber was erkläre ich da, dein Spatzenhirn versteht sowieso nur eine Sprache." Er trat mich in den Bauch und drehte sich zu seinen Männern. "Drei Tage nichts zu Essen für dieses Stück Scheiße!"
Nein, von Töten sagte er nichts. Ich hatte überlebt. Ich hatte mich geirrt. Offenbar bin ich zu wertvoll. Meine letzte Hoffnung erlosch.
Das alles geschah gestern Abend.
Jetzt liege ich mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und kann mich vor Schmerz kaum rühren. Mein Schädel brummt, doch ich finde keinen Schlaf. Der Zirkuswagen erzittert jedes Mal, wenn die kleinwüchsige Hammerzehhydra ihren linken Kopf gegen den Holzboden schlägt. Der Nacktyeti liegt schnarchend in der gegenüberliegenden Ecke.
Wenigstens haben die beiden gelernt, sich in Ruhe zu lassen. Letzten Winter beobachtete ein Zeltbauer, wie die Hydra den Yeti in die Wade biss, weil er nicht aufhören konnte zu sticheln. Als ob man sich hier drin etwas streitig machen könnte... Seither darf sie ihren Kopfstand mit einem Kopf weniger aufführen. Sie kann sich glücklich schätzen, dass sie den Mittleren verloren hat, des Gleichgewichts wegen. Dennoch ist sie nur noch ein schwaches Abbild ihrer selbst, eine leere Hülle. Das die beiden zusammen eingesperrt bleiben, war von Hargjöns nicht anders zu erwarten.
Seit Stunden preisen die Marktschreier neben dem Zirkusgelände ihre Güter an. Wir befinden uns zwar am Stadtrand, doch nahe der südlichen Hauptstraße, die die Küste entlang führt. Zwischen den vereinzelten Bäumen herrscht tagtäglich reges Treiben. Ich öffne die Augen. Die Sonne geht auf und die Schatten der Gitterstäbe kriechen über das faulige Stroh. Die Blachen sind für die Schaulustigen zurückgeschlagen und nichts schützt vor dem Herbstwind. Die Meeresbrise ist aber geradezu angenehm, verglichen mit den Winden, die im Norden wehen. Den Kopf zur Seite gelegt, verschaffe ich mir einen Überblick über die Szenerie.
Vom geschnittenen Gras, das bei unserer Ankunft die Weide bedeckte, verschwindet Morgen für Morgen mehr im Matsch. Ein Teil der Wagenburg ist tagsüber der Öffentlichkeit zugänglich und so schlendern bereits die ersten Besucher auf den Platz. Wer sich keinen Zirkuseintritt leisten kann, oder sowieso in der Nähe und von der Neugier gepackt ist, kann auf diese Weise zumindest einen Blick auf die Sammlung seltsamer Wesen werfen, für die der Zirkus bekannt ist.
Gaukler üben beim Eingang Kunststücke und ein Zirkusarbeiter mit Bauchladen verkauft Nüsse und Süßigkeiten. Unweit wurden die Wurzelzwillinge platziert. Alt und zerzaust, wirken sie trotz der lächerlichen Kostüme wie die Bettler, die sie waren, als Hargjöns sie in einem Bergdorf weit nördlich am Straßenrand eingesammelt hat. Die bunten Bänder um Arme und Beine können der Ernsthaftigkeit ihrer Augen nichts anhaben. Sie rezitieren mit derselben prophetisch donnernden Stimme wie am ersten Tag: "Die 3. Wurzel aus 14876 ist 24.5939747731. Die 5. Wurzel aus 98472 ist 9.96925148632. Die 2. Wurzel aus 113984 ist 337.615165536." Es klingt wie aus einem Mund.
Um sich keine Blöße zu geben, bleiben manche Besucher kurz stehen, nicken anerkennend und würdigen dieses unnütze Talent mit einer Münze.
Zu viele Eindrücke, zu hell und zu laut. Mein Blick verschwimmt und Hitze schießt mir in den Kopf. Ich schließe die Augen und meine Zunge betastet abwechselnd die drei Vertiefungen, in denen gestern noch Zähne steckten. Ich versuche, einfach nur zu atmen.
So stampft ein weiterer Morgen in mein kümmerliches Leben, gleichgültig und ohne um Erlaubnis zu fragen.
Man nennt mich Halbohr, wie es bei Elfen-Menschen-Mischlingen üblich ist. Ich selber nenne mich Salz. Früher hielt ich den Namen für eine gute Idee. In meiner Naivität dachte ich, ich verdiene einen Namen. Salz, so schien es mir, schmeckt nach Abenteuer, nach... Freiheit. Ich liebe Salz. Wahrscheinlich, weil ich es selten auf die Zunge bekomme. Höchstens in Großstädten, wo die Premiere dem Adel vorbehalten und mit einem Bankett verbunden ist. Die Etikette verlangt, dass die doppelte Menge dessen aufgetischt wird, was die Edelleute zu essen vermögen. Was die Zirkusarbeiter von den Resten übrig lassen, wird an die Tiere verfüttert.
Ansonsten kriegen wir Küchenabfälle und Haferbrei. Es reicht, wenn wir am Leben bleiben und über genügend Kraft für unsere Kunststücke verfügen. Mich selber Salz zu nennen war wie ein Versprechen an meine Zukunft, aus dem ich die Kraft schöpfte, den Tag zu überstehen. Doch auf jeden überstandenen Tag folgt ein weiterer. Sie ziehen endlos dahin und das Versprechen wurde nie eingelöst.
Mein Leben ist ohne Salz, ohne Geschmack. In meiner beengten Welt wurden alle Gedanken schon tausendmal durchgekaut. Fällt ein Sonnenstrahl auf mich, so fühlt es sich an wie ein Versehen. Stück um Stück bin ich zur Einsicht gelangt, dass mir selbst Freiheit nichts nützen würde. Eine Welt, in der die einen ungestraft die anderen einsperren können, ist verseucht mit Niedertracht, fehlerhaft bis ins Mark. Ich gehöre hier nicht hin, will kein Teil davon sein.
Niemand weiß, dass ich mich Salz nenne, denn ich spreche nicht. Nach landläufiger Meinung sind Elfen Wilde und nicht des Sprechens mächtig. In Wahrheit verfügen sie sehr wohl über eine eigene Sprache, verbergen dies aber vor den Menschen. Ich kann sprechen. Keine Elfensprache, sondern Menschensprache. Ich habe sie mir selber beigebracht, durch jahrelanges Lauschen und leises, heimliches Ausprobieren. Womit sonst soll ich meinen Geist beschäftigen, Tag für Tag in diesem Gitterwagen? Ich mag über vieles in der Welt unwissend sein, doch ich bin nicht stumpfsinnig, vermutlich sogar klüger als manche dieser Zirkusleute, doch das brauchen sie nicht zu wissen. Erniedrigend genug, dass ich dennoch ihr Gefangener bin. Zwar habe ich den Glauben verloren, dass mir die Fähigkeit des Sprechens eines Tages zum Vorteil gereicht, doch alles, wovon sie nichts wissen, können sie auch nicht besitzen.
Unter ahnungslosen Menschenaugen existiert eine Persönlichkeit, ein eigenständiger Geist. Viel mehr als ein Tier, das Kunststücke vorführt. Wie können sie das glauben, wo ich zur Hälfte von ihrem eigenen Blut bin und zur anderen einem Volk entstamme, das sie nicht zu begreifen im Stande sind?
Zum Schutz meines Geheimnisses habe ich mir ein Standart-Geräusche-Arsenal angewöhnt: Wenn Kinder mit fauligen Gemüse nach mir werfen, stoße ich ein erschrockenes Quicken aus. Für einen der seltenen Treffer gibt es einen Wehlaut. Sie setzen dann dieses überlegene Grinsen auf, sie sie von ihren Eltern gelernt haben. Wenn ich angesprochen werde – ob von Besuchern oder Zirkusleuten – kratze ich mich am Kopf und schaue beschämt auf den Boden.
Klatscht das Publikum zu einem meiner Kunststücke, stoße ich einen kleinlauten Triumpfschrei aus. Was für ein kluges Tier! Der Applaus gilt nicht mir, sondern dem Dompteur, der es geschafft hat, mich zu dressieren. Ein Rückwärtssalto aus dem Stand und alle sind beeindruckt. Der Feuerreif... Elfen – oder Halbelfen – fürchten das Feuer nicht. Aber das interessiert niemanden, erst recht nicht eine Bauernfamilie, die ihr Erspartes zusammengekratzt und den Weg in die Stadt auf sich genommen hat um unterhalten zu werden.
Zwei Männer in Handwerkerkluft betreten den Platz. Der eine – eher dicklich und mit Watschelgang – hat seine Frau und ein Töchterchen im Schlepptau, das ihm knapp zur Hüfte reicht. Die strohigen Haare des Mädchens sind zu zwei Zöpfen geflochten und mit blauen Bändern versehen. Es steckt in einem zu großen Kleid und wurde für diesen Tag behelfsmäßig hübsch gemacht. Die Mutter zerrt es von einer der Schlammpfützen weg, die sich in den Furchen von Wagenrädern gebildet haben. Der andere Mann verfügt über die Art von Hakennase, die ich in den letzten Tagen oft erblickt habe. Seine kleinen zusammengekniffenen Augen sind stets auf der Suche nach einem Ziel, dem er seine Unzufriedenheit entgegenschleudern kann.
Sie schlendern auf unseren Wagen zu. "Nun muss man schon bezahlen, um sich die Wagen anzusehen. Eine Frechheit ist das!" Hakennase spuckt Kautabak aus.
Ich bleibe liegen. Besucher wie diese kommen und gehen. Sie können mir nichts anhaben, was ich nicht schon dutzendfach erlebt habe.
Der Dickliche mimt Erstaunen vor seiner Tochter. "Tatsächlich, ein leibhaftiges Halbohr! Selten genug, doch dieses hier soll jonglieren und durch Feuerreife springen."
Das Mädchen versteckt sich halb hinter seiner Mutter und mustert mich mit einer Mischung aus Neugier und Abscheu.
Hakennase verzieht den Mund. "Eine Beleidigung für das menschliche Blut! Schau Sepp, es hat dein Kinn! Alter Elfen-Nutten-Ficker!"
Die Frau wirft ihrem Gatten einen bestürzten Blick zu.
Hakennase redet unbeirrt weiter. "Und, hat sie es dir gut besorgt? Ein Jammer, dass sie beinahe ausgerottet sind."
Sepp sagt kein Wort.
"Und die wenigen, die noch leben, haben gelernt, sich vor uns zu verstecken. Aber ich kann dir einen Tipp geben. Versuch dein Glück in der Kanalisation..."
Die Frau fängt an, zu weinen.
Eine Kanalisation? Was ist das? Befinden sich Elfen in der Stadt, oder handelt es sich nur um einen grausamen Scherz? Der Tonfall lässt auf Letzteres schließen.
"Ich dachte, sie töten ihre Mischlingskinder gleich nach der Geburt?" Sepp fragt im sachlichen Ton eines Gelehrten. Er versucht, das Thema zu wechseln, doch seine Frau weint nur noch mehr.
"Na, wenn dein Kind so hässlich wäre, würdest du es auch töten." Hakennase lacht auf und tätschelt dem Mädchen die Schulter. "Kannst froh sein, Marta, nicht wahr?"
Marta versteht kein Wort, doch in ihrem Kopf beginnt es sichtlich zu arbeiten.
Ich habe genug gesehen und schließe meine Augen wieder.
Wenn eine Elfenmutter, wie ihr behauptet, ihr Kind nach der Geburt tötet, so kann es sich nur um einen für sie schmerzvollen Akt der Gnade handeln, doch davon versteht ihr nichts. Sie wollen damit anderen die Hölle ersparen, die ihr ihnen gebracht habt, wollen Schicksale wie meines verhindern.
Ich erinnere mich nicht an meine Mutter und weiß weder, ob ich Verwandte habe, noch warum ich am Leben gelassen wurde. Ich kenne kein Leben außerhalb meines Sklavendaseins. Als Akrobat stößt man sich gerne den Kopf und als Sklave wird man geschlagen, wenn man Befehlen nicht Folge leistet, oder sich beim lernen neuer Kunststücke ungeschickt anstellt. Wer weiß, was da alles verloren geht. Hat zumindest den Vorteil, dass ich keinen besseren Zeiten nachheulen und niemanden vermissen muss.
Sepp unternimmt einen neuen Versuch: "Von dem hab ich gestern in der "Schielenden Zippe" gehört. Soll während der Vorstellung einige Bauern ganz schön erschreckt haben."
"Schon recht. Schade, dass es keine Scheiß-Orks waren."
Sepp stößt Hakennase in die Seite und deutet mit einer Kopfbewegung zum Eingang. Zwei Orks stehen dort und mustern die Anwesenden.
"Mama, woher kommen Halbohren? Was ist ein Elfen-Nutten-Ficker?"
"Sei still!"
Während die Frau und die beiden Männer verstohlen zu den Orks blicken, macht Marta ein paar Schritte auf mich zu, als könnte mein Anblick bei ihren Fragen weiterhelfen.
Ich verziehe mein Gesicht zu einer Fratze und fauche. Sie zuckt zusammen, schlägt die Hände vors Gesicht und fängt an zu weinen. Eine der wenigen Freuden, die mir geblieben sind.
Der Klang des Messing-Horns von draußen lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Besser kann man bösartige Amtswillkür akustisch nicht darstellen. Alle Gäste erstarren, als würde die Fanfare eine Wunde in die Zeit selbst reißen. Jeder weiß, was die Stunde geschlagen hat. Städtische Schutzbeauftragte, bereits das zweite Mal diese Woche.
Sieben Orks in Rüschenhemden und Kniebundhosen quetschten sich in den halbvollen Schankraum. Schweiß sammelt sich in den Fettwülsten ihrer gepuderten Haut. Gesichtsbaracken der Oberliga mit gelben Stoßzähnen und borstigen Haarbüscheln an Orten, wo sie beim besten Willen nicht hingehören. Die maßgeschneiderte, edle Kleidung hat bei diesen Missgeburten den gleichen Nutzen, als würde man einen Kuhfladen mit Blumen verzieren. Penetranter Parfümgeruch strömt in jede Ecke.
Eine unmotivierte Woge Selbsthass schwappt über mich hinweg, während mir bewusst wird, wie sehr ich mich an den lächerlichen Anblick ihrer Barock-Perücken gewöhnt habe, diesen Triumpfzug der Deplaziertheit.
Drei der sogenannten Schutzbeauftragten schupsten genüsslich Gäste zur Seite und stampften, die Hand am Griff ihrer Ziersäbel, dem Tresen entgegen. Sie überragten die Anwesenden um mindestens einen Kopf und die Bodendielen ächzten unter ihrem Gewicht. Der Tattergreis an seinem Fensterplatz zieht reflexartig den Kopf ein und weiß nicht wohin mit seinen gichtgeplagten Händen. Ein bellender Hund wird mit einem Tritt zum Schweigen gebracht. Die restlichen vier Orks nehmen den Raum vom Eingang her unter die Lupe und versperren den Ausgang. Einer ergreift gelangweilt die Kerze vom Tisch eines Matrosen und lässt Wachs in dessen Eintopf tropfen. Ein Jüngling macht einen halben Schritt in Richtung offenes Fenster.
"He Stallbursche! Hiergeblieben! Wer sich dem Willen der Schutzbeauftragten widersetzt, darf nach Gutdünken bestraft werden." Stets liegt ihnen ein Paragraph auf der Zunge, der ihr schweinisches Verhalten rechtfertigt.
Beim Tresen angekommen, brauchen die drei Fred nur anzuschauen und der Wirt ringt mit den Händen.
"Ich unterschlage nichts. Alles hat seine Ordnung, das versichere ich euch! Die Geschäfte laufen schlecht und ich kann nicht mehr bezahlen, als ihr schon bekommen habt. So glaubt mir doch!"
"Soso." Einer der Orks wendet sich dem Säugling in Wirtin Hannas Armen zu, grinst und stupst ihm unsanft gegen die Nase. Der Kleine beginnt zu schreien. Meine Hände verkrampfen sich. Ich hasse dieses Geräusch, die Orks scheinen es jedoch zu mögen.
"Dann würde ich vorschlagen, du lässt dir bis nächste Woche besser was einfallen."
Raffgieriger Ork-Abschaum! Sie kommen nur in die Unterstadt um Ärger zu machen. Kein Wunder, verlottert hier alles, wenn sie den letzten Batzen aus der Kaschemme pressen und im gleichen Atemzug die Kundschaft vergraulen. Verwaltungsbündnisregelungsvertrag, pah! Diese Scheusale haben sich von Rabdaschraganatt das Recht erschlichen, sich schamlos am einfachen Volk zu bereichern.
Das Schreien will nicht aufhören und ich kann nicht anders, als mir die Ohren zuzuhalten. Ein Fehler. Einer der Orks wird auf mich aufmerksam und versteht meine Geste als Aufforderung, mir mein Bier über die Hose zu schütten und den Krug am Boden zu zerschmettern. Ich drücke die Hände fester an den Kopf in der Hoffnung, so das Zittern zu unterdrücken. Ich bin auf alles gefasst.
Bevor sich der Ork jedoch weitere Gemeinheiten ausdenken kann, knallt der Wortführer seine flache Pranke auf den Tresen. Ein Zeichen dafür, dass die Unterredung beendet ist. Er schickt einen missbilligenden Blick durch den Raum, spuckt auf den Boden und schlendert in Richtung Ausgang. Schneller als gedacht ist die ganze Truppe aus der Tür.
Niemand rührt sich oder spricht ein Wort. Die Klagelaute des Säuglings gehen in ein Schluchzen über, ehe sie ganz verstummen. Fragende Blicke wandern umher. Alle bemühen sich, so zu tun, als sei nichts geschehen und doch verhält sich keiner wie zuvor.
Bloß nicht auffallen. Wer jetzt das Gebäude verlässt, macht sich verdächtig. Sicher stehen sie noch draußen und warten. Viele der Gäste haben eine Familie zu ernähren und man sieht ein schlechtes Gewissen auf ihren Gesichtern aufblitzen, weil sie überhaupt in der Schenke hocken. Ein Holzteller scheppert zu Boden und Köpfe zucken herum. Der Suppentopf über dem Feuer blubbert unbeeindruckt.
Was für eine Sauerei! Noch immer tropft es von meinen Knien und meine Sandalen stehen in einer Pfütze, doch ich wage nicht, mich in meine Dachkammer aufzumachen.
Der Abend ist gelaufen, dabei bin ich noch nicht mal halb voll. Nicht, dass ich in Feststimmung gewesen wäre, aber es gibt auch bei schlechter Laune Abstufungen. Hörst du mich, du misslungenste aller Schöpfungen? Ich möchte mich einfach nur in Ruhe zu Tode saufen. Wenigstens so weit könntest du mir entgegen kommen!
Ich kann mir nicht erklären, warum ich ausgerechnet nach Schrababsolom zurückgekehrt bin. Diesen Moloch, wo einem Ungerechtigkeit und Hässlichkeit aufs Auge gedrückt werden.
Auch wenn von Vollkommenheit, wie ich sie verstehe, keine Rede sein kann – noch nicht mal von einem Fortschritt gegenüber anderen Welten – so gab es da draußen vieles zu sehen und wunderliches ist zur Genüge dabei.
Dennoch fühle ich mich magisch von dieser Stadt angezogen. Will ich mir so die Folgen meiner Taten und das Ausmaß meines Versagens vor Augen führen? Ist dies meine Strafe? Oder habe ich mich so an Ungerechtigkeit und Chaos gewöhnt, dass ich sie insgeheim liebgewonnen habe und mich hier zuhause fühle? Tolles Fazit eines Weges voller unvorstellbarer Möglichkeiten und ehrenhafter Ambitionen.
Ich wurde letzte Woche 17 Jahre alt. Zur Feier des Tages hat Papa auf dem Wohnzimmertisch ein aus Apfelstücken und Nüssen unbeholfen gebasteltes Thina-Gesicht hinterlassen. Meine Reaktion war zweigespalten, Freude und Frust zugleich. Einerseits zeigt er mit dieser Geste, dass er an meinen Geburtstag gedacht hat und ich ihm viel bedeute, andererseits ignoriert er damit einmal mehr die Tatsache, dass ich eine junge Frau und kein Kind mehr bin.
Ich ließ mir nichts anmerken, als er abends nach Hause kam und drückte ihm einen dicken Schmatzer auf die Backe. Seine Freude über die gelungene Überraschung wiederum ließ mein Herz aufgehen und den Frust vergessen.
Aber mal ehrlich, was sollte mich an meinem Geburtstag freuen? Was soll daran besonderes sein? Hat er sich deswegen einen Tag frei genommen? Nein, so viel bedeute ich ihm dann doch nicht. Ein Tag wie jeder Andere. Mein Alter spielt keine Rolle, so lange ich von früh bis spät für mich bin. So lange ich keine Freunde habe, keine Schule, keine Pflichten, kein Garnichts.
Dem Sonnenstand nach zu urteilen ist Papa bereits seit zwei Stunden unterwegs. Ich habe heute ewig mit dem Frühstück rumgespielt, es in allen möglichen Formationen auf dem Teller umhergeschoben. Wenn ich es dereinst richtig hinkriege, entschlüpft meinem Essen ein Geist, der Wünsche erfüllt.
Eine junge Frau, kein Kind mehr...
Die Tür unseres Häuschens fällt krachend hinter mir ins Schloss. Ich weiß, dass sie nichts für meine Situation kann, doch etwas Unmut wird ja wohl erlaubt sein. Ich lasse meinen Blick über den makellos blauen Himmel gleiten und zucke mit den Schultern. Kein Windstoß. Vereinzelt rascheln Vögel im Laub der Bäume, ansonsten ist keine Bewegung auszumachen. Ein kraftstrotzender Vormittag, selbstbewusst und doch zu nichts zu gebrauchen.
Hier stehe ich wieder, am anderen Ende von Neugier und Tatendrang. Nach einer Weile drehe ich mich nach rechts und gehe – sie bewusst ignorierend – an den Kaninchengehegen vorbei die 22 Schritte zur Rückseite des Häuschens. Von hier aus kann man aufs Meer sehen, 87 Schritte den Hang runter macht sich der Sandstrand breit. Es herrscht kaum Wellengang. Das Ereignislose zeigt sich von seiner ereignislosesten Seite. Ich stelle mir vor, wie ich mich dort hinlege und die Füße vom Wasser umspülen lasse, bis sie eingeweicht sind, bis...
Allein der Gedanke ödet mich an.
Ich vollende meine Runde ums Haus und trotte den Hügel auf der Vorderseite runter. Unten angekommen geht's weiter am Bach entlang den sanft ansteigenden Trampelpfad nach Norden. Der Weg zu meinem Lieblingsplatz, wo der Bach dem See entspringt, wo Wiese und Waldrand aufeinandertreffen und sich auch der Steg befindet. Kein Boot, natürlich nicht. Papa ist damit zur Arbeit gerudert. Somit ist meine kleine Welt fast schon zu Ende. Unser Häuschen steht im blühenden, sonnenverwöhnten Nichts.
Da ich nie jemandem begegne, komme ich auch nicht in Bedrängnis, etwas interessantes aus meinem Leben zu erzählen. Ein praktischer Kreislauf. Ich meine, ich stehe morgens auf... ich könnte gerade so gut liegen bleiben, wenn ich nicht irgendwann für kleine Mädchen müsste. Ich habe die absolute Gewissheit, nichts zu verpassen. Mein Frühstück steht bereit, das Häuschen ist sauber und der Gemüsegarten mit wenigen Handgriffen gepflegt.
Mein einziger Bezugspunkt, meine einzige Möglichkeit, mich auszutauschen ist Papa. Und der verschwindet jeden Morgen auf diesem See nach Westen dem Berg entgegen und lässt mich für unendlich lange 12 Stunden alleine, mindestens.
Mein Leben besteht aus Warten. Kurzfristig darauf, das Papa nach Hause kommt und etwas zu erzählen hat, langfristig auf unsere Heimkehr, oder sonst eine Veränderung, irgendetwas Unerwartetes.
Bei Sonnenschein sitze ich hier auf dem Steg, bade im See, liege auf der Wiese und lausche den Insekten oder renne durch den Wald, wenn mir nach Bewegung ist. Man entwickelt ein gewisses Talent darin, sich die Zeit zu vertreiben. Sie ist ein raffinierter Gegenspieler, den man mit immer neuen Mitteln besiegen muss. Ich denke mir Spiele aus, bastle etwas aus Holz oder ordne Steine zu Bildern oder kleinen Skulpturen. In letzter Zeit erfinde ich Melodien und summe sie vor mich her. Manchmal hilft jedoch alles nichts.
Bei Regen sitze ich in der Wohnstube und blättere in einem der Bücher, die Papa auf unsere Reise mitgenommen hat. Geschichten von Abenteuern an fremden Orten. Manche der Helden stellen sich unbezwingbaren Übeln und nehmen Höllenstrapazen in Kauf für ein friedliches, sicheres Leben wie das meine.
Wenn die wüssten...
Ich möchte auch durch ein Vampir-Schloss schleichen, an einem Motorradrennen teilnehmen, den Meeresgrund erforschen, zu fremden Planeten fliegen oder... einem Prinzen begegnen. Ich möchte Neues sehen, Neues hören, Neues riechen und Neues empfinden. Es würde mir auch nichts ausmachen, mich mal so richtig zu fürchten. Selbst das wäre eine willkommene Abwechslung: Mich fürchten, vor etwas anderem als davor, dass mein Leben für immer so bleibt wie es ist.
Papa sagt, ich soll spazieren gehen und es gebe unendlich viel zu entdecken, wenn man die Augen öffnet. Die "Wunder am Wegesrand", wie er es mit leuchtenden Augen nennt. In trotzigen Momenten beschleicht mich das Gefühl, er wolle mich für dumm verkaufen. Ich kenne jede Wurzel, jeden Kiesel in- und auswendig und die Entdeckung eines Ameisenhaufens ist bereits das höchste der Gefühle.
Nein, natürlich will er mich nicht veräppeln. Er sieht die Dinge einfach anders und kennt keine Langeweile. Wie könnte er mich sonst Tag für Tag alleine lassen? Ich werde seine Begeisterung für die Natur nie verstehen, doch beneide ihn darum.
Papa arbeitet als Ornithologe und hat nur seine Arbeit im Sinn. Ausgerechnet auf dieser menschenverlassenen Halbinsel hier nisten die Oaknuknaks, laut Papa eine seltene Vogelart. Er ist mit mir hierhergekommen, um Daten über die Tiere zu sammeln. Ihren Tagesablauf, ihre Ernährung, ihr Paarungsverhalten, die Aufzucht von Jungen, das Leben in jeder noch so kleinen Einzelheit. Er ist besessen von diesen Flatterviechern.
Eines Morgens – nach mehreren Abenden des Bettelns – hat er mich mit dem Ruderboot mitgenommen. Die Überfahrt dauerte länger als ich dachte. Am gegenüberliegenden Ufer marschierten wir in der prallen Sonne zum Fuß des Berges und ein ganzes Stück hoch. Ich genoss die neue Erfahrung, kam aber auch ganz schön ins Schwitzen.
Angekommen, stand er den ganzen Tag auf einer Wiese, starrte in den Himmel und kritzelte Notizen in sein Büchlein. Anfangs kommentierte er die eine oder andere Beobachtung, doch bald schien er mich komplett vergessen zu haben. Nicht schlimm, ich konnte seinen Ausführungen ohnehin nichts abgewinnen. Für mich waren es stinknormale Vögel, mehr nicht. Ich setzte mich unter einen Baum und brach kleine Stücke aus dessen Rinde. Auf diesem blöden Berg und an Papa gebunden, könnte ich mich noch schlechter beschäftigen als in der Nähe unseres Häuschens und alleine zurück konnte ich auch nicht. Was für eine dumme Idee! Ich wäre besser zuhause geblieben und beschloss, dies fortan auch zu tun.
Am Abend, wenn Papa von der Arbeit kommt und alles ums Haus erledigt ist, sitzen wir draußen, essen Abendbrot und spielen Karten. Diese Zeit mit ihm ist der Höhepunkt des Tages. Wenn er gute Laune hat, erzählt er kuriose Geschichten aus einer anderen Welt, die er fortlaufend erfindet. Viel lebhafter als die Bücher, so als wäre er selbst dort gewesen. Er steigert sich richtig rein, gestikuliert wild, verstellt die Stimme und äfft seltsame Gestalten nach, bis ich mich vor Lachen kaum halten kann. Ich wünschte, ich verfüge über seine Fantasie.
Zweifellos versucht er, mir meinen Aufenthalt an diesem verlassenen Ort so angenehm wie möglich zu machen.
In letzter Zeit arbeitet er aber immer öfter bis spät abends, kommt übermüdet nach Hause und geht gleich nach dem Essen ins Bett. Sein Lachen ist nicht mehr so sorglos wie früher. Wenn ich ihn darauf anspreche, versichert er mir, es handle sich nur um vorübergehende Strapazen beim Beobachten der Vögel. Etwa, dass ungewohntes Verhalten der Oaknuknaks seine Theorien ins Wanken brächten und er manches überdenken und prüfen müsse. Ich komme mir dann unnütz und hilflos vor. Wenn ich merke, dass es später wird, koche ich manchmal selber. Er freut sich dann riesig, selbst wenn er behauptet, er sehe nicht gerne, dass ich wach bleibe und auf ihn warte.
Was soll ich nur tun? Ich fühle mich im Stich gelassen und kann ihm doch nicht böse sein. Ich sehe doch, wie ihn sein Gewissen plagt. Ist das alles die Mühe wert?
Papa sagt, sobald seine Forschungen abgeschlossen sind, werden wir zu Mama in die Stadt zurückkehren. Er hofft, sein Bericht werde die Fachwelt in Staunen versetzen und ihm eine Professorenstelle an einem angesehenen Institut sichern, was immer das sein soll. Sein Name würde in die Geschichte der Ornithologie eingehen und wir würden ein Leben in Saus und Braus führen. Ich bin überzeugt, er will nur unser Bestes, doch das macht mein jetziges Leben nicht spannender. Ich kann mich zwar weder an Mutter noch an die Stadt erinnern, doch sehne mich nach jeder Veränderung.
Wenn ich Papa frage, wann es soweit sei, sind seine Angaben schwammig. Er berichtet von Erfolgen, aber scheint seinem Ziel nicht näher zu kommen.
Ohne Vorwarnung donnert meine Faust auf den Eichentisch. Das Geschirr scheppert und die Diener und Mägde zucken zusammen. Sie können sich nicht entscheiden, ob sie sich zur Stelle melden, oder unsichtbar machen sollen. Armselige Menschen. Was wissen sie schon von der Mühsal, die das Leben eines Hochgeborenen mit sich bringt?
Wie gerne würde ich auf der Dachterrasse speisen und den Tag gediegen ausklingen lassen. Das wohlverdiente Grundstück überblicken, wie es sich für einen Ork meines Ranges geziemt. Mich erfreuen an den frischgeschnittenen Rosensträuchern und dem Springbrunnen, der eine Handbreit höher ist als jeder andere an der Wohlhab-Allee. Zumindest in seiner Freizeit sollte man sich mit Schönheit umgeben dürfen!
Stattdessen muss ich bei diesen Temperaturen im Speisesaal hocken wie ein Gefangener und mich im Kerzenlicht den vorwurfsvoll dreinblickenden Gemälden meiner Vorfahren aussetzen. Ich kann sie beinahe schimpfen hören. Wie soll einem da verdammt nochmal das Spanferkel schmecken?
An einen Aufenthalt auf der Dachterrasse ist nicht zu denken. Ich kann die Augen nicht verschließen vor dieser Baustelle, diesem Schandfleck auf der anderen Straßenseite. Ich habe es versucht, zumindest als Notlösung, doch selbst zu dieser späten Stunde, wo die Werkzeuge ruhen, dreht sich mir der Magen um. Egal, in welche Richtung ich Tafel und Sessel platzieren lasse, der Anblick lässt mich nicht los.
Was muss man sich nicht alles gefallen lassen!
Meine Faust saust erneut auf den Tisch. Ein Kerzenständer kommt ins Schwanken und kippt schließlich um. Eine Magd versucht, ihn aufzufangen und verbrennt sich die Finger am Wachs. Sie zittert und schaut mich an wie ein Kaninchen auf der Schlachtbank. Der Anblick erheitert mich beinahe. Im letzten Moment gelingt es mir einen Fluch zu bellen und sie ergreift die Flucht.
Es ist mein gutes Recht – und meine rechtschaffende Pflicht – zornig zu sein, schließlich bin ich nicht irgendwer. Krudolf Grünglut. Alteingesessener Orkadel. Obermünzschichter der Landwirtschaftsbesteuerung, direkter Ratsassistent der Hauptlinie.
Keinesfalls zu verwechseln mit einem Emporkömmling wie diesem Harkbert Strammwade.
Wir sind ein ehrenhaftes Geschlecht und verrichten mit Stolz und Würde unser Tagwerk. Münzschichter gelten nicht ohne Grund als Stützpfeiler der Gesellschaft. Der Adel braucht Steuern und die elende Bauernrasse möchte ihre Arbeit ohne Feldbrände oder Unfälle mit abgetrennten Gliedmaßen verrichten, oder?
Nicht dass mich der Anblick einer Baustelle aus dem Gleichgewicht bringen würde, doch Harkbert ist nichts weiter als ein Wichtigtuer, Immobilienverwalter Stufe 5b. Was erlaubt er sich, mir nichts, dir nichts, ein drittes Badezimmer bauen zu lassen? Als wäre seine Kutsche mit Sechsergespann nicht lächerlich genug.
Das Baugesuch wurde noch nicht bewilligt. Durch alle Instanzen nimmt dies noch sicher zwei Wochen in Anspruch.
Ja, ich weiß Bescheid, du Bauschwindler!
Nur weil er es sich leisten kann, hat er noch lange kein Recht, zu protzen wie er will. Jede Wette, ohne die Ausbildung des Dachverbandes wüsste Harkbert nicht einmal, wie herum er ein Buch halten soll. Seine Geschäfte laufen, na und? Geht da überhaupt alles mit rechten Dingen zu? Es gibt Vorschriften! Wo kämen wir hin, wenn jeder macht, was er will? Ich meine, schließlich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 25.10.2017
ISBN: 978-3-7438-3805-5
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