Melanie Jungk
Maiburgmord
Ein Fürstenauer Kriminalroman
Die Stille des Waldes wurde durch lautes Kinderlachen gestört. Verdammt! Zeugen konnte man jetzt gar nicht brauchen! Außerdem störte es die eigene Konzentration, die man für das was man vorhat brauchte.
Auf einem kleinen, zerknitterten Zettel hatte man sich grob den Weg aufgemalt, den die Person einschlagen würde, die man erwartete. Hoffentlich würde er heute nicht eine andere Strecke nehmen, das wäre blöd! Jetzt musste man vorsichtig sein. In der Nähe war der Abenteuerspielplatz, auf dem Kinder tobten. Keiner durfte einen sehen! Warum mussten sie ausgerechnet jetzt hier sein? Dann schrie eine Stimme: „Kevin! Lass deine Schwester los, die tut sich weh!“ Es folgte ein noch lauteres Kindergeschrei. Aufregung und Hektik war zu spüren. Die Personen vom Spielplatz kamen einem entgegen. Och nö! Ein kleiner, dichter Busch, der einem als Erstes ins Auge stach, musste als Versteck reichen. Die Familie lief schnell, aber stumm an einem vorbei. Das kleine Mädchen weinte noch immer. Sie wurde von ihrem Vater getragen, der ein Taschentuch auf ihre blutende Nase drückte. Die Mutter folgte auf Schritt und zog einen finster dreinblickenden, dreckigen Jungen hinter sich her. Die war man los!
Ein Blick auf den Zettel verriet einem, wie man weitergehen musste. Es dauerte noch etwas, bis man den richtigen Platz gefunden hatte. Wieder suchte man sich ein dichtes Gebüsch und wartete. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass er jetzt bald kommen würde. Eigentlich war es schade um ihn, aber es ließ sich nicht ändern. Man musste ein Zeichen setzen. Er würde sein Leben verlieren, das war notwendig, denn nur so konnte man klar machen, wie ernst es einem war! Man selber hatte auch einiges verloren. Das Leben ist nicht immer gerecht!
Das Herz pochte schneller, als der Reiter in Sichtweite erschien. Man blinzelte, denn gerade verzog sich die Wolke, die seit einiger Zeit die Sonne verdeckt hatte. Das helle Licht blendete so, dass man die Augen zusammenkneifen musste. Pferd und Reiter näherten sich in einem langsamen Schritttempo. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren! Ein Ast knackte unter dem Fuß, als man in die Hocke ging, um nicht gesehen zu werden. Auf dem Überraschungsmoment kam es an! Noch waren die beiden so weit weg, dass man ungestört laut ausatmen konnte. Schnell wurden alle Utensilien, die man mitgebracht hatte, überprüft. Alles war vorbereitet. Der Reiter und sein Pferd blieben stehen. Wie dumm! Die Spannung stieg und die Hand fing an zu zittern. Ein Kopfschütteln brachte die geübte Konzentration zurück. Von weitem beobachtete man den Reiter, der an seinem Handy herumspielte. Na los, reite weiter! Aber stattdessen telefonierte er. Ungeduldig stand man wieder auf, die Beine drohten einzuschlafen. Falls man jetzt zu früh entdeckt werden würde, musste man blitzschnell die Strategie ändern. Dann beendete der Mann das Gespräch und führte seinen Ausritt fort. Mit jedem Schritt, den er näher kam, stieg die eigene Nervosität. Hoffentlich klappte alles genauso, wie man es bis ins Kleinste geplant hatte! Pferd und Reiter waren nun so nahe, dass man eigentlich hätte entdeckt werden müssen.
Plötzlich rief der Reiter: „Scheiße!“ Ihm war das Handy aus der Hand gefallen. Er stoppte sein Pferd, stieg ab und bückte sich nach dem Gerät. Das war die Chance! Möglichst leise ging man auf den Reiter zu, der in die entgegengesetzte Richtung blickte. Das Knacken eines Astes ließ fast das Herz stehen bleiben. Das Gras fressende Pferd ließ sich davon nicht beeindrucken, aber der Reiter drehte sich erschrocken um. Er fasste sich an die Brust und sagte: „Mensch, jetzt habe ich mich vielleicht erschrocken!“ Seine Anspannung löste sich und er tätschelte das Pferd. Dieses hatte scheinbar eine besonders schöne Stelle Gras entdeckt, denn es zog den Reiter in die Richtung, aus der es gerade gekommen war. Durch den Ruck des Pferdes gezogen, drehte sich der Reiter einmal um seine eigene Achse und stand nun mit dem Rücken zu einem. Perfekt!
„Sie ist so verfressen!“, begann der Reiter zu sprechen. „Wenn sie auch sonst eher faul ist, aber dafür würde sie kilometerweit laufen! Hey, stopp. Bleib stehen!“ Der Reiter zog am Zügel und war nun ganz auf das Pferd konzentriert. Er sah nicht die Hand, die in die Jackentasche glitt. Auch bemerkte er nicht, dass die Person, die er getroffen hatte, nun dicht hinter ihm stand. Das Letzte, was er wahrnahm, war der Arm, der ihn nach hinten zog, und das Letzte, was er sah, war eine behandschuhte Hand, die etwas festhielt, das in der Sonne blinkte.
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Der erste Schritt war getan. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Man hatte lange darüber nachgedacht, jetzt war man sich sicher. Der Mann musste endlich bezahlen. Bezahlen für die Schäden der letzten Jahre. Es konnte doch nicht sein, dass er nicht zur Rechenschaft gezogen wurde! Sicher, er war nicht der direkte Verursacher. Aber er war genauso verantwortlich. Schließlich konnte man den, dem man den ganzen Schlamassel zu verdanken hatte, nicht belangen. Dann eben er! Die Zeit der Abrechnung war gekommen.
Lange hatte man sich einen genauen Plan überlegt und den galt es jetzt abzuarbeiten. Zum Glück folgte das Pferd artig. Es hatte sich nicht daran gestört, dass sein Reiter zurückgeblieben war. Der Parkplatz war leer, das war gut. Schnell fand sich ein Haken am Anhänger, an dem man das Pferd anbinden konnte. Den Autoschüssel steckte man in die Fahrertür und öffnete dann die Klappe des Pferdeanhängers. Das Pferd wurde plötzlich nervös. Es trat von einem Bein auf das andere und riss den Kopf nach oben. Trotz großer Anspannung blieb man ruhig und redete auf das Tier ein. Der erste Versuch, es auf den Anhänger zu führen, scheiterte. Es hatte die Klappe schneller wieder verlassen, als man des darauf geführt hatte.
„Blödes Vieh!“, entfuhr es einem und als ob das Tier die Worte verstanden hätte, riss es sich los und lief quer über den Parkplatz ein Stück in den Wald hinein. Ganz so, als wolle es zurück zu seinem Reiter. Da blieb es stehen und schaute sich zu der Person um, die es auf den Anhänger führen wollte.
„Na warte.“
Das Pferd ließ sich nicht packen. Wie ein Hund lief es ein Stück in den Wald hinein und blieb dann stehen, damit sein Verfolger es einholen konnte. So ein blödes Vieh! Okay. Das dauerte hier jetzt alles viel zu lange. Man entsann sich auf die selbst gemalte Karte dieser Gegend, die man in der Tasche hatte und änderte blitzschnell seinen Plan. Das Pferd lief tatsächlich in die Richtung, in der sein Reiter lag. Dann eben anders!
„Nun ja“, sagte Jasmin und öffnete ihre Haare. „Können wir jetzt wieder zurück nach Hannover?“ Arne wollte nicht reden und zuckte nur mit den Achseln.
„Ich ruf einfach mal an und frag“, antwortete Jasmin sich selber, nahm ihr Handy und suchte nach der richtigen Telefonnummer in ihren Kontakten. „Hier ist Jasmin Krüger, ich habe eine gute Nachricht, wir haben den Fall bereits aufgeklärt!“
Arne stand auf und schaute aus dem Fenster. Bevor sie nach Haus fuhren, wollte er sich aber unbedingt noch den Campingplatz anschauen. Unbedingt!
„Was?“, hörte er Jasmin rufen. „Das kann doch nicht sein! Das ist doch ein Scherz, oder?“
Er drehte sich zu ihr um und sie schaute ihn genervt an.
„Oh nein! Bitte nicht! Hier in der Nähe? Wo genau?“, hörte er sie sagen. Sie klemmte sich ihr Handy zwischen Ohr und Schulter und band ihre Haare wieder zu einem Zopf zusammen.
Arne beobachtete sie und fragte sich, was wohl geschehen war.
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Das war vor einer halben Stunde gewesen. Nun saßen Arne Mayer und Jasmin Krüger in ihrem Dienstfahrzeug und fuhren die Bundesstraße B214 in Richtung Schwagstorf. Vor 4 Tagen waren sie diese Strecke das erste Mal gefahren. An diesem Tag waren sie aus Hannover gekommen, um einen Mord im historischen Gefängnis in Fürstenau aufzuklären. Ihre Kollegen in Osnabrück hatten sie aufgrund akuten Personalmangels angefordert. Beide Kommissare lebten und arbeiteten eigentlich in der Landeshauptstadt. Ihre Lebensläufe waren so unterschiedlich wie ihre Vorstellung vom Leben. Während Jasmin Luxus, Sport und gesunde Ernährung wichtig war, liebte Arne Campingurlaub, Fußball und deftige Hausmannskost. Auch legte er nicht so viel Wert auf seine Kleidung wie seine Kollegin. Für ihn musste sie sauber und bequem sein. Jasmin hingegen legte sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Diese Unterschiede sorgten zwangsläufig für kleine Kabbeleien unter den Kollegen. Auch ihre Herkunft konnte unterschiedlicher nicht sein. Jasmin Krüger hatte die ersten Jahre ihres Lebens in Berlin verbracht und Arne Mayer war in einem kleinen Ort in Ostfriesland aufgewachsen. Trotz oder gerade wegen dieser Gegensätze waren sie ein super Team!
Für Arne war der Einsatz in der Osnabrücker Provinz nicht so schlimm wie für seine luxusverwöhnte Kollegin. Bei der Klärung des Mordes in der Fürstenauer Innenstadt hatte ihnen noch der Kollege Till Hartmann zur Seite gestanden, der wie sie aus Hannover stammte und zu der Zeit in Osnabrück an einer Fortbildung teilnahm. Gemeinsam hatten sie den Fall klären können. Till Hartmann hatte sich bereits wieder auf den Weg nach Hannover gemacht, als Jasmin den Anruf mit ihrem Chef in Hannover getätigt hatte.
Nun fuhren sie also wieder zurück, allerdings ging es noch nicht nach Hause, sondern zu einem neuen Mordfall. Wie eigentlich immer fuhr Jasmin den Wagen. Arne sprach sie an: „Was genau ist denn geschehen?“ Jasmin sah finster aus, als sie nun in Schwagstorf den Kreisverkehr erreichten und ihn an der dritten Ausfahrt wieder verließen, so wie es das Navigationssystem sagte. Seit dem Telefonat hatte Jasmin kein Wort mehr gesprochen.
„Es wurde noch eine Leiche gefunden“, antwortete sie nun sauer. „Wieso müssen die Landeier gerade dann wie die Fliegen umfallen, wenn wir hier sind?“, fügte sie noch hinzu. Arne zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Also, wo müssen wir jetzt hin?“ Sie gab Gas und fuhr für Arnes Geschmack viel zu schnell auf eine scharfe Kurve zu. Kurz vor ihr bremste sie stark und riss das Lenkrad herum. „Mal langsam!“, maßregelte er seine Kollegin. „Beruhige dich mal. Ich möchte lebend nach Hannover zurückkehren. Kann doch nicht so schlimm sein! Mein Gott! So furchtbar wie du tust, ist die Gegend hier nun wirklich nicht. Also, zum dritten Mal, was ist wo passiert? Und jetzt will ich eine vernünftige Antwort!“ Arnes Stimme klang nun ebenfalls verärgert.
Jasmin machte keine Anstalten, langsamer zu fahren, und antwortete: „Ein Toter wurde gefunden, mehr weiß ich auch nicht. Nur die Adresse haben sie noch gesagt!“ Ihr Weg führte sie immer weiter in den Wald hinein. Die letzten Häuser verschwanden und links und rechts von der Straße waren nur noch Bäume und Sträucher zu sehen. Arne genoss den tollen Blick. Jasmin schimpfte vor sich hin: „Oh man, warum müssen wir das hier übernehmen? Wir sind doch nicht die einzigen Kommissare auf dieser Welt! Und dann müssen wir auch noch mitten in einen Wald!“
„Was ist daran jetzt so schrecklich?“, fragte Arne genervt. Jasmin blinkte rechts und fuhr nun auf einen Parkplatz, auf dem schon mehrere Streifenwagen standen. Als sie das Auto ab- und ausgestellt hatte, sah sie Arne an und antwortete: „Wieso durfte Till nach Hause? Ihm macht es hier nichts aus, mir schon! Ich hätte nach Hause fahren sollen! Wir haben für heute Abend einen Tisch bei dem neuen Franzosen reserviert! Schon vor Wochen! Weißt du, wie sehr ich mich darauf gefreut habe? Wer weiß, wann wir die Gelegenheit noch einmal haben. Der ist doch immer ausgebucht! Das ist gemein!“ Trotzig riss sie die Tür auf, stieg aus und knallte die Wagentür zu. Bevor Arne aussteigen konnte, klackten schon die Schlösser zu. Jasmin hatte das Auto per Fernbedienung abgeschlossen. Arne lachte auf und stieg aus.
Wie ein trotziges Kind!, dachte er und rief: „Jasmin, das klappt nicht! Du kannst mich nicht einsperren!“ Sie war auf einen uniformierten Kollegen zugegangen und drehte sich nun um. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie nicht verstand, was er meinte. Er winkte ab und rief nur: „Vergiss es!“
Den Kollegen in Uniform, den Jasmin Krüger ansprach, kannte Arne Mayer bereits. Sie waren sich schon in Fürstenau begegnet. Arne lächelte ihn an und sagte: „Hallo Herr Meier mit ei! Lange nicht gesehen!“ Der Angesprochene grinste zurück und antwortete: „Tag Herr Mayer mit ay! Das stimmt. Aber immer, wenn sich unsere Wege kreuzen, ist eine Leiche in der Nähe. Ist das ein böses Omen?“ Arne lachte: „Vielleicht liegt´s am Nachnamen!“
Jasmin stieg genervt von einem Fuß auf den anderen. Das war gerade überhaupt nicht lustig hier! Sie wollte ermitteln und dann schnell nach Hause.
„Wo müssen wir hin?“, unterbrach sie das Gespräch und sah den Kollegen aus Fürstenau böse an. Dieser ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Mit einem heiteren „Hier entlang“, ging er vor den Kommissaren her. Sie überquerten den Schotterparkplatz und folgten einem kleinen Fußweg, der an der geteerten Straße entlangführte, die sie gerade gekommen waren. Arne sah an seiner Kollegin herunter. Sie hatte sich im Hotel noch schnell umgezogen, bevor sie losgefahren waren. Nun trug sie eine lange, beige Trekkinghose, feste Schuhe und ein sogenanntes Funktionsshirt. Sie sah eher aus, als wollte sie wandern. Arne schmunzelte, weil sie das Gummi an ihren Hosenbeinen fest zusammengebunden hatte. Sicherlich hatte sie Angst, dass sich ein Tierchen darin verirren könnte.
Herr Meier mit ei ging gemütlich vor Jasmin her. Arne sah sehr wohl, wie unwohl sich seine Kollegin fühlte. Die einzige Natur, die sie kannte, waren die Bäumchen und das Koibecken im Innenhof ihres Lieblingsjapaners!
Der Kollege ging nun links herum in den Wald hinein. Jasmin folgte ihm widerwillig. Ein kleiner Weg führte sie auf eine Art Tor zu. Das gefiel Arne. Der einheimische Kollege blieb davor stehen und erklärte: „Hier beginnt der eine Wanderweg, das ´Vosspäddgen`.“
Jasmin wurde schlagartig rot. Da war sie wieder, diese komische Sprache! Arne legte seine Hand auf ihre Schulter und neckte sie: „Na, was heißt das?“ Sie stieß seine Hand weg und bevor sie antworten konnte, sagte ihr Kollege aus Fürstenau: „Das ist Plattdeutsch und heißt so viel wie Fuchsweg. Wenn man immer den kleinen Tafeln mit dem Fuchskopf folgt, dann kann man sich nicht verlaufen! Wir müssen aber hier entlang.“
Er ging am Tor vorbei, links den breiten, befestigten Weg entlang. Jasmin folgte ihm schnell, nicht gewillt, sich noch mehr von Arnes Bemerkungen anhören zu müssen.
Den Weg, den sie jetzt gingen, konnte ein Auto ohne Probleme ebenfalls nutzen. Jasmin verstand nicht, warum sie unbedingt zu Fuß durch die Wildnis gehen mussten, aber sie nahm es einfach mal hin.
An einer Gabelung sahen sie hinter den Bäumen einige Spielgeräte für Kinder.
„Das ist unser neuer Abenteuerspielplatz. Der wird gut angenommen!“ Die Straße führte immer weiter geradeaus in den Wald hinein. An der nächsten Gabelung standen bereits ein Rettungs- und Polizeifahrzeug, sowie ein Auto der Spurensicherung. Jetzt verstand Jasmin, warum sie nicht hierher gefahren waren, denn die Autos, die hier schon standen, hatten kaum Platz. Als sie stehen blieben, entdeckte Jasmin auf der linken Seite einen kleinen See. Hinter diesem verlief ein schmaler Fußweg. Er war mit einer Schranke gesperrt. Ihr Blick fiel erst auf ein Verbotsschild für Reiter und dann auf ein einfaches Holzschild. Soll das ein Fuchskopfsein?, fragte sie sich.
Der uniformierte Kollege zeigte den Weg entlang und sagte: „Da hinten ist er gefunden worden. Der Notarzt ist bei ihm. Ich denke, jetzt findet ihr den Weg selber!“ „Ja, klar, danke“, sagte Arne und ging um die Schranke herum. Jasmin folgte ihm stumm.
Sie gingen auf einem sehr schmalen Fußweg weiter. Eigentlich war es eher ein Trampelpfad. Links und rechts standen Bäume und Büsche und wenn man den Weg entlang sah, hatte man den Eindruck, dass die Pflanzen ein Dach über dem Weg darstellten. Arne seufzte. Wie konnte man nur in so einer schönen Ecke von Mutter Natur jemanden umbringen? Nun tummelten sich hier Sanitäter, uniformierte Polizisten und Mitarbeiter der Spurensicherung. Arne wurde an ihre Ankunft in Fürstenau erinnert.
Ein Mann mit der Aufschrift ´Notarzt` auf dem Rücken kniete neben dem leblosen Körper.
„Guten Tag!“, sagte Arne laut. Der Notarzt sah Arne an, erhob sich, drehte sich zu den beiden um und sagte: „Ihm wurde die Kehle durchgeschnitten!“ Offensichtlich war ihm eine förmliche Begrüßung nicht so wichtig. „Moin!“, versuchte Arne es trotzig noch einmal und reichte dem Mann die Hand. Dieser ignorierte sie und fuhr fort: „Ihr Arzt von der Gerichtsmedizin ist noch nicht da. Hier ist mein Bericht. Alles andere wird der sicherlich untersuchen.“ Damit drehte er sich um und ging einfach. Netter Mann!, dachte Arne. Er überflog den Zettel, den der Mann ihm in die Hand gedrückt hatte und schüttelte den Kopf.
Jasmin hatte sich inzwischen den Toten bereits angesehen. Sie sagte: „Schon wieder ein Reiter!“ Auch Arne erkannte die Kleidung des Mannes sofort. Wie es seine Art war, versuchte er nun, sich jedes Detail zu merken. Das Opfer lag mitten auf dem Weg. Arne schaute den Weg hinauf und auch hinunter.
„Scheinbar ist der Fundort auch der Tatort, oder?“, fragte er den uniformierten Kollegen, der neben dem Opfer stand. Dieser begann: „Tag, Anneken. Und Sie sind?“ Arne sah ihn verlegen an. Er hatte sich gar nicht vorgestellt. Er kramte in seiner Tasche nach seinem Dienstausweis. Als er ihn gefunden hatte, zeigte er ihn seinem Kollegen und sagte: „Entschuldigen Sie. Ich bin Arne Mayer und das ist meine Kollegin Jasmin Krüger. Wir sind die ermittelnden Kommissare aus Hannover.“ Der Mann schaute sich den Ausweis genau an und nickte.
„Der Tote wurde von zwei Joggerinnen gefunden. Nach deren Angaben hat er hier gelegen und sie haben ihn lediglich auf den Rücken gedreht, um zu sehen, was mit ihm nicht stimmt.“
Arne brummte. „Wo ist denn das Pferd?“, wunderte er sich.
„Pferd?“, fragte Jasmin überrascht. „Ach ja! Och, das auch noch!“ Der Polizist antwortete: „Das haben wir erst später gefunden. Das steht nicht weit von hier, bei den Hexentreppen. Der Täter hat es da an eine Holzhütte angebunden.“
Arne musste lachen. „Bei den Hexentreppen?“, vergewisserte er sich, ob er es auch richtig verstanden hatte. Der Kollege nickte. „Warst du doch schon einmal hier?“, neckte Arne seine Kollegin.
Die hatte sich über den Toten gebeugt und sah ihren Kollegen nun böse an. „Wie witzig du wieder bist! Riech mal, wie der stinkt! Bah. Grässlich!“ Sie stand auf und ging vor sich hin schimpfend auf einen Mitarbeiter der Spurensicherung zu.
Der Polizist sah Arne an und dieser lachte schadenfroh.
„Jetzt mal ernsthaft“, begann der örtliche Beamte und Arne verging das Lachen. „Der Mann hatte keine Papiere bei sich. Wir wissen also noch nicht, wer er ist. Er hatte weder einen Autoschlüssel noch ein Handy in der Hosentasche. Es ist möglich, dass er mit dem Pferd hierher geritten ist. Dann kann er nur aus der näheren Umgebung kommen. Es könnte aber auch sein, dass der Täter das Fahrzeug entwendet hat. Das Pferd ist noch hier, vielleicht ist er damit nicht klargekommen. Das Opfer ist ca. 20 Jahre alt. Er ist tätowiert, aber nichts Außergewöhnliches. Ein Hufeisen auf dem Unterarm. Scheinbar mochte er Pferde. Er ist mir persönlich nicht bekannt. Ich komme allerdings auch nicht aus dieser Ecke. Ansonsten deutet nichts auf seine Identität hin. Wir haben noch ein Handy gefunden. Das lag hier im Gras. Könnte das Handy vom Opfer oder sogar vom Täter sein. Die Spurensicherung sieht es sich gerade an.“ Ernst schaute er zu Arne herab, denn er war fast zwei Köpfe größer als der.
Arne hatte stumm zugehört und kniete sich nun neben den Toten. „Er hat viel Blut verloren. Der Täter muss etwas davon an seiner Kleidung haben. Ich gehe davon aus, dass der Täter von hinten kam, ihn packte und ihm dann die Kehle durchgeschnitten hat.“ „Das sehe ich auch so. Er muss den Mann gekannt oder zumindest gesehen haben, sonst wäre er wohl nicht vom Pferd abgestiegen.“ „Es kann natürlich auch sein, dass er abgestiegen ist, weil ihm sein Handy heruntergefallen ist. Das hat der Täter dann ausgenutzt!“, korrigierte ihn der Uniformierte. Arne nickte. „Stimmt. Das wäre dann aber wirklich ein großer Zufall, dass er genau an der Stelle sein Handy verliert, an der der Mörder auf ihn wartet. Oder aber, der Mörder hat gar nicht auf ihn gewartet, vielleicht war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort.“
„So spielt das Leben!“ Arne stand auf und ging noch einmal um den Toten herum. „Wo genau lag das Handy?“ Stumm zeige ihm sein Kollege die Stelle.
Nach einer kurzen Pause fragte er: „Wollen Sie noch mit dem beiden Frauen sprechen, die das Opfer gefunden haben?“ Arne schaute sich den Hals des Reiters genau an und der Kollege wartete geduldig auf eine Antwort. Jasmin kam dazu und schlug sich selber in den Nacken. „So ein Mist hier. Mücken, Pferdeäpfel, sonstiges Getier! Viele Informationen haben wir ja noch nicht!“ Arne sah von seiner Kollegin zu seinem Kollegen und antwortete: „Ja, wo finden wir die beiden denn?“ Dieser zeigte mit dem Daumen hinter sich auf den Krankenwagen, der an der Schranke stand, an der sie eben vorbeigegangen waren. „Okay, dann kann von uns aus der Tote abgeholt werde, oder willst du noch?“ Jasmin schüttelte verneinend den Kopf.
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Im Rettungswagen saßen zwei junge Frauen, die Arne auf Mitte dreißig schätzen würde. Sie trugen Sportkleidung und Turnschuhe. Eine von den beiden hatte ein blutverschmiertes T-Shirt an. Der Arzt, den Arne und Jasmin eben kennengelernt hatten, saß bei ihnen. Anders als eben sprach er jetzt in einem ruhigen, liebevollen Ton mit den beiden. „Sie brauchen sich wirklich nicht zu genieren“, sagte er gerade zu der Frau mit dem blutigen Oberteil. „Das ist der Schock. In so eine Situation kommt man ja nicht alle Tage. So viel Blut, das ist auch schwer zu ertragen!“ Mit diesen Worten fing die Frau an zu würgen und Arne bemerkte erst jetzt, dass der Mediziner eine silberne Schale in der Hand hatte. Diese hielt er ihr unter ihr Gesicht und sie erbrach sich, scheinbar nicht zum ersten Mal.
Jasmin blieb abrupt stehen und rümpfte die Nase. Das mochte sie überhaupt nicht riechen! Ein noch so schlimmes Gemetzel machte ihr nicht so viel aus wie eine Kotzlache neben einem Betrunken. Arne ging geradewegs auf den Wagen zu. Als Vater von zwei Kindern hatte er schon so manche Nacht damit verbracht, den Kleinen den Eimer zu halten.
„Guten Tag, ich bin Arne Mayer. Ermittelnder Kommissar aus Hannover. Sie haben das Opfer gefunden?“ Die Dame, die nicht brechen musste, drehte sich zu ihm um und nickte. Der Arzt ignorierte ihn und die andere Dame senkte erneut den Kopf. „Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“ Als wäre sie froh, den Rettungswagen und ihre Begleiterin verlassen zu können, stieg die Frau aus und ging auf Arne zu.
Aus Rücksicht auf die andere Frau fasste Arne die Zeugin am Arm und führte sie zu seiner Kollegin. Nachdem Jasmin sich vorgestellt hatte, begann sie: „Sie haben den Mann gefunden?“ Die Frau nickte. Mit dem linken Arm zeigte sie in die Richtung, aus der Arne und Jasmin eben gekommen waren.
„Wir joggen immer vom Parkplatz aus hier hoch. Bis zu den Hexentreppen und dann hinten rum wieder zum Parkplatz zurück.“ „Immer?“, hakte Arne nach. Sie nickte. „Ja, jeden Mittwoch und Freitag. Als wir in diesem Weg abgebogen sind, haben wir den Mann auf dem Weg liegen sehen. Er reagierte nicht auf unsere Rufe. Dann sind wir vorsichtig näher gegangen, um zu sehen, was passiert war. Als wir ihn auf die Seite gedreht haben, haben wir gesehen, dass …“ Sie schluckte. „So viel Blut überall!“ Nun fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare und Arne bemerkte, dass ihre Hand zitterte. „Ich habe dann den Notruf gerufen. Habe immer mein Handy dabei, damit hören wir Musik.“ Sie kramte in ihrer Hosentasche und holte ihr Handy heraus.
„Kennen Sie das Opfer?“, fragte er weiter. „Haben Sie ihn schon einmal gesehen?“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein. Den kenne ich nicht. Ich habe auch keinen Bezug zu Pferden.“
„Wo wohnen Sie beide?“, wollte Arne wissen. „Wir kommen aus Berge. Das ist der nächste Ort hinter Bippen.“ Den Ortsnamen hatte er schon wo gelesen. „Ist Ihnen hier noch etwas anderes aufgefallen, was sonst nicht da ist? Eine weitere Person, ein weiteres Auto oder Geräusche?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Als wir kamen, stand auf dem Parkplatz nur der Geländewagen mit dem Pferdeanhänger. Meine Freundin meinte, Pferdegewieher gehört zu haben, bevor wir den Toten fanden!“ „Pferdegewieher?“ Sie nickte.
Als sie sich die Nase putzte, sah Jasmin an ihr herunter. Was für Kleidung sie trug! Damit konnte man doch nicht vernünftig joggen! Die waren sicherlich aus einem Discounter und nicht aus einem Sportgeschäft. Jasmin rümpfte die Nase. Die Schuhe waren sicher nicht einmal atmungsaktiv.
Ein Mann mit einem großen Koffer in der Hand trat in die Runde und stellte sich vor: „Pascal Spand. Ich bin der Rechtsmediziner. Wo finde ich das Opfer?“ Er gab jedem die Hand. „Hier entlang“, erwiderte Jasmin und führte ihn den Weg hinauf.
Arne, der einen Moment überlegt hatte, fragte: „Wie lange hat das gedauert, von ihrer Ankunft auf dem Parkplatz bis zum Auffinden der Leiche?“
Die junge Frau schätzte: „Vielleicht 20 Minuten oder so?“ Er nickte. „Und sie haben dann sofort die Rettung angerufen?“ „Ja.“ „Wie lange dauerte es, bis die hier waren?“ Sie überlegte wieder. „Vielleicht ca. 10 Minuten.“ „Wann war das genau?“ „Wir treffen uns immer um 11 Uhr. Dann waren wir vielleicht um 12 Uhr hier. So ungefähr!“
Arne sah auf seine Uhr. „Einen Moment bitte!“, sagte er und lief schnellen Schrittes zum Rettungswagen. „Wer von ihnen war als Erstes hier?“, fragte er in die Runde.
Der Fahrer des Rettungswagens, der bei offener Tür hinter seinem Lenkrad saß, antwortete: „Wir. Ca. 8 Minuten nach Eingang des Notrufes.“ „Haben Sie auf dem Parkplatz einen Geländewagen und einen Anhänger gesehen?“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Soweit sind wir gar nicht gefahren. Wir waren gerade auf dem Weg zurück nach Ankum, als der Notruf einging. In Schwagstorf sind wir dann abgebogen und hier sofort in den Weg rein. Die Frau hinten hat an der Straße gestanden und uns gewunken.“
„Scheiße!“, sagte Arne. Laut rief er: „Wer war als Erster auf dem Parkplatz?“
Der Polizist von eben sagte: „Meine Kollegin und ich.“ „Wann genau?“ „Ca. 10 Minuten nach dem Rettungswagen.“ „Haben Sie einen Geländewagen mit Anhänger gesehen?“ „Nein, da stand nur der Twingo der beiden Zeuginnen.“ „Ganz sicher?“ „Natürlich“, entgegnete der Polizist so bestimmt, dass es keinen Zweifel zuließ.
Arne ging zurück zu der Joggerin, die alles geduldig beobachtet hatte. „Was für ein Geländewagen war das denn? Wissen Sie die Marke?“ „Ein Mercedes, dunkelblau. Auf dem Anhänger waren zwei große ineinander geschwungene M aufgemalt. Der war auch dunkelblau. Sah alles ziemlich neu aus. Aber das Kennzeichen habe ich mir nicht gemerkt.“
Er rannte zurück zum Rettungswagen und war nun etwas außer Atem. An die junge Frau gerichtet, die mit blassem Gesicht in dem Gefährt saß, fragte er: „ Ist Ihnen das Fahrzeug aufgefallen, das auf dem Parkplatz stand, als sie hier angekommen sind?“ Sie sah ihn an und sagte leise: „Schon.“ „Wissen Sie was für ein Fahrzeug das war?“ „Ein Mercedes mit einem Pferdeanhänger. Dunkel.“ Wieder würgte sie, aber dieses Mal konnte sie es unterdrücken. „Wissen Sie vielleicht, welches Kennzeichen es hatte?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Tut mir leid. Aber es war auf jeden Fall OS. Sonst wäre mir das aufgefallen!“ „Danke“, sagte Arne.
Er ging auf den uniformierten Kollegen zu, mit dem er eben schon gesprochen hatte. „Fahnden Sie mal nach einem dunkelblauen Mercedes mit einem blauen Pferdeanhänger dahinter, auf dem zwei große M angebracht sind. Es muss ein Osnabrücker Kennzeichen sein. Vermutlich ist der Täter damit geflohen.“ Der Mann nickte und ging zu einem Streifenwagen.
„Vielen Dank!“, sagte Arne zu der jungen Sportlerin, als er sie wieder erreicht hatte und gab ihr seine Karte. „Sollte Ihnen noch etwas einfallen, dann können Sie mich hier unter dieser Handynummer erreichen. Ihre Personalien haben wir ja, oder?“ Die Frau nickte. „Gut. Danke für Ihre Hilfe.“
Arne drehte sich um und ging nun zu Jasmin. „Hast du was?“, fragte er sie.
„Die Kollegen versuchen gerade, das Handy zu entschlüsseln. Der Kollege da will uns zu dem Zossen bringen. Ist nur ein kleiner Fußmarsch, sagt er. Durch Mücken, Spinnennetze und Sträucher! Ich freu mich!“ Arne ignorierte ihre Bemerkung dieses Mal und sagte: „Der Wagen des Opfers hat noch auf dem Parkplatz gestanden, als die beiden Frauen hier ankamen. Jetzt ist er weg. Der Fahrer des Rettungswagens kann nichts dazu sagen, weil er eine Einfahrt vorher abgebogen ist, aber der erste Streifenwagen gibt an, dass nur das Auto der Damen auf dem Parkplatz gestanden habe. Ich habe schon eine Fahndung rausgegeben. Schade, dass wir das Kennzeichen nicht haben!“
Jasmin hörte zu und kommentierte dann: „Dann war der Täter noch da, als die Frauen kamen. Haben sie ihn gestört?“
„Könnte sein. Die Frau sagt, als sie angekommen seien, habe die eine Pferdegewieher gehört.“ „Vielleicht hat der Täter das Pferd aus genau dem Grund hier gelassen.“ „Hm“, machte Arne.
Der Gerichtsmediziner kam auf sie zu. „Der Mann hatte keine Chance. So wie es aussieht, hat ihn jemand von hinten gepackt und mit einem ca. 13 cm langen Gegenstand die Adern im Hals durchgeschnitten. Es muss ein sehr scharfer Gegenstand gewesen sein. Vielleicht ein Messer, Säbel o.ä. Der Täter wusste, was er tat. Er hat die Mordwaffe etwas nach unten gedreht, dadurch fließt das Blut nicht in einem großen Schwall aus dem Hals, sondern direkt auf den Boden. So konnte er beeinflussen, dass er nicht so viel Blut abbekommt. Weitere Verletzungen sind nicht vorhanden. Er hat offene Stellen an den Händen und Armen. Die stammen wahrscheinlich von seiner Arbeit, sind teilweise schön älter. Seine Hände lassen darauf schließen, dass er körperliche Arbeit gewöhnt ist. Ich schätze ihn so auf ca. 20 Jahre ein.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alle Rechte lieben bei der Autorin
Bildmaterialien: Melanie Jungk
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2016
ISBN: 978-3-7396-8699-8
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