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Nicht erschrecken

 

„Nicht erschrecken!“

Bob ließ das Handy fallen. Es landete auf dem harten Parkettboden, wobei der Bildschirm nach oben wies. Auf dem Display blickte ihm seine Frau entgegen, doch die Stimme, die Bob den Schreck in die Glieder hat fahren lassen, stammte eindeutig von einem Mann, den er nur allzu gut kannte. Lydia hatte er nach der Beerdigung nicht mehr gesehen. Nachdem sie Blumen in das Grab geworfen hatte, begleitet von einigen Tränen, war sie verschwunden. Lydia wollte nach der Beisetzung noch einmal alleine zum Grab gehen, um von ihrem geliebten Sohn in aller Stille Abschied nehmen zu können. Sie kehrte nicht zurück. Bob hatte den ganzen Friedhof abgesucht, doch sie war wie vom Erdboden verschluckt. Er machte sich Sorgen um seine Frau, hatte sie vergeblich angerufen, mehrmals, und nun blickte ihm ihr von tiefen Falten durchfurchtes Antlitz entgegen. Die Falten hatten sich in der letzten Woche noch tiefer in ihre Haut gegraben, weil der schreckliche Unfall ihre heile Welt in Fetzen gesprengt hatte. Jerome, ihr gemeinsamer Sohn hatte die Kontrolle über sein Motorrad verloren und war gegen einen Baum geprallt. Er trug schwere Kopfverletzungen davon. Die Ärzte versetzten ihn in ein künstliches Koma, doch zwei Tage später konnten selbst die medizinischen Geräte sein Leben nicht erhalten. Er starb, die lebenserhaltenen Maschinen wurden ausgeschaltet, sein Leben für beendet erklärt. Von da an, bis zur heutigen Beisetzung, war Bobs Frau nicht mehr ansprechbar gewesen. Sie unterstützte ihren Mann nicht bei den anstehenden Formalitäten. Lydia verschanzte sich ihrem Zimmer und nahm Tabletten. Sie verarbeitete ihre Trauer mit Pillen, deren Wirkung er nicht kannte.

 

Lydias Gesicht verblasste, das Display färbte sich schwarz, schwarz wie der Tod, von dem Bob gerade einen Anruf erhalten hatte. Die Stimme, die immer noch in seinem Ohr nachhallte, gehörte zweifellos Jerome, seinem verstorbenen Sohn. Sie klang zwar ähnlich wie die von Gerry, was nicht verwunderlich war, denn Jerome und Gerry waren eineiige Zwillinge. Während Jerome bis zum letzten Tag bei den Eltern gewohnt hatte, verließ Gerry vor fünfzehn Jahren die Familie im Zorn. Mochten die Söhne optisch gleich sein, vom Charakter waren die beiden so gegensätzlich wie Feuer und Wasser. Gerry glich einem wilden Wolf, Jerome einem frommen Lamm. Gerry hatte von Kindheit an eine aggressive Ader in sich getragen. Schlägereien auf dem Schulhof gehörten zur Tagesordnung. Als er seine Mutter krankenhausreif geschlagen hatte, setzte Bob ihn vor die Tür. Seitdem war der Kontakt abgebrochen. Von dem Tag an veränderte sich Lydia zusehends. Ihr einst harmonisches Zusammenleben bekam nicht enden wollende Risse. Lydia fiel in tiefe Depressionen, die sie mit Tabletten bekämpfte. Eine Therapie kam für sie nicht in Frage, weil sie fremde Hilfe strikt ablehnte. Selbst ihren Ehemann hielt sie auf Distanz, doch Bob stand ihr bei, denn er liebte seine Frau nach wie vor.

 

Der Klingelton seines Handys ließ Bob erneut zusammenzucken. Er griff sich an die Brust, weil er dort ein krampfhaftes Stechen verspürte. Seine Schreckhaftigkeit hatte ihm vor drei Jahren bereits einen Herzinfarkt beschert. Er atmete einmal tief durch und bückte sich zum Handy, das vibrierend über das Parkett rutschte. Bob hob es auf und nahm den Anruf entgegen.

„Dad, hörst du mich? Sag doch was!“

„Ich höre dich“, schnaufte Bob schwer atmend. „Jerome, bist du es wirklich“?

„Ja, Dad!“ Die Stimme klang dumpf, als würde man ihr die Luft abschnüren. „Ich weiß nicht, wo ich bin. Es ist dunkel und kalt. Ich habe gerade das Handy gefunden und damit geleuchtet. Ich bin in irgendeiner Kiste eingesperrt, die aussieht wie ein Sarg. Alles ist mit einem hellen Stoff bespannt. Ich liege unter einer Decke, trage einen schwarzen Anzug und kann mich kaum bewegen. Was ist passiert, Dad? Wo bin ich? Ich habe fürchterliche Angst!“

Bob konnte nicht glauben, was er da hörte, wusste nicht, was er antworten sollte. Das Stechen in der Brust war nach wie vor vorhanden, doch er spürte es nicht mehr. Jerome war seit mehreren Tagen tot, er lag unter der Erde und sprach jetzt zu ihm. Hatte man ihn etwa lebendig begraben, ein unvorstellbarer Gedanke. Bob versuchte einen klaren Kopf zu wahren, mit zitternder Stimme sagte er: „Du musst mir glauben, was ich dir jetzt sage, so unglaublich es auch klingen mag, Jerome. Du bist gestorben, man hat dich heute Nachmittag beerdigt.“

„Das kann nicht sein. Sag mir, dass das nicht wahr ist!“

„Du hattest einen schlimmen Motorradunfall und lagst im Koma. Die Ärzte konnten dir nicht helfen, sie haben alles Menschenmögliche getan, doch sie konnten dein Leben nicht retten. Sie haben dich für tot erklärt, mein Junge. Ihnen ist wohl ein schrecklicher Fehler unterlaufen, anders kann ich mir das nicht erklären“, sagte Bob wie in Trance, ohne seine eigenen Worte zu verstehen.

„Ein Fehler! Ich erinnere mich an nichts. Als ich die Augen aufschlug, war nur Dunkelheit um mich herum, eine Dunkelheit, aus die ich gerade erwacht bin. Es riecht nach modriger Erde, die Luft ist stickig und stumm. Jetzt sagst du, man hat mich begraben, obwohl ich am Leben bin. Wieso steckt man mir ein Handy in die Hosentasche, wenn man mich für tot hält? Ist jemand davon ausgegangen, dass ich wieder aufwache? Ma vielleicht, denn es ist ihr Handy, das ich gerade in der Hand halte. Ich verstehe das alles nicht. Kannst du mir Ma mal geben, sie muss doch wissen, wie das Handy in meine Tasche gelangt ist?“

„Deine Mutter schläft bereits, der heutige Tag hat sie doch sehr mittgenommen,“ log Bob, der seinen Sohn nicht zusätzlich aufregen wollte.

„Okay, lass sie schlafen! Dad, bereite dem Wahnsinn ein Ende, du musst mich hier rausholen, jetzt sofort, bitte!“

„Ja, ich komme so schnell ich kann. Ich rufe noch ein paar Leute an, die mir helfen, dann fahre ich unverzüglich los“, verkündete Bob.

„Nein, du musst alleine kommen. Ich möchte nicht, dass mich jemand so sieht.“

„Mit tatkräftiger Unterstützung bin ich schneller“, meinte Bob, der Jeromes Aussage nicht nachvollziehen konnte.

„Du musst es ohne fremde Hilfe schaffen, Dad. Versprich mir, dass du alleine zum Friedhof fährst“, forderte Jerome beinahe flehend.

„Versprochen“, mit diesem Wort brach die Verbindung ab.

 

Bob sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Seine maroden Knochen waren müde, doch der ohnehin schon anstrengende Tag hatte eine unglaubliche Wendung genommen. Viele Gedanken wirbelten durch seinen Kopf, das unheimliche Telefonat hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht. Sein Sohn lag unter der Erde und hatte mit Lydias Handy angerufen. Wie konnte das sein? Bob schüttelte die Gedanken ab, zog eine dicke Jacke über den schwarzen Anzug, den er immer noch trug, und eilte nach draußen. Eisige Oktoberkälte schlug ihm entgegen. Der böige Wind peitschte durch sein Gesicht. Bob rannte zur Garage und öffnete das Tor. An der Wand hingen sauber aufgereiht einige Gartengeräte. Bob nahm zwei Schaufeln und legte sie in den Kofferraum seines alten Kombis. Als er an der Fahrertür lehnte, merkte er, wie seine Knie zitterten. Wie sollte er in dem Zustand ein Grab ausheben? Bob wusste es nicht, doch er musste es versuchen. Wieviel Zeit würde er haben, wie lange hatte Jerome unter der Erde Luft zum Atmen? Bob war nur bewusst, dass er sich beeilen musste. Er stieg ein und fuhr los.

 

Der Friedhof lag außerhalb der Stadt, man benötigte mit dem Auto etwa eine Viertelstunde. Bob trat das Gaspedal durch und raste mit überhöhter Geschwindigkeit durch den Ort. Viele verkleidete Gestalten wandelten über die Fußwege. Einige trugen dunkle Gewänder, auf denen weiße Skelette gestickt waren. Außerdem erkannte Bob Gummimasken, die abscheuliche Zombiegesichter imitierten. Es war Halloween, kam Bob in den Sinn, was ihn zusätzlich erschaudern ließ. Er durfte sich nicht ablenken lassen, musste sich auf die Straße konzentrieren, um schnellstmöglich den Friedhof zu erreichen. Eine kahlköpfige Kreatur mit nur einem Ohr und zerfetzter Nase winkte ihm zu, als das Handy plötzlich ertönte. Bob riss erschrocken das Steuer nach links, sah aus den Augenwinkeln ein rotes Licht aufleuchten und trat reflexartig auf die Bremse. Die Reifen quietschten. Kurz vor der Ampel kam das Auto zum Stehen. Bob griff zum Handy, das auf dem Beifahrersitz lag. Kalter Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet. Sein ohnehin geschundenes Herz schlug ihm bis zum Hals. Die tief umrandeten Augen von Lydia starrten ihn an. Bob nahm ab.

„Bist du unterwegs, Dad?“ Die Stimme klang noch dumpfer als zuvor.

„Ja, aber ich bin noch in der Stadt“ antwortete Bob.

„Mach so schnell du kannst. Mir geht es nicht gut. Ich habe eine Scheiß-Angst. Mir ist kalt und schwindelig. Ich habe fürchterlichen Durst. Mein Mund ist ausgetrocknet, die Zunge klebt mir ständig am Gaumen fest. Das Gesicht brennt, ich fühle Krusten, die zum Bersten gespannt sind. Und dann diese höllischen Kopfschmerzen. Ich halte das nicht mehr lange aus, Dad. Außerdem höre ich Geräusche, als würde jemand über den Sarg kratzen. Erde bröckelt durch die Ritzen, ich kann sehen wie sich der Stoff bewegt. Ich habe überhaupt kein Zeitgefühl mehr und gehofft, dass du schon gräbst, Dad, warum sonst sollte ich die Geräusche hören? Was kann das sein?“

„Ich weiß es nicht, mein Junge.“

„Das Atmen fällt mir immer schwerer und ich spüre meine Beine nicht mehr, weil ich mich nicht bewegen kann. Sie sind wie abgestorben. Die Platzangst macht mich wahnsinnig. Wann bist du endlich hier, Dad?“

„Ich beeile mich. Du musst ganz ruhig bleiben, Jerome, atme langsam und gleichmäßig, damit du nicht so viel Sauerstoff verbrauchst. Am besten, du legst jetzt auf. Versuch dich zu entspannen, schließ die Augen und denke an etwas Schönes. Ich bin bald bei dir, ich lasse dich nicht im Stich, Jerome, niemals“, versprach Bob.

Lydias Gesicht verblasste wortlos, dafür schlug ihm grünes Licht entgegen. Jemand hupte, was zu einem weiteren schmerzvollen Schlag in Bobs Brust führte. Er startete mit qualmenden Reifen und gab Vollgas.

 

Er kam an eine grölende Menge Zombies vorbei, die mit Bierflaschen bewaffnet waren. Einer der betrunkenen Untoten rollte einen ausgehöhlten Kürbis, aus dem kleine Flammen schlugen, auf die Straße. Bob erschrak, versuchte dem Kürbis auszuweichen, was nicht gelang. Der Kürbiskopf wurde vom rechten Vorderreifen des Kombis zermalmt. Bob hörte noch das Gelächter von den betrunkenen Geschöpfen der Nacht, die ihm freudig hinterherwinkten. Trotz des makabren Zwischenfalls, fokuszierte Bob sich auf die Straße, was sich links und rechts abspielte, ignorierte er fortan. Er hatte nur ein Ziel vor Augen, Jeromes letzte Ruhestätte.

 

Bob erreichte den Friedhof ohne weitere Vorkommnisse. Er parkte den Kombi auf dem unbefestigten Parkplatz, der abseits der Hauptstraße lag. Ein einsamer und verlassener Ort, besonders zu nächtlicher Stunde. Uralte Eichen umgaben den Friedhof wie schweigende Totenwächter, nur der böige Wind konnte ihnen ein unheimliches Rauschen entlocken. Knochige Wurzeln ragten aus dem Boden. Bob stolperte über eine dieser Wurzeln, als er sich zum Kofferraum begeben wollte. Er konnte den sich anbahnenden Sturz mit einem Griff an die Dachreling verhindern. Ihm schlotterten die Knie. Seine körperliche Verfassung bereitete ihm Sorgen. Mit einundsechzig Jahren war er nicht mehr der Jüngste und sein Nervenkostüm hatte seit dem Anruf arge Risse bekommen. Was er jetzt zu tun hatte, würde ihm alles abverlangen. Bob öffnete die Heckklappe und nahm beide Schaufeln an sich. Die zweite hatte er nur zur Vorsicht mitgenommen, falls eine brechen sollte, oder er doch unerwartete Hilfe in Anspruch nehmen musste. Er hätte Jeromes Bedingung, allein zu kommen, einfach ignorieren sollen. Ohnehin kam ihm die Aussage seines Sohnes sehr suspekt vor. Warum durfte ihn niemand so sehen, in einem verschlossenen Sarg? Seine Situation war zwar unglaublich und glich einer Horrorvorstellung, doch warum vertraute er nur ihm, obwohl sein Leben davon abhing? Jetzt war es zu spät sich darüber Gedanken zu machen, Bob musste sich auf seine eigenen Fähigkeiten verlassen. Er steckte noch die Taschenlampe ein, die er für alle Fälle immer im Auto liegen hatte, und ging zum Eingang.

 

Ein schwarz lackiertes Eisentor war zwischen zwei gemauerten Säulen eingelassen. Die Pforte knirschte in den Angeln, als Bob sie aufschob. Ein kalter Schauer kroch über seinen Rücken. Der Vorplatz des alten Friedhofs war mit Klinkersteinen gepflastert, rechts befand sich die kleine Kapelle. In dem Backsteingebäude hatte am Nachmittag der Pfarrer die letzten Worte für Jerome gesprochen, bevor er im Familiengrab beigesetzt wurde. Dort ruhten bereits Bobs Eltern und Großeltern, dort wollte auch er beerdigt werden. Bob leuchtete nach links. Der Lichtstrahl erfasste einen schmalen Weg, der von hochgewachsenen Koniferen gesäumt wurde. Bob bewegte sich auf den Weg zu, wobei ihm eine der Schaufeln aus der Hand rutschte. Sie fiel scheppernd auf die Pflasterung. Einige Krähen flüchteten laut kreischend aus den Bäumen. Bob hob die Schaufel auf. Die aufgeschreckten Vögel verstummten in sicherer Entfernung, die Dunkelheit hatte sie verschluckt. Der Wind flaute zusehends ab, eine bedrückende Stille machte sich breit. Bob schritt zielstrebig über den engen Pfad, der direkt zum Grab führte.

 

Der gesamte Friedhof wurde von einer Buchenhecke umgeben, die zu dieser Jahreszeit ihre Blätter abwarf. Links von der schon teilweise kahlen Hecke wucherte das Unterholz eines angrenzenden Waldes, in dem Bob schon mit seinem Vater Pilze gesucht hatte. Mit seinen Söhnen hatte er ihn nur einmal aufgesucht, wobei sich die Begeisterung der Jungs in Grenzen gehalten hatte. Besonders Gerry hatte schon in jungen Jahren keinerlei Interesse an gemeinsame Aktivitäten gezeigt, er lungerte lieber mit zwiespältigen Freunden herum. Er war zwar Teil der Familie gewesen, doch die Zusammengehörigkeit hatte ihm nie etwas bedeutet. Jetzt wusste Bob nicht einmal wo Gerry wohnte. Vielleicht saß er ja sogar im Gefängnis, was nicht abwegig erschien. Kurz nach seinem Auszug, wurde sein abtrünniger Sohn wegen Körperverletzung verhaftet. Er verbrachte anschließend mehrere Monate in einer Jugendhaftanstalt. Vor zwei Jahren kam Bob zu Ohren, dass Gerry mit Drogen handelte und die Polizei ihn bereits im Visier hatte. Das war das Letzte, was er von Jeromes Zwillingsbruder gehört hatte.

 

Bob leuchtete in den Wald hinein. Feuchter Nebel hatte sich wie ein durchsichtiges Tuch über den Waldboden gelegt. Der Lichtstrahl wanderte von einem Baumstamm zum nächsten. Einige Motten flatterten durch das vom Nebel getrübte Licht. Er schwenkte die Lampe zurück und verharrte an der Hecke. Goldfarbene Augen starrten Bob entgegen. Leichte Panik schlich sich in Bobs Glieder. Als die Katze ihn fauchend ansprang und sein Bein attackierte, setzte sein Herzschlag für einen Moment aus. Bob geriet ins Stolpern und fiel rücklings in eine Konifere. Eine Schaufel hätte sich beinahe in seinen Rücken gebohrt, doch er konnte sie in letzter Sekunde beiseite schleudern. Die Taschenlampe flog im hohen Bogen durch die Luft und landete genau neben der Katze auf dem Weg. Das wildgewordene Tier streckte den Schwanz in die Höhe, blähte sich mit einem gewaltigen Buckel auf und sprang auf Bob zu. Der wehrte den Angriff mit erhobener Hand ab. Die scharfen Krallen der Katze rissen tiefe Striemen in seinen Handrücken. Bob trat mit dem Fuß nach seinem Widersacher. Die Katze jaulte auf und ergriff die Flucht. Schwer schnaufend rappelte Bob sich auf. Seine Hand schmerzte, Blut quoll aus der aufgeschlitzten Haut. Bob sog es mit dem Mund auf und spuckte es auf den Boden. Seine Kleidung war mit abgestorbenen Baumnadeln übersät. Einige zwickten unter dem Hemdkragen in seinen Hals, doch damit wollte er sich nicht aufhalten. Bob sammelte Schaufeln und Taschenlampe ein, dann begann er zu rennen. Er hatte viel Zeit verloren, Zeit, die Jerome am Ende fehlen könnte.

 

Wenige Augenblicke später erreichte er die Grabstätte. Einige Kränze und Gestecke lagen auf der frisch aufgehäuften Erde. Scheinbar war der Friedhofswärter nicht ganz fertig geworden, denn überschüssiger Sand verteilte sich noch auf dem Weg. Bob legte die Lampe auf den Gedenkstein, der am Fuße des Grabes in die Höhe ragte. In dem schwarzen Stein waren die Daten der verstorbenen Familienmitglieder eingraviert. Jeromes Name fehlte noch, das sollte für lange Zeit so bleiben, wenn Bob seine Mission erfüllte. Er nahm eine Schaufel und fing an zu graben. Er hatte noch nicht viel Erde ausgehoben, als sein Telefon wieder klingelte. Bob zog es aus der Hosentasche. Lydias Antlitz erhellte in der Dunkelheit sein Gesichtsfeld. Bob nahm ab.

„Wo bist du, Dad?“ Die krächzende Stimme hörte sich schwach an, müde und verzweifelt.

„Ich bin hier, mein Junge. Ich habe gerade angefangen zu graben. Ich versuche, mich zu beeilen, aber es wird sicherlich noch eine Weile dauern. So lange musst du noch aushalten, Jerome! Schaffst du das?“ Während Bob das Handy an sein Ohr hielt, rann warmes Blut aus der Wunde in seinen Ärmel.

„Ich versuch es, doch mir geht es nicht gut. Ich bekomme kaum noch Luft, sie schmeckt bitter und beißt in den Lungen. Ich traue mich kaum noch zu atmen, mein Kopf weigert sich, doch ich will nicht ersticken. Dad, hol mich hier raus! Bitte!“

„Ich tue alles in meiner Macht stehende, Jerome, das kannst du mir glauben. Ich werde dich da unten nicht alleine deinem Schicksal überlassen und bin bald bei dir“, sagte Bob, ohne seine Worte wirklich wahrzunehmen. Er stand auf dem Grab seines Sohnes, der wenige Fuß unter ihm lag und um sein Leben rang, das er angeblich bereits ausgehaucht hatte. Er telefonierte mit ihm, weil ein Haufen Erde sie voneinander trennte. Konnte man durch die Erdschicht Signale empfangen, dachte Bob und verwarf den Gedanken gleich wieder. Stattdessen sagte er: „Wir sollten nicht länger reden, Jerome. Du musst sorgsam mit der verbleibenden Luft umgehen und ich darf keine Zeit verlieren. Wir schaffen das, okay!“

„Ich will nicht sterben, Dad, nicht jetzt und vor

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Norbert Böseler
Bildmaterialien: EvgeniT - Pixabay.com
Cover: Norbert Böseler - Bild: EvgeniT - Pixabay.com
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2020
ISBN: 978-3-7487-4492-4

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