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Der Geisterfahrer

 

Ein letzter Augenblick

Am Ende des dunklen Weges strahlte ein helles Licht. Nach der Erlösung, stand es für Hoffnung. Verschmolzen mit der endgültigen Finsternis, hoffte man auf das ewige Licht, auf ein Leben nach dem Tod. Der Glaube daran spendete Kraft. Der Augenblick des Todes musste nicht zwangsläufig der Letzte sein.

 

1

 

Ungläubige Menschen wie Frank Schubert gab es zuhauf. Ihm waren Prophezeiungen jeglicher Art gleichgültig, sie interessierten ihn nicht im Geringsten. Dafür hatte er andere Sorgen. Als Lkw-Fahrer stand man ständig unter Druck. Achtzehn Jahre fuhr er jetzt, immer für die gleiche Spedition, immer dem Stress von Lieferterminen ausgesetzt, was ihm vor vier Jahren einen Herzinfarkt beschert hatte. Sein Idealgewicht hatte er schon lange vorher eingebüßt. Den Bauchansatz konnte er nicht mehr verleugnen, zudem brachte er hundertfünfzehn Kilo auf die Waage. Ein Privatleben führte er nur noch sporadisch. Eintönigkeit bestimmte seinen Tagesablauf. Für Abwechslung sorgten lediglich die Bordellbesuche, die er sich gelegentlich gönnte. Ansonsten verbrachte er viele Nächte in der Koje seines Lkw. Häufig versuchte er, dem Alltag mit Alkohol zu entfliehen.

Vor seinem Herzinfarkt führte er ein glückliches Familienleben. Er hatte eine wunderbare Frau und einen Sohn, auf den er besonders stolz war. Durch seinen Job ging langsam alles in die Brüche. Er war selten zuhause und falls doch, spülte er seinen Frust häufig mit Alkohol herunter. Trotz wiederholter Warnungen seiner Frau, so könne es nicht weitergehen, änderte er nichts. Im Gegenteil, er beschimpfte sie und den Jungen immer öfter, meistens im betrunkenen Zustand. Geschlagen hatte er die beiden nie. Die Wochenenden verbrachte er oftmals in Bordellen, was ein großes Loch in die Haushaltskasse riss. Als eines Abends der Streit mit seiner Frau besonders schlimm wurde, wobei er sie aufs Übelste beschimpft hatte, packte sie am darauffolgenden Morgen ihre Koffer und verließ mit dem Jungen das Haus. Sie zog zu ihrer Mutter und reichte zwei Wochen später die Scheidung ein. Gut drei Monate danach gab ihm der Herzinfarkt den Rest.

Der Krankenhausaufenthalt kam ihm wie eine Ewigkeit vor und die anschließende Reha erwies sich als kontraproduktiv. Er griff wieder zum Alkohol, der ihm Trost spendete. Ein halbes Jahr später war Schubert geschieden und saß wieder in seinem Lkw. Das kleine Häuschen wurde einvernehmlich verkauft und er mietete eine kleine Wohnung in der Stadt an, wo er meistens jedes zweite Wochenende verbrachte und sein Bier trank. Wenn er aber fuhr, war er immer nüchtern. Restalkohol am nächsten Morgen hatte er seiner Meinung nach nie.

 

Auch heute fühlte er sich gut, obwohl er am vorherigen Abend wieder tief ins Glas geschaut hatte. Sein Lastzug war mit Autobatterien beladen, die er morgen Mittag beim Großhandel ausliefern sollte. Der Verkehr auf der Autobahn lief flüssig und er war gut im Zeitplan. Trotzdem musste er sich jetzt nach einem Rastplatz für die Nacht umschauen, da die Plätze üblicherweise rar gesät waren. Eine halbe Stunde später bog er auf einen Rasthof ein, den er häufiger anfuhr. Es waren noch genügend Parknischen frei und er steuerte eine nahe dem Rasthaus an. Er wollte sich erst im Waschraum frischmachen und dann ein ordentliches Abendessen zu sich nehmen. Frank, beileibe kein Kostverächter, liebte die reichhaltigen Menüs des Hauses. Er wurde auch heute nicht enttäuscht. Die schmackhafte Mahlzeit spülte er mit fünf oder sechs Glas Bier herunter und genehmigte sich als krönenden Abschluss noch einen hochprozentigen Kräuterschnaps. Als er am späten Abend das jetzt gut gefüllte Rasthaus leicht schwankend verließ, war auch der Parkplatz restlos belegt. Frank rauchte noch eine Zigarette. Es war eine sternenklare Nacht im Mai, von der eine angenehme Wärme ausging. Nachdem er ein zweites Mal die Toilette aufgesucht hatte, öffnete er die Tür des Führerhauses und stieg ein. Bis auf Unterhemd und Unterhose entkleidet, kletterte er in die Koje und deckte sich mit seinem Bettlaken zu. Es dauerte nicht lange, bis ihn der Schlaf einholte. Frank schlief einen tiefen, festen Schlaf und träumte von der gestrigen Nacht mit Nina, seiner Lieblingshure.

 

Niemand bemerkte, wie gegen Mitternacht ein großer, ganz in Schwarz gekleideter Mann mit feuerroten kurzen Haaren in Franks Lkw einstieg. Der Mann öffnete die Fahrertür nicht, er stieg einfach durch sie hindurch. Auch sah niemand, wie der Mann mit den roten Haaren wenig später Franks Lkw auf gleiche Weise wieder verließ und anschließend in die Dunkelheit der Nacht verschwand. Als Frank Schubert am nächsten Morgen gegen sieben Uhr aufwachte, war er tot.

 

2

 

Morgenstund hat Gold im Mund, dachte sich Kai Schmelzer und stand sehr früh auf. Er musste heute zu einer Sicherheitsschulung für Bänker. Als Filialleiter einer kleinen Volksbank handelte es sich dabei für ihn um einen Pflichttermin, obwohl es bereits sein drittes Seminar im Laufe der letzten acht Jahre war. Man konnte ihm in puncto Sicherheit nicht mehr viel beibringen, außerdem war er ein Mann der Tat. Für den Fall der Fälle hatte er schon seit Jahren eine 9-mm-Beretta mit vollem 15 Schuss Magazin in seinem abschließbaren Schreibtisch liegen. Gebraucht hatte er die Pistole noch nie, aber wenn es nötig sei, würde er sie ohne zu zögern benutzen. Als Sportschütze, und dank einer umfangreichen Ausbildung bei der Bundeswehr, wusste er mit einer Waffe umzugehen. Die Schulung sollte um elf Uhr beginnen und würde bis zum späten Abend dauern. Für die Übernachtung hatte er sich ein Hotelzimmer vorbestellt, denn eine Rückfahrt bei Nacht wollte er sich nicht zumuten. Kai hatte gerade sein Frühstück beendet, als seine Frau Emma herunterkam und ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange drückte. Die beiden waren seit zehn Jahren verheiratet und hatten im letzten Jahr hölzerne Hochzeit gefeiert. Eine große Party, mit Freunden, Nachbarn und der lieben Verwandtschaft. In den zehn Jahren ihrer Ehe gebar Emma zwei Kinder, Paul und Lisa. Emma und Kai waren ein stolzes Elternpaar. Er liebte seine Familie über alles. Besonders stolz war er auf das Einfamilienhaus, welches sie vor fünf Jahren gebaut hatten. Dank seiner guten Beziehungen konnte er eine Finanzierung zu günstigen Konditionen aushandeln. Der Kredit lief noch einige Jahre, doch die Ratenzahlung stellte kein Problem dar. Emma, die auch in der Volksbank gearbeitet hatte, war, nachdem die Kinder auf der Welt waren, zuhause und ging ihrer Tätigkeit als Mutter nach, was sie ausgesprochen gerne tat.

Die Kinder würden heute Morgen noch etwas länger schlafen können, aber Kai musste jetzt langsam los. Er wollte für die Fahrt auf der Autobahn genug Zeit einplanen, um nicht rasen zu müssen. Die kleine Reisetasche hatte er bereits gestern Abend gepackt. Er holte noch eine Jacke und war abreisebereit. Emma legte ihm unmissverständlich nahe, dass er vorsichtig sein solle, und dass sie ihn liebte. Er bestätigte dies seinerseits und gab ihr einen liebevollen Kuss. Kai Schmelzer stieg in seinen Wagen, schnallte sich an und fuhr los.

 

3

 

Auch Bommel war schon früh mit seinem Tanklastzug auf der Autobahn unterwegs. Bommel wurde er genannt, weil er immer eine ihm viel zu kleine Mütze mit einem Bommel trug. Er belieferte umliegende Tankstellen mit Benzin. Er fuhr fast immer die gleichen Touren und konnte demnach seine Zeit gut einteilen. Er hatte nicht den Stress, wie ihn die meisten seiner Kollegen auf der Straße verspürten. Klar, mal musste er eine oder zwei Tankstellen mehr am Tag beliefern, aber das glich sich im Laufe der Woche meistens wieder aus, wenn er mit einer anderen Tour früher fertig wurde. Zeitig aus den Federn musste er immer, da sein Tank gegen sechs Uhr befüllt wurde. Danach wurden kurz mit den Kollegen einige Neuigkeiten ausgetauscht und über Fußball diskutiert, dann ging es auch schon los. Heute hatte er eine wirklich kurze Tour zu fahren und würde, wenn alles glatt lief, zeitig zuhause sein. Das traf sich gut, da heute Abend der allmonatliche Kartenabend mit seinen Kumpels stattfand. Seit sieben Jahren war dieser Doppelkopfabend fester Bestandteil in seinem Leben. Sie spielten mit einem Einsatz von zehn Cent, tranken ein paar Bier und hatten viel Spaß miteinander. Die Gewinne gingen in eine Gemeinschaftskasse, von der sie einmal im Jahr für ein langes Wochenende wegfuhren, um noch mehr Spaß zu haben. Aber jetzt hieß es erst einmal die erste Tankstelle anzufahren und mit Benzin zu beliefern.

Nicht weit hinter Bommel auf der Autobahn fuhr Kai Schmelzer.

 

4

 

Frank Schubert kratzte sich im Schritt und reckte seine maroden Glieder. Er setzte sich in der Koje auf, wobei er wie so oft mit dem Kopf am Verdeck anstieß und wütend fluchte. Er verspürte keinen Schmerz. In dem Moment, als es geschah hatte er es schon wieder vergessen. Rein äußerlich schien er völlig unversehrt zu sein, ihm war nicht anzusehen, dass in der Nacht etwas Ungewöhnliches passiert war. Schubert wusste auch nicht, dass etwas vorgefallen war. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, wie die Pupillen nicht schwarz, sondern tief dunkelrot waren, außerdem hatten seine Augen jeglichen Ausdruck verloren. Es ruhten tote Augen in seinen Höhlen, die keinerlei Gefühle mehr ausstrahlten. Der eigentliche Frank Schubert, der Lkw-Fahrer und geschiedene Ehemann mit dem Herzinfarkt, war nicht mehr seiner selbst, er war in der Nacht zuvor gestorben. Sein Körper ja, der hockte in der Koje, ein Körper ohne Seele, der nicht wusste, was er tat oder gerade getan hatte. Die Seele, die, die Frank Schubert gehörte, sein eigentliches Ich, welches für sein Handeln, seinen Charakter und seine Gefühle zuständig gewesen war, hatte sich aus dem eigentlichen Körper entfernt. Der Geist des Frank Schubert hatte die Person Frank Schubert auf unerklärliche Weise verlassen.

 

Aber der wirkliche Schubert war bei ihm, ganz in der Nähe, und sah, was sein Körper tat. Er sah sich im Schritt kratzen und wie er sich den Kopf anstieß, konnte aber keinerlei Gefühle ausdrücken. Schubert hatte keinen Kontakt mehr zu seinem leibhaftigen Ebenbild. Er musste tatenlos mitansehen was dieser tat, ohne Einfluss nehmen zu können. Schuberts Geist konnte denken und nahm war, was um ihn herum geschah. Konnte die Person Frank dieses auch? Er wusste es nicht, wusste nicht, was sein Gehirn dachte, das Gehirn, welches ihm einmal gehört hatte. Und warum hatte er geflucht, als er sich den Kopf angestoßen hatte? Fühlte der Körper dennoch etwas, auch ohne seine Seele? Die Seele Schubert erlebte alles mit, da sie Frank umgab wie ein unsichtbares Schild, war aber unfähig zu handeln. Es fühlte sich so an wie ein Fahrzeug zu fahren, ohne es lenken oder bremsen zu können. Wenn es gegen einen Baum fuhr, würde man das Unheil nicht verhindern können. Schuberts Körper war zu einem führerlosen Wesen geworden.

 

Schubert hörte auf, Vergleiche zu ziehen und sah als Nächstes, wie Frank aus der Koje kroch und seine Schuhe anzog. Er nahm eine Zigarettenschachtel von der Ablage, öffnete die Fahrertür und stieg aus. Es war ein schöner Morgen im Frühling und für diese Zeit schon angenehm warm. Frank zündete eine Zigarette an und schaute sich um. Der Parkplatz hatte sich bereits merklich geleert. Viele Fahrer fuhren schon früh bei Dunkelheit los, um ein gutes Stück Fahrstrecke zurückzulegen, bevor der Berufsverkehr die Autobahn verstopfte. Während Frank seine Zigarette rauchte, machten sich zwei Lkw auf den Weg. Einen der Fahrer kannte er gut, oder besser hatte ihn gut gekannt. Frank warf die Zigarette achtlos weg. Nur mit weißer Feinripp-Unterwäsche und Schuhen bekleidet, machte er sich auf den Weg zum WC-Gebäude. Er ging quer über den Parkplatz, nicht auf den Gehweg, wo er möglicherweise mehreren Leuten begegnet wäre. So kam er ungesehen zum Toilettenhaus. Das Männerklo war leer als er eintrat. Er stellte sich an ein Pissoir und begann zu urinieren. Sein Urin war klar wie Wasser. Frank hatte sein Geschäft noch nicht ganz beendet, als ein ihm gut bekannter Fahrer hereinkam. Der Fahrer musterte Frank von oben bis unten.

„Schicke Unterwäsche, Frank“, sagte er mit einem Schmunzeln im Gesicht, „hast du etwa beim Strip-Poker verloren?“

Frank sah ihn nur mit seinen kalten Augen an und beendete sein Geschäft. Anschließend entlüftete er seinen Darm. Der Furz roch widerlich, so als stamme er direkt aus der Hölle.

„Willst du mich jetzt auch noch vergasen?“, schimpfte der Fahrer.

Frank sah den Kollegen wieder mit einem bösen Blick an, sagte aber nichts. Schubert ahnte, was jetzt kommen würde, etwas, das nicht zu Franks Gewohnheiten gehörte. Schubert mobilisierte seine ganze Gedankenkraft, um das Unheil zu verhindern. Erfolglos, er erreichte Frank nicht. Frank stellte sich drohend vor seinen Kollegen und streckte sich mit dem Oberkörper nach hinten. Der Lkw-Fahrer sah noch, bevor er mit einer Kopfnuss niedergestreckt wurde, wie sich Franks Pupillen weiteten und in ein teuflisches Rot verfärbten. Frank brach ihm mit der Kopfnuss die Nase, aus der gleich Blut spritzte und sein Unterhemd besprenkelte. Dann drückte er den Kopf des Fahrers herunter, rammte mit dem Knie unter dessen Kinn und brach ihm den Unterkiefer. Der Fahrer fiel bewusstlos zu Boden.

Später würde er Frank Schubert wegen schwerer Körperverletzung anzeigen, ohne zu wissen, was zwischenzeitlich passiert war.

 

Frank verließ mit einem Grinsen im Gesicht das Toilettenhaus und ging diesmal über den Bürgersteig zurück zu seinem Lkw. Ein junges Paar kam ihm entgegen und wich angewidert über die Fahrbahn aus. Frank sah in seiner blutbespritzten Feinripp Unterwäsche auch nicht besonders einladend aus. Beim Lkw angekommen, zündete er sich wieder eine Zigarette an und ging nach hinten. Er öffnete die Verladetür des Aufliegers und stieg in den Innenraum. Frank machte sich daran die Spanngurte zu lösen, welche die Gitterboxen mit den Autobatterien auf der Ladefläche verankerten. Als er damit fertig war, stieg er wieder aus und schloss die Tür, ohne dabei den Sicherheitsbügel zu verriegeln. Sich noch einmal umschauend, stieg Frank in das Führerhaus und ließ den Motor an. Völlig entspannt mit einem Lächeln auf den Lippen verließ Frank den Rastplatz und fuhr auf die Autobahn.

Schubert wurde immer nervöser. Er hatte wieder schlimme Vorahnungen.

 

Frank fuhr vorschriftsmäßig, blieb aber nicht lange auf der Autobahn. Gleich bei der nächsten Abfahrt setze er den Blinker und lenkte den Lkw von der Autobahn herunter. An der Bundesstraße angekommen, bog er links ab, setzte aber gleich wieder den Blinker nach rechts. Frank nahm die Auffahrt, die ihn wieder auf die Autobahn brachte. Mit rot leuchtenden Augen fuhr Frank auf die Abfahrt, die in entgegengesetzter Richtung führte. So wurde Frank Schubert im wahrsten Sinne des Wortes zum Geisterfahrer.

 

Schubert fuhr mit. Er kam sich vor wie in einem wahnsinnigen Alptraum. Es fühlte sich so an, als würde er in einem leeren Raum schweben, wie ein Astronaut im Weltall, nur mit dem Unterschied, dass er keine Sterne sah, sondern ein irres Monster mit roten Augen, das genauso aussah wie er. Und das Monster fuhr mit seinem Lkw Amok. Der leere Raum um ihn herum war nicht der Himmel, sondern die Hölle. Der Teufel bestrafte ihn für die Schandtaten, die er gegenüber seiner Familie begangen hatte. Schubert der Ungläubige war der festen Überzeugung, dass der Teufel ihn in einem Alptraum verbannt hatte. Er sollte für all die Schlechtigkeiten, die er in seinem Leben zuhauf begangen hatte, büßen. Schubert glaubte, der Alptraum würde erst enden, wenn er seine Sünden bereut hatte. Während Frank in falscher Richtung auf die Autobahn fuhr, betete Schubert zum ersten Mal in seinem bereits beendeten Leben zu Gott.

 

5

 

Bommel war guter Dinge. Die bisherige Fahrt verlief absolut reibungslos. Er kam bei fließendem Verkehr zügig voran und war voll in seinem Zeitplan. Gleich würde er an einem Rasthof vorbeikommen, wo er hätte eigentlich frühstücken wollen. Er verwarf dieses Vorhaben jedoch, um Zeit zu sparen. Er konnte besser später zu Mittag essen, nachdem er die zweite Tankstelle beliefert hatte. Die nächste Abfahrt nach dem Rasthof musste Bommel von der Autobahn runter und würde dann die Tankstellen über Bundes - und Landstraßen anfahren können. Als er am Rasthof vorbeikam, spielten sie im Radio gerade Highway to Hell von AC/DC. Gemeinsam mit Bon Scott sang er lauthals den Refrain. Er war schon lange eingefleischter Fan der australischen Band und hielt den verstorbenen Sänger Bon Scott für besser als dessen Nachfolger Brian Johnson. Bon Scott war auch nach seinem Tod immer noch ein Rockstar. Brian hingegen blieb für ewige Zeiten nur der neue Sänger von AC/DC. Bon sang ausgezeichnet, was man von Bommels Gesang nicht gerade behaupten konnte. Aber egal, hier konnte ihn niemand hören, was gut so war. Vor ihm befanden sich keine Fahrzeuge, er hatte freie Sicht. Gut gelaunt freute er sich auf den Abend. Bommel sang gerade den letzten Refrain von Highway to Hell, als er sah, was da plötzlich am Horizont auftauchte. Es war groß und kam mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zugerast. Bommel blieb der letzte Vers des Songs im Halse stecken, dann schaltete er die Warnblinkanlage ein, und wusste gleich, dass er am heutigen Abend keine Kartenrunde mehr spielen würde. Höchstens mit Bon Scott im Himmel.

 

6

 

Frank hatte in seinem vorherigen Leben nie sehr viel Glück gehabt, aber dies schien sich in seinem jetzigen Zustand geändert zu haben. Als er die A1 in falscher Richtung auffuhr, kamen ihm zwei Pkw entgegen und rauschten hupend an ihm vorbei. Sein Glücksfall war jedoch schon in Sichtweite. Ein großer Tanklastzug, wahrscheinlich, wie er hoffte, mit Benzin befüllt. Das Rot in Franks Augen wurde immer intensiver. Sie leuchteten wie überempfindliche Augen bei einer falsch belichteten Blitzlichtfotografie. Frank drückte das Gaspedal soweit es ging nach unten und sah, wie der Tanklaster nach links auf die Überholspur wechselte. Frank zog seinen Lkw nach rechts, sodass er wieder direkt auf ihn zufuhr.

 

Schubert schrie, schrie so laut er konnte in die endlose Leere hinein, fand aber kein Gehör. Frank war für ihn unerreichbar. Für Schubert war es die größte Strafe, zu sehen, was sich vor ihm anbahnte, ohne in irgendeiner Weise eingreifen zu können. Er hoffte, dass seine eigenen Schreie ihn aus dem schrecklichen Traum weckten, der sich vor seinen Augen vollzog. So schrie und betete Schubert zugleich. Was Frank ganz offensichtlich vorhatte, war der Wahnsinn. Er würde auch andere Menschen gefährden, wahrscheinlich sogar mit in den Tod reißen. Und was würde mit ihm und Frank geschehen? Würden sie auch sterben, diesmal endgültig, und würden sie Schmerzen verspüren? Schubert sah den Tanklastzug immer näherkommen und schrie weiter.

 

Frank fühlte nichts, er befand sich im Rausch des Todes. Er wusste zwar, was er tat, nur nicht warum. Seine Wahrnehmung wurde von fremder Hand geleitet. Es fühlte sich an, als würde er gesteuert werden wie eine leblose Marionette. Er konnte nichts anderes tun, als das zu befolgen, was ihm befohlen wurde. Der Körper von Frank diente als Befehlsempfänger. Der Befehl lautete: Fahr auf diesen Tanklastzug zu, zerstöre ihn und alles andere!

Die Räder des Tanklastzuges fingen an zu qualmen, weil Bommel voll auf die Bremse trat. Bommel konnte nicht noch einmal ausweichen, dafür blieb keine Zeit. Das starke Abbremsen brachte auch nicht die erhoffte Wirkung, da der Fahrer des Lastzuges Vollgas gab und nun kurz vor ihm war. Der Zusammenprall ließ sich nicht mehr vermeiden. Bommel sah noch das irre Gesicht des Fahrers und die grellen roten Augen, bevor sein Leben mit einem lauten Knall beendet wurde.

 

Kurz vor dem Aufprall wusste Frank, dass es vollbracht war. Er hatte getan, was getan werden musste. Er hatte den Befehl ausgeführt. Wer auch immer ihm den Befehl erteilt hatte, konnte nun zufrieden sein. Franks letzter Blick erhaschte noch den Fahrer des Tanklastzuges und dessen komische Mütze auf dem Kopf, dann wurde er in eine endlose Dunkelheit gerissen.

 

Schubert verspürte Angst, weil sein Traum Wirklichkeit wurde. Im Angesicht des Todes, kurz vor dem Aufprall, vereinten Frank und Schubert sich miteinander, Körper und Geist wurden wieder eins. Im Augenblick der Wiedervereinigung hatte Frank Schubert Todesangst. Er wollte noch die Bremse treten, den Zusammenstoß verhindern, doch da war es zu spät. Schmerzen durchfuhren seinen Körper. Ein kurzer heftiger Schmerz, bevor es dunkel wurde und Frank Schubert wirklich starb.

 

Der Zusammenprall der beiden Lastzüge war von immenser Wucht. Die Führerhäuser wurden zusammengedrückt wie zwei Blechdosen. Glas und Metall splitterte und zerstreute sich zu allen Seiten. Franks Auflieger knickte zur Seite und rutschte auf die Fahrbahnmitte zu. Bommels Tank knallte an die Leitplanken, prallte von dort ab, und bewegte sich ebenfalls auf die Mitte der Straße zu. Wie eine überdimensionale Filmklappe schlugen die beiden Auflieger quer auf der Autobahn aneinander. Die von Frank nicht ordnungsgemäß verriegelte Ladeklappe öffnete sich und die Gitterboxen mit den Autobatterien rutschten auf die Fahrbahn. Die stählernen Boxen überschlugen sich und Batterien flogen funkensprühend in alle Richtungen. Durch die Wucht des seitlichen Aufpralls riss der Auslassstutzen des Tanks ab, woraufhin Benzin auslief. Eine große Menge der brennbaren Flüssigkeit verteilte sich schnell auf dem Asphalt. Als eine Autobatterie in der Benzinlache landete und dabei funkensprühend zerplatzte, entzündete sich das Benzin sofort. Das entstandene Feuer breitete sich blitzschnell auf der Straße aus und erreichte in Sekundenschnelle Bommels Tanklastzug. Es folgte eine gewaltige Explosion, die kilometerweit zu hören war. Beide Lastzüge standen augenblicklich lichterloh in Flammen und schwarzer Rauch stieg auf. Frank Schubert und Bommel verbrannten bis zur Unkenntlichkeit in ihren Führerhäusern.

 

7

 

Kai Schmelzer war ganz entspannt unterwegs. Der Verkehr auf der Autobahn lief reibungslos und er würde in weniger als einer Stunde sein Ziel erreicht haben. Zuerst wollte er im Hotel einchecken, dann dort ein zweites Frühstück zu sich nehmen und mit einem Taxi zum Schulungsort fahren. Dort musste er sich wohl oder übel Vorträge anhören, die er schon in und auswendig kannte. Abschließend würde er eine obligatorische Urkunde erhalten, die bestätigte, dass er erfolgreich an dem Sicherheitsseminar teilgenommen habe. Kai passierte gerade einen Rasthof, als ihn ein Kleinwagen überholte. Schmelzer fuhr nicht schnell, obwohl sein Pkw so einige Pferdestärken unter der Haube hatte. Ein ganzes Stück weiter vor ihm befand sich ein Tanklaster. Im Rückspiegel erkannte er einen weißen VW-Bulli, der den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand einhielt und wohl nicht überholen würde. Als Kai sich dem Tanklaster näherte, verdeutlichte ein orangefarbenes Warnschild, dass er mit Benzin befüllt war. Der Kleinwagen war schon fast auf gleicher Höhe mit dem Tanklastzug, als dieser anfing zu schlingern. Der Tankwagen zog nach links rüber, sodass der kleine Pkw abbremsen musste. Jetzt erkannte Kai auch den Grund des abrupten Manövers. Vor ihm tauchte ein zweiter Lkw auf. Kai ging sofort vom Gaspedal. Der entgegenkommende Lkw wechselte nun ebenfalls die Fahrbahnseite und fuhr somit direkt auf den Tanklastzug zu. Dieser hatte das Warnblinklicht angeschaltet und bremste so stark, bis die Räder anfingen zu rauchen. Der Kleinwagen bremste stark ab und lenkte scharf nach rechts ein. Infolgedessen drehte er sich um die komplette eigene Achse. Kai Schmelzer trat die Bremse gerade bis zum Anschlag durch, als die Lastzüge zusammenstießen. Es gab einen lauten Knall und einen weiteren, als die Auflieger seitlich aufeinanderprallten.

 

Schmelzers Auto kam zum Stehen, als ein ohrenbetäubender Knall ertönte und eine Explosion alles in Flammen setzte. Etwas kam mit hoher Geschwindigkeit auf Kai zugeflogen. Schmelzer konnte nicht erkennen, dass es sich um eine Autobatterie handelte, die knapp über sein Auto hinwegflog und in die Windschutzscheibe des hinter ihm stehenden Bulli‘s einschlug. Die Batterie zerschmetterte den Kopf des Fahrers. Weitere Autobatterien flogen wie Geschosse in alle Himmelsrichtungen durch die Luft. Einige Fahrzeuge auf der anderen Fahrbahnseite wurden auch von umherfliegenden Batterien getroffen. Sie verursachten dort aber wundersamer Weise nur Blechschäden und leichtere Verletzungen, wie sich später herausstellen sollte. Ebenso gab es auf dieser Fahrbahnseite einige Auffahrunfälle, als der Verkehr dort zum Erliegen kam. Auch auf der Seite des Unfalls bildete sich umgehend ein Stau. Kai stand nur wenige Meter von dem auf dem Asphalt brennenden Benzin entfernt, doch der Kleinwagen stand mit den Vorderrädern im Feuer. Kai Schmelzer schnallte sich ab und lief zu dem Fahrzeug. Er musste schnell handeln, da der Wagen jeden Moment in Flammen aufgehen konnte. Sein Gesicht schützte er mit vorgehaltenem Arm. Der Rauch reizte seine Augen zu Tränen. Zunächst lief er zu der Beifahrertür und öffnete sie. Der Griff war heiß und im Fahrzeuginneren hatte sich starker Rauch entwickelt. Drinnen saß hustend ein älteres Paar. Schmelzer beugte sich über die Frau auf dem Beifahrersitz, löste den Anschnallgurt, griff ihr unter die Arme und zog sie aus dem Auto. Er trug sie ein Stück von den Flammen weg und setzte sie am Rand der Standspur ab. Einige Leute, die jetzt ihre Fahrzeuge verlassen hatten, schauten teilnahmslos zu, nur jüngerer Mann kam zu ihm und der Frau.

„Rufen sie die Feuerwehr und den Notarzt“, schrie Kai den Mann an.

Die Frau aus dem Golf wimmerte nur: „Mein Mann, wo ist mein Mann?“

Schmelzer drehte sich um und lief wieder zum brennenden Auto. Er versuchte die Fahrertür zu öffnen, doch sie klemmte. Mit all seiner Kraft zog er ruckartig am Türgriff, der jetzt sehr heiß war und seine Handfläche ansengte. Eine Batterie kam auf Kai zugeflogen, verfehlte ihn knapp und prallte von der Leitplanke in anderer Richtung ab. Nach mehrfachen verzweifelten Versuchen, ging die Tür endlich auf. Im Wagen hatte sich giftiger Rauch entwickelt und die extreme Hitze verformte bereits den Kunststoff der Innenausstattung. Der Mann hing regungslos über dem Lenkrad. Schmelzer machte es wie bei der Frau und zog den Mann auf gleiche Weise heraus. Sie hatten die Standspur noch nicht erreicht, als der Kleinwagen explodierte. Kai legte den Mann einige Meter von der Frau entfernt im Gras ab. Der alte Mann atmete nicht. Kai fühlte nach dem Puls, konnte ihn aber nicht spüren. Mit Mund zu Mund Beatmung versuchte Kai den Mann zurückzuholen. Er beatmete ihn und drückte auf den Brustkorb, so wie er es in diversen Erste-Hilfe-Kursen gelernt hatte. Seine intensiven Bemühungen wurden nicht von Erfolg gekrönt, der alte Mann verstarb unter seinen Händen. Die Frau sah zu ihnen herüber und brach in Tränen aus.

 

Der erste Notarztwagen traf fünf Minuten später ein. Weitere zehn Minuten später kam die Feuerwehr. Es dauerte noch eine Weile, bis weitere Spezialfahrzeuge der Feuerwehr die Unfallstelle erreichten und den Brand mit einem Schaumteppich bekämpften. Wie durch ein Wunder kamen, außer die direkt Betroffenen, keine weiteren Menschen zu schaden. Es gab zwar Prellungen und Verstauchungen durch die vielen Auffahrunfälle, aber ansonsten waren hauptsächlich Materialschäden zu beklagen. Der Notarzt konnte nur noch den Tod des alten Mannes feststellen und dem Fahrer des VW-Bulli`s war auch nicht mehr zu helfen. Die verkohlten Leichen von Frank Schubert und Bommel wurden später geborgen.

 

Insgesamt war die Autobahn für mehrere Stunden gesperrt, ehe der Verkehr wieder einseitig an der Unfallstelle vorbeigeleitet werden konnte. Die leicht Verletzten versorgte man an Ort und Stelle. Auch Kai Schmelzer wurde behandelt und seine Hand mit einem Brandverband verbunden. Später wurde er von der Polizei, die nun auch zahlreich vor Ort war, nach dem Unfallhergang befragt. Kai war gerade im Gespräch mit einem Polizisten, als ein Motorradfahrer in schwarzer Ledermontur die Unfallstelle langsam passierte und direkt zu ihm herüberschaute. Kai Schmelzer blieben die roten Haare des Mannes unter dem schwarzen Helm verborgen.

 

8

 

Zwei Tage später wurde der verstorbene alte Mann aus dem Kleinwagen im Leichenhaus seines Heimatortes aufgebahrt. Am nächsten Morgen, als der Friedhofswärter die Leichenhalle öffnete und den Aufbahrungsraum betrat, war der alte Mann verschwunden. Eine Fensterscheibe hatte man von innen mit einem Kerzenständer eingeschlagen. Wiederum zwei Tage später fand man den alten Mann in einem nahegelegenen Wald. Er hatte sich an einem Baum aufgehängt.

Lotsen

 

1

 

Wandler hatte es schon immer gegeben, genauso wie Lotsen, die sie beherrschten und führten. Leid und Verbitterung führten dazu, dass der Lotse Schlimmes mit Bösem vergelten wollte. Nur ganz wenige entdeckten ihre Fähigkeit zu wandeln, und noch weniger waren in der Lage, diese Gabe zu nutzen. Der bislang letzte Lotse war eine Frau gewesen und ihren Wandler kannte die ganze Welt. Er hieß Lee Harvey Oswald.

 

2

 

Sie war eine intelligente, aber verbitterte Frau und hasste die USA. Der Staat hatte ihr alles genommen, was ihr im Leben wichtig gewesen war. Sie lebte glücklich mit ihrem Mann in einem kleinen Dorf in Texas. Sie hatte sich damit abgefunden, dass sich ihr ersehnter Wunsch nach eigenen Kindern nicht erfüllen würde, da ihr Mann zeugungsunfähig war. Aber die beiden machten das Beste aus ihrem Leben. Bis zu jenem Tag im Juni 1958, als ein kleines Mädchen aus dem Dorf verschwand. Sie war auf dem Weg zur Schule gewesen, dort jedoch nie angekommen. Suchtrupps und Dorfbewohner durchstreiften die umliegenden Wälder und fanden drei Tage später die Leiche des Mädchens. Der Mörder hatte das Kind unter Laub verscharrt. Die ermittelnden Beamten verdächtigten gleich ihren Mann, da er zur Tatzeit kein Alibi hatte. Sein Weg zur Arbeit kreuzte den Schulweg des Mädchens, nur war ihr Mann an diesem Tag nicht bei der Arbeit erschienen. Er behauptete, einen Freund besucht zu haben, um eine Überraschung für seine Frau zum Hochzeitstag vorzubereiten. Der Freund konnte oder wollte dieses Zusammentreffen nicht bestätigen. Man fand Fußabdrücke seiner Schuhe am Tatort, wo er oft zum Pilzesuchen unterwegs gewesen war. Er verstrickte sich bei den Verhören in immer mehr Widersprüche. Seiner Frau versicherte er immer wieder seine Unschuld. Weitere Ermittlungen wurden eingestellt, da alle Indizien gegen ihren Mann sprachen. Er wurde Mitte 1959 für schuldig befunden und zum Tode verurteilt.

 

Ende des Jahres wurde das Urteil vollstreckt. Die Frau, die immer an die Unschuld ihres Mannes geglaubt hatte, verließ das Dorf im darauffolgenden Jahr und zog nach Dallas, wo sie niemand kannte. Ihre Wut auf den Staat schlug in Hass um und sie merkte, dass dieser Hass Unvorstellbares in ihr bewirkte. Sie ließ sich nichts mehr gefallen, wurde sogar handgreiflich, wenn sie gereizt wurde. Sie ahnte, dass sie allein durch ihren grenzenlosen Willen zu mehr fähig war. Wenn sie Menschen mit ihren wütenden Blicken ansah, wichen diese verängstigt aus. Irgendeine innere Eingebung, sie wusste nicht, woher diese kam, sagte ihr, dass sie zu mehr imstande war, mehr als man sich vorzustellen konnte. Nach und nach wurde ihr die Fähigkeit des Wandelns vermittelt.

 

Im Jahre 1962 machte sie einen ersten Versuch und holte sich mit einem Obdachlosen ihren ersten Wandler. Sie wollte mit dem Obdachlosen Erfahrungen sammeln. Sie musste wissen, ob sie einen Wandler führen konnte. Die Frau tötete den Mann und hauchte ihm ihren Atem ein. Am ersten Tag ließ sie den Probanden seinen normalen Tagesablauf durchleben. Am zweiten Tag experimentierte sie mit ihm. Er musste Dinge verrichten, die er wahrscheinlich nie zuvor in seinem Leben gemacht hatte. Am dritten Tag hatte die Frau genug gesehen, sie war mit dem Ergebnis ihres Experiments mehr als zufrieden. Die Frau ließ den Obdachlosen in der Nacht zu einem Friedhof gehen. Er setzte sich an einen abgelegenen Grabstein. Der Mann öffnete eine Flasche mit billigem Whiskey und nahm einen großen Schluck. Dann zerschlug er die Flasche am Grabstein und schnitt sich mit einer Scherbe die Pulsadern auf. Wässrig aussehendes Blut schoss aus seinen Adern. Nach einer Weile versiegte der Blutstrom und der Mann lehnte tot am Grabstein. Dieser Tod war endgültig. Mitleid empfand die Frau nicht.

 

Oswald lernte sie zufällig Anfang 1963 in einem Restaurant in Dallas kennen. Sie saß am Nebentisch und bekam ein Gespräch mit, das Oswald mit einem ihm bekannten Mann führte. Es handelte sich um ein politisches Gespräch und sie hörte heraus, dass Oswald der jetzigen Regierung nicht wohlgesonnen war, und dass er Kontakte zu den Russen hatte. Neugierig geworden, beobachtete sie ihn über einen längeren Zeitraum, denn er tauchte immer wieder in der Stadt auf und traf sich mit irgendwelchen Leuten, um Gespräche zu führen. Mittlerweile wusste sie, dass er mit einer Russin namens Marina verheiratet war und eine Tochter hatte. Es folgte eine Zeit, wo er über Monate hinweg nicht anzutreffen war. Vielleicht war er umgezogen und hatte die Stadt verlassen, vermutete die Frau. Doch im September tauchte er wieder auf und sie konnte ihn wieder des Öfteren beobachten. Sie glaubte nicht, dass Oswald sie jemals wahrgenommen hatte. Im Oktober beschloss sie, Oswald als Wandler zu nutzen.

Die Gelegenheit, sich ihm einzuvernehmen, ergab sich am 18 November. Am Abend beobachtete sie, wie Oswald in eine Bar ging. Sie wartete über drei Stunden, ehe Oswald die Bar wieder verließ. An seiner Gangweise erkannte sie, dass er betrunken war. Oswald nahm ein Taxi, welches vor der Bar stand. Zum Glück gab es ein zweites Taxi, sie stieg ein, und bat den Fahrer dem anderen Taxi zu folgen. Oswald hielt vor einem kleinen Motel und stieg aus. Sie bezahlte den Fahrer und stieg ebenfalls aus. Sie wartete draußen bis sie sah, wie links bei einem der Fenster Licht angeschaltet wurde. Sie verharrte noch eine Stunde vor dem Motel, ging dann zu dem Fenster wo sie Oswald vermutete. Das Licht war mittlerweile ausgeschaltet. Sie stellte sich auf die Fensterbank, bückte sich und stieg einfach durch die Fensterscheibe hindurch, ohne das Glas zerbrach. Oswald schlief tief und fest, er bemerkte nicht das Geringste, als er getötet wurde. Die Frau verließ das Zimmer so, wie sie es betreten hatte, ging einen Block weiter und fuhr mit einem Taxi nach Hause.

 

Oswald zu führen war weitaus schwieriger als bei dem Obdachlosen. Er wehrte sich mit all seiner Willenskraft, die sehr ausgeprägt zu sein schien. Sie schaffte es aber dennoch, ihn zu kontrollieren. Die Frau fand heraus, dass Oswald im Besitz einer Waffe war und brachte ihn dazu sie zu holen. Sie achtete darauf, dass sich Oswald möglichst unauffällig verhielt. Ihren Plan hatte sie sich schon vor Monaten zurechtgelegt. Sie hatte Oswalds Arbeitsplatz, die Texas School Book Despository, akribisch besichtigt. Sie wusste, der Präsident der Vereinigten Staaten würde dort am 22 November mit einem Autokonvoi vorbeifahren. Oswald sollte die Waffe einen Tag vorher an seinem Arbeitsplatz deponieren. Ihn dazu zu bringen, bedurfte für die Frau ungemeiner Anstrengung. Oswald musste immer ruhig bleiben, seine Pupillen durften sich nicht verfärben, wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegte. Über Oswald zu herrschen kostete der Lotsin viel Kraft, doch sie setzte alles daran ihr Vorhaben durchzuführen. Sie wollte Rache, dieses Gefühl trieb sie an.

 

Am 22 November war es dann soweit. Tag der Vollstreckung. Amerika hatte ihren Mann hingerichtet, jetzt würde sie Amerika hinrichten. Sie ließ Oswald wie gewohnt morgens um acht Uhr zur Arbeit gehen. Sein Geist wehrte sich vehement und sie kam einer Ohnmacht nahe. Sie war ein guter Lotse und behielt die Kontrolle. Als sich der Konvoi näherte, holte Oswald unbemerkt seine Waffe und platzierte sich am Fenster. Um 12:30 Uhr hatte Oswald Präsident John F. Kennedy im Visier. Die unscheinbare Frau brachte ihn mit letzter Kraft dazu abzudrücken, dann wurde sie ohnmächtig.

Als sie wieder aufwachte, war Präsident Kennedy tot und Oswald bereits verhaftet. Letzteres entsprach nicht ihrem Plan, Oswald hätte sich gleich nach dem Attentat erschießen sollen. Nur ihre eigene Ohnmacht hatte das verhindert. Sie konnte ihn nicht mehr mit ihrem Willen kontrollieren, erreichte ihn nur noch bruchstückhaft, und konnte nicht verhindern, dass Oswald seine Unschuld beteuerte. Oswalds Willen war jetzt zu stark für sie, dabei wurde die Frau immer schwächer, konnte sich nicht mehr auf den Wandler konzentrieren. Es war reiner Zufall, als Oswald zwei Tage nach seiner Verhaftung von einem Mann namens Jack Ruby erschossen wurde.

 

Auch für Oswalds Lotsen war der Kampf zu Ende. Die Frau litt unter quälenden Kopfschmerzen, als würde der Kopf jeden Moment zu zerplatzen drohen. Kurz nach Oswalds wirklichem Tod, fiel sie leblos zu Boden. Um das Attentat auf Kennedy gibt es bis heute viele Spekulationen, doch niemand hatte jemals die Frau in Verdacht, die zwei Tage später in ihrer Wohnung tot aufgefunden wurde. Sie war an einem Gehirnschlag gestorben.

 

3

 

Zehn Jahre nach Kennedys Ermordung erblickte ein kleiner Junge das Licht der Welt, von der die junge Mutter wenig später ging. Die Frau wurde von einem Rettungswagen ins Krankenhaus eingeliefert. Ein anonymer Anrufer hatte den Notruf getätigt und als Adresse den örtlichen Park genannt. Der Notarzt fand die Frau laut wimmernd auf einer Parkbank vor. Ihre Jeans war im Schritt rot verfärbt und sie hatte offensichtlich starke Wehen. In der Notaufnahme des Krankenhauses wurde sie von zwei Ärzten versorgt. Die Frau hatte innere Blutungen, was die Ärzte dazu veranlasste, das Kind zu holen. Der Säugling kam viel zu früh auf die Welt, war aber wohlauf. Trotz aller Bemühungen konnte die Mutter nicht gerettet werden. Sie verstarb kurz nach der Geburt.

 

Der neugeborene Junge kam auf die Früchenstation, wo mehrere Säuglinge rund um die Uhr betreut wurden. Die Polizei wurde eingeschaltet, um die Identität der Frau zu ermitteln. Zunächst ohne Erfolg, da die Person ohne Papiere aufgefunden worden war. Eine Woche später kam eine etwa gleichaltrige

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Norbert Böseler
Bildmaterialien: kwasny221 - Fotolia.com
Cover: Norbert Böseler: Bild - kwasny221 - Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2019
ISBN: 978-3-7487-0474-4

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