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Inkers Ink

Inkers Ink

Die Einstiche brannten wie Feuer. Er genoss den Schmerz. Mit etwa hundert Stichen in der Sekunde trieb die Nadel Tätowierfarbe unter seine Haut. Bis zu einem halben Millimeter tief wurden die bräunlichen Farbpigmente gestochen. Das summende Geräusch der Tätowiermaschine klang wie Musik in seinen Ohren. Heute war die letzte von fünf Sitzungen, doch er wusste bereits jetzt, dass dies nicht sein einziges Tattoo bleiben würde. Sein heller Körper gierte nach Veränderung. Er wollte sich ändern, aus der grauen Masse herausragen, durch eine einzigartige Farbenpracht, die seine Haut zieren sollte. Und er war süchtig nach dem Schmerz.

 

Er saß leicht vorgebeugt auf einem Hocker und sah in dem Spiegel, der vor ihm an der Wand hing, wie sich der asiatisch aussehende Tätowierer auf das entstehende Kunstwerk konzentrierte. Die ohnehin schon schmalen Augen waren nur einen winzigen Spalt geöffnet, als er mit ruhiger Hand die summende Nadel über die enthaarte Haut führte. Er schien beim Tätowieren in einer völlig anderen Welt zu sein, wie bei einem spirituellen Ritual, bei dem man alles um sich herum vergaß. Räucherstäbchen, die auf einem Beistelltisch standen, ließen den Duft von Ingwer durch den Raum schweben. Der Inker strahlte eine unheimliche Aura aus, die auch Jonas erfasste. Dennoch hatte er vollstes Vertrauen. Die Hände des älteren Mannes steckten in schwarzen Latexhandschuhen. Im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen seiner Zunft, trug er keine bunten Bilder auf seinen schmächtigen Armen. Er hatte keinen Shop, sondern betrieb das künstlerische Handwerk privat in einer kleinen Wohnung. Jonas war rein zufällig in den sozialen Netzwerken auf den Mann gestoßen, wo er in höchsten Tönen von anderen Usern gelobt wurde. Er kannte den Namen des Asiaten nicht, wusste nur, dass er im Internet unter dem Pseudonym „Inkers Ink“ auftrat, was so viel wie des Zeichners Tinte bedeutete. Wie der Mann hieß, oder was es mit dem Künstlernamen auf sich hatte, interessierte Jonas auch nicht. Das geringe Honorar war ein weiterer Grund gewesen, warum er ihn kontaktiert hatte.

Der Tätowierer tauchte erneut die Nadel in ein kleines Fässchen mit Farbe und setzte die Maschine an Jonas Nackenwirbel an. Hier, direkt auf den Knochen, war der Schmerz besonders intensiv, doch Jonas zuckte nicht einmal. Der Tattookünstler widmete sich nun dem Kopf der Schlange. Er füllte die Konturen mit bräunlichen Farbtönen, die ineinander übergingen und eine natürliche Schlangenhaut widerspiegelten. Dünne, leicht gewellte dunkle Linien imitierten die schuppige Oberfläche. Als krönenden Abschluss stach er die gespaltene Zunge, die aus dem leicht geöffneten Maul der Schlange züngelte. Jonas spürte, wie die Nadel hoch bis zu seinem kurzgeschorenen Haaransatz wanderte. Er war ganz versessen darauf, das fertige Werk betrachten zu dürfen. Noch musste er sich gedulden, da der Inker abschließend haarfeine Striche durch die goldfarbenen Augen des Tieres zog. Dann hielt er inne, zog die Handschuhe aus, und beäugte sein Werk mit zunehmend strahlendem Blick, der besondere Zufriedenheit ausdrückte. Wortlos holte er einen runden Spiegel hervor und hielt ihn leicht geneigt hinter Jonas Rücken.

Endlich konnte Jonas das fertige Resultat, welches fortan ein Leben lang seine helle Haut zieren sollte, betrachten. Der Spiegel hinter seinem Rücken, reflektierte in den Spiegel vor ihm eine prachtvolle Schlange. Das Reptil ruhte zusammengerollt zwischen Jonas Schultern. Aus dem Knäul ragte der Kopf empor, der sich den leicht geröteten Nacken des jungen Mannes hochschlängelte. Aus diesem Blickwinkel wirkte das Tattoo fast dreidimensional. Es schien zu leben. Die Schlange sah den Betrachter mit funkelnden Augen und ausgestreckter, gespaltener Zunge an, als wolle sie ihm entgegenspringen. Jonas war fasziniert, seine Lippen formten sich zu einem freudigen Lächeln. Er hob den Daumen und nickte anerkennend. Beinahe ehrfürchtig senkte der alte Mann den Kopf, als würde er sich vor seinem eigenen Werk verneigen. Er legte den runden Spiegel ab und deckte den frisch gestochenen Bereich des Tattoos mit einer dünnen Folie ab, die Jonas erst am nächsten Morgen wieder abziehen durfte, damit die Poren sich von innen schließen konnten und eine feuchte Wundheilung eintrat. Dieses Prozedere kannte Jonas bereits von den vier vorangegangen Sitzungen. Anschließend zog er sein T-Shirt über, zahlte den noch ausstehenden Obolus und verließ die Wohnung des schweigsamen Inkers. Als der asiatische Tattoo-Künstler die Tür schloss, zog er ein boshaftes Grinsen auf.

 

Jonas konnte seinen Körperschmuck in aller Ruhe heilen lassen. Einen neuen Job würde er erst Anfang des nächsten Monats antreten müssen. Er genoss das Alleinsein in seiner kleinen Zweizimmerwohnung. Freunde hatte er keine, geschweige denn eine Freundin. Den Kontakt zu seinen Eltern hatte er vor drei Jahren abgebrochen. Seitdem war er ein Einzelgänger, dessen Bekanntschaften sich auf Personen aus sozialen Netzwerken beschränkten, die er nicht kannte. Er vermisste nichts, sein ganzer Stolz prangte nun auf seinem Rücken. Nach gut zehn Tagen war auch die letzte Stelle des Tattoos völlig verheilt. Er betrachtete es jeden Tag mit stolzgeschwellter Brust. Er besaß einen altertümlichen, dreigeteilten Spiegel, wo er die beiden äußeren Seiten abklappen konnte, sodass er jede Stelle der ruhenden Schlange genüsslich bewundern konnte.

 

Nach zwei Wochen hatte er zum ersten Mal den Eindruck, dass die Proportionen des Reptils anwuchsen. Der gewundene Leib kam Jonas Tag für Tag etwas fülliger vor. Zunächst glaubte er an eine optische Täuschung, die durch den abgewinkelten Spiegel hervorgerufen wurde. Um Gewissheit zu erlangen, markierte er den unteren Rand der Tätowierung mit einem roten Filzstift. Ein schwieriges Unterfangen, wie sich herausstellte. Er benötigte mehrere Versuche, bis er die richtige Stelle genau getroffen hatte. Am nächsten Morgen führte sein erster Gang zum Spiegel. Er drehte den Rücken in die richtige Position und sah ungläubig auf die markierte Stelle. Die äußere Kontur des Tattoos lag nun wenige Millimeter unterhalb des roten Striches. Jonas Herz schlug laut pochend in seiner Brust, kalter Schweiß drang aus seiner heißen Stirn. Er klappte die linke Seite des Spiegels weiter ab, vergrößerte somit den einzusehenden Bereich, doch es gab keinen Zweifel, die Schlange auf seiner Haut war über Nacht größer geworden. Fast stündlich stellte sich Jonas vor den Spiegel, getrieben von einer inneren Unruhe, der er sich nicht erwehren konnte. Die Veränderungen waren in diesen kurzen Zeitabschnitten kaum zu erkennen, was Jonas anfänglich wieder beruhigte, doch am Abend lag die schwarze Kontur der Tätowierung mindestens einen Zentimeter unterhalb des roten Filzschreiberstriches. Viel Schlaf bekam Jonas in folgender Nacht nicht. Immer wieder wälzte er sich von einer Seite auf die andere. Viele Gedanken schwirrten durch seinen Kopf. Was geschah da auf seinem Rücken? Er konnte es sich nicht erklären. Würde er sich das alles nur einbilden?

Nein, diese Hoffnung bestätigte sich am nächsten Morgen nicht. Der Schlangenkörper war über Nacht weiter angewachsen, sogar deutlich. Jonas konnte den roten Strich kaum ausfindig machen, da er verblasst war und sich mitten im Schuppengeflecht der Schlange befand. Auch der Kopf des Reptils hatte sich geweitet, die gespaltene Zunge schimmerte nun durch Jonas kurzgeschnittenes Haar. Er begann zu zittern, ihm wurde schlecht und er übergab sich auf der Toilette. Danach fühlte er sich etwas besser und duschte. Anschließend zog er sich an, nahm seine Jacke von der Garderobe, stellte den Kragen so hoch wie möglich auf, und ging in die Stadt.

 

Der Eingang des Wohnhauses stand offen. Jonas ging in den zweiten Stock und klopfte an die Tür des Tätowierers. Das Schild mit dem Schriftzug „Inkers Ink“ war verschwunden. Niemand öffnete. Der junge Mann lauschte, hörte nichts und klopfte erneut. Nebenan wurde eine Wohnungstür geöffnet und eine ältere Frau trat auf den Flur. Von ihr erfuhr Jonas, dass die Wohnung des Asiaten seit über eine Woche leer stände, worüber sie froh sei, denn der Mann wäre ihr nicht geheuer gewesen. Jonas bedankte sich für die Auskunft und verließ das Haus. Er kaufte auf dem Rückweg noch einige Lebensmittel ein und verschanzte sich fortan in seiner kleinen Wohnung.

 

Am Ende der Woche bedeckte die Tätowierung über die Hälfte seines Rückens. Die Zunge der Schlange reichte inzwischen bis auf Jonas Schädeldecke, der Kopf des Reptils grenzte hinter seinen Ohren. Der zusammengerollte Körper zog sich weit über die Schultern. Mit der Schlange wuchs auch Jonas Unbehagen, er bekam Angst vor dem, was seit geraumer Zeit seine Haut zierte. Erst als er erleichtert feststellte, dass die Schlange wenige Tage später ihr Wachstum einstellte, fühlte er sich etwas besser. Sie ruhte kurz über einem Muttermal und überschritt den dunklen Hautfleck in den nächsten Tagen nicht, worüber Jonas äußerst dankbar war. Er schöpfte Hoffnung, es überstanden zu haben, doch diese Hoffnung wurde eines Nachts jäh getrübt.

Es begann mit einem leichten Kribbeln, von dem er aufwachte. Zunächst empfand er es als angenehm, so, wie er die Stiche der Tätowiernadel als angenehm empfunden hatte. Doch das wohlige Kribbeln verstärkte sich schnell zu einem Juckreiz, der seine Haut zu zerreißen drohte. Jonas wälzte sich im Bett, rieb seinen Rücken auf der Matratze, doch das ständige Jucken ließ nicht nach. Jonas sprang auf und scheuerte seine bunte Kehrseite an einem Türrahmen. Er riss das T-Shirt von seinem Körper, stemmte den brennenden Rücken gegen die Wand und vollführte kreisende Bewegungen. Schweiß drang aus all seinen Poren, was den Juckreiz zu besänftigen schien. Das Feuer auf seiner Haut erlosch langsam, zurück blieb das leichte Kribbeln. Jonas betrachtete das Kunstwerk des Asiaten im Spiegel, dabei verflüchtigte sich die letzte Farbe aus seinem ohnehin schon blassen Gesicht. Die Schlange schien sich zu bewegen. Jonas konnte erkennen, wie sich der hintere Teil der Schlange langsam senkte. Dort, wo sich der Schwanz ursprünglich befunden hatte, zeichnete sich nun gerötete Haut ab. Die Bewegungen des Reptils waren nur minimal, doch eindeutig zu sehen. Die teuflische Tätowierung auf Jonas Rücken entwickelte ein Eigenleben, wobei die gestochene Schlange ihre Position veränderte. Nun verspürte er auch ein Spannungsgefühl auf seiner Kopfhaut. Er merkte förmlich, wie etwas seinen Nacken herunterglitt. Jonas verrenkte seinen Hals und konnte im Spiegel beobachten, wie der Schlangenkopf sich nach unten neigte, dabei geriet der ganze Körper des Reptils in Bewegung. Langsam, im Zeitlupentempo, entknotete sich der gewundene Leib auf Jonas Rücken. Das Schwanzende hatte mittlerweile seinen Bauchansatz erreicht. Jonas begann zu zittern, überlegte kurz, einen Arzt aufzusuchen, doch was sollte dieser ausrichten. Er verwarf den Gedanken, stattdessen vereinnahmte Angst seinen Geist. Er vermochte nicht, klar zu denken. Apathisch starrte er in den Spiegel. Was er sah, durfte es nicht geben, kam einer Halluzination gleich. Ein schrecklicher Alptraum vollzog sich vor seinen Augen, nur, dass es kein Traum war, sondern furchtbare Realität.

 

Stück für Stück, Zentimeter um Zentimeter, mit wellenförmigen Bewegungen, rutschte der Schlangenkopf immer tiefer. Unterhalb der Schultern angekommen, änderte das Reptil die Richtung und schlängelte auf Jonas linke Achsel zu. Ihm kam es wie eine kleine Ewigkeit vor, bis der Kopf seine Achselhöhle erreicht hatte. Irgendwie ahnte er, was nun passieren würde, wollte es aber nicht wahrhaben. Der ovalförmige Kopf glitt geschmeidig durch die Achselbehaarung auf die dunkle Höhle zu, dann verschwand das Maul in Jonas Körper. Es juckte fürchterlich. Jonas kratzte sich mit der rechten Hand, kratzte über die straffierte Haut der Schlange, bis er in einen Rausch verfiel. Wie von Sinnen boxte er in seine Achselhöhle, schlug auf das pigmentierte Tier ein wie ein Berserker. Er presste die geballte Faust unter seinen Arm, wollte so den Eingang der Höhle versperren, doch die Schlange bohrte sich unbeirrt in seinen Körper hinein. Nachdem Jonas eingesehen hatte, dass er nichts ausrichten konnte, legte er beide Hände in den Nacken und blickte wie versteinert in den Spiegel. Die tätowierte Schlange lebte, schlängelte in ihrer bräunlichen Farbenpracht über seine bleiche Haut. Das hintere Ende hatte sich komplett um seinen Bauch gewickelt, dabei tauchte die Schwanzspitze in den Bauchnabel ein. Jonas stand da wie eine leblose Statue, die hilflos äußeren Einflüssen ausgesetzt war. Er konnte nicht glauben, was sich da auf seinem Köper abspielte. Ein stechender Schmerz in der Brust holte ihn aus seiner Schockstarre zurück. Es folgte ein erneuter Stich, der Jonas mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenzucken ließ. Der Schwanz drückte sich weiter durch den Nabel in seinen Bauch. Jonas wurde schlecht und er taumelte ins Bad.

Er erbrach gerötete Magenflüssigkeit. Nachdem er den Brechreiz überwunden hatte, fuhr er mit eiskaltem Wasser durch sein kreidebleiches Gesicht. Wieder drohte ein fürchterliches Stechen seinen Brustkorb zu sprengen. Jonas bekam einen Hustenanfall. Er beugte sich röchelnd über das Waschbecken und spuckte Blut. Minutenlang verharrte er über dem weißen Porzellan und hustete blutigen Schleim aus. Als der quälende Hustenreiz verklungen war, wusch er sich abermals durchs Gesicht und blickte anschließend in den Badezimmerspiegel. Unterhalb seines Brustbeines hatten sich zwei kleine schwarze Punkte gebildet. Noch völlig außer Atem betrachtete Jonas die Stelle genau, um mit Schrecken festzustellen, wie sich aus den beiden Punkten eine gespaltene Zunge entwickelte, die nun aus seiner Brust ragte. Langsam folgten das leicht geöffnete Maul und die goldenen Augen mit den dunklen Pupillen, die Jonas bösartig anstarrten. Immer weiter wand sich die Schlange aus Jonas Brust heraus, dabei schien sie mit der Zunge bedrohlich zu züngeln. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein, aber er glaubte zischende Geräusche hören zu können, als das zum Leben erwachte Tattoo aus seinem Körper kroch. Doch war nicht alles, was er sah, nur Einbildung? Gleich würde er aufwachen und den Alptraum abschütteln wie ein staubiges Tuch.

 

Jonas ging zurück in den Wohnbereich, wo er durch die geöffneten Fenstervorhänge erkannte, dass die Nacht längst vorbei war. Die Sonnenstrahlen fielen genau auf den gerundeten Spiegel, vor den er sich jetzt erneut stellte. Er wusste nicht, wie viele Stunden er genau an dieser Stelle schon gestanden hatte, es kam ihm wie eine nicht enden wollende Ewigkeit vor.

Der Kopf der Schlange schlängelte sich zu seinem Hals hinauf. Ihr schuppenartiger Leib trat währenddessen weiterhin aus dem imaginären Loch unterhalb seiner Rippen hervor, wo Jonas sonderbarerweise keine Schmerzen verspürte. Der nachfolgende Schlangenkörper schob sich weiter durch die Achselhöhle. Auch seine Bauchdecke schien taub zu sein, als sich das hintere Ende der tätowierten Schlange weiter in den Nabel bohrte. Die gespaltene Zunge hatte unterdessen Jonas Kehlkopf erreicht und wanderte weiter nach rechts hinter seinen Nacken. Jonas konnte nicht einschätzen, wie viel Zeit verstrichen war, bis der Kopf auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kam. In seinem traumatisierten Zustand hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Er ahnte jedoch, was das leibhaftige Ungeheuer auf seiner Haut vorhatte und das machte ihm Angst. Mit Entsetzen in den Augen beobachtete er weiterhin sein Spiegelbild.

Oberhalb des ersten Stranges, nur leicht versetzt, schlang sich das Reptil noch einmal um Jonas Hals, ehe der Kopf über seinem laut pochenden Herzen zur Ruhe kam und dort verharrte.

Minutenlang passierte nichts, doch dann spürte er einen leichten Druck auf seinem Kehlkopf. Er sah, wie sich der lange Schlangenkörper verkrümmte und mit schleichenden Bewegungen weiter zudrückte. Der gewundene Leib spannte sich um seinen Hals und würgte Jonas die Luft ab. Er merkte, wie ihm langsam das Atmen schwer fiel. Er griff mit beiden Händen an seinen Hals und zog an der farbigen Haut - vergeblich, das Reptil erhöhte den Druck kontinuierlich. Jonas begann zu röcheln, geriet wegen der ausbleibenden Luft zunehmend in Panik. Verzweifelt sah er sich um und entdeckte auf dem Tisch sein Taschenmesser. Benommen torkelte er in Richtung des Tisches, fiel dabei auf die Knie und robbte unbeholfen bis zur Tischkante, wo er nach dem Messer tastete. Als er es zu fassen bekam, stemmte er sich an dem Tisch hoch und wankte zurück zum Spiegel. Die Zunge hing ihm aus dem Hals, sein Gesicht lief rot an und die Augen traten entsetzt aus den Höhlen hervor. Mit zittriger Hand klappte Jonas das Messer auf. Er sah in den Spiegel, doch dunkle Schleier zogen vor seinen Augen und trüben den Blick. Schemenhaft erkannte er den Kopf der Schlange auf seiner Brust prangen. Jonas bekam keine Luft mehr, seine Lungenflügel schienen hinter den Rippen zu bersten.

 

Ohne weiter darüber nachzudenken, setzte er das Messer hinter den Augen der Schlange an und ritzte in die tätowierte Haut. Das Messer war nicht besonders scharf, deshalb erhöhte er den Druck auf der Klinge und machte einen tiefen Schnitt hinter dem Schlangenkopf. Er trennte ihn förmlich vom Rest des Rumpfes ab. Blut quoll aus der Brust und lief über die untere Hälfte des Tattoos. Die Wunde brannte, doch Jonas spürte es kaum, was er aber bemerkte war, dass er für einen kurzen Moment wieder Luft bekam. Die Schlange verlor für wenige Sekunden die Spannung, doch dann setzte die Strangulation sofort wieder ein. Aus dem tiefen Schnitt in seiner Brust strömte nicht nur Blut, sondern gleichzeitig eine bräunliche Flüssigkeit. An der Stelle, schien die Tätowierung zu verblassen.

Jonas wurde die Luft nun völlig abgeschnürt, der graue Nebel vor seinen Augen verdichtete sich zusehends. Jonas Verstand füllte sich mit Todesangst, die ihn zu einer letzten Verzweiflungstat schreiten ließ. Er setzte das Messer an seinem Hals an. Als sein Geist in völliger Schwärze abzudriften drohte, stach er zu. Blut, vermischt mit der magischen Tinktur des asiatischen Tätowierers, spritzte in unregelmäßigen Schüben auf den Boden. Bereits in finsterer Dunkelheit abgetaucht, legte Jonas instinktiv seine Finger auf die pochende Wunde und schmierte mit dem Blut, das aus seiner Halsschlagader pulsierte, etwas auf den Spiegel, was er selber nicht mehr zu lesen bekommen sollte. Mit gespreizten, tiefroten Fingern rutschte Jonas Hand den Spiegel herab, dann fiel für ihn der Vorhang des Todes und er sank leblos zu Boden.

 

Als Jonas Blut bereits versiegt war, rann solange Tätowierfarbe aus den beiden Wunden, bis die Schlange gänzlich von der leichenblassen Haut verschwunden war. Auf dem Spiegel stand mit blutverlaufenen Buchstaben „Inkers Ink“


Ende


Impressum

Texte: Norbert Böseler
Bildmaterialien: Norbert Böseler
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2016

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