Was für ein grässlicher Gestank. Eine Mischung zwischen verfaulten Leichen und Leichenteilen und Blut. Altes und frisches Blut. Mein Bein ist bald taub. Ich fühle es. Ich fühlte es schon, als die Kugel sich durch die Haut im Wadenbereich bohrte und einen Teil des Knochens darunter absplittern liess. Schon da konnte ich den unteren Teil meines linken Beins kaum mehr spüren. Heute wird ein schlechter Tag. Heute, am 13. Mai 1904. Hinter mir – weit hinter mir – stehen meine Leute, die Amerikaner, mit schwerer Artillerie und feuern was das Zeug hält. Vor mir steht der Feind und feuert zurück – was das Zeug hält. Und ich bin mitten drin, im Schützengraben. Der einzige, der noch am Leben ist. Oder der es für die nächsten zwanzig Minuten bleiben wird zumindest. Zwei Meter neben mir liegt Perry. Ihn hat’s beim Angriff schlimmer erwischt als mich. Bis vor fünf Minuten hat er noch geschrieen vor Schmerzen, doch seine Schreie wurden zu einem Winseln. „Perry gib auf, lass los!“ Meine Worte scheinen seinen Verstand nicht mehr zu erreichen. Nicht zwei Stunden ist es her, als wir die feindlichen Truppen stürmen sollten. Mit Gebrüll erhoben wir uns aus den Schützengräben und liefen los. Die Euphorie hielt gerade mal drei Meter. Die Meisten wurden dort schon abgeschlachtet. Solch ein Kugelhagen hatte wohl niemand erwartet. Perry und ich waren die letzten, die aufsprangen und los liefen. Als in den Reihen vor uns alle von den Kugeln durchlöchert und zu Boden geworfen wurden, machten die bis dahin stehen gebliebenen kehrt, um im Graben wieder Deckung zu finden. Doch überlebt haben dies nur Perry und ich. Die restlichen Soldaten sind im Schnitt nicht einen halben Meter vom lebensrettenden Graben entfernt. Sie bilden nun eine Mauer, einen Schutzwall aus Toten. Als ich zurück ins Loch springen wollte, traf mich die Kugel genau in den Unterschenkel. Ich landete im Dreck und Schlamm. Perry hatte da weniger Glück. Sein Oberkörper kreuzte den Weg mit einer Kugel. Sein Blut war schwarz gefärbt. Es hat wohl die Leber erwischt. Ich habe es mir nicht genauer angesehen. Hatte genug Mühe, mein Bein abzubinden. Und überdies mag ich Perry nicht wirklich. Er ist ein Rassist! Ein Südstaatler. Noch gestern hatten wir eine Schlägerei. Er meinte, die Schwarzen seine dafür gemacht, an die Front zu gehen und dort als erste zu sterben. „Perry, keiner nennt dich einen Feigling, wenn du jetzt stirbst! Es ist Zeit für dich! Die Schwarzen warten schon auf dich!“ Ich muss grinsen bei meinen Worten. Perry stöhnt auf. Das hat ihn getroffen! Und es trifft ihn, dass ein Mischling aus Virginia länger lebt als er. Ich sehe die Anstrengung in seinem Gesicht. Er hat keine Kraft mehr, den Kopf zu mir zu drehen und mich einen „Nigger“ zu nennen, wie er es immer wieder gerne getan hat. Ich hingegen bin bis auf mein Bein wohl auf. Nichts kann meine Laune trüben. Auch nicht die Gewissheit, dass ich aus diesem Krieg ganz sicher nicht lebend heraus kommen werde. Ich habe die Holzkisten gesehen. Jene Kisten, in denen die Soldaten reihenweise nach Hause geschickt werden.
Was ist das? Der Anschlag meines Gewehres stösst im Dreck auf eine Kiste. eine Schatztruhe? Ich muss bei dem Gedanken laut lachen. Und wieder zuckt mein Kollege nebenan zusammen. „Nein Perry, das war noch nicht der Teufel, das war ich!“ Ohne Mine zu verziehen schreie ich ihm die letzten Worte des Satzes aus voller Seele ins Gesicht. Dann gehe ich eifrig ans Graben.
Nach einer Weile kann ich die Kiste aus dem Land herausziehen. „Shit! Das Ding ist schwer!“ Das Holz knallt auf den lehmigen Boden. Ich bin geradezu besessen von der mit Mustern verzierten Kiste. Doch etwas erscheint mir mehr als wunderlich; Das Ding ist sauber, es glänzt! Wie wenn die Kiste nie im Land verbuddelt gewesen wäre. Ich schaue noch einmal nach links, dann nach rechts und nehme mein Gewehr wie einen grossen Hammer fest in beide Hände und schlage damit den Deckel auf. Es braucht fünf harte Schläge, bis der Deckel der Kiste aufgeht. Da Perry jedoch nebenan bei jedem Hieb so schön zusammengezuckt ist, schlage ich noch dreimal mehr drauf. Was für ein schönes Gefühl, mein Schatz, meine ganz persönliche Schatztruhe.
„Wow!“ Diese Granate war ziemlich nahe! „Idioten!“ meine Rufe werden sowieso nicht wahrgenommen. Perry hat was abbekommen; Land in den Mund und ins Auge. Er spuckt das feuchte Land mit seiner verbleibenden Kraft aus. „Du hast da was im Auge.“ Mein Kommentar war vielleicht zu unpassend in Bezug auf den Zustand meines Nachbarn. Doch dafür ist unsere Streitmacht noch gut in Schuss. Sie hat den Feind zurückgeschreckt nach dem vermeintlichen Angriff auf meine Truppe. Die wissen nicht, dass hier nur noch eineinhalb Männer am Leben sind. Aber feuert nur weiter so; Materialschlacht lebe hoch! So kann ich mich auch ungestört – zumindest fast ungestört – meinem Schatz widmen.
Ich klappe die Truhe auf. Doch was ist das!? Sichtlich enttäuscht starre ich den Inhalt an. Mein Gelächter verwandelt sich in Schweigsamkeit. Die Kiste ist gefüllt mit Papier, Zeitungen und Zeitschriften. „Toller Fund!“ sage ich zu mir selber in einem sehr sarkastischen Ton. „Nicht schlau!“ denke ich dann. Perry in seinen letzten Stunden noch eine Freude zu machen, in dem ich zugebe, einen Scheissdreck gefunden zu haben, das ist nicht schlau. Fangen wir nochmals an: „Toller Fund!“ Das ist es. Überzeugend wie noch nie! Die Freude strahlt aus mir heraus – so scheint’s zumindest. Was in aller Welt! Was ist das für eine Zeitung? Da steht das Datum von… Diese Zeitung kommt also erst in drei Monaten heraus!? Welcher Idiot hat hier Zeitungen vom überübernächsten Monat vergraben? Das ist wirklich ein toller Fund! Ich lese:
Die amerikanischen Truppen konnten die Schlacht um die Ebenen in der stark verteidigten Zone Zwei, und somit den Krieg gegen den Feind für sich entscheiden. Nach mehreren Rückschlägen im Winter konnten sich die USA im Frühling neu organisieren und noch mehr Kräfte und Soldaten sammeln. In der lange umkämpften Zone Zwei wurde der Feind vor rund drei Monaten dann endgültig besiegt. Die Truppe um General Mayer hatte es in dem Kampf am heftigsten getroffen. In den Schützengräben befanden sich nur noch…
Hier ist die Zeitung von Hand abgerissen worden. Wo ist der Rest des Satzes… Ich brauche diese Information! General Meyer, dass ist diese Truppe, das war mein General. Was oder wer befand sich noch in den Schützengräben? Nur noch Tote? Nur noch ein Überlebender? Nur noch Eineinhalb Überlebende? Ich durchstöbere die Kiste, doch alle anderen Zeitungen und Zeitschriften sind fein zusammengefaltet und an einem Stück aufbewahrt worden. Ich bin um das Wissen meines Schicksals nur ein paar Buchstaben entfernt, das ist nicht fair! Schauen wir doch mal den Rest an!
„Die Zeitungen sind aus der Zukunft!“ Ich schreie den armen Perry an, wie man eine ältere Person, die Mühe mit dem Gehör hat, anschreit. Dann halte ich ihm die Zeitung mit dem Datum vom Juli 1906 vor die Augen. Er öffnet die Augen trotz dem Sand darin. Perry scheint noch zu verstehen, um was es hier geht. Gut, sein Verstand ist doch nicht ganz taub. „Soll ich dir eine Gutenachtgeschichte erzählen? Hmm? Perrybaby? So kurz vor dem ewigen Schlaf? Hör gut zu, es geht um deine Heimat!“
Brand in Texas; Gestern Abend wurden bei einem Wohnungsbrand mehrere Personen getötet. Es wird vermutet, dass der Brand in der Werkstatt der Familie im Kellergeschoss aufgrund einer vergessenen Kerze ausgelöst wurde. Bei den getöteten handelt es sich um die Familie…
Den Rest des Satzes lasse ich weg. Ich bin selber leicht geschockt über die Tatsache, dass es wirklich meinen Nachbarn betrifft. Ich wollte doch nur bluffen. Doch man wünscht so etwas nicht seinem grössten Feind. Ich ersetze „Familie Perry“ stotternd durch „Familie Taylor“. „Hast du gehört Perry…“ Und wieder schreie ich wie wenn ich mit einer älteren Person sprechen würde. „Familie Taylor. Kennst du wahrscheinlich nicht, oder? Und das Unglück passierte im Westen von Texas, nicht im Osten wo du wohnst. Also gewohnt hast!“ Ein bisschen scheu schaue ich zu meinem Nachbarn hinüber. „Wie dem auch sei Perry, du wirst die Familie Taylor ganz sicher nicht mehr kennen lernen! Das ist eine schwarze Familie. Du willst sie ganz sicher nicht kennen lernen! Du Rassist!“ Was war das? Ich machte einen Schritt mit meinem linken Bein zu Perry hin, um ihm das Wort Rassist ins Gesicht zu brüllen, und siehe da, ich spürte die Schmerzen gar nicht mehr! Vor fünfzehn Minuten drohte mein Bein abzusterben und nun spüre ich nicht das kleinste Anzeichen von Schmerzen! Bin ich etwa schon tot? Verwundert schaue ich auf mein Bein. Das Blut ist gar nicht durch meine weisse Bandage durchgedrungen! Soll das ein Witz sein? Langsam nehme ich das helle Tuch ab. Hinten klebt ein kleines bisschen Blut, doch zu verbluten drohe ich deswegen wohl nicht! Ich beisse die Zähne zusammen und kremple mein Hosenbein hoch. Ein Streifschuss? Was ist das für eine kleine Wunde an der Innenseite meines Waden? Das sieht nicht schlimmer aus als eine Schnittwunde, die man sich beim spitzen eines Holzpfeils zuziehen kann. Tzzz! Und ich dachte, ich könne von der „Kriegsverletzung“ Mitleid bei den Göttern bekommen, dabei scheine ich Kerngesund zu sein! Ich lege den Mittel- und Zeigefinger beider Hände je oberhalb und unterhalb der Wunde auf die blosse Haut und ziehe die Wunde auseinander. Weisses Fleisch zeigt sich mir und Blut tröpfelt langsam heraus. Streifschuss! Ich sagte es ja!
Nun ist es Zeit um wieder in meiner Lektüre zu stöbern. „Nach dem zweiten Weltkrieg?“ Was ist das? Dies habe ich laut gelesen, doch ich kann meinen eigenen Worten nicht glauben. Das ist ein Geschichtsbuch! Ich lese den Titel: „Der Kalte Krieg“. Na so was! Das Inhaltsverzeichnis verwirrt mich noch mehr. Hier steht so was wie: „Berliner Blockade“, „Die Berliner Mauer“ „Vietnamkrieg“ Ich kann mit dem ganzen Schwachsinn nicht viel anfangen. Lese ich später.
Stattdessen kommt mir da etwas Anderes in die Finger. Treffer! Ein ganz spezielles Exemplar. „Perry, diese ist von 2009. Und hör dir das mal an! Du wirst es nicht glauben!“ Voller Vorfreude auf Perrys Reaktion lese ich vergnügt daraus vor:
Nach dem Amtsantritt des ersten schwarzen Präsidenten, Barrack Obama, ist die Welt optimistisch gestimmt. Trotz der Wirtschaftskrise, welche im letzen Jahr kein positives Licht auf die USA geworfen hat, vertrauen wieder 85% der Europäer auf die Zusammenarbeit mit den USA. Barrack Obama hat mit seinem Wahlspruch „Yes, we can!“ im vergangenen Jahr nahezu Kultstatus erreicht, gemischt mit einem historischen Sieg, bei dem er als erster farbiger Präsident in die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika eingehen wird, sind wohl jegliche Zweifel an der Parole des sympathischen Hawaiianers, und an ihm selbst, verflogen.
„Hast du das gehört Perry? In hundertfünf Jahren wird meinesgleichen Präsident.“ Meine Worte klingen ein bisschen verträumt und melancholisch und ich schaue zum Himmel hinauf und träume weiter. Kaum zu glauben, dass die Unterdrückung dann ein Ende haben wird. In den nächsten hundertfünf Jahren verbessert sich unsere Situation also. Wir werden nicht mehr die Arbeiterschaft sein, die sich für die feinen Herren die Finger schmutzig machen muss. Wir werden Gleichberechtigt sein. In hundertfünf Jahren erfüllt sich der Traum von unzähligen Amerikanern. Ach muss das schön sein. Schade nur, dass mein Sohn Eric das nicht mehr erlebt.
Nun ist es Zeit für einen kleinen Streich! Ich ducke mich. Perry hat mich nun aus den Augen verloren. Ich merke, wie er langsam unruhiger atmet. Er hat wohl Angst! Ich strecke meinen Kopf zu ihm hinüber, ganz nahe an sein Ohr. Ich beginne nun schnaufend zu sprechen, wohl eher zu flüstern: „Perry!“ Der arme Kerl hält das bisschen Atem an, das er noch hat. „Perry! Ich bin dein Schicksal. Ich bin’s der Teufel!“ Beim Wort „Teufel“ springe ich auf und schreie. Perry findet dies wohl nicht so witzig. Während ich mich vor Lachen nicht mehr halten kann, hustet das Häufchen Elend neben mir sich fast die Lunge aus dem Leibe. „Hey, dass du mir auch ja nicht erstickst! Wen soll ich denn sonst anschreien?“ Ich nehme ihn hoch und klopfe ihm auf den Rücken. „Ich lese dir eine Geschichte vor.“ Wie einem kleinen Kind streichle ich ihm über die Wange. Ich muss grinsen, er will etwas sagen. „Ruhig mein Kleiner, wird schon!“ Mit meiner Hand fische ich nach einer neuen Zeitung aus meiner Wunderkiste.
11. September 2023: Heute wurde die erste „survive Station“ auf dem Mars eröffnet. Genau an dem Tag, an dem vor 22 Jahren die Twin Towers des World Trade Centers in New York fielen, konnte der US Präsident Mike Strover das „Mars Trade Center“ als erster Besucher betreten und somit einweihen. Seine Worte werden wohl zum zweiten Mal in die Geschichte der Raumfahrt eingehen: „Dies ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, doch ein grosser Schritt für die Menschheit.“ In seiner Rede sprach er vom neuen Zeitalter, vom Marszeitalter. Vor allem jedoch warnte er die Menschheit, sich nicht der Rücksichtslosigkeit hinzugeben, und dieselben Fehler wie auf dem Planeten Erde zu machen.
„Shit! Perry!“ Eine zweite Granate explodiert direkt neben Perry. Er wird zugedeckt mit Land und Sand und allem anderen was so herum liegt: Leichenteile, Blut und so weiter. Ich grabe und grabe. Da ist er. Ich für meinen Teil bin fast taub von der Detonation. Oh, gut, Perry atmet noch. Ich befreie ihn von allem Möglichen und greife unter seinen Kopf um ihm das Atmen zu erleichtern. Er hustet kurz und fängt dann an, etwas zu flüstern. Er ringt nun mit dem Tod. „Es tut mir leid, wie ich dich behandelt habe, Kamerad.“ Für den einen Satz hat er eine halbe Minute gebraucht. Ihm kommen die Tränen, genau so wie das Blut aus dem Loch jener Kugel, die sich in ihn hineingebohrt hat. „Da die Fotographie! In der Tasche! Bitte zeig sie mir!“ Dies sind endgültig seine letzten Minuten. Er war sehr gemein zu mir, aber in seinem Sterben werde ich ihn doch nicht alleine lassen. Ich nehme die Fotographie aus seiner Hosentasche und zeige sie ihm. Es sind seine Frau und seine Tochter abgebildet. Die Frau sieht sehr liebenswürdig aus. Die Tochter hat Perry auf seinem Arm. Sie wird wohl erst um die sechs Monate alt sein. „Hier ist der Brief für meine Frau! Du sollst ihn ihr persönlich geben!“ In der anderen Tasche finde ich den angesprochenen Fetzen Papier. Nun kommen auch mir die Tränen. Der abgerissene Text, den ich in der ersten Zeitung gefunden habe wird wohl nie mit „…In den Schützengräben befanden sich nur noch eineinhalb Überlebende…“ enden. „Perry, ich verzeihe dir, du kannst nun loslassen!“ Nun schenkt mir Perry zum ersten Mal, seit dem ich ihn kenne, ein Lächeln. Dann stirbt er. Ich halte ihn noch einen Moment lang im Arm, dann lasse auch ich los; Den letzten Kollegen in diesem Drecksloch.
Ich höre Schreie. Ich ducke mich, blinzle schnell zur Seite, zu meiner Wunderkiste und kann es kaum glauben: Die scheiss Truhe glänzt. Mein nun toter Kollege und ich sind durch den Einschlag der Granate fast im Staub und Land erstickt, und dieses scheiss Ding glänzt immer noch. Doch meine Aufmerksamkeit bleibt nicht bei der Kiste, sondern widmet sich wider den Schreien, die aus der Richtung des Feindes blöderweise immer näher zu kommen scheinen. Soll ich mich tot stellen? Nein ich kämpfe! Erster Sichtkontakt mit dem Feind! Sie kommen schleichend! Aus der Kiste neben mir leuchtet etwas auf. Etwas in mir sagt, ich solle mir die Zeit nehmen, handeln in Bezug auf die Wundertüte neben mir. Ich greife mit meiner Hand hinein und nehme das erste Papier, das ich in die Finger kriege heraus. Ich traue meinen Augen kaum; Der abgerissene Fetzen Papier, welchen ich vorhin gesucht habe, halte ich nun in meiner Hand. Ich zittere. Ich lese nur den Rest des Satzes;
… befanden sich nur noch Tote, bis auf einen Überlebenden, welcher, so scheint es, die Restbestände des Feindes fast im Alleingang besiegt hat. Er hätte jedoch Hilfe gehabt…
Der Rest interessiert mich nicht. Was für ein Glück! Ich bin fast ausser mir. Doch dann löst sich ein Schuss. Ein Schuss aus dem Schützengraben. Ich meine, ich höre wohl nicht recht. Und prompt. Der Feind wird aufmerksam gemacht auf einen Schützen rund 300 Meter in Perrys Richtung. Er hat einen erledigt! Kopfschuss! Was soll das? Ich überlege. Er oder ich, die Zeitung hat es vorausgesagt; Nur ein Überlebender. Ich könnte schweigen und mich tot stellen und ihn einfach umkommen lassen. Nein! Das wäre nicht moralisch. Ich ziele also auf den Feind. Habe einen im Fadenkreuz. Die Kugel durchwandert den Lauf des Gewehres. Das Geschoss bohrt sich in die Brust des Feindes. Getroffen! Er geht langsam zu Boden. Seine Kollegen ballern nun los. Gewehr laden, schiessen, laden, schiessen. Mein neuer Freund schnappt sich den Nächsten, dann bin wieder ich dran. Schön abwechslungsweise knöpfen wir uns einen nach dem anderen vor. Es wird still vor uns. Nun scheint keiner der Bösen mehr am leben zu sein. Ich krabble langsam nach oben. Da höre ich den Schuss. Die Kugel gilt dieses Mal mir. Ich spüre, wie sich mein Oberkörper zusammenzieht. Ich falle zurück ins Loch, schaue langsam auf meine Brust. Noch ein Schuss erklingt, doch dieses Mal aus dem Schützengraben. Mein Kollege hat wohl den letzten Schweinehund erwischt. Blut quillt überaus schnell aus meinem Loch unterhalb der rechten Brust. Mir wird schon schwarz vor Augen. Meine Sinne stellen sich langsam ab. Ich habe keine Kraft mehr zum Schreien. Da ist auch schon der Kollege – der wohl letzte Überlebende unserer Truppe – bei mir. Er hält mich hoch, wie ich Perry gehalten habe. Der Zeitungsartikel liegt neben mir. Was mein Kamerad mir sagt, höre ich nicht mehr. Ich lese die letzten Worte des Artikels:
… befanden sich nur noch Tote, bis auf einen Überlebenden, welcher, so scheint es, die Restbestände des Feindes fast im Alleingang besiegt hat. Er hätte jedoch Hilfe gehabt von einem der besten Soldaten, den das Land hatte; Der Soldat…
Und so weiter und so fort. Da steht mein Name in der Zeitung von in drei Monaten. Ich werde wohl der Stolz der Familie sein. „Bring Perrys Frau den Brief in der Tasche und sage ihr, sie solle alle Kerzen ihrer Familie nachts ausmachen, vor allem im Sommer 1906. Das ist sehr wichtig! Und meiner Familie sage, dass ich sie liebe. Du bist der letzte Überlebende!“ Er quasselt noch etwas, das ich nicht mehr verstehe. Ich schaue nochmals seitlich zu der Truhe, doch diese ist verschwunden, wie der Rest des Artikels, den ich vor nicht zwei Minuten noch in den Händen gehalten habe. Ich bin privilegiert. Ich konnte in die Zukunft schauen und vielleicht Leben retten. Ich weiss nun, dass das Elend der farbigen Menschen ein Ende haben wird, irgendwann. Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln. Eine Träne kitzelt mich auf meiner Wange. Ich mache die Augen langsam zu, ich bin müde. Jetzt sterbe ich. Stille.
Texte: Mike Sterren
Bildmaterialien: Christian Pfammatter
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2013
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