Cover

1. Die Einsicht

Robert legte die Schokolade und die übrigen Einkäufe auf den Scanner des Supermarktes. Der Kassaroboter schaute auf und teilte übertrieben freundlich mit;

„Neunundzwanzig Dollar, wenn Sie so freundlich wären.“ Emotionslos hielt Robert den Rücken seiner Hand mit dem sich unter der Haut befindenden Kreditchip über die Zahlschaltfläche.

„Robert Henning?“ erwiderte der Roboter künstlich erfreut.

„Ich heisse auch Robert!“

„Aha.“ Die Freude der Blechbüchse an der Kasse ist das Leid des Menschen, dachte er, während es von der Nebenkasse dröhnte

„Daniel Trump? Ich heisse auch Daniel.“ Kinderkrankheiten nennt man dies. Seine Gedanken flossen weiter während an der Kasse für ihn eingepackt wurde und er versank in einem Gerippe von Vergangenheitssehnsucht und Zukunftseuphorie.

Als die Krise kam und das Bargeld vor drei Jahren einer schier unglaublichen Geldentwertung wie in den Tagen nach dem langen Krieg im letzten Jahrhundert zum Opfer fiel, war nichts mehr so, wie es gewesen ist. Die Zeiten werden besser, haben sie gesagt. Sie, die Vertreter der Firma „Money & Company“, welche mit überschwänglichem Übermut die Fäden des Zahlungsverkehrs in den Händen hielten und immer moderner und moderner zu werden schienen. Noch vor fünf Jahren hätte kein Mensch daran geglaubt, dass man mit einem Chip unter der Haut über sein gesamtes Vermögen verwalten und quasi sein ganzes Leben steuern könnte. Und die Währung; Global einheitlich in Dollar. Das liess weder Preisdumpern noch Wechselkursspekulanten Spielraum. Eine schöne neue Welt, zu der Robert als Mitarbeiter von „Change2020“, einer der zahlreichen Tochterfirmen von „Money & Company“, einen nicht unerheblichen Teil beitrug.

„Ihre Einkäufe, Sir.“ Grimmig nahm er die Tasche des sichtlich aufgestellten Blechroboters entgegen und meinte sarkastisch:

„Machst einen Freudentanz?“ Sein Gegenüber gab, nach wie vor lächelnd, zurück:

„Wie meinen Sie das Sir?“

„Vergiss es!“ Dann verliess Robert den Supermarkt und schlenderte nach Hause. Auf seinem Smartphone kontrollierte er noch kurz den Kontostand mittels ID und Passwort des Kreditchips. Verdammt! Zu viel Monat übrig. Das Geld reichte nie aus!

Da plötzlich hörte er ein leises Zischen aus einem der Büsche neben ihm.

„Robert, Robert!“ Die ihm bekannte Stimme versuchte flüsternd zu schreien. Wie unauffällig, dachte er. Robert blieb stehen und wandte sich den Geräuschen zu.

„Toni, was soll das, komm schon raus da.“ Umso lauter er sprach, umso mehr versank Toni in den Büschen. Mit einer eindeutigen Handbewegung beorderte dieser ihn zu sich. Dort angekommen, riss er Robert runter und ermahnte ihn zu Schweigen. Kurz darauf flitzte eine Roboter Polizeipatrouille unmittelbar vor den Büschen an ihnen vorbei. Auf der Rückseite der menschenähnlichen Kreaturen war ein Bild von Toni auf dem Monitor zu sehen und darunter stand sein Name. Erstaunt sah Robert seinen Freund an und meinte:

„Was zum Teufel …?“ Toni grinste nur und hielt ihm seine rechte Hand hin. Eine klaffende Wunde, blutverschmiert, bedeckte den Handrücken.

„Die kriegen mich nicht, Rob. Die haben gesagt, dass die totale Freiheit weiterhin gewährleistet sei, doch das stimmt nicht. Ich bin in der Firma auf etwas gestossen, Rob. Ich habe geheime Akten entdeckt, welche belegen, dass der Chiphersteller zustimmt, der „Money & Company“ die volle Kontrolle über die gesammelten und persönlichen Daten jedes Menschen auf dem Erdball zu überlassen. Wir sind vollends in den Händen dieser Geier! Als ich den Chip gestern raus geschnitten hatte, ging es nicht lange, und ich wurde angerufen, ich solle vorbeikommen um die Funktionsfähigkeit des Chips zu testen, da stimme etwas nicht. Heute Morgen stand plötzlich die Patrouille vor der Tür und ich bin geflüchtet. Rob, über den Chip haben die die totale Kontrolle!“ Robert sah seinen Freund mit weit geöffneten Augen an. Für einen Moment schien er ernsthaft darüber nachzudenken, ob Toni recht damit hatte. Diente der Chip wirklich als Kontrollinstrument? Hatte „Money & Company“ die Absicht, jeden Menschen zu orten und zu katalogisieren, wo er auch war und was er gerade machte? Ein Geflecht aus wirren Gedanken schien sich zu bilden. Dann entgegnete er jedoch:

„Du spinnst wohl, lass deine Hand kontrollieren“, stand auf und ging davon.

 

Zuhause angekommen setzte sich Robert auf das Sofa und befahl dem Chip in seiner Hand, den Fernseher einzustellen und gleichzeitig die Vorhänge zu schliessen. Voll automatisch geschah, was er wünschte. Unmut riss Falten in seine Stirn. Immer wieder erwischte er sich selbst dabei, wie er über die Sache mit Toni nachdachte. Konnte das überhaupt möglich sein? Immerhin wurden die Chips in jeden Menschen weltweit implantiert. Für Kinder ab sieben Jahren war es Pflicht und mit jedem Jahr wurden zusätzliche Rechte eingeräumt. Etwa das Recht zur Steuerung des Fernsehens ab zehn usw. Nun stellte sich ihm aber die Frage, wer denn diese Rechte einräumte. „Change2020“ war bloss für die Administration und Archivierung kleinerer Geschäfte und deren Papierkram zuständig. Was konnte also Toni gefunden haben? Kleinigkeiten schossen ihm plötzlich durch den Kopf. Zum Beispiel hatte er letzte Woche den Reklamesender eingeschaltet, als er eingenickt war. Zwei Tage später bekam er per Post eine Anzeige des Senders. Wussten die, was ihn interessiert und haben darauf reagiert? Hatte der Chip ihn online verraten und als Interessenten für Bademode geoutet, welche zufällig in jenem Moment präsentiert worden war?

 

In dieser Nacht schlief Robert nicht gut. Immerzu dachte er an Toni. Als er nach gefühlten fünf Minuten Schlaf vom vibrieren des Chips in seiner rechten Hand geweckt wurde, zog er sich an und ging zur Arbeit. Erst im Nachhinein bemerkte Robert, dass er der Arbeitsweg ohne jeglichen Bezug zur Realität und merklich latent hinter sich gebracht hatte. Er startete, und kam an. Dies war das einzige, was er mitbekommen hatte. Die Fahrt selber verbrachte er scheinbar mit Nachdenken.

 

Der Schreibtisch gegenüber blieb wie erwartet leer. Toni erschien nicht in der Firma, das konnte er sich denken. Facebook, Twitter und Co. verrieten erwartungsgemäss wenig über den Aufenthalt seines Freundes. Seit „Money & Company“ die weltweite Führung in der Kommunikations- und Bankenbranche übernommen hatte, waren Online-Portale wie diese nur noch unglaublich beschränkt verfügbar. Zu viel Kontrolle, sagten sie, zu hohe Selbstpräsentation. Nach einer Weile wunderte sich Robert jedoch wirklich über den Verbleib von Toni. Er ging zu seinem Vorgesetzten und fragte nach seinem Freund. Doch die Antwort gefiel ihm überhaupt nicht:

„Toni wer? Wir haben keinen Toni eingestellt. Und jetzt gehen sie bitte zur Abteilung fünf im Untergeschoss des Gebäudes.“

„Ok!?“ Robert hatte Zweifel an der Geschichte, zumal er noch nie von der Abteilung fünf gehört hatte. Beim Hinausgehen liess er die Tür noch einen Spalt offen und lauschte dem Telefonat des Vorgesetzten:

„Guten Tag, Robert Henning kommt gleich vorbei. … Ja, die gesamte Gehirnwäsche. … Genau. … Danke.“ Dann wurde das Gespräch beendet. Roberts Augen starrten noch für einen Moment ins Leere, bevor er sich entschloss, unbemerkt nach Hause zu gehen.

 

Das Messer in seiner Hand bebte förmlich. Henning sass auf seinem Bett und schwankte zwischen Entschlossenheit und Nervenzusammenbruch. In ein und demselben Moment wollte er es unbedingt tun und zweifelte zugleich. Seine Zähne knirschten und rieben aneinander. Die Augen wurden in Sekundentakt zusammengekniffen und aufgerissen. Dann legte er das Messer auf die Haut über dem Chip und presste es hinein. Robert schluckte Laut, schnitt jedoch weiter. Immer mehr Blut quoll unter der Klinge hervor. Dann schliesslich liess er das Messer auf den Teppich fallen. Es war vollbracht. Er hatte es Toni gleich getan.

2. Toni

Dieses kleine verfluchte Ding, dachte er. Du kleines Biest! Wolltest mich wohl kontrollieren, was? Wolltest mich infiltrieren und meine Gedanken an den Grossen Boss – Money & Company – weiterleiten, damit die mich in der Hand haben, was? Robert wendete den blutverschmierten Chip zwischen seinen Fingern hin und her. Seine Gefühlslage schwankte zwischen Faszination und Ekel. Hie und da, an den weniger verschmierten Stellen, spiegelte sich ein Teil seines Gesichts auf der aalglatten Oberfläche. Dann schweifte sein Blick hinüber zur verwundeten Hand. Aus der Wunde trat noch immer Blut heraus, er hingegen hatte ungewöhnlich wenig Schmerzen. Sein Blick wechselte abermals zum metallenen Chip, dann erneut zu seinem blutverschmierten, rechten Handrücken. Immer wieder ballte er die Hand zu einer Faust, liess locker, ballte sie wieder um dann erneut locker zu lassen. Robert war zwar wirklich sehr schmerzresistent, doch solch eine Wunde musste doch einfach weh tun. Er war in seinen Gedanken versunken und alles um ihn herum schien schwarz zu werden, bis plötzlich das Telefon ihn aus seiner Tagträumerei riss. Robert erschrak nicht. Sofort kamen ihm die Worte von Toni in den Sinn, der ebenfalls kurz nach dem erlösenden Schnitt angerufen wurde. Cool ging er ran:

„Robert Henning am Apparat.“ Die weibliche Stimme am anderen Ende war sehr charmant, beinahe erotisch. Robert wusste auch bereits, was ihn erwarten würde.

„Guten Tag Mr. Henning. Hier spricht Miss Nora Followil von “Money & Company”. Wir haben eine Fehlfunktion ihres Chips registriert und wollten fragen, ob etwas passiert ist?“ Robert beschloss, die Sache noch ein wenig auszukosten. Mit fester Stimme antwortete er:

„Was für ein Zufall, Miss Followil. Ich wollte sie gerade ebenfalls anrufen. Leider kann ich weder den Fernseher einschalten, noch die Jalousien schliessen mit meinem Chip. Könnte ich einen Termin bekommen für eine Inspektion?“ Die Frau am Telefon wirkte schlagartig erleichtert.

„Na klar Mr. Henning. Wie wär’s mit heute 17:00 Uhr?“ fragte sie.

„Bis übermorgen kann ich leider nicht. Würde es am Donnerstag um 17:00 Uhr passen?“ Er konnte nur auf eine positive Antwort hoffen.

„Natürlich Sir. Wenn sie mit den Fehlfunktionen auskommen können bis übermorgen?! Ich kann ihnen heute eine Patrouille vorbeischicken, damit Sie diese Zeit mit einem manuellen Gerät überbrücken können?“

„Nicht nötig Miss Followil. Ich bin auf Geschäftsreise bis am Donnerstag!“ Sogar seine letzte Aussage klang cool wie nie zuvor. Dann legte er auf. Nun war eines klar: Er musste Toni aufsuchen. Mit dessen Hilfe könnte er herausfinden, was da faul war. Ausserdem würde Robert ohne Toni nicht in das Firmengebäude hinein kommen, und das hatte oberste Priorität, denn sonst würden die auch ihn suchen und wer wusste schon, was Toni ausheckte. In Windeseile hüpfte er in seine Converse und zog los.

 

Mit der rechten Hand in der Hosentasche verliess Robert das Haus. Als er seinem Chip befehlen wollte, die Tür zu schliessen, fiel ihm schlagartig ein, dass diese Möglichkeit für ihn vorübergehend deaktiviert war. Nach dem befreienden Schnitt, als er den Chip aus seiner Hand entfernt hatte, fühlte er sich zum ersten Mal ein wenig schutzlos. Es war ihm nun unmöglich, sich vor irgendwelchen Leuten auszuweisen. Geschweige denn sich Kleidung oder gar Nahrung zu kaufen. Erstmals seit der Implantierung dieses Metallteils realisierte Robert, wie abhängig er, ja wie abhängig die ganze Menschheit von dem „grossen Boss“ „Money & Company“ geworden war. Wie blauäugig war er gewesen? Als er neben der Schule vorbei schlenderte, sah er die Kinder und Jugendlichen, wie sie sich die auf den Chip runter geladenen, und auf den externen, kleinen Konsolen projizierten Games vorführten. Sie lachten und präsentierten stolz die neusten Errungenschaften. Wie gross waren doch die Möglichkeiten in dieser neuen, schönen Welt. Wie einfach gestaltete sich das Leben mit dem Chip. Robert schüttelte den Kopf und ging weiter.

Gleich neben der Schule befand sich einer von Tonis Lieblingsplätzen: Lake „Conelli“. Toni war ein Alphatierchen. Wenn er sprach, hörten alle anderen zu. Niemand wagte es, ihn zu unterbrechen. Seine Ideen waren stets gut durchdacht und vor allem waren sie meist genial. Trotz seinen dreiundvierzig Jahren waren bereits mehr graue als schwarze Haare auf seinem Kopf sichtbar. Er kannte die Firma besser als jeder Andere. Sein Interesse an den technischen Spielereien der Neuzeit fand keine Grenzen. Wenn er wieder etwas ausheckte und sich Gedanken über neue, innovative Freizeitbeschäftigungen oder gar Verbesserungsvorschläge für die Firma machte, tat er das meist hier an Lake „Conelli“. Robert hätte wetten können, dass er Toni hier treffen würde. Dieses Mal schien es jedoch mehr zu sein. Nie im Leben hätte er sich ausmalen können, dass gerade Toni diesen, im wahrsten Sinne des Wortes, einschneidenden Schnitt machen würde. Er war immer ein Verfechter des Chips. Damit war es wohl nun vorbei. Doch was wenn Toni nicht gefunden werden wollte? Was wenn er sich nun auch vor ihm versteckte? Viele Plätze zum Nachsehen blieben nicht übrig. In seiner Lieblingsbar würde er sich wohl kaum blicken lassen ohne den Chip – ohne Geld. Genau so wenig Sinn machte es, in der Firma nachzusehen.

 

Robert war gerade auf dem Weg zur Grünanlage, wo Toni ihn gestern traf, da plötzlich hörte er hinter sich erneut das ihm bereits bekannte Zischen in den Büschen. Robert machte sich klein, da er nicht recht wusste, ob es sich wirklich um seinen Freund handelte. Mit leicht eingezogenem Kopf und ziemlich zaghaft drehte er sich um und sah Toni, wie er in voller Zufriedenheit auf dem Boden sass.

„Na? Suchst mich wohl?“ er grinste. Mit einem Kopfzeichen beorderte er Robert zu sich. Dieser setzte sich neben seinen Freund und lächelte nun ebenfalls. Selbstbewusst hielt er ihm seine rechte Hand hin. Toni musterte die Wunde und meinte bloss:

„Ich weiss!“ Unbeeindruckt nahm er Roberts Hand und schaute sich den noch etwas blutenden Schnitt an.

„Wie, du weißt es schon?“ Robert schien überrascht von Tonis Reaktion zu sein. Doch dieser schien in Gedanken und mehr zu sich selber zu sprechen als zu Robert.

„Die Enden sind bereits gut verheilt.“ Bekundete er leise und konzentriert. Dann erst fiel Robert Tonis rechte Hand auf. Ausser einer kleinen Narbe schien alles in Ordnung zu sein.

„Ach du heilige Scheisse!“ Staunend betrachtete Robert den Handrücken seines Kollegen. Die Wunde war in zu kurzer Zeit wieder zusammengewachsen. Das war nicht möglich!

„Toni, ich bekomme es langsam mit der Angst zu tun. Was passiert mit uns? Was macht der Chip mit unserer Haut?“ Nun reagierte sein Gegenüber endlich. Seine Augen wanderten von der offenen Wunde hinauf direkt in Roberts Gesicht. Ohne den Kopf zu heben, klebten seine Pupillen förmlich an den Augenbrauen. Ruhig antwortete Toni endlich auf die ganzen, teilweise noch nicht ausgesprochenen Fragen:

„Der Chip macht uns stumpf, Robert. Ich habe die Akten gelesen. Das antibiotische Material bewirkt ein Abstumpfen der Hand und wirkt sich mit der Zeit auf den ganzen Körper aus. Wunden heilen besser und vor allem schneller. Die Schmerzen in der Hand werden durch das Zusammenwachsen von Gewebe mit dem biosierten Metall ganz verschwinden. Die Menschen können also in ein paar Jahren mit ihren Händen schier unglaubliche Schmerzen aushalten. Mein Gott, wir werden nicht einmal mehr merken, wenn wir uns verbrennen, oder wenn wir uns die Hand verstauchen oder gar brechen. „Money & Company“ geht sogar noch einen Schritt weiter. Die neuen Chips werden mit der Zeit auch die Gewebestruktur des ganzen Körpers angreifen. Sie erstellen einen Markt, der sich weltweit etablieren wird und dessen Kunden die gesamte Weltbevölkerung ist. Nichts mehr wird zu bewältigen sein ohne den neuen Chip. Keine Tür lässt sich mehr öffnen ohne diese Dinger. Wir werden alle vollumfänglich angewiesen sein darauf. Jemand muss sie aufhalten. Gemeinsam schaffen wir es, Robert. Ich habe auch bereits einen Plan.“ Ungläubig sah Robert Toni an. Mit weit aufgerissenen Augen und Mund sass er da. Plötzlich spürte er einen stechenden, kurzen Schmerz, der ihn seine verletzte Hand aus Tonis Klauen entreissen liess. Er sah, dass Toni ihm während seiner Ansprache einen neuen Chip in die Wunde implantiert hatte. Roberts Schmerzempfinden war jedoch in diesem Moment so klein, dass er lediglich den letzten, starken Hieb spürte. Seine Verwunderung war um Weiten grösser als die Empörung darüber, was sein Freund mit ihm gemacht hatte. Grinsend sah Toni Robert an und meinte:

„Dieser Chip erlaubt dir mehr, als du dir vorstellen kannst. Lust ein bisschen Spion zu spielen?“ Roberts Mundwinkel verzogen sich nun ebenfalls zu einem Lächeln. Er verstand schnell und begriff, dass der Plan, welchen Toni zu schmieden begann, wie alle seine Pläne, einfach genial sein musste. Gemeinsam könnten sie es schaffen. Robert konnte also mit Tonis manipuliertem Chip zur Arbeit gehen und dort herum schnüffeln. Immerhin hatte er mit der Freigabestufe, die sein Arbeitskollege ihm versprach, nun Zugang zu Archiven und Akten, die er zuvor noch nie gesehen hatte.

„Komm morgen Abend um neunzehn Uhr mit der Dakota-Akte hier her. Vertrau mir! Ich wünsche Dir viel Glück!“ Robert nickte Toni zu und nahm dessen Hand zum Abschied. Er stand auf und versicherte sich abermals, dass keine Polizeistreife in der Gegend war. Insgeheim freute er sich auf den nächsten Tag. Immer wieder sehnte er sich nach ein wenig Action in seinem so langweiligen Leben. War nun der Tag gekommen? Wurde aus dem fahlen Sein nun das lang erhoffte Abenteuer? Robert Henning, der Held, der Erlöser! Seine Gedanken stellten ihn auf ein goldenes Treppchen. Ganz oben sah er den Wind durch sein Haar wehen, welches unter einer Krone zu straffer Form verdammt war. Ein letztes Zwinkern zwischen den beiden Männern, dann ging Robert unauffällig nach Hause.

3. Schnüffeleien

Das Summen und Vibrieren des Chips liess Robert schlagartig die Augen öffnen. Wann nur würde er sich an den schrillen Ton der Weckfunktion unter seiner Haut gewöhnen? Immerhin lebte er bereits seit einigen Jahren mit dieser neuartigen Technologie und man sagte, dass sich der Mensch in Windeseile an technologische Fortschritte gewöhnte. Doch dieser Ton würde ihn eines Tages durchdrehen lassen. Als sich Robert aufrichtete und ein fader Schleier seinen Blick trübte, ging er noch einmal in Gedanken den bevorstehenden Tag durch. Ihm blieb nicht viel Zeit zum Schnüffeln. Bereits heute Abend musste er die von Toni angeforderten Dokumente und Akten beschafft haben, danach würde die Zeit kommen um unterzutauchen, da die Inspektion seines Chips bevorstand. Seine Finger ruhten auf den Schläfen. Er überlegte. Als er die Hände schliesslich auf die Knie fallen liess, überraschte ihn ein Blick auf den Handrücken, wo sich kaum merklich eine feine Linie abzeichnete, welche den gestern noch so grossen Schnitt symbolisierte. Nun war es ein winziger Kratzer, nichts weiter. Trotz aller Verwunderung lächelte Robert. Er vertraute Toni. Egal was für einen Chip dieser ihm buchstäblich in die Hand gedrückt hatte, er vertraute ihm. Toni hatte in der Firma einige Privilegien gehabt, für die Robert keine Erklärung fand. Es hiess; Wenn du gut bist, kannst du es weit bringen. Toni war eindeutig gut. Vielleicht gar zu gut! Immer mehr Meetings und andere Unsinnigkeiten hielten ihn vom „Daily business“ ab. Roberts einzige Erklärung für Tonis plötzlichen Ausstieg war, dass er einfach zu viel mitbekommen und gesehen hatte. Je länger er darüber nachdachte, umso schneller wollte er in die Firma um zu sehen, welche Türen sich mit Tonis Chip öffnen liessen.

 

Etwas Nervosität stieg in Robert hoch, als er die grosse Glastür mit den steril anmutenden Buchstaben und Zahlen „Willkommen bei Chance2020“ öffnete. Alle seine Sinne schienen geschärft zu sein. Noch nie war ihm die Eingangshalle so gross vorgekommen. Das Adrenalin in seinem Körper liess ihn Details erkennen, die er bis jetzt nie wahrgenommen hatte. Die fein gezeichneten Kleeblätter an den Wänden und an der Decke zum Beispiel. Oder die glänzenden Metallstangen an der Treppe, die anstatt gerade dem Lauf der Treppe zu folgen, sich kaum merklich auf und ab wanden. Das Wachpersonal nickte ihm wie gewöhnlich zu und er grüsste zurück. Eine Stimme meldete sich neben ihm:

„Hey Robert, alles klar?“ Kurz gab er zurück:

„Hey!“ Allgemeine Floskeln wurden in diesem überdimensionierten Eingangsbereich gestreut wie die Saat auf den Feldern vor Massachusetts. Diese gewohnte Umgebung gab ihm ein bisschen Ruhe und Roberts Nervosität klang langsam ab. Wie jeden Tag schritt er gezielt auf die eiserne Tür des Aufzuges zu und wartete bis dieser ihn abholte.

 

In der oberen Etage angekommen, setzte er sich in seinen Bürosessel und schaltete den Computer mittels Handchip ein. Robert war sehr erleichtert, als das Display „Willkommen, Robert Henning“ anzeigte. Seine Befürchtung war, dass er unter Tonis Name arbeiten müsste, obwohl dieser ja gemäss Firma gar nicht mehr existierte. Dieses Problem schien jedoch nun erledigt zu sein. Robert prüfte seine E-Mails und fing wie gewohnt mit der Arbeit an, als plötzlich sein Vorgesetzter neben ihm stand.

„Guten Tag Mr. Henning.“ Robert nickte ein wenig zaghaft. „Haben sie Toni gesehen?“ Nun schüttelte Robert wie in Zeitlupe den Kopf und meinte:

„Toni? Ich kennen keinen Toni“. Seine Coolness überraschte selbst ihn. Und es war genau die richtige Antwort, denn nach einem kurzen „Ach vergessen sie’s“ machte sich der Vorgesetzte gleich wieder auf und davon.

 

Nun konnte er beginnen! Nach einer Weile stand er auf und schritt durch den langen Flur. Seine Arbeitskollegen, deren Namen er nur zu selten wusste, tippten fleissig auf ihren Tastaturen und befahlen den Flimmerkisten, was sie zu tun hatten. Ein Grossraumbüro voller Idioten, dachte Robert. Am Ende des Flurs angekommen, öffnete er die Tür zum Aktenraum mit dem neuen Chip. Schon immer hatte er sich gefragt, wie es darin wohl aussehen würde. Toni wollte ihn diesbezüglich nie einweihen. Einmal hatte er sogar auf Knien gefleht, um auch nur einen Blick riskieren zu dürfen. Keine Chance! Toni blieb stets standhaft. Doch heute war der Tag gekommen, an dem er sich darin lange umsehen konnte. Noch einmal starrte er durch den Büroraum um sicher zu gehen, dass niemand ihn beobachtete, dann spazierte er hinein. Das Zimmer war grösser als es von aussen wirkte. Ein Aktenschrank folgte dem nächsten. Es schien, als wäre dies ein Paradies für Schnüffler. Toni hatte ihm genau gesagt, wo sich die Dakota-Akte verbarg: Aktenschrank 411, rechts unten. Die Schränke waren in derselben Schrift gekennzeichnet wie die grosse Eingangstür. 408, 409, 410, 411, und tatsächlich, da war sie. Dieses Schriftstückbündel war gross, umfassend und mit „Top Secret“ gekennzeichnet. Die Wichtigkeit der Akte schrie also förmlich nach Aufmerksamkeit. Rein und wieder raus, so hatte er sich das vorgestellt. Doch die Realität sollte ihn eines besseren belehren. Plötzlich öffnete jemand die Tür und Robert duckte sich blitzschnell. Er flüchtete ans Ende des Raumes, hinter die letzten Schränke. Zwei Männer schlossen die schwere weisse Tür und fingen heftig zu diskutieren an. Robert spitzte seine Ohren, doch er konnte lediglich kleine Fetzen des Gesprächs vernehmen. Ein Name fiel immer wieder: Die Clear-Akte. Toni hatte kein Wort von einer Clear-Akte gesagt, also sollte ihn diese auch nicht weiter interessieren. Doch eigenartig war das schon. Zumal sich die Herren auch über eine Verschwörung zu unterhalten schienen. Robert selbst besass eines dieser Mobiltelefone aus dem Hause „Clear“. Immerhin war die Firma die einzig ernst zu nehmende Konkurrenz von Chance2020. Clear warb mit der Multifunktionalität des Gerätes. Das Handy konnte alles, was der Chip auch konnte. Aktiviert und gesteuert wurde es mittels Daumenabdruck. Der eine kam plötzlich in Roberts Richtung und holte ein Papierbündel aus einem der Schränke hervor. Der andere folgte ihm und zusammen sahen sie sich die Unterlagen an. Robert meinte mehr und mehr zu verstehen um was es ging. Die Firma versuchte etwas zu vertuschen! Der Grosse flüsterte zum Kleineren, Clear sei nicht der Feind, sondern Unterstützer der Sache. Doch von welcher Sache sprachen sie? Was hatte dies mit dem Konzern zu tun? Robert versank in Gedanken. Plötzlich rutschte ein Blatt Papier aus seiner Akte hinunter auf den kalten Boden und die beiden Männer wurden hellhörig.

„Hallo, wer ist da? Komm raus!“ Der Grosse drohte mit Prügel und sogar mit dem Tod. Robert hatte keine andere Wahl. Er stand auf und schritt zu den beiden Männern. Der Grössere holte zum Schlag aus doch Robert konterte blitzschnell mit der rechten Hand und sein Gegner ging zu Boden. Auch den Hieb des Kleineren wehrte er mit der ab und gab diesem einen Tritt. Innert kürzester Zeit lagen Roberts Gegner bewusstlos am Boden. Er jedoch starrte erstaunt auf seine Hand und fragte sich, woher er das konnte. Schliesslich war er nie ein Freund von Gewalt gewesen und musste sie auch bis heute nie anwenden. Der Chip schien ihm auf seltsame Weise Kräfte zu geben, von denen er bis gerade eben nicht zu träumen gewagt hatte. Kopfschüttelnd verwarf er jedoch diese absurde Idee wieder.

 

Als er sich ein wenig gefangen hatte, ergriff er die Unterlagen auf denen gross „Clear-Akte“ stand. Ausserdem packte er ebenfalls die zwei weiteren Bündel in dem offenen Schrank vor sich. „Verschwörung“, das klang interessant! Toni würde sicherlich seine Freude an ihm haben, wenn er noch mehr Informationen beschaffen konnte. Langsam und unbemerkt verliess er den sterilen Raum und ging zurück an seinen Platz. Mehrmals versuchte er, sich über den Chip in den Account von Toni zu hacken, doch ohne Erfolg. Er konnte also keine weiteren Informationen sicherstellen, sondern war auf die Papierversionen beschränkt, was ihn ziemlich ärgerte. Robert beschloss, sich die Akten später anzusehen und steckte diese vorläufig in seinen Schreibtisch.

4. Mike Travor

Die Uhr am rechten unteren Rand des Bildschirmes erinnerte Robert daran, dass er heute noch einer wichtigen Einladung folgen musste. Toni würde zwar warten und es ihm nicht verübeln, wenn er zu spät käme, doch das war nicht seine Art. Als er die Dakota-Akte in einen Rucksack gleiten liess und nach der Clear-Akte greifen wollte, stand plötzlich sein Vorgesetzter neben ihm. Schnell zog er die Hand zurück und schob elegant mit dem Knie die Schublade zu. Der misstrauische Blick seines Chefs liess sein Herz pochen und er befürchtete, dass es bereits zu spät und er aufgeflogen war.

   „Mr. Henning, so spät noch hier? Haben Sie mit der Programmierung des neuen Programms bereits begonnen?“ Robert war erleichtert. Der Chef schien den Aktenklau nicht bemerkt zu haben.

   „Ja Mr. Conelli. Zwei, drei Probleme haben wir noch damit, doch im Allgemeinen läuft es sehr gut.“ Mit einem kurzen Kopfnicken drückte Conelli seine Anerkennung aus und schritt zufrieden davon. Wobei man nicht sagen konnte, dass dieser noch so junge Mann je zufrieden war. Robert schloss schnell seine Schublade, verriegelte den Rucksack und verliess das Gebäude so schnell wie möglich. Die Clear-Akte, zusammen mit den beiden anderen Akten würden unter Verschluss warten müssen. Es war zu riskant, diese Schriftstücke ebenfalls einzupacken, solange sein Vorgesetzter im Büroraum umhergeisterte.

Die Sonne stand bereits tief am Horizont und der Abend war deutlich spürbar. Menschenmengen tummelten sich an den Tischen der Restaurants um der untergehenden Sonne hinterher zu schauen. Die Service-Robots verrichteten ihr Werk, sodass die Menschen den Abend vollends für sich hatten. Robert dachte daran, wann er zum letzten Mal in einer Kneipe einen Drink zu sich genommen hatte. Er fragte sich insgeheim, ob er denn überhaupt schon einmal von einem Service-Robot bedient worden war? Immerhin wurden die Menschen erst vor einem Jahr von den ja so perfekten Blechbüchsen für den Abenddienst abgelöst. In der Ferne hörte er ein schwaches: „Jim? Ich heisse auch Jim!“. Die Entwickler mussten ja noch so viel verbessern, ehe man diese Platzhalter „perfekt“ nennen konnte. Die Geräusche der Stadt wurden leiser und mit jedem Schritt schien die Natur mehr und mehr die Überhand zu gewinnen. Robert wollte keine Zeit verlieren. Sein Ziel war heute nicht sein Zuhause, nein! Seine vier Wände mussten warten. Er hatte eine Mission und Toni sollte sich auf ihn verlassen können. Rasch erreichte er die Stelle, an der sie sich verabredet hatten. Robert empfand den Gedanken, vom Weg abzukommen und sich in die pure Wildnis zu begeben, befreiend. Er dachte daran, dass dies mit ihrem Projekt ja insgeheim wörtlich sowie metaphorisch stimmte. Die Abenteuerlust packte ihn und er sprang von der Strasse in den Wald hinein. Für einen Augenblick hielt er inne. Er lauschte den Klängen der kleinen Tierchen und Vögel, die pfiffen und zirpten und fröhlich vor sich hin sangen. Roberts Augen suchten nach etwas bestimmtem. Sie suchten nach jemandem, nach Toni. Doch weit und breit vernahm er weder Geräusche, noch sah er Bewegungen in den Büschen. Robert zweifelte kurz. Er stellte sich Toni in Gefangenschaft vor. In Gedanken sass er kurz hinter Gittern und musste Fragen zu seinem Ausstieg aus der Gesellschaft und aus dem Leben beantworten. Mit einem Lächeln verdrängte er diese absurden Gedanken. Er war sich sicher, dass sie Toni nie entlarven würden. Sein Freund war viel zu gerissen.

Erst jetzt fiel ihm, flatternd an einem Baumstamm, ein Stück Papier auf. Es war eine Nachricht von Toni. Dort stand:

 

Rob, komm an den Ort, an dem wir vor vier Jahren zusammen die Firma eröffnen wollten.

 

Robert überlegte kurz, dann fiel ihm ein, dass dieses alte Lagergebäude ganz in der Nähe war. Vier Jahre war es schon her, als Toni und er, genervt von der monotonen, langweiligen Arbeit, selbstständig an einem Roboter-Projekt arbeiten wollten. Ihre Idee war visionär und schien für damalige Verhältnisse sehr fiktiv zu sein. Sie wollten Roboter herstellen, die als Hilfspersonal für die Menschen einsetzbar gewesen wären. Kurz nach der Verwerfung des Projektes, kam eine andere Firma, die genau diese Ideen von Toni und Robert umsetzte. Wie sich herausstellte, wurde auch diese Unternehmung von „Money & Company“ finanziert und später übernahm „Chance2020“ die Administration der Firma. Robert war zu der Zeit ziemlich enttäuscht und fiel in eine leichte Depression. Immerhin badeten die Firmenbosse kurz nach Bekanntmachung der Erfindung in Reichtum und Robert fand sich abends in seiner kleinen Wohnung, mit kleinem Bankkonto und unbedeutendem Job wieder. Toni hatte das Ganze nicht so sehr mitgenommen. Er sah das alles relaxter. Er pflegte nur zu sagen: „Einmal verlierst du, einmal gewinnst du.“ Dies wurde dann irgendwann zu Roberts Hoffnung. Auch er stellte sich immer wieder vor, einmal oben zu stehen und nach dieser bitteren Niederlage musste es einfach beim nächsten Mal klappen. Es musste!

 

Die Lagerhalle stand inmitten eines kleinen Urwaldes. Nachdem diese vor fünf Jahren vollkommen ausgebrannt war, wechselte der Besitzer den Standort für seine Produkte und liess das grosse Grundstück verrotten. Das gezackte Dach erinnerte an die frühen Produktionsstätten, die sich bereits in den achtziger Jahren grosser Beliebtheit erfreuten. Die Konstruktion liess viel Sonnenlicht einströmen und ermöglichte es so, eine Atmosphäre der Zufriedenheit zu erzeugen. Bis heute wurden solche Dächer in der Industrie errichtet. Auch die Wellblechfassade erzählte von den grossen, arbeitsreichen Tagen, die mit dem Rost und der Verwilderung endgültig ärmeren Tagen gewichen waren.

 

Das Bild im Innern passte jedoch überhaupt nicht mit der äusseren Schäbigkeit zusammen. Vom grossen Brand war nichts mehr zu sehen. Jemand hatte neue Trennwände errichtet und jegliche Spuren von Asche und Staub verschwinden lassen. Robert staunte, als er die Halle betrat. Toni stand bereits an einem weissen Tisch und studierte Pläne oder Schriften.

   „Robert! Da bist du ja endlich. Wie geht’s? Hast Du die Akte? Wie sieht‘s mit dem Chip aus?“ Noch etwas über die Modernität der Räumlichkeiten staunend nickte er auf Tonis Fragen bejahend in den Raum. Er fing sich schnell und erwiderte Tonis Handschlag lächelnd. Robert wollte gerade anfangen zu plaudern. Er hatte ja so viel über all die Akten und die Kräfte des Chips zu erzählen, als plötzlich aus einem der Räume im Hintergrund ein ihm nicht unbekanntes Gesicht erschien: Mike Travor! Blitzschnell zog Robert seinen Arm aus dem Rucksack und liess von der Akte ab, die er gerade an Toni weitergeben wollte. Sein Kopf versank zwischen seine Schultern und sein Körper stellte sich auf die Flucht oder den Kampf ein. Was hatte der hier bloss zu suchen? Der Blick zwischen Toni und Mike war vertraut und liess nicht auf eine Entlarvung der Sache schliessen. Tausend Gedanken schossen durch Roberts Kopf und Misstrauen machte sich breit.

 

Mike Traver war eines der hohen Tiere bei „Chance2020“. Ausserdem sass er als Verwaltungsratspräsident am runden Tisch mit den Geschäftsinhabern von „Money & Company“. Niemand in den unteren Etagen wusste genau, wie viele Anteile er an den verschiedenen Firmen im Geflecht unter der Mutterunternehmung „Money & Company“ besass. Es hiess sogar, er habe massgeblich an der Weiterentwicklung des Chips mitgearbeitet. Robert hielt dies für Ammenmärchen. Für ihn war Mike Travor nichts weiter als ein schleimiger, stinkreicher Idiot, der sich mit Hilfe von minimalem Aufwand an Cleverness und einer unglaublichen Menge Glück zu den richtigen Menschen an den richtigen Stammtisch gesellt hatte. Seine Haare waren zu jedem Zeitpunkt mit ausreichend Gel glatt nach hinten gekämmt und die Menge an Schleimigkeit schien zumindest in seinen Haaren und in seinem Lebenslauf eine Einheit zu bilden. Jedem Mitarbeiter von „Chance2020“ missfiel die Art und Weise, wie sich Mr. Travor durch das Firmengebäude bewegte und die Augenpaare verdrehten sich in bester Laolawellenmanier hinter dem mit einem Grinsen bestückten Arschgesicht.

 

Robert stand bloss da. Schnell fiel ihm Mikes Handrücken auf. Die durch unglaublich teure antiaging Crème glatte und makellose Oberfläche zeigte keinerlei Spuren von einem Eingriff. Der Chip in Travors Hand war also noch an Ort und Stelle. Toni sah Robert das Misstrauen an. Jeder hätte dies ohne jegliche Mühe festgestellt.

Toni lächelte Robert zu und sprach halb flüsternd: „Robert, er ist einer von uns! Wir haben einen Insider der obersten Stufe für unsere Sache. Mike füttert uns mit nützlichen Informationen und wir erhalten im Gegenzug die Menschheit am Leben. Vertraue mir.“ Travor war bereits bei ihnen angekommen und streckte seine Hand zum Gruss aus. Sein Gesicht schmückten unglaublich weisse Zähne in einem ebenso unnatürlichen Grinsen. Robert überwand seine Antipathie und schlug ein. Mike jedoch tauschte bald sein Lächeln in Erstaunen und setzte plötzlich eine etwas nachdenklichere Miene auf. Er schien auf einen Schlag grosses Interesse an Roberts Hand zu haben. Mit weit geöffneten Augen musterte er diese. Ein leises „Wow“ entwich Mikes Lippen, welche dafür kaum auseinanderdrifteten. Roberts Blick jedoch haftete an Travors Gesicht. Diese Reaktion auf seinen Handrücken war er inzwischen gewohnt. Immerhin hatte er selber diesen Wow-Effekt in den letzten Tagen und Stunden zur Genüge.

   „Wir müssen das untersuchen lassen, Robert. Ihr Körper reagiert wirklich ausgezeichnet auf den neuen Chip. Also ich meine auf Tonis Chip. Aber wie er mir mitteilte, haben Sie ja bereits einen Termin zur Untersuchung ihrer Hand.“ Nun endlich liess Mike von Robert ab und erneut zierte ein breites Lachen dessen Visage.

   „Ich kann da nicht hingehen, dann haben die mich doch! Was soll ich denen sagen, wenn beim Scan des Chips plötzlich Tonis Name auftaucht?“ Mike lachte laut drauflos. Das hatte ihm noch gefehlt. Der Kerl schien sich über ihn lustig zu machen. Jeden Moment würde er ihm ins Gesicht schlagen. Jeden Moment hatte er so die Schnauze voll, dass es kein Halten mehr geben sollte. Travor wischte sich die Tränen aus den Augen und erholte sich von seinem vermeintlichen Lachanfall.

   „Robert, meinen sie im ernst, ich hätte den Chip nicht umprogrammieren lassen? Haben sie wirklich geglaubt, ich wäre so dumm? Ich bin enttäuscht.“ Gemächlich schritt Mike zurück an den Tisch während er ruhig weiter sprach.

   „Sie werden zu dieser Untersuchung gehen, Robert. Für die in der Zentrale ist dies der Beweis, dass mit ihrem Chip und ihrer Identität alles stimmt. Danach werden die sie in Ruhe lassen! Der Chip in ihrer Hand trägt ihren Namen, lässt jedoch die Privilegien zu, welche Toni hatte. Er öffnet Türen für sie, die wir öffnen müssen. Sie sind unser Joker, ausführende Hand, wenn sie so wollen. Sie sind ein Spion, der nicht als solcher vermutet wird, an einer Stelle, an welcher die Idioten von Chance2020 keinen Spion erwarten. Sie sind unser Mann, Robert!“ Die Ansprache hatte ihre Wirkung gezeigt. Robert liess den Tag Revue passieren und verstand, dass er nun eine Macht besass, von welcher er bis anhin nur geträumt hatte. Es stimmte! In ihm würde niemand einen Spion vermuten. Er war ein Joker. Und er war Tonis Freund, welcher ihm vertraute.

   „Was soll ich als nächstes tun?“ Der neu gefasste Mut und die Motivation, welche er durch die Vorstellung, etwas verändern zu können, tankte, war für alle Beteiligten spürbar.

   „Sabotieren sie erstmals die Programme, welche dieser Idiot Conelli ihnen gegeben hat. Installieren sie stattdessen diese kleine Anwendung auf dem Stick. Der Name ist der gleiche. Bis diese Spinner das merken, sind wir bereits über alle Berge.“ Der Stick trug das Firmenlogo und war so winzig, dass er in seinem Computer bei der Arbeit nicht auffallen konnte. Robert nahm ihn entgegen und ungewollt zogen sich seine Mundwinkel nach oben. Als er dies merkte, zwang er sie direkt wieder in eine emotionslose Position.

   „ Und nun…“ sprach Mike weiter, „…erzählen sie mir alles, was sich geändert hat, seitdem Toni sie mit dem neuen Chip überfallen hatte.“ Wieder grinste Travor. Doch dieses Mal wurde seine Freude von den beiden Freunden erwidert. Robert war noch lange nicht vom Misstrauen gegenüber Mike Travor geheilt, doch er vertraute Toni und so erzählte er im neuen Spionagehauptsitz alle Details über die geöffneten Türen im wörtlichen und im übertragenen Sinne, sowie die Kräfte, die aus ihm heraussprudelten. Mike Travor notierte sich hier und da Stichwörter in seinem Heftchen und hörte die ganze Zeit aufmerksam zu. Nie hätte Robert Henning gedacht, dass er überhaupt einmal mit dem Arschgesicht Mike Travor sprechen würde.

5. Nora Followil

 

Robert wippte nervös mit einem Bein. Im Wartezimmer hing ein undefinierbares Aroma in der sauberen Luft. Es roch, als würden sich Desinfektionsmittel und chemischer Lavendelduft einen unerbittlichen Kampf um die Gunst der hier wartenden Menschen liefern. Roberts Gegenüber hustete. Der junge Mann war neben ihm der einzige in dem kleinen Raum. Seine Hand trug einen dicken Verband und die Finger, die darunter zum Vorschein kamen, wiesen Spuren einer fiesen Schwellung auf. Aus dem Radio ertönte die Stimme des Moderators, der gerade die neuesten Aktienkurse ableierte. Tatsächlich hatte es „Money & Co.“ geschafft, den Kurs weiter nach oben zu treiben. Einhundertsieben Dollar war eine Aktie des Giganten wert. Wer diese vor einem Jahr gekauft hatte, war nun um knapp das Doppelte reicher. Der Junge schüttelte den Kopf. Mehr zu sich selbst als zu der Welt sagte er halblaut: „Diese Aasgeier profitieren von unserer Kontrollgeilheit!“ Robert schaute entsetzt hoch. In dem Moment klingelte das Telefon des Jungen und er ging genervt dran.

„Ja Mutter, ich bin da. … Ja, ich lasse auch alles gut kontrollieren. … Nein, ich bin in keiner Spielbude! … Das kannst Du mir nicht andichten. Ich … Nein, nein! … Natürlich werde ich sagen, was vorgefallen ist. … Auf keinen Fall werde ich mich entschuldigen!“ Obwohl die Stimme am anderen Ende des Clear-Mobiltelefons noch herum piepste, schaltete der Junge das Handy ohne zu zögern aus. Mit geschlossenen Augen und der Hand an der Stirn schüttelte er den Kopf und stammelte etwas wie „Oh mein Gott.“ Zumindest klang es für Robert danach. „Weshalb sind sie hier?“ Sein Ausdruck verriet Robert, dass die Frage eine reine Floskel war. Die Antwort war ihm offensichtlich scheissegal. Doch dann setzte er noch einen drauf und fragte sarkastisch: „Funktioniert das Garagentor nicht mehr?“ Robert konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Wie gerne hätte er dem Jungen zugestimmt und mit ihm ein Gespräch über den wohl unglaublichsten Fehler, den die Menschen je begangen hatten, geführt. Robert ahnte bereits, dass der Junge auch ein Aussteiger sein musste, doch er entschied sich, seine Rolle zu spielen. Er konnte die Tarnung des loyalen Chipträgers nicht auffliegen lassen. So antwortete er: „Nein, dieses Mal ist es der Toaster.“ Sein Gegenüber zeigte keinerlei Anzeichen von Belustigung und so versiegte auch Roberts Fröhlichkeit wieder in stummes Dasein.

Eine Weile musterte der Pubertierende ihn ernst bis er die Stille erneut durchbrach:

„Sie machen einen grossen Fehler Sir. Wissen sie eigentlich, was sie da tun?“

„Den Fortschritt nutzen?!“ Roberts Aussage ähnelte mehr einer Frage statt einer Antwort.

„Sie machen sich abhängig und die haben sie in der Hand! Die lassen sie nie mehr alleine. Die sind überall. Ich wette, hier gibt’s Wanzen, damit die Typen wie sie und mich kontrollieren können.“ Um der Diskussion aus dem Weg zu gehen fragte Robert den Jungen auf den Chip deutend:

„Was ist passiert?“ Dieser sah stolz hinunter auf seine eingebundenen Hand und meinte: “Ich wollte aussteigen. Aber das sei moralisch nicht tragbar, sagten meine Eltern. ‚Kontrolle pur, moderner Kommunismus’, sagte ich. Da hab ich mir zuerst mit dem Hammer draufgehauen, bis die Hand ganz taub war und wollte dann den Chip mit dem Messer raus schneiden, da kamen meine Eltern ins Zimmer.“ Robert schwankte zwischen Entsetzen und Bewunderung. Welche der beiden Seiten man ihm äusserlich ansah, konnte er beim besten Willen nicht sagen.

„Wissen sie, der Chip kann geortet werden. Die wissen immer, wo sie sich aufhalten. Ein Freund von mir ist ein Genie wenn’s um Computer geht. Er hackte sich bereits einmal in den Sicherheitsbereich von „Chance2020“, einer Tochtergesellschaft von „Money & Co.“. Er hat das Signal meines Chips ausgeschalten und mich somit unsichtbar gemacht. Wenn sie jemanden kennen, der sich mit Computern und Online-Geschichten auskennt, fragen sie ihn, was er über sie raus finden kann. Sie werden Augen machen!“ Robert versank in Gedanken. Er musste sie sortieren und genau speichern, damit er diese äusserst wichtigen Informationen auch richtig an Toni weitergeben konnte. Noch nie hatte er von einer Ortung des Chips gehört. Dieser Teil des Puzzles war neu für ihn. Wenn das aber stimmte, was der Junge über die Fähigkeiten von Computernarren sagte, würde er es rausfinden.

 

Plötzlich ertönte ein dumpfer Dialog draussen im Flur zum Untersuchungszimmer. Robert wurde aus seinen Gedanken gerissen und sah auf. Der Junge starrte ihn unaufhörlich an und nahm seinen Blick auch dann nicht von ihm, als sich die Tür öffnete. „Robert Henning!“ Und da war sie! Diese erotische Stimme vom Telefonat neulich erkannte er sofort. Ein Blitz durchfuhr ihn und die Nackenhaare stellten sich auf. Im Bruchteil einer Sekunde wandte er sich der Frau, welcher die Stimme gehörte, zu. Für einen kurzen Moment sah sie noch auf ihr Haltebrett mit Roberts Akte darauf, dann fanden sich ihre Blicke und es schien, als würde sie das gleiche empfinden wie er. Beide waren sprachlos und überhörten auch die Proteste des jungen Mannes, der darauf pochte, er sei früher dort gewesen als der Alte und wäre dementsprechend auch zuerst an der Reihe. Langsam erhob sich Robert und ging wie hypnotisiert auf die Dame zu. Sie war gross und schlank und hatte langes, dunkelrotes Haar, welches sich atemberaubend von dem Weiss der Bluse abhob. Ihre Lippen waren voll und die wunderschönen, grossen Augen schimmerten in einem faszinierenden grün. Selbst die wohlgeformte Nase schien perfekt zu sein. Sie war schlicht und einfach eine Schönheit. Galant schritt sie voran und führte Robert in ein Untersuchungszimmer. Wenn es Liebe auf den ersten Blick wirklich gab, war es das erste Mal, dass Robert so etwas erleben durfte.

„Guten Tag Robert. Mein Name ist Nora Followil. Ich werde sie heute untersuchen, oder zumindest den Chip in ihrer Hand. Wir hatten ja telefoniert.“ Ihre Hände waren geschmeidig und die Stimme noch erotischer als am Telefon.

„Ich muss noch schnell meinen … den Laptop holen.“ Auch die Schöne schien etwas nervös zu sein. Sie verschwand und schloss die Tür hinter sich. Im zu kleinen Untersuchungszimmer waren Laptop und Tablett schon vorhanden. Drähte und Schläuche hingen von der Decke und sahen nicht weniger furchterregend aus als die piependen Maschinen auf einem provisorisch wirkenden Tisch. Für einen Moment sass Robert nur da. Dann ging die Tür auf und endlich betrat Nora den Raum. Ein weiterer Laptop war unter ihren Arm geklammert. Als sie die Tür von innen geschlossen hatte, klappte sie den schwarzen Computer auf und schloss ihn an die Maschine. Robert ging der Bitte nach, sich oben frei zu machen und auf der Liege Platz zu nehmen. Die Drähte und Schläuche wurden überall an seinem Oberkörper und an der Hand mit dem Chip auf der Haut befestigt und Nora konnte mit der Arbeit beginnen. Sie tippte gekonnt auf der Tastatur herum und konzentrierte sich dabei dermassen, dass Robert sie völlig ungestört anhimmeln konnte. Das Licht in dem kleinen Raum war spärlich und warf einen feinen Schatten ihrer wunderschönen Nase auf die Wange. Ihre beinahe majestätische Haltung liess ein körperbewusstes Leben erahnen und die charmanten Augen schweiften vom Bildschirm zur Tastatur und wieder zurück. Für einige wenige Minuten waren nur das Tippen der Tastatur und der regelmässige Atem zweier erwachsener Menschen zu hören. Robert merkte nicht einmal, dass das Piepen der Maschine ausgesetzt hatte. Plötzlich riss Nora ihn aus dem Tagtraum.

„So! Alles perfekt. Es war nur eine kleinere Störung auf dem Chip. Das kann vorkommen. Es gibt leider noch immer Menschen, deren Gewebe den Fremdkörper, wie Experten den Chip nennen, abstösst. Das geht sogar so weit, dass der Chip bei manchen Menschen durch das eigene Immunsystem langsam an die Hautoberfläche geschoben wird. Dies kann auch bei Ohrringen oder Piercings der Fall sein. Nur ist es bei dem Chip natürlich gravierender. Glücklicherweise aber war’s bei Ihnen nur eine kleine Sache.“ Nora sah sich kurz um und schien sich zu versichern, dass die Tür fest in dem Schloss lag. Dann sagte sie:

„Zur Sicherheit haben Sie hier meine Nummer. Sollte es nochmals vorkommen, können Sie sich gerne bei mir melden, wenn das für Sie in Ordnung ist.“ Dann zeigte Nora Followil Robert ihr schönstes Lächeln und steckte ihm ein Kärtchen mit einer von Hand notierten Telefonnummer zu. Wie automatisiert standen beide auf. Sie waren immer noch aufeinander fixiert und lösten ihre Blicke nur widerwillig. Hoffnungsvoll hielt die Schöne Robert die Tür auf und liess ihn passieren. Draussen hielt Nora ihm die Hand zum Abschied hin und nickte ihm verlegen zu. Kurz schielte sie zur linken Hand hin, in welcher Robert zwischen Zeige- und Mittelfinger noch das Kärtchen mit der Nummer hielt. Er verstand und nickte ebenfalls lächelnd. Von der Rezeption her dröhnte ein unfreundliches „Nora“. Dies war das Zeichen für Robert, endlich die Hand seines Gegenübers loszulassen und er sah nur missmutig ein, dass keine Zeit mehr für Smalltalk blieb.

„Auf wiedersehen, Robert.“ Sie nickte ihm noch ein letztes Mal zu und drehte sich dann um, um elegant den Weg durch den Korridor zu schreiten. Robert brummte ebenfalls ein „Auf wiedersehen“, doch das war mehr zu sich selbst als zur damit gemeinten Dame. Beim Weggehen drehte er sich noch einmal um, doch sie war nicht mehr zu sehen. So verliess er die Kontrollstelle mit der Gewissheit, dass mit dem Chip alles in Ordnung war, jedoch mit der Ungewissheit, ob er die schöne Nora Followil jemals anrufen würde.

Impressum

Texte: Mike Sterren
Bildmaterialien: Maya Squar / lilaquadrat
Tag der Veröffentlichung: 14.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
lilaquadrat

Nächste Seite
Seite 1 /