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Grüner Tod

Autsch.. Das hat ganz sicher wehgetan. Die Knochen knacken, die Schreie, verstummend, doch nach Hilfe rufend. Seit zwei Stunden sitze ich nun hier auf der kleinen Bank neben dem Stadtmuseum. Und seit zwei Stunden starre ich auf den kleinen Stadtpark, auf die Grünfläche, mit den kleinen Büschen, Bäumen und Sträuchern überall darin verteilt. Was hier abgeht, ist schier unglaublich. Der Park ist kleiner als ein Fussballfeld. Er ist umzingelt von Strassen und hohen Gebäuden, genährt und gefüllt mit den Abgasen der Autos. Ein letztes Stück Natur in einer von Asphalt und Beton gezeichneten Stadt. Doch dies scheint ein ganz besonderer Fleck Erde zu sein. Denn jeder, der diese Fläche betritt, wird von den Sträuchern aufgefressen, und das ist nicht symbolisch gemeint. Bis jetzt ist Keiner wieder auf der anderen Seite herausgekommen. Ich wollte eigentlich ins Museum, mir die Jack The Ripper Ausstellung ansehen, doch dieses Spektakel übertrifft wohl alles bisher da gewesene. Als ich gerade das antike Gebäude auf der Nordseite des Parks betreten wollte, hörte ich zum ersten Mal einen kurzen und verbitterten Schrei vom Park her. Ich drehte mich um und sah nur noch zwei Beine, die aus einem sich schnell bewegenden Busch heraus schauten. Die Passanten auf den Strassen drehten sich deswegen nicht um. Manche warfen einen kurzen Blick in Richtung des Verschlungenen, sahen wohl auch die Beine, die gerade in der Pflanze verschwanden und liefen unbeeindruckt weiter. Da ich mir heute Zeit genommen habe, meine neue Heimatstadt zu erforschen, dachte ich mir; warum nicht? Kann ja nicht schaden, ein bisschen vor dem Museum zu sitzen, statt drinnen.

Die nächsten Opfer liessen nicht lange auf sich warten. Eine aufgetakelte Frau und ihr kleiner Hund. Die Dame bis ins letzte geschminkt. Die Schuhe, unmöglich darin zu laufen, doch sie stolperte unaufhaltsam damit hin und her. Der Hund, nicht grösser als eine Katze und mit einem rosa Gewand angezogen, musste wohl Mal. Das kleine Geschäft im grossen Rasen der Stadt. Wie praktisch, dass die beiden gerade hier, an dieser Stelle angekommen waren. Da kann das Hündchen sich ruhig Zeit lassen. Zwei, drei Schritte in die Büsche hinein und die Pflanze wackelte bereits. Das grüne Gestrüpp fing an zu zittern und drehen, wie wenn ein Orkan direkt darüber hinwegfegte. Die Frau, sichtlich beunruhigt, versuchte noch einen Schritt aus dem Park zu machen, da war es bereits zu spät. Sie schrie, fasste sich an das Bein, welches jedoch schon zur Hälfte Geschichte war. Sie sah das Blut an ihren Händen und schrie noch lauter. Die Pflanze schwang die arme Frau in die Höhe und presste sie in sich hinein. Das Hündchen, an der Leine durch die Luft schwingend, wurde einer anderen Pflanze zugeworfen, welche das kleine Ding ohne grosse Mühe herunter schluckte. Der eine Arm, welcher noch die Leine hielt, viel auf den Gehweg. Ein Passant, der zufälligerweise vorbeilief, packte den Arm und warf ihn ohne grosse Emotionen in das Grün zurück.

Ein bisschen wunderte mich die ganze Sache schon. Ich hatte keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat. Und doch war ich bestrebt, einer von denen zu werden. Mich in der Stadtgemeinde, im Stadtleben zurechtzufinden und zu integrieren. Ich, das Landei, in einer neuen Umgebung. Mach nun bloss keine Andeutung von Unwissenheit. Und auf der anderen Seite muss ich sagen, dass mich diese Sache, trotz aller Grausamkeit, sogar ein bisschen amüsiert. Menschenfressende Pflanzen, hier, mitten in der grossen Stadt.

„Hab ich was verpasst?“ Ein junger Mann, nicht älter als ich, setzt sich neben mich. Er hat einen Korb, gefüllt mit Essen, Früchten, Kuchen und so Zeug, und einer Flasche, voll mit heissem Kaffee mit.

„Ja haben Sie.“ Ich antworte sichtlich vergnügt.

„Eine aufgetakelte Dame, mit einem kleinen Hund. Wahnsinn!“ Ich bin erstaunt über meine eigenen Worte. Zum ersten, weil dies eine ziemlich sarkastische Äusserung meinerseits war, in anbetracht, was sich hier vor meinen Augen abspielt. Zum zweiten, weil ich so überzeugt geantwortet habe. Ich bin mir sicher, der junge Mann redete über den Park und nicht über das Museum.

„Die Frau merkte erst was mit ihr geschah, als sie schon nur noch auf einem Stöcklschuh herumlief.“ Ich kann mir ein Grinsen nicht verwehren.

„Ou, das Bein war als erstes ab! Das ist immer amüsant.“ Ich nicke und muss abermals grinsen. Der junge Mann kommt – so scheint es mir – in Erzähllaune. Anscheinend war er schon mehrmals dabei.

„Manchmal lassen die Pflanzen ihre Opfer noch lange stehen, oder besser gesagt rumwackeln. Einmal war ein älterer Herr im Park spazieren. Plötzlich merkte er, wie er ein Bein weniger hatte. Ich habe mich vor Lachen fast gekrümmt. Er hopste zwei, drei Mal, dann stützte er sich auf seinem Gehstock ab und schaute zurück, als wäre das für ihn normal. Die Pflanzen schienen auch ziemlich überrascht zu sein von seiner Reaktion und machten erstmals nichts mehr. Der Mann ging ein paar Schritte und dann merkte ich erst, dass das verlorene Bein ein Holzbein sein musste. Er meinte wohl, es wäre ihm unterwegs abgefallen. Dann knapp eine halbe Minute später erst, schnappte sich das Gestrüpp am westlichen Ende den Rest des Mannes. Auch die anderen Leute blieben stehen um sich dieses Schauspiel anzusehen. Allgemeines Gelächter brach aus. Sie können es sich ja vorstellen.“ Der junge Mann fängt noch während des Satzes an, laut zu lachen. Und ich muss bei seiner Geschichte auch mitlachen.

„Vor einer Stunde war’s ein Pärchen.“ Sag ich.

„Die Pärchen sind immer gut!“ Sagt er.

„Die beiden gingen in aller Ruhe in die Grünlandschaft. Die Pflanzen liessen sich wohl Zeit. Der Junge legte ein Tuch aus, ganz schön romantisch. Sie setzten sich darauf und fingen an zu knutschen. Er drehte sich um, um seiner Geliebten ein Stück seines Kuchens zu geben. Unterdessen schlängelten sich lange Pflanzenarme von hinten um das Mädchen herum. Sie, die Augen geschlossen, genoss das Grabschen an ihren Brüsten sichtlich in vollen Zügen. Als sie dann die Augen öffnete und die grünen „Hände“ furchterfüllt anstarrte, war es bereits zu spät. Noch bevor sie schreien konnte, schlang sich ein Arm um den Mund des Mädchens und hob sie in die Höhe. Die Pflanze machte dann kurzen Prozess. Sie riss den Körper ab und liess den Kopf des Opfers vorerst wieder neben den Jungen auf das Tuch fallen. Der Junge drehte sich langsam um und liess dann den ganzen, schönen Kuchen los, als er sah, dass von seiner Liebsten nur noch der blutverschmierte Kopf da war. Ein kurzer Schrei und auch er war weg.“

„Mit den Pärchen ist das meistens so. Da dauert’s immer ein bisschen länger. Apropos Kuchen.“ Auf einem Papierteller bietet er mir ein Stück herrlich duftenden Schokoladenkuchen an.

„Danke gern!“ Ich nehme den Kuchen entgegen und beisse herzhaft hinein.

„Die Sportler sind auch meistens nicht schlecht. Die wehren sich noch. Letzten Sonntag war ein Jogger unterwegs. Er machte kaum drei Schritte in den Park hinein, da begrabschte ihn bereits die eine Pflanze. Was für ein Spektakel. Er, der unermüdliche Kämpfer riss der Pflanze einen Strauch aus. Darauf wurde sie recht wütend. Sie warf ihn in die Luft, wirbelte ihn umher und er, er riss ein Blatt nach dem anderen aus. Immer mehr und mehr Pflanzen kamen zu Hilfe. Plötzlich war ein Arm weg. Das Blut spritzte auf die Strasse. Ein Passant, gekleidet wie ein Banker, bekam etwas von dem Blut ins Gesicht. Er drehte sich zum Sportler und schrie diesen an, ob er denn keinen Anstand hätte und wie er sich denn das hier vorstelle. Ob er mehr unschuldige Fussgänger mit seiner Scheisse bespritzen wolle. Der Sportler entschuldigte sich noch höflich und schon war der zweite Arm weg. Und das Blut…“

„…bekam wieder der Banker ab!?“

„...bekam wieder der Banker ab, ganz genau! Er wurde nun richtig wütend und schmiss seine schwarze Ledertasche nach dem Sportler und suchte sich den Weg zu ihm. Die Pflanzen waren auf so eine Attacke wohl nicht gefasst. Sie liessen den Sportler fallen und der Banker schlug auf den armen Kerl ein. Stellen sie sich ein Opfer ohne Arme vor und einen wie vor Tollwut schäumenden Banker. Da schnappte sich plötzlich die eine Pflanze hier links den Sportler und die andere gleich daneben den Banker. Noch in der Luft versuchte der Banker seinen „Blutspender“ zu schlagen. Haha, ich sage Ihnen, das war ein Schauspiel.“ Wir müssen beide lachen. Mich vergnügt zu der Geschichte auch noch die Erzählweise des jungen Mannes. Mit Armen und Beinen macht er mir die Story so schmackhaft wie nur irgend möglich.

„Kurz bevor Sie kamen ging ein Betrunkener rein. Doch das war nicht weiter lustig. Die Pflanzen haben kurzen Prozess gemacht. Erst die Arme, dann die Beine, dann warteten sie eine Weile und am Ende rissen sie den Rest noch auseinander.“

„Ja Betrunkene sind nie lustig. Ist einfach nicht strange genug. Hei, sehen Sie! Einer mit den Rollschuhen.“ Mit dem Zeigefinger deutet er mir die Richtung.

„Aber der geht doch nicht da hinein mit den Dingern.“

„Passen Sie gut auf.“ Der Rollschuhfahrer fährt auf dem Gehsteig neben dem Park. Plötzlich schiesst ein Ast aus dem Park in seine Bahn, wirft ihn um und er fällt mit dem Kopf auf die Wiese. Der Rollschuhfahrer will sich gerade aufrichten, als die eine Pflanze zupackt. Daneben jedoch will die zweite Pflanze auch dran. Sie verheddern sich ineinander, und ziehen und reissen aneinander herum, bis die eine ausgerissen wird. Unterdessen hat sich der Sportler wieder auf die Skates erhoben und ist frisch fröhlich weitergerollt, wie wenn nichts passiert wäre.

„Scheisse! So schade. Da hätten Sie schon mal einen Sportler in Aktion gesehen und dann das. Kaffee?“ Aus einer Metallkanne flutet ein unglaublich köstlicher Kaffeeduft meine Nase. Der junge Mann hält mir einen metallenen Becher hin und grinst mich an.

„Aber liebend gerne!“ Dankend nehme ich den Becher und er füllt das Gebräu ein.

Nach einer Weile des Schweigens und Dasitzens steht mein Nachbar schliesslich auf und meint:

„Den Korb können Sie behalten. Die Kanne könnten Sie bitte meiner Mutter zurückbringen. Die Adresse steht unten drauf. Wissen Sie, meine Mutter ist da ein bisschen pingelig. Sie liebt ihre Kanne.“

„Wo wollen Sie hin?“ Während er zur Strasse läuft, antwortet mein neuer Kollege mir noch ein letztes Mal:

„Ich muss doch für ein Spektakel sorgen.“ Er läuft über die viel befahrene Strasse und schaut sich, auf der anderen Seite angekommen, ein letztes Mal um, um mir zuzuwinken. Ein lockerer Militärgruss, dann fängt er an zu rennen. Ich muss aufstehen, um alles sehen zu können. Er sprint förmlich in das Grün. Nun ist er für eine Weile verschwunden. Plötzlich schiesst er aus dem Gestrüpp heraus, blutend, wie ich es noch nie gesehen habe. Ein Bein fehlt bereits. Er lacht laut vor sich hin. Brüllt:

„Ihr Pflanzen könnt mich Mal!“ Passanten bleiben stehen, um sich das Ganze aus der Nähe anzuschauen. Er reisst und zwickt an dem grünen Ungestümen herum. Bespritzt sie mit Blut. Er lacht so laut, dass sogar die Leute aus den Bürogebäuden rings um den Park aus den Fenstern schauen, und die Autos stehen bleiben und die Fahrer aussteigen. Zehn Meter wird er in die Höhe geschleudert. Er lacht noch immer aus vollem Leibe. Die Menge jubelt ihm zu. Inzwischen fehlt ihm der Rechte Arm. Er entschuldigt sich, währenddem er umherfliegt, mit denen, die er mit Blut beschmiert hat. „Nimm dies und das!“ Mit dem verbleibenden Arm reisst er weiter und weiter. Er kämpft. Dann fliegt er nochmals hoch, sieht zu mir rüber, zwinkert mir zu und verschwindet dann schliesslich für immer im Grün. Die Meute jubelt und applaudiert. Dann gehen sie wieder ihren Weg. Die Autofahrer steigen wieder ein, der Verkehr läuft wieder fliessend am Park vorbei. Die Passanten laufen weiter und die Büroangestellten gehen wieder an die Arbeit. Auch für mich wird es Zeit. Ich packe die Kanne mit dem Rest des Kaffees darin und mache mich auf den Weg zur Mutter, um ihr diese, ungewaschen zurückzubringen.

Impressum

Texte: Mike Sterren
Bildmaterialien: Mike Sterren
Tag der Veröffentlichung: 12.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen Menschen, für die Gleichgültigkeit zum Egoismus und somit zum persönlichen Wohlbefinden dient.

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