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Stille

Und plötzlich war es still. Marcus sah Gloria an und Gloria sah Marcus an. Das klimpernde Geräusch der Stricknadeln, mit denen Gloria gerade einen hellgrauen Pullover für ihren Mann strickte war verstummt. Auch die Radiosendung, die sie sich dabei anhörte, oder das Rascheln der Zeitung von Marcus, all das war auf einen Schlag nicht mehr zu hören. Keine Autos mehr unten auf der Strasse, kein Zischen des Windes mehr, der durch das offene Fenster sauste, keine Vögel mehr, die vor dem Fenster ihren Gesang zum Besten gaben. Die Welt war wie gestorben; auf einen Schlag.

   „Gloria?“

   „Marcus!“

   „Gloria, gut, ich bin nicht taub!“

   „Und ich auch nicht! Aber was ist es dann?“ Marcus fing an die Zeitung zu zerknittern. Nichts. Kein Geräusch. Gloria stiess die Stricknadeln zusammen. Nichts. Nur Stille

   „Das ist aber seltsam!“ Sie wunderte sich ein bisschen über die plötzliche Veränderung.

   „Das ist schön!“ Marcus war wieder eifrig am Lesen. Immer schon hatte er das Bedürfnis, von der grossen, lauten Stadt in ein Häuschen fern ab von all dem Lärm zu ziehen. Doch leider war das Geld immer schon knapp und nun mit der monatlichen Rente konnten sich die beiden das sowieso nicht mehr leisten. Die Rente war spärlich und es reichte gerade einmal zum Leben.

   „Marcus sieh nur!“ Auf einmal fingen die Leute draussen auf der Strasse an zu schreien. Einige hielten ihre Ohren zu, andere wälzten sich auf dem Boden, wieder andere blickten verwirrt um sich. Der Stadtplatz, über dem Gloria und Marcus im sechsten Stock in einer Altbauwohnung lebten, war übersät mit Menschen, die panisch umherliefen. Die Autos auf der Strasse hinter den Gegenüberliegenden Häusern waren stehen geblieben. Die Fahrer stiegen aus und schauten zerstreut umher. Auf den Balkonen überall in der Stadt tummelten sich die Menschen mit fragenden Gesichter. Von einem der Balkone fiel ein Blumentrog zu Boden. Der Aufschlag war nicht zu hören. Auch das Zerbersten des Topfes gab keinen Laut von sich.

   „Was für eine rücksichtslose Meute da unten. Gloria, wir müssen etwas unternehmen gegen diese Störenfriede. Jeden Samstagabend ist es genau so laut, wenn die da unten im Pub ihre Musik aufdrehen.“

   „Aber Marcus, findest du das nicht auch seltsam? Sieh nur, da drüben fährt ein Auto, doch man hört es nicht! Und wie du dich immer wegen dieser Strasse aufgeregt hast. Und dort, ein Güterzug! Jeden Abend und jede Nacht hast du zu Gott gebetet, er solle dir die Ruhe bringen und die Güterzüge stoppen. Doch nun hört man überhaupt kein Geräusch mehr.“

   „Das ist schon ein bisschen merkwürdig, doch die Leute da unten müssten doch darum nicht gleich in Panik geraten!“ Marcus schüttelte unverständlich den Kopf.

   „Hört auf! Hört endlich auf zu schreien!!“ Marcus schrie, bis jeder vom Stadtplatz aus seinen Kopf zu ihm streckte und auch die Menschen auf den Balkonen sahen ihn an und schwiegen nun. Alle Augen waren auf ihn gerichtet und die Welt schien still wie nie zuvor.

   „Sir, was ist das?“ Einer der Männer in der Menschenmenge schrie hinauf zu ihm.

   „Ich habe keine Ahnung mein Sohn! Ich möchte einfach nur in Ruhe meine Zeitung lesen.“

   „Aber warum finden Sie das nicht komisch? Warum bleiben Sie so ruhig?“

   „Weiss nicht!“

   „Sie wissens doch!“

   „Ach ihr jungen Menschen. Ihr habt keinen Sinn mehr für Gemütlichkeit und Ruhe. Alles muss schnell und laut vor sich gehen. Hört doch endlich einmal wieder zu. In der Stille könnt ihr Dinge hören, welche ihr nie für möglich gehalten hättet. Dinge, von denen ihr nicht einmal wagt zu träumen. Als ich meine Frau Gloria vor fünfzig Jahren kennen gelernt hatte, zog ich mich an einen kleinen See neben der Farm meines Vaters zurück. Ich fragte Gott, ob sie die Richtige sei. Der See war wunderschön und die Ruhe, die dort herrschte war himmlisch.“

   „Und hat Gott ihnen geantwortet?“

   „Ja hat er!“

   „Das glauben Sie wohl selber nicht!“

   „Und ob ich das glaube, junger Mann! Ich sass da und habe einfach nur auf den See geschaut. Kein anderer Mensch war da, kein Tier, keine Züge oder Autos. Es war die absolute Stille. In meinem Inneren habe ich gehört, wie ich dachte. Ich hörte meine Gedanken über das Nervensystem durch meinen Körper fliessen. Ich hörte mein Herz höher schlagen, das Blut durch meine Adern fliessen. Plötzlich war alles um mich herum vergessen. Der Wind, der See, die Farm, alles hatte ich vergessen. Ich vernahm einen Dialog zwischen mir und mir. Ich wusste, wenn meine Gedanken über meine Liebste zum Herzen fliessen, wäre es die richtige Entscheidung, meine Gloria zu heiraten. Ich hörte also nur zu. Fünfeinhalb Stunden sass ich da und hörte mir beim Denken zu. Gott hatte mir die Stille geschenkt. Nichts und Niemand konnte mich an diesem Tag stören. Ich hörte einfach nur der Stille um mich zu. Die Stille wuchs und wuchs. Wie ein Grashalm langsam wächst. Meine Ohren waren nach aussen geschlossen, doch nach innen waren sie offen. Bis heute habe ich keine Sekunde dieser fünfeinhalb Stunden bereut. Die Stille, die Gott mir geschickt hatte, liess mich am Ende richtig entscheiden. Es ist unmöglich zu glauben, was man in der Stille alles hören kann, wenn man das nie selber erlebt hat.“

   Der Platz unter Gloria und Marcus hatte sich gefüllt mit Menschen, die von der Strasse und aus den Seitengassen und von überall her kamen. Alle horchten sie den Worten von Marcus. Gebannt sahen ihre fest geöffneten Augen zum alten Mann. Sie trauten sich kaum zu atmen. Fast fünftausend Augenpaare richteten sich auf Marcus und es wurden mehr und mehr. Fünftausend Münder standen wie bei einem riesengrossen Chor weit offen und zehntausend Ohren vernahmen nur noch die Worte des alten Mannes auf dem Balkon über dem Stadtplatz. Nun, als Marcus verstummte und der Atem der Menschen fast eingefroren war, öffneten sich auch deren Ohren nach innen. Ihre Münder gingen alle fast gleichzeitig zu und die Blicke richteten sich zum Gegenüber, zum Nebenan oder einfach nur dem Boden zu. Der Stadtplatz war so still wie er noch nie gewesen war. Alle Menschen horchten. In ihren Köpfen flitzten Gedanken hin und her, sie konnten sie hören. Ihr Herzschlag war regelmässig, sie konnten ihn hören. Die weissen und roten Blutkörperchen schwammen erregt vom Herzen in die Arterie, in die Vene und zurück zum Herzen, sie konnten sie hören.

   Gestresste Geschäftsleute, welche nie zur Ruhe kamen, konnten zum ersten Mal ihre Gedanken und Pläne ordnen. Sie sahen ein, dass der Kapitalismus eines Menschen Inneres zerstört. Zum ersten Mal fühlten sie sich in ihrem Job nicht als Gewinner, sondern als Verlierer. Sie sahen ein, dass die Habgier nach Materiellem und das schier unaufhörliche Streben nach Ruhm und Erfolg nie solch schöne und befriedigende Geräusche in ihnen erzeugte wie die Zufriedenheit, welche sie durch das zur Ruhe kommen erhielten und auch ausstrahlten. Das Geschäftliche war plötzlich unwichtig. Sie schöpften Freude aus dem Lachen der anderen Menschen.

   Freundinnen und Freunde sahen ein, wie nahe sie einander waren und wie gut es eigentlich tut, beste Freunde zu haben. Streitende merkten, dass sie doch gar nicht mehr wussten, worüber sie gestritten hatten. Schlägereien wurden beendet, Fehden wurden vergessen. Unglücklich Verliebte liessen sich endlich in Ruhe und gingen im Frieden ihre eigenen Wege. Liebende dachten wieder einmal im Ernst daran, wie sehr sie einander eigentlich liebten. Eltern sahen ein, dass das Einsperren der Kinder nichts bringt und die Kinder merkten, dass sie sich nicht immer dem Willen der Eltern widersetzen sollten. Väter und Mütter schlossen ihre Teenagermädchen und –jungen in die Arme und diese liessen es ohne Widerworte zu. Ja sie lächelten sogar dabei. Ein Pärchen umarmte und küsste sich und flüsterten sich zu: „Ich liebe Dich!“ Ein Junge half einer alten Dame respektvoll, vom Boden aufzustehen.

   „Das war das Liebste, was ich in meinem ganzen Leben je gehört habe! Hast du das wirklich getan, bevor wir geheiratet haben?“ Gloria war überwältigt von ihrem Mann.

   „Gloria, jedes einzelne Wort ist war!“

   „Ich liebe Dich immer noch, Marcus.“

   „Ich liebe Dich auch immer noch, Gloria.“ Lächelnd sahen sie sich in die Augen und dann auf den Stadtplatz, wo die Leute standen, sich umarmten und küssten, Hände schüttelten und einander anerkennend auf die Schulter klopften.

   „Danke Sir!“

   „Sie sind der Beste, Sir!“

   „Seien Sie gesegnet!“ Von der Strasse kamen die Stimmen von freundlichen und zufriedenen Menschen. Alle fünftausend - und mehr - blickten zum Mann hinauf, der sie befreit hatte. Sie klatschten in die Hände, doch man konnte es nicht hören. Da streckten sie die Hände in die Luft und jubelten mit den Fäusten. Marcus winkte der Menschenmenge kurz zu und drehte sich schliesslich zufrieden um. Seiner Frau hielt er unterstützend den Arm hin und zusammen betraten sie wieder ihre kleine Wohnung um zu Stricken und um Zeitung zu lesen.

Impressum

Texte: Mike Sterren
Bildmaterialien: Mike Sterren
Tag der Veröffentlichung: 11.08.2013

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