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Abschied auf Raten - September 2019

 

Weshalb mussten wir uns verlieren?

 

Leben in der Pandemie – Realitätsroman

 

 

Bridget Sabeth

 

 

Leseprobe

 



Abschied auf Raten – September 2019

»Liebes … bitte versprich mir, dass du dein Bestes für … für Mutti gibst«, kam es mit dünner Stimme.

Mit schwimmenden Augen betrachtete ich meinen Vater in seiner Liegestätte. So stolz war er einst gewesen, so voller Energie! Nun lag seine Hand schwach und kraftlos in der meinigen. Sein Gesicht war fahl. Er hatte Schmerzen, dennoch war er im Kopf vollkommen klar. Wusste so wie ich, dass bald durch seine Lebensuhr die letzten Körner herabgerieselt waren.

»Ich …«

Eine flüchtige Bewegung brachte mich zum Verstummen. Er wollte noch etwas sagen. Ich gab ihm die Zeit, damit nichts unausgesprochen zwischen uns blieb.

»Aber … aber versprich mir ebenso, dass du dich dabei nicht verlierst.«

»Verlieren?«, wiederholte ich irritiert.

»Jeder Mensch hat seine Grenzen. Du …« Er hustete.

Ich drückte ihm das Kissen weiter unter dem Rücken, damit er aufrechter im Bett sitzen und leichter atmen konnte.

»Lydia«, setzte er neu an. »Du … bist ein liebevoller Mensch. Hier zu sein, in meinen eigenen Wänden, das verdanke ich dir. Einen schöneren Abschied kannst du mir nicht schenken.«

Ich spürte, wie meine Unterlippe zitterte. Natürlich wollte ich sagen, wo sollte er sonst sein. Als Krankenschwester wusste ich, wie Pflege funktionierte. Nur hatte mich niemand darauf vorbereitet, wie emotional die Begleitung eines Sterbenden war, wenn es den eigenen Vater betraf! Die eigene Familie! Es keine Sekunde gab, in der man abschalten konnte. Zwar ähnelte es der Sorge, wie ich sie auch meinen Kindern entgegengebracht hatte, aber deren Schritte wurden sicherer, sie wuchsen heran, während hier das Leben vor meinen Augen verwelkte.

Vatis Stöhnen ging mir durch Mark und Bein. Ich schluckte den dicken Kloß in meiner Kehle hinunter. »Du hast Schmerzen. Es wird Zeit für deine nächste Medikamentendosis.«

Ich griff zu der Ampulle, zog daraus mit der Nadel und der Spritze die Flüssigkeit auf, die ihm Erleichterung schenken würde. Eine Therapie, die mit unserem Hausarzt abgesprochen war.

Es wunderte mich, dass meine Hände dabei nicht zitterten, obwohl mein Innerstes bebte. So oft hatte ich schon Injektionen verabreicht, ohne dass ich mir groß darüber Gedanken gemacht hatte. Routiniert die passende Stelle gesucht, nach dem Einstich aspiriert, um zu überprüfen, dass kein Blut hineinfloss und ich nicht aus Versehen in einem Gefäß gelandet war. Ich wählte seinen Muskel am Oberschenkel, dessen Umfang ein Bruchteil davon war als in seiner aktiven Zeit.

»Den Einstich spüre ich gar nicht. Danke.« Vati lächelte mir aufmunternd zu.

Wie seltsam, ich sollte ihm Trost spenden! Nicht umgekehrt. Aber im Herzen und im Leben würde ich stets sein Kind bleiben.

Ich drückte sanft seine Hand. »Bald wird es besser.«

»Ich weiß.« Mein Vater schloss die Augen. »Nun lass mich bitte allein und schau, dass Mutti keinen Blödsinn macht.«

»Natürlich.« Ich drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und schlich mich auf leisen Sohlen hinaus.

Ein letztes Mal sah ich mich um, prägte mir die zu hohlen Wangen und die spitze Nase ein, bemerkte die gräuliche Farbe seines Gesichts, die schweren Atemzüge. »Ich liebe dich«, flüsterte ich heiser, ohne zu wissen, ob er mich tatsächlich hörte. Dann zog ich die Tür zu und ging.

 

Mit tränennassen Augen setzte ich mich auf der Sonnenliege auf, spürte den Nachhall meiner Erinnerung. Vati war tot – verstorben vor drei Monaten, am fünfzehnten Juni. Seitdem war nichts mehr wie zuvor. Seine mahnenden Worte am Sterbebett hatten einen tieferen Hintergrund. Während es sein Körper war, der geschwächelt hatte, war es bei Mutter genau andersrum: Ihr Geist verblasste. Seit dem Tod ihres Mannes verschärfte sich die Symptomatik beträchtlich. Mit beängstigender Geschwindigkeit schlitterte sie tiefer in die Demenz, fand sich immer schwerer im Alltag zurecht.

Ich wischte mir die Nässe aus den Augenwinkeln. Besänftigend umfingen mich die wärmenden Strahlen. Der blitzblaue Himmel schenkte mir subtilen Trost aus dem Universum und konnte dennoch kaum meine Lasten überdecken. Nicht nur meine Trauer, sondern auch die Nachtdienste und der fehlende Schlaf in den letzten Wochen steckten mir deutlich in den Gliedern. Immer öfter fragte ich mich in meinen schwachen Stunden, wie lange ich die Belastung, auf Mutter zu achten, noch durchzuhalten vermochte. Mein gewohnter Tagesablauf hatte sich immens verändert. Ich machte vermehrt Nachtschichten, damit ich am Tag zuhause bei Mutti war, wenn mein Mann Rudi und unsere Kinder Corinna und Manuel außer Haus waren. Wenigstens hatte ich jetzt drei Tage am Stück frei. Ich hoffte darauf, dass ich wieder Energie finden konnte.

Dabei realisierte ich stetig mehr, wie viel mein Vater uns allen abgenommen hatte. Er war es gewesen, der darauf achtete, dass meine Mutter Gundi genug aß, sich ordentlich wusch und kleidete, zu den richtigen Zeiten ins Bett ging …

Es gab gute und schlechte Tage, die sich mehrten. So befanden wir uns mitten in der Trauer, während Gundi manches Mal stundenlang nach Vati suchte und schimpfte, weil sie ihren Mann nicht fand.

»Toni, Sakrament, wo bist du denn schon wieder?«, erklang es prompt.

Unser Hund Sunny spitzte neben mir die Ohren. Sie war eine blonde Mischlingsdame. Mein: Mutti, Vati ist tot, schluckte ich hinunter, denn in so einer Phase war alles dagegen reden verlorene Liebesmüh.

Ich sah zu, wie sie zur Werkstatt hoselte – das waren ihre typischen kleinen Schritte, trippelnd, die dazu leicht schwankend wirkten. Ihre braune Stoffhose schlackerte an den dünnen Beinen, dazu trug sie eine weite weißgrau gemusterte Bluse und darüber ein ärmelloses gestricktes Jäckchen. Energisch rüttelte sie an der Klinke der Holztür. Sie war abgesperrt. Ein missfälliger Ton entfuhr aus ihrer Kehle und sie machte mit einem Kopfschütteln kehrt. Dieses Abdrehen veränderte ihre Schrittart. Sie wirkte noch unsicherer, als sie Richtung Haus steuerte. Ehe sie dieses betrat, wendete sie und hielt erneut auf den Schuppen zu, worin die Werkstatt lag.

»Toni?«, rief sie hoffnungsvoll und leicht verärgert zugleich. Ihr Tun wiederholte sich: Klinke niederdrücken und an der Tür rütteln.

Inzwischen wusste ich, dass sie von allein schwer aus dieser Abfolge herauskam, oft über Stunden wie eine Getriebene darin gefangen blieb.

Ich unterdrückte ein Ächzen, erhob mich, um auf sie zuzugehen. Dabei wurde ich von Sunny begleitet, die mit dem Schwanz wedelte und sich über jede noch so kleine Bewegung freute, während sie sonst gerne, wie ein Schatten – ganz im Widerspruch zu ihrem Namen Sonnenschein – bei mir blieb.

»Mutti, warte!«, rief ich ihr zu, als Gundi zum dritten Mal auf die Werkstatttür zulief.

Sie stutzte mit einem Stirnrunzeln und war sichtlich grantig, weil ich sie unterbrochen hatte.

»Sag, bist du herausgegangen, um Petersilie für die Suppe zu holen und Salat abzuschneiden?«

Ein irritiertes Flackern trat in ihre Augen.

Aus Erfahrung wusste ich, dass es am besten war, sie abzulenken. Und hier draußen im Garten zu werkeln, das zählte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Noch immer, wenn sie klarere Phasen hatte und dorthin wollte ich sie führen. Einst war sie eine begnadete Hausfrau gewesen, eine noch herzlichere Mutter. Es gab stets ein warmes Essen für mich, liebevoll gestrichene Jausenbrote, dazu süßen Saft, obwohl Vati ständig schimpfte, dass wir davon schlechte Zähne bekämen. Sie ignorierte es und meinte: Mein Weibi braucht jedes Gramm auf den Rippen.

Huch, schon wieder drückte der verdammte Kloß in meiner Kehle. Dabei war Mutti noch da! Und doch wurde sie immer mehr zum Schatten ihrer selbst. Ihr Verfall war lange Zeit schleichend vorangegangen. Nun war sie wie zu einem Kind geworden, auf das man aufpassen musste, damit es keinen Blödsinn anstellte.

Meine Mutter schielte auf ihre Hände und es dauerte eine Weile, bis sie realisierte, dass sie kein Messer zum Ernten des Gemüses bei sich hatte.

»Dein Messer liegt auf der Fensterbank – du hast es wohl vorhin dort abgelegt.«

Während sie über ihre kurzen grauen Haare tastete, die glatt am Kopf anlagen, entfuhr ihr ein seltsam schrilles Kichern. Auch das kannte ich mittlerweile nur zu gut, damit überspielte sie ihre Unsicherheit. Ich hakte mich bei Mutti unter und sie folgte meinen Schritten. Beim Gartenbeet kam sie gleich in ein geschäftiges Tun, rupfte Unkraut aus.

Ich reichte ihr das Messer. »Schau, der Salatkopf sieht aber schön knackig aus.« Ich deutete auf den größten, den sie mit geübter Hand abschnitt.

Sie schwankte leicht, als sie sich zu rasch aufrichtete. Kurz blieb mir das Herz stehen, denn mit dem scharfen Schneidwerkzeug in der Hand sah ich reichlich Gefahrenpotential. Aber wo befand sich die Grenze zwischen Anleiten und Bevormunden?

»Schon gut«, wehrte Mutti energisch ab und schob mich zurück. »Das schaff ich allein.« Entschlossen stapfte sie fort.

Erst als sie in das Haus einbog, atmete ich durch. Ich brauchte ein paar Minuten für mich und hoffte, dass sie inzwischen keinen gröberen Unfug machte. Wie etwa in den Salat Zucker, statt Salz zu kippen …

Ich hörte, wie in der Nähe der Schulbus hielt. Ach herrje, war es schon so spät? Sunny sprang laut bellend los. Ich spähte um die Ecke und sah, wie meine Tochter herbeihüpfte, die inzwischen die achte Schulstufe besuchte.

Ich schloss sie in die Arme. »Hey, alles klar bei dir?«

»Sicher.«

Ich lächelte Corinna aufmunternd zu. Sie sollte von meinen Sorgen um Oma nichts mitbekommen, sondern ihr Leben als dreizehnjähriger Teenager genießen. Rührselig dachte ich daran, wie schnell die Zeit verflog, sie mich mittlerweile mit meinen einen Meter zweiundsechzig größenmäßig eingeholt hatte. Coris dunkles Haar glich dem von ihrem Vater, ansonsten ähnelte sie mehr mir. Volle Lippen, eine geschwungene Nase, ovales Gesicht und graublaue Augen. Ihr Körper zeigte erste Rundungen und bewies mir, dass sie sich immer mehr zu einer Frau entwickelte. Ich nahm ihr den schweren Schulranzen ab.

»Und, was gibt’s zum Essen?«

»Schinkennudeln.«

Cori legte den Kopf schief. »Sag, hat Oma gekocht?«

Ich nagte an meiner Unterlippe.

»Neeein«, entließ sie genervt. »Dann sind die Nudeln bestimmt matschig und ungenießbar.«

»Komm, gib dem Essen eine Chance. Und wenn es absolut nicht deine Geschmacksnerven trifft, im Kühler sind Pizza oder Chicken Nuggets und Kroketten. Verhungern tust du sicher nicht.« Dass ich ihr freiwillig einen Ausweg Richtung Fast Food anbot, hätte es vor drei Monaten nicht gegeben. Mir war es stets wichtig gewesen, dass eine warme selbstgekochte Mahlzeit am Tisch stand. Unabhängig meiner Dienstzeiten, wenn es sein musste, kochte ich vor.

Corinna schien diese Aussage zumindest zu besänftigen. Sie eilte voraus und rief ein süß klingendes: »Oma Gundi, gibt’s schon Essen?«

Dann umarmte sie ihre Großmutter herzlich, die ihr durch das Haar wuselte, was Cori eigentlich gar nicht mochte, aber ihr zuliebe duldete.

»Komm, setz dich Schätzchen. Ich richte dir an.«

Mein Herz ging auf, als ich das glückliche Strahlen meiner Mutter in den Augen sah. Seit es Opa nicht mehr gab, waren wir ihr Lebensinhalt. Ich gab Sunny das Kommando, sich niederzulegen, die folgsam im Flur Platz nahm. So sehr ich unsere Hündin liebte, aber beim Essen mochte ich sie nicht direkt in unmittelbarer Umgebung haben.

Corinna ließ sich hungrig und erwartungsvoll nieder, während Oma mit einem Schlag zögerlicher wirkte. Der freudige Blick war verschwunden, stattdessen stand sie sichtlich planlos in der Küche herum. Ich stellte den Schulranzen seitlich an der Wand ab, nahm den Schöpfer vom Haken. Als Mutter ihn sah, griff sie danach und erinnerte sich wohl daran, dass sie genau dieses Utensil benötigte.

»Aber nicht zu viel«, bemerkte Cori. »Ich habe erst meine Schuljause gegessen.«

Ich teilte ihren gefüllten Teller aus. Oma richtete auch für mich und sich selbst an, während ich den Salat rasch mit Salz, Essig und Kernöl vermengte – zumindest würde da heute die Würze passen.

Nach einem allgemeinen: »Mahlzeit« langten wir zu.

Cori verzog nach der ersten Gabel Nudelauflauf den Mund und würgte den Bissen hinunter. Als ich selbst kostete, ging es mir ähnlich. Die halb zermatschten Nudeln waren das kleinere Übel, sondern irgendetwas hatte meine Mutter hinzugemischt, was definitiv nicht hineingehörte!

Es dauerte eine Weile, bis ich ihre Geheimzutat erkannte: Zitronensäure. Wie war sie dazu gekommen? Ich erinnerte mich, dass ich eine Dose davon im Küchenschrank hatte, um regelmäßig den Wasserkocher zu entkalken. Diesen Mischmasch konnte man nicht einmal unserem Hund vorsetzen. Selbst Mutti schob das Essen von einer Ecke in die andere, sodass ich es ihr kurzerhand wegnahm. Corinna schaute mich an, während ich mit meinen Emotionen kämpfte, unausgeschlafen war ich ohnehin rührseliger.

»So, heute gibt es einfach Brotzeit«, bestimmte ich.

»Darf ich keine Pizza?«, kam es besorgt von meiner Tochter.

»Doch, doch«, erlaubte ich es ihr.

Corinna sauste gleich los, um im Keller eine aus dem Gefrierschrank zu holen.

»Was ist denn? Habe ich etwas falsch gemacht?« Mutti blickte mich mit großen fragenden Augen an.

»Nein, alles gut.« Ich tätschelte ihr den Unterarm. Sie hatte nichts falsch gemacht, sondern war krank. Und die Medikamente, die sie gegen ihre Alzheimer-Demenz verschrieben bekommen hatte, konnten diese Krankheit maximal etwas verzögern. Und wenn nicht Vati gestorben wäre …

Rasch drehte ich mich um, zwinkerte die aufsteigenden Tränen hinunter. Ich griff nach einem Messer, um ein paar Scheiben Brot abzuschneiden. Im Anschluss holte ich aus dem Kühlschrank Wurst, Käse, Butter und Paprika. Ich butterte für Oma eine Brotscheibe, belegte sie und stellte die Mahlzeit derart portioniert auf einem Teller vor ihr ab.

»Zu Mittag muss man was Warmes essen«, kam es von Gundi. »Was passt denn mit den Nudeln nicht?«

Corinna stob herein. »Oma, nicht böse sein, die isst nicht einmal Sunny.« Sie packte die Pizza in den Ofen.

»Das verstehe ich nicht.«

»Musst du auch nicht.« Cori gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Omas Augen wurden gleich sanfter. »Du bist so ein liebes Mädchen.« Sie strich ihr über die Wange.

Ich kaute lustlos an einem Bissen des belegten Brotes, obwohl ich gar keinen Appetit hatte, sondern vor allem, um als gutes Ess-Beispiel voranzugehen.

»Danke Oma – Mama, rufst du mich, wenn die Pizza fertig ist?«

»Natürlich.« Am liebsten wäre ich ebenso aufgestanden. Ich sehnte mich nach einer Auszeit von diesem Gefühlswirrwarr.

Muttis Aufmerksamkeit lenkte sich auf mich. »Herrlich, so ein Schinken-Käse-Brötchen.«

Ich lächelte, als sie genussvoll abbiss. Doch vom Herz ausgehend fegte ein Sturm über mich hinweg, Tränen peitschten unter meiner Oberfläche wild hin und her. Mutti war nur mehr eine Hülle ihrer selbst.

Während sie zufrieden dreinblickte, spürte ich, dass ich mich Stück für Stück von ihr verabschieden musste. So wie Vati nicht mehr da war, um ihn um Rat fragen zu können, würde auch sie immer öfter in ihre eigene Welt abtauchen.

Das machte mir unsagbare Angst! »Ich liebe dich«, wisperte ich ihr mit rauer Stimme zu.

»Ach Weibi, das weiß ich doch!« Mutti griff nach einem weiteren Stück.

Ich war froh, dass zumindest sie heute ordentlich zulangte. Denn jetzt war es meine Mutter, die jedes Gramm auf ihren Rippen benötigte.

Diskussionen

 

 

Seufzend glitt ich in das warme Wasser unserer Badewanne, bald darauf folgte mein Mann hinein. Wir genossen diese Entspannung. Ein gemeinsames Bad war längst ein Ritual für uns geworden, um die wichtigen Themen anzusprechen und sich nah zu sein. Auch das war in den letzten Wochen deutlich zu kurz gekommen. Musternd glitt sein Blick über meinen Körper.

»Frau Dorfer, Sie haben abgenommen«, stellte Rudolf gespielt förmlich fest.

Schuldig schaufelte ich etwas von dem Badeschaum über meine Haut. »Ach, das kannst du gar nicht so genau sehen.«

»Doch, das sehe ich sehr wohl.« Er klang streng, was mir zeigte, dass er sich um mich sorgte.

»Sag, was war bei dir heute in der Firma los?«

Er legte den Kopf schief. »Das Übliche, Bestellungen, Listen abarbeiten, … aber ich durchschaue deine Taktik, du willst von dir ablenken. Das wird dir nicht funktionieren.«

»Bitte, ich brauche etwas Auszeit. Ich habe nach dem Nachtdienst kaum mehr als zwei Stunden geschlafen.« Ich rutschte tiefer in das Wasser und parkte meine Beine auf seinen Brustkorb.

Rudi griff nach einem Fuß und begann meine Sohlen zu kneten, weshalb mir ein halb schmerzhaftes und dankbares Stöhnen entwich. »Ja – au – oh, ja, genau dort tut es weh.«

»Soll ich sanfter massieren?«

Ich schüttelte abwehrend den Kopf. »Das läuft unter Wohlfühlschmerz.«

»Wir müssen trotzdem reden, wegen Oma Gundi.«

Ich nagte auf der Unterlippe. »Vielleicht habe ich Angst davor, dass du das laut ansprichst, was in mir herumspukt.«

»Und das wäre?«

»Dass … dass ich nicht weiß, wie lange ich durchhalten kann. Ich habe Vati versprochen, alles für sie zu tun, aufzupassen – und vom Gefühl her, tue ich viel zu wenig, während ich nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht.«

»Toni war bewusst, wie zeitintensiv Gundis Betreuung sein kann. Immer Angst zu haben, dass sie etwas vergisst, wie den Herd auszustellen. Ich spür genau, wie die gesamte Situation dir zusetzt. Seit dein Vater tot ist, hat ihr Geist weiter abgebaut, ihre hellen Phasen werden stetig weniger.«

»Vielleicht ist es vorübergehend. Ich habe ihr Trinkampullen besorgt, zum Aufbau. Wenn ich mich bloß noch ein klein wenig zusammenreiße, womöglich wird es besser.«

»Süße.« Rudi wechselte von meinem linken zum rechten Fuß, um dort die schmerzhaften Punkte aufzuspüren. »Bitte, belüge dich nicht selbst. Cori hat mir heute vom neuerlichen Ess-Unfall erzählt. Letztens hat sie Rosinen statt Kaffeebohnen in den Vollautomaten gekippt – der ist völlig hinüber. Oma braucht nicht nur phasenweise Betreuung, sondern ständig. Die können weder du noch ich gewährleisten, solange wir unsere Berufe ausüben.«

Ich rutschte zurück und entzog ihm meinen Fuß. »Irgendwie muss es möglich sein. Was ist, wenn ich kündige, oder … oder zumindest die Stunden reduziere?«

Rudi blieb angesichts meiner aufgewühlten Emotionen gelassen. Er war ohnehin der Pragmatischere von uns beiden. »Gut, dann spielen wir mal deinen Plan durch. Obwohl ich sehr wohl verstehe, dass du für deine Mutter, so wie du es für deinen Vater warst, bis zum Schluss da sein möchtest. Aber die Voraussetzungen sind ganz andere. Dein Vater war klar, der hat keinen Blödsinn gemacht, sich an Absprachen gehalten. Zur Not konnte er mit dem Handy Hilfe organisieren, wenn ein Problem aufgetaucht ist. Das geht bei deiner Mutter alles nicht. Ihr Tages- und Schlafrhythmus wechselt, sie isst sporadisch und sie vergisst oft Dinge, die sie machen wollte, fast im selben Moment. Das ist keine Stundenbetreuung mit Erholungsphasen, sondern ein Fulltime-Job. Du müsstest rund um die Uhr parat stehen. Wie willst du das stemmen, auch wenn du nicht mehr als Krankenschwester arbeiten würdest? Zudem bist du emotional so mit ihr verbunden, dir fehlt der nötige Abstand. Du bist meine kleine Perfektionistin, aber reibst dich genau deswegen auch auf. Und was wäre schlecht daran, wenn Oma in ein Heim geht? Dort gibt es Gleichgesinnte in ihrem Alter. Sie hat mehr Sozialkontakte, als wir ihr bieten können, es gibt sogar eigene Programme, um ihr Gedächtnis zu stärken …«

»Du willst sie in ein Heim abschieben!«, keuchte ich verzweifelt nach seinem Monolog. »Ich tu eh alles allein, um euch nicht zu belasten!« Ich hastete aus der Badewanne, schlang ein riesiges Handtuch um meinen triefenden Leib.

»Ich will, dass sie bestens betreut wird – ohne dass du dich dabei verlierst. Ich erkenne dich kaum mehr wieder.«

Rudi stieg ebenso aus der Wanne, während ich inmitten des Badezimmers verharrte. Nicht verlieren!, pochte es in mir. Ich wollte nie mehr jemanden verlieren! Weder mich noch jemand anderen! Dass Vati fort war, tat nach wie vor weh!

Rudi trat heran, strich mir eine nasse blonde Haarsträhne aus der Stirn. »Das Funkeln aus deinen Augen ist verschwunden, dein Lächeln gibt es nur mehr ansatzweise, da sind dunkle Schatten in deinem Gesicht. Ganz ehrlich, ich mag deine Mutter sehr. Sie gemeinsam mit deinem Vater im Haus zu wissen, war über Jahrzehnte eine der wertvollsten Erfahrungen für mich, weil ich so ein liebevolles Miteinander von meinen Eltern nicht kannte. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, würde ich an Hauskrankenpflege denken, aber was hilft eine Stunde am Tag? Für eine Vierundzwanzigstundenbetreuung haben wir nicht die passenden Räumlichkeiten und einen Anbau schaffen wir niemals zeitgerecht, da wären die Kosten noch das kleinere Übel.«

»Du … du hast dich erkundigt?«, stotterte ich, während Tränen in meinen Augen brannten.

»Ja, das habe ich. Darüber hinaus solltest du an unsere Kinder denken. Corinna mit ihren dreizehn und Manuel mit seinen bald achtzehn Jahren benötigen zwar nicht mehr so viel Unterstützung, aber sie brauchen trotz allem unsere Anleitung, Schutz und Fürsorge. Wir müssen für die beiden ebenso da sein. Denke an die zeitraubenden Stunden, wenn wir als Beifahrer mit Manuel die Kilometer für die Fahrschule abspulen müssen. Auch das ist wichtig. Das sind noch drei intensive Monate bis zu seiner Prüfung im Dezember.«

Ich schluckte. Rudi hatte mit allem recht. Aber es tat so weh! »Mutti liebt die Kinder! Siehst du nicht, wie sie strahlt, wenn die beiden um sie sind? Da geht sie in ihrer Rolle als Oma richtiggehend auf.«

Rudolf seufzte. »Natürlich sehe ich das. Aber in Wahrheit sind das flüchtige Momente.«

Mir zerriss es fast das Herz, ich schluchzte auf. »Sie wird mich hassen!«

Er zog mich nah an seinen Körper, strich besänftigend über meinen Rücken. »Liebes, denkst du nicht, dass du dann, ohne der Überlastung, die Zeit mit deiner Mutter besser genießen könntest?«

Trotzig schüttelte ich den Kopf. Nein, das hier war Muttis Zuhause! Da kannte sie sich aus. Ich hatte kein Recht dazu, sie wegzuschicken wie ein ungeliebtes Spielzeug! Wie sollte sie sich mit ihrer Erkrankung woanders zurechtfinden?

»Noch dazu will der Chef, dass ich die Geschäftsreise nach Frankreich übernehme. Ich habe um ein paar Tage Bedenkzeit gebeten.«

Normalerweise waren Rudis häufige Geschäftsreisen bisher kein Hindernis für mich gewesen, aber nun ängstigte mich die Vorstellung, ohne ihn und seine Ausgeglichenheit zu bleiben. »Wann sollst du los?«, fragte ich erstickt und blickte in seine dunkelbraunen Augen hoch.

»In drei Wochen.«

»Für wie lange?«

»Voraussichtlich für fünf Tage.«

In meinem Kopf rotierte es. Falls ich da Dienst hatte, musste ich Kollegen bitten, ob sie mit mir tauschten. Unser Dienstplan stand bereits einen Monat im Voraus fest und da konnte ich kein Wunschfrei mehr einschreiben. Aber wollte ich tatsächlich den Kindern zumuten, dass sie dann nachts mit Oma alleine blieben, falls ich nicht freibekam?

»Vielleicht können wir Gundi vorübergehend zur Kurzzeitpflege in ein Heim geben, das würde für uns alle eine Erleichterung sein und wir müssten den Kindern nicht die Verpflichtung mit Oma aufbürden. Danach können wir die Situation neu bewerten«, sprach Rudi laut aus, was ich ebenso gedacht hatte. Er suchte einen Kompromiss.

»Kurzzeitpflege – auf absehbare Zeit?«

Er nickte. »Wir können uns langsam darauf einstellen, wie diese Veränderung für uns ist. Womöglich gefällt es Oma sogar im Heim und wir machen uns zu viele Sorgen darüber. Bestimmt würde auch dir dieser Schritt dann leichter fallen.«

»Das ist eine Option«, stimmte ich zu, während mein Herz schmerzte. Im Grunde genommen konnte ich mich mit diesem Gedanken, sie wo anders unterzubringen, nicht anfreunden. Ich wollte für sie da sein! Damit Vaters Wunsch entsprechen! Irgendwo in meinem Unterbewusstsein rauschte seine Stimme: Versprich mir, dass du dich nicht verlierst! Würde Vati diese Entscheidung gutheißen? Ich lehnte mich matt an Rudis Schulter, war dankbar für seine starken Arme, die mich hielten.

Auf einmal polterte es lautstark im unteren Geschoss und ließ uns auseinanderfahren!

»Oh Gott, das kam aus Muttis Zimmer!« Statt dem Badetuch warf ich mir einen Bademantel über.

»Mist, was hat sie denn jetzt schon wieder gemacht!« Auch Rudi beeilte sich, schlüpfte in trockene Sachen und ich startete los nach unten.

Krankenhaus

  

»Mutti!« Bestürzt rüttelte ich an ihrer Zimmertür, die versperrt war. »Du musst aufschließen!« Meine Stimme klang seltsam schrill.

»Der Schlüssel hat schon vorhin nicht gesperrt!«, kam es aus dem Inneren retour. »Lieg am Boden … komm nicht hoch.«

Eine heiße Woge Angst durchflutete mich. »Hast du dich verletzt?«

»Ich … ich weiß nicht.«

Ich ging in die Hocke, um durch das Schlüsselloch zu spähen, aber irgendetwas versperrte den Schlitz, sodass ich nur wenige helle Umrisse erkannte.

Rudi trat bekleidet heran. »Was ist los?«

»Die Tür ist zu, kannst … kannst du sie eindrücken?«

»Wieso eindrücken?« Manuel kam den Flur entlang. Er schüttelte sein aschblondes Haar aus der Stirn.

Wie konnte er angesichts der Lage so ruhig bleiben?

»Nehmt doch den Schlüssel von eurem Zimmer.«

»Von unserem Zimmer?«, wiederholte ich perplex.

»Ja sicher, der sperrt.«

»Und woher weißt du das?«, fragte Rudi erstaunt nach. »Die Türen sind unterschiedlicher Bauart.«

»Aber nicht das Schloss. Außerdem habt ihr früher immer die Geschenke für uns bei Oma und Opa im Schrank aufbewahrt, damit wir sie nicht finden. Wobei …« Manuel lächelte halb schuldbewusst. »Das hat nicht ganz funktioniert.«

»Ach!« Corinna kam hinzu. »Deswegen wusstest du dann genau, was dir das Christkind bringt?«

Manuel zeigte ein schiefes Lächeln.

Ich versuchte mich zu sammeln. »Cori … hol bitte den Schlüssel, und …« Ich blickte zu meinem Mann. »Irgendetwas steckt im Schlüsselloch, können wir das hinausstoßen?«

»Vielleicht mit einem Schraubenzieher.«

Beide marschierten los, während ich mich an Gundi wandte. »Mutti, wir holen dich da raus!«, rief ich optimistischer, als ich mich fühlte.

»Mir ist kalt.«

Ihre Aussage gab meiner Sorge einen weiteren Kick.

Manuel lehnte an der Wand. »Oma, dir ist immer kalt.«

»Ach so?«, erklang es halb irritiert.

Als Rudi mit dem versprochenen Schraubenzieher auftauchte, atmete ich erleichtert auf.

»Dann wollen wir mal.« Er ging vor der Tür in Position.

»Und wo hat sie den Zimmerschlüssel her? Ich habe extra nach Vatis Tod alle Schubladen durchsucht, da war er nicht auffindbar.«

»Der war in meinem Halbschuh«, teilte Oma mit. »Oder … oder in der Vase?«

Manuel pfiff und drehte mit dem Zeigefinger kreisförmig neben seiner Stirn, was so viel bedeutete, dass sie nun völlig durchgeknallt war.

»Wer weiß, wie fit dein Oberstübchen ist, wenn du mal so alt bist«, schimpfte Corinna prompt.

Rudi stocherte im Schlüsselloch umher. Klirrend fiel etwas zu Boden.

»So, jetzt müsste es gehen. Cori, gib mir bitte den Schlüssel.«

Ich lauschte dem erlösenden Klicken und schickte ein stilles Dankeschön an den Herrgott. Rasch drückte ich die Klinke hinunter und stob ins Innere. In Sekundenbruchteilen erfasste ich die Lage. Der Sessel war umgestürzt, die Schranktür offen und es lag verstreut Kleidung auf dem Boden. Verdammt, wonach hatte sie in den oberen Fächern gesucht? Meine Mutter stöhnte. Ihr Gesicht war blass und schmerzverzerrt, zudem zeigte sich auf der Stirn eine riesige Beule.

Ich ging neben ihr in die Hocke. »Was tut dir weh?« Ich versuchte, nicht allzu panisch zu klingen.

Zaghaft fingerte sie an ihrer Verletzung. Zum Glück war die Haut nicht aufgeplatzt. Hatte sie sich ernsthaft verletzt, oder war es bloß eine harmlose Schwellung?

»Ich glaub, jetzt ist mir übel und … schwindlig.«

Manuel bückte sich neben der Zimmertür. »Also mit einem Messer die Tür aufzusperren, ist echt neu.«

Mein Herzschlag setzte einen Moment aus. Das war das Messer aus dem Garten von heute Vormittag! Wieso hatte ich nicht darauf geachtet, dass sie es mitgenommen hat!

Ich schöpfte nach Atem. »Du, leg das Teil weg und bring rasch das Kühlkissen aus dem Gefrierfach in der Küche, wickle als Schutz ein Geschirrtuch herum.«

»Bitte«, sprach Manuel mit Nachdruck, weil ihm mein Befehlston missfiel.

»Bitte«, wiederholte ich. »Sorry, ich wollte dich nicht anblaffen.«

»Sei nicht so zartbesaitet, wir sind alle überreizt«, warf Rudi ein und visierte Manuel an, der sich in Bewegung setzte. Mein Mann zückte indessen sein Smartphone, um die Rettung zu informieren.

»Nein, nein – ich will nicht ins Krankenhaus!«, kam es von meiner Mutter. Sie versuchte aufzustehen und sank zurück auf den Boden.

»Das hättest du dir überlegen müssen, bevor du auf den Stuhl gestiegen bist!«, gab ich genervt zurück, während keine Sekunde später mich ein schlechtes Gewissen drückte, weil ich sie dermaßen angeschnauzt hatte, geschuldet an meiner Sorge.

Mit Corinnas Unterstützung half ich Oma, sich am Boden in die Sitzposition aufzurichten. Ich zog die Decke vom Bett herunter und legte ihr diese über ihre Beine. »Bleib jetzt so, mal schauen, ob sich dein Schwindel legt.«

Oma schloss demonstrativ die Augen.

Manuel kam mit dem Kühlkissen retour, das ich ihm mit einem: »Danke« abnahm.

»Au, das tut weh!«, schimpfte Mutter, als ich es vorsichtig gegen ihre Verletzung drückte, um diese zu kühlen. Sie blinzelte und schob meinen Arm zurück.

»Die Rettung wird in wenigen Minuten da sein. Sie haben gerade wen in der Nähe abgeliefert«, fasste Rudi sein Telefongespräch zusammen.

»Dann achte ich darauf, wann sie auftauchen, und mach die Tür auf.« Corinna sprang auf.

»Und ich leiste meiner Schwester Gesellschaft«, meinte Manuel und folgte ihr.

Ich suchte Rudis Blick. »Kannst du bitte kurz übernehmen, dann ziehe ich mir was Ordentliches an, um Mutti ins Krankenhaus zu begleiten.«

»Sicher.«

»Mir geht’s gut!«, entließ Gundi grantig.

»Nein, das tut es nicht!« Rudi nahm neben ihr am Boden Platz. »Und nun halt still – wir müssen die Beule kühlen!«

Mutti grummelte unverständlich. Zumindest traute sie sich bei ihm nicht, den Kopf wegzudrehen oder den Arm wegzudrücken.

 

Der Vorteil von Unfällen in der Nacht war definitiv, dass es meist kürzere Wartezeiten gab. Obwohl ich ein schlechtes Gewissen hatte, als der Oberarzt der Chirurgie-Abteilung mit halb zerknautschtem Gesicht auf uns zusteuerte. Doch ich rief mir ins Gedächtnis, dass es sein Job war, er dafür bezahlt bekam. Dennoch entschuldigte ich mich bei ihm für die nächtliche Störung.

Doktor Bauer agierte umsichtig. Und Mutti war von dem staatlichen Mann im weißen Kittel gleich hin und weg. Sie himmelte ihn mit großen Augen an, stritt jegliche Schmerzen ab, während ich ihm in groben Zügen vom Sturz berichtete, ihrer Demenz und welche Medikamente sie nahm – regelmäßig seit geraumer Zeit ihr Alzheimermittel namens Memantin. Der Arzt überprüfte ihre Reflexe, leuchtete mit der Lampe in ihre Augen, tastete die Schwellung ab.

»Wir werden zur Sicherheit ein CT machen«, stellte er schließlich fest, und meine Sorge schoss in die Höhe.

»Sind die Augen nicht isokor?«, entließ ich alarmierend, denn ein Größenunterschied der Pupillen konnte ein Hinweis auf eine Gehirnblutung sein!

Er musterte mich. »Sind Sie vom Fach?«

Ohne nachzudenken, hatte ich den medizinischen Begriff benutzt. »Ja. Ich arbeite als Krankenschwester auf der Internen.«

»Gut, dann kann ich ja offen mit Ihnen sprechen. Es gibt eine Abweichung zwischen der rechten und der linken Pupille. Das sollten wir umgehend abklären.«

Ich fasste nach der Hand meiner Mutter. »Du musst noch eine Untersuchung machen.«

Mutti wirkte, als ob sie mich gar nicht richtig gehört hatte. Statt einer Antwort drang ein Ächzen über ihre Lippen und sie kniff die Augen zusammen. Sie wirkte noch bleicher und zerbrechlicher!

Doktor Bauer rief per Telefon nach dem Transportdienst. »Sie können Ihre Mutter gerne begleiten. Vor dem Untersuchungsraum gibt es Wartesessel.«

»Danke!« Hoffentlich war es nichts Schlimmes! Und gut, dass wir gleich ins Krankenhaus gefahren waren!

Schwere Entscheidung

 

Rudi hatte kurzfristig ein paar Tage Urlaub genommen. Darüber war ich sehr dankbar, denn unsere Entscheidung war gefallen: Mutti sollte in ein Heim. Vorübergehend! Obwohl … eines hatte mir der unsägliche Sturz gezeigt, es würde eher auf eine Dauerunterkunft hinauslaufen, auch wenn ich mir das nicht eingestehen wollte! So saß ich nun im Wagen auf dem Beifahrersitz, während mein Mann sicher unseren Audi lenkte.

»Du wirst sehen, es ist die richtige Entscheidung. Jetzt können wir uns in Ruhe im Pflegeheim umsehen und schauen, ob es für Oma passt. Die Bilder im Internet sind vielversprechend. Auch der Vater meines Freundes Erwin ist dort untergebracht. Er ist wirklich zufrieden.«

Rudis gut gemeinte Aussage munterte mich nicht auf, denn Oma lag nach wie vor im Krankenhaus. Sie hatte innere Blutungen im Kopf, die zum Glück – was die folgenden Untersuchungen ergaben – von selbst zum Stillstand gekommen waren. Somit blieb ihr eine Operation erspart, die mit ihren fast achtzig Jahren eine weitere Herausforderung gewesen wäre. Es kam gar nicht selten vor, dass eine Narkose Verwirrtheitssymptome verstärkte. Ganz davon abgesehen, dass jeder operative Eingriff ein Risiko barg, für das man eine Aufklärung mit sämtlichen Schädigungsrisiken unterschreiben musste, die trotz einer fehlerfreien OP auftreten konnten.

Momentan benötigte Mutti Ruhe, um zu Kräften zu kommen. Diese Verletzung hatte sie sichtlich körperlich geschwächt. Keinesfalls durfte sie in nächster Zeit noch einmal stürzen. Aus diesem Grund war eine Rundumbetreuung daheim nicht länger gewährleistet. Weder gab es so rasch eine mobile Versorgung, noch konnte ich meinen Job von heute auf morgen an den Nagel hängen und meine Kollegen im Stich lassen. Auf unserer Station befand sich eine Pflegekraft in einem Langzeitkrankenstand und nach einer weiteren wurde seit Wochen händeringend gesucht.

»Du sagst gar nichts.« Rudi reduzierte auf der Seitenstraße etwas die Geschwindigkeit und berührte sanft meinen Oberschenkel.

Ich schaute ihn stumm an, während er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße lenkte. In wenigen Minuten würden wir das Heim erreichen.

»Es ist ein wahres Glück, dass ein Platz dort frei ist«, fuhr er fort.

Wahres Glück? Das hieß doch, dass ein Mensch gestorben und somit eine Familie in Trauer war! Ich behielt meine Gedanken für mich, da der Kloß in der Kehle mir die Stimme genommen hatte.

»Du wirst sehen, es ist das Beste, wenn Gundi gleich direkt vom Krankenhaus ins Altenheim kommen kann. Dann ist der Abschied auch nicht so schwer.«

Wie grausam! Wieso sollte Mutti kein Recht haben, sich von ihrem Zuhause gebührend zu verabschieden?

Vom Verstand her wusste ich, dass ich ihr und uns damit mehr Aufregung ersparte, diese Lösung die beste war. Doch mein Herz pochte bleischwer in meiner Brust.

 

Beim Pflegedienstleiter Jürgen, der selbst diplomierter Krankenpfleger war, fühlte ich mich gleich gut aufgehoben. Er hatte eine angenehme tiefe Stimme, die mir etwas von meiner Rastlosigkeit nahm. Gewissenhaft gingen wir alle Formalitäten durch. Er klärte uns auf, aus was sich die Kosten der Unterbringung zusammensetzten, wie viel Taschengeld den Bewohnern blieb.

»Hier hat sich bewährt, dass unser Nahversorger jeden Mittwoch ins Haus kommt, einen Stand aufbaut, wo sich unsere Bewohner Kleinigkeiten kaufen können. Ob Obst, Naschzeug, Zeitungen …«

»Oh, das ist aber ein tolles Angebot«, entlockte er mir damit.

Der Pflegedienstleiter nickte bedächtig. »Wir wollen allen so viel Normalität wie möglich schenken. Es gibt Bastelrunden. Wer möchte, kann beim Backen mithelfen. Natürlich feiern wir sämtliche Jahresfeste und Rituale gemeinsam und auch der Herr Pfarrer kommt wöchentlich zu einer Messe ins Haus. Doch am meisten geht bei den Bewohnern das Herz auf, wenn die Kinder aus dem Kindergarten oder der Volksschule uns besuchen und kleine Gedichte oder Lieder zum Besten geben.«

»Das klingt besser als erwartet.« Rudi tätschelte sanft mein Bein.

Ich wusste, was seine Geste bedeutete: Siehst du, deine Mutter wird gut versorgt werden.

»Nun, da das geklärt ist …« Jürgen klatschte in die Hände. »Dann führe ich Euch einmal durch unsere Räumlichkeiten, damit Sie sich persönlich davon ein Bild machen können.«

Ich versuchte, alle Details in mir aufzusaugen. Die Zimmer waren hell. An den Wänden entlang der Gänge gab es Handläufe, wo sich die Bewohner anhalten konnten. Der Speisesaal wirkte geräumig. Es saßen dort einige Menschen zusammen und unterhielten sich angeregt, während im Hintergrund das Pflegepersonal emsig hin und her schwirrte, um den Nachmittagskaffee auszuschenken. Dazu gab es ein Stück Kuchen. Ein Lachen flog mir zu und taute nach und nach den eisigen Klotz von Schuldgefühlen in mir auf, dass ich Mutti abschieben würde.

Es gefiel mir besser als gedacht! Obwohl sich hier die Menschen am Ende ihrer Lebensstation befanden, pulsierte zwischen den Wänden spürbar Leichtigkeit und Wärme.

Wir kamen bei einem Gemeinschaftsbadezimmer vorbei. Ich schielte hinein. Darin stand eine große Badewanne mit Whirlpool-Funktion und daneben parkte ein Lifter – ein Hilfsgerät, um die betagten Menschen in die Wanne hinein- und wieder hinauszuheben. Ob tatsächlich darin jemand badete, oder stand der Lifter zur Zierde herum? Ich hoffte auf Ersteres.

In derselben Etage gab es zudem eine kleine Bibliothek, ausgelegt mit einem roten Teppichboden. Am Rand stand eine riesige Yucca-Palme und die Möbel waren aus dunklem Holz und dunklem Leder. Es sah sehr einladend aus. Mein Blick fiel auf die Zeitungen, wanderte über ein paar Bücher in den Regalen. Es war ein herrliches Plätzchen, um einer Lektüre zu frönen. Doch ich wusste, Mutti würde ich mit ihrer Demenz in diesem Raum weniger finden. Für Vati wäre das ein herrlicher Ort gewesen, um seine Kreuzworträtsel und Sudokus zu lösen.

Gedanklich schlug ich ein Kreuzzeichen und hielt Zwiesprache mit ihm: Sag Vati, bist du mit diesem Ort für Mutti einverstanden?

Vor dem Fenster flog laut zwitschernd ein Vogel vorbei, als hätte er auf diese Weise mir eine Zustimmung geschickt. Das schenkte mir neuerlich ein kleines Stück Zuversicht.

Wir stapften einen Stock höher und kamen in das Zimmer, das für Mutti gedacht war. Ich war von der Größe überrascht. Eingangs befand sich ein kleiner Vorraum, den man wunderbar nutzen konnte, um Jacken oder Schuhe aufzubewahren.

»Für das Einzelzimmer gibt es eine Aufpreispauschale.«

»Ja, das haben Sie schon gesagt und ist für uns kein Hindernis«, fiel ich dem Leiter ins Wort. Der Raum war geräumig genug für ein breites Pflegebett, maß an die fünfzehn Quadratmeter.

»Das Bett stellen wir und es gibt auch einen Schrank. Weitere Möbel können Sie, so wie Sie es möchten, von daheim mitnehmen«, fuhr Jürgen fort.

»Omas Kommode hätte Platz«, bemerkte Rudi. »Und dazu ihr Fernseher. Tisch und Stühle haben wir ebenso.«

Ich nickte zustimmend, obwohl Mutti kaum fernsah, was vermutlich auch daran lag, dass sie den Filmen und Gesprächen in der Glotze nicht mehr richtig folgen konnte.

»Das klingt wundervoll.« Jürgen lächelte. »Natürlich macht es vermutlich für eine Kurzzeitpflege weniger Sinn, alles herzuschleppen. Aber vielleicht entscheiden Sie sich ja um und Ihrer Oma gefällt es bei uns. Nichtsdestotrotz hat es sich bewährt, so gut wie möglich eine vertraute Umgebung zu schaffen. Wenn Sie wollen, können Sie die Vorhänge auswechseln oder Bilder aufhängen – alles kein Problem.«

»Das ist ganz in unserem Sinn.« Rudi nickte mir aufmunternd zu.

Gab es einen Haken? Klang das alles nicht zu wunderbar? Neue Zweifel schossen in mir empor und ich fühlte mich kläglich. In meinen Gedanken rotierte es, da es genauso immer wieder Meldungen von Pflegemissständen, oder sogar einer Verwahrlosung der Heimbewohner gab. Was war, wenn nicht alle Angestellten umsichtig mit meiner Mutter umgingen? Es war etwa zehn Jahre her, als in Graz ein Heim bezüglich schwerer Missstände geschlossen wurde. Zahlreiche Berichte geisterten durch die Medien, aber ich wusste von der Begebenheit aus erster Hand, da von meiner Freundin Greti die Nichte dort untergebracht gewesen war. Greti berichtete mir von den Hygienemängeln, dem speckigen Boden, verschimmelten Ecken und schlimmer noch, von wundgelegenen immobilen Bewohnern. Zum Glück war ihre Angehörige nicht zu Schaden gekommen, da sie trotz ihrer geistigen Entwicklungsstörung mobil war und sie nicht stunden- oder tagelang im selben Bett ausharren musste.

Vermutlich waren auch aus diesem Grund die externen Überprüfungen seitens der Bezirkshauptmannschaft forciert worden, um genau bei solchen Mängeln rechtzeitig einzugreifen und diese zu vermeiden. Hier hatte ich zumindest noch keinen Hinweis gefunden, der auf eine Nachlässigkeit schließen ließe.

Ich atmete tief durch, rief mich zur Ordnung, um nicht länger schwarzzusehen. Außerdem wollte ich weiterhin für Mutti da sein, sie täglich besuchen! Ich seufzte. Das Problem lag nicht am Heim oder der Ausstattung, sondern einzig und allein an mir: Ich musste Mutti loslassen!

»Darf ich hier hineinschauen?«, fragte ich den Leiter.

»Ja sicher.«

Ich öffnete die Tür zum angrenzenden Bad und WC. Es gab nichts zu bekritteln. Die Dusche war ebenerdig, und sollte Mutti einen Rollstuhl benötigen, gab es ausreichend Platz darin, um zu manövrieren.

»Nun? Haben Sie schon einen Entschluss gefasst, oder benötigen Sie etwas Bedenkzeit?«

Ich räusperte mich. »Ja, wir nehmen das Zimmer«, hörte ich mich sagen.

Rudi zog mich an sich heran. »Wir geben Ihnen Bescheid, sobald wir wissen, wann Gundi entlassen wird, um den Transport hierher zu organisieren. Wann können wir das Zimmer einrichten?«

Der Pflegedienstleiter strahlte uns an. »Jederzeit.«

Impressum

Texte: Bridget Sabeth
Bildmaterialien: Bridget Sabeth
Cover: Bridget Sabeth
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2022

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