Fehler. Fehler. Fehler, rumorte es in meinem Kopf. Die Stimmen hatten recht. Ich begang einen riesigen Fehler, denn wenn ich hier unten erwischt wurde, blühte mir eine saftige Strafe.
Mein Herz schlug schneller als ich die Gusseiserne Klinke in die Hand nahm. Sie war kühl und bescherte mir eine Gänsehaut, das Metall war von den vielen Händen abgegriffen, welche ganz ohne Konsequenzen jene Tür passieren durften.
Ich schloss die Augen, atmete einmal tief durch und drückte den Griff nach unten. Die Tür öffnete sich, ich stutzte. Ich war der festen Überzeugung, dass das Holz knarzen, und die alten Scharniere quietschen würden, dass mir der Zugang verweigert werden würde, und ich mich gegen die ächzende Tür stemmen müsste. Doch nichts dergleichen geschah. Die Tür schwang einfach so auf, geschmeidig und absolut geräuschlos.
Ich blickte tiefer schwärze entgegen, einem dunklen Schlund welcher bedrohlich vor mir aufragte, drohte mich zu verschlucken.
Ich streckte den tiefen Schatten meinen silbernen Kerzenleuchter entgegen, und die tanzenden Flammen verscheuchten die Dunkelheit. Ich lauschte nach verdächtigen Herzschlägen, oder anderweitigen Lebenszeichen, doch es blieb still. Ich sammelte all meinen Mut und trat ein.
Der Geruch von Staub und Lederpolitur schlug mir entgegen, doch der modrig, feuchte Gestank von schimmeliger Erde war es, welcher mir die Sinne vernebelte und die Tränen in die Augen trieb. Ein schaler Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus und ich hielt reflexartig den Atem an.
Mein Herzschlag beruhigte sich etwas, und ich wagte den ersten richtigen Schritt gen Dunkelheit. Mein Blick flog über unzählige Regale, in denen Glasfläschchen - dessen Inhalte aus undefinierbaren Substanzen bestanden - und Bücher standen. Generell stapelten sich überall Bücher. Auf den einst hellen Tischen, den Sitzgelegenheiten und dem Boden stapelten sich windschiefe Türme, welche drohten jeden Moment zusammenzubrechen. Ich bemühte mich nichts anzufassen, auf der einen Seite um die Stabilität der Bücherstapel nicht zu gefährden, auf der anderen um so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen.
Beinahe lautlos bewegte ich mich durch die Schatten, welche das Mobiliar auf den Boden warfen. Einzig allein das rascheln meines Kleides und die leisen, tapsenden Schritte verrieten meine Anwesenheit.
Da sich meine Augen an die nur spärliche Beleuchtung gewöhnt hatten, löschte ich die Kerzen und versteckte den dazugehörigen Halter auf dem oberen Brett eines willkürlichen Regals. Bald schon würde er eine ähnlich dicke Schicht Staub wie alles andere ansetzen, und würde nicht weiter auffallen.
Nachdem ich die halbe Bibliothek durchquert hatte, stieg mir ein nur allzu bekannter Geruch in die Nase.
“Judith?”, rief ich leise und wartete. Nichts regte sich, und ich war zu ängstlich um ein weiteres mal die Stimme zu erheben. Ich wartete lange. Erst eine, dann fünf und plötzlich zehn Minuten strichen ins Land und noch immer blieb alles still. Gerade als ich den Mund ein weiteres mal öffnete, hörte ich in der Ferne leise Schritte, daraufhin öffnete sich dieselbe Tür durch welche ich nur wenige Minuten zuvor getreten war und ich hörte eine leise Stimme nach mir rufen.
“Bree?”
“Hier hinten.”, antwortete ich. Die trappelnden Schritte kamen näher und nun stieg mir auch der Geruch der Vampirin in die Nase. Ein beißend süßer Duft, ein Gemisch aus Schokolade, Honig und Tau.
Schlitternd bog Judy um die Ecke und kam vor mir zum stehen. Wir grinsten uns verschwörerisch an und ich wurde in eine feste Umarmung gezogen. Meine Rippen knackten schon gefährlich als ich endlich wieder freigelassen wurde.
“Und du willst das wirklich durchziehen, Bree? Hast du dir das auch gut überlegt?”, nervös trat ich von einem Bein aufs andere, nickte jedoch entschlossener als ich mich fühlte. In Wirklichkeit lief meine Angst gerade in meinem Inneren Amok, doch aus meinem Mund kam dennoch ein festes, “Ja.”.
Mein Gegenüber nahm mich bei der Hand, drückte einmal zu und zog mich dann weiter durch das Labyrinth aus Büchern und Tinkturen.
Wie gerne ich meine Nase doch in einen der dicken Schmöker stecken würde, nur um für ein paar Stunden aus meiner verhassten Realität zu entfliehen. Ich seufzte.
Judith zog mich immer tiefer in die Bibliothek, und ich hatte schon längst die Orientierung verloren, als sie vor einer unscheinbar wirkenden Tür zum stehen kam.
Judy drückte die Tür auf, welche deutlich widerstand zeigte, letzen Endes allerdings doch laut quietschend aufschwang.
Der Geruch von abgestandenem Wein und Blut der mir entgegen Schwang ließ mich würgen und ich schlug mir augenblicklich eine Hand vor Mund und Nase, Judy jedoch schloss genießerisch die Augen.
“Du bist eine wirklich lausige Vampirin”, scherzte sie und zog mich mit einem Lächeln auf den perfekten Lippen in den Raum. Ich folgte ihr nur widerwillig.
“Halbvampirin”, grummelte ich in meinen unsichtbaren Bart.
Der fensterlose Raum war wirklich winzig und wurde von nur zwei Fackeln, welche Judith kurzerhand entzündete, vollständig Beleuchtet. In der Mitte stand eine metallene Liege, einem OPTisch sehr ähnlich, von welchem auch der widerwärtige Gestank ausging. Getrocknetes Blut klebte in den Ecken des Tisches und in den dreckigen Rillen des Bodens.
Während ich mich weiterhin umsah schloss Judy die Tür und kramte in ihrer kleinen Tasche, welche ich bis jetzt nicht bemerkt hatte. Sie wurde schnell fündig und hob triumphierend einen wundervoll verzierten Dolch in die Höhe. Ich schluckte hörbar.
Meine beste Freundin befahl mir mich auszuziehen und hielt mir ein dünnes, weißes Seidentuch entgegen. Das Material glitt sanft über meine Haut und ich genoss das Gefühl, in dem Wissen was mir in wenigen Minuten blühte.
“Und du bist dir wirklich ganz sicher?”, fragte mein Gegenüber erneut.
“Ja, ganz sicher”
“Dann müssen wir uns beeilen, wir haben nur noch eine Stunde dann schlägt es Mitternacht”
Ich atmete ein letztes mal tief durch, ehe ich mich bäuchlings auf den Tisch legte, Judy zog mir das Tuch vom Rücken und legte es lediglich über Beine und Po.
Ihre kalte Hand nahm mein dunkles Haar von meinem Rücken und strich einmal sanft meine Wirbelsäule hinab, anschließen hauchte sie einen kaum spürbaren Kuss in meinen Nacken, ehe sie mit einem geflüsterten “Entschuldigung”, den Dolch quer über meinen Rücken zog.
Ich schrie leise auf, biss mir jedoch sofort so fest auf die Zunge, dass sich ein metallisch, süßer Geschmack in meinem Mund ausbreitete. Ich spürte ein kleines Rinnsal Blut welches mir über den Rücken lief und auf den Tisch tropfte. Immer mehr dunkelrote Rinnsale gesellten sich dazu, als Judith den Dolch in harten Linien über meine Haut bewegte. Der Schmerz tanzte über meine gesamte Rückseite und wiegte sich im Takt einer mir unbekannten Melodie. Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich blieb stumm.
Ich seufzte erleichtert auf als Judith endlich den Dolch absetzte. Herrlich schmerzfrei fühlte ich nur noch ein leises Pochen, doch dies währte nicht lange, da nun meine Vorderseite dran war.
Brennend heißer Schmerz kochte in meinen Adern, als ich mich auf meinen geschundenen Rücken drehte. Wie zuvor auch breitete Judy das nun befleckte Seidentuch über meinem nackten Körper aus, nur das Dekolleté ließ sie unbedeckt.
Die Turmuhr schlug zum ersten mal in dieser sternenklaren Nacht, wie auf Kommando setzte meine beste Freundin den Dolch von meiner Haut ab und ließ ihn scheppernd fallen.
Wir beide atmeten auf und ich schlug meine Augen, welche ich zusammengekniffen hatte, wieder auf.
Die Turmuhr schlug zum dritten mal.
„Alles gute zum Geburtstag“, wisperte eine sanfte Stimme neben mir, und stechend grüne Augen strahlten mich an.“
Sechster Schlag.
Ich versuchte mich aufzusetzen, doch Judy drückte mich zurück.
Achter Schlag.
„Es ist besser wenn du für die folgenden Minuten liegen bleibst“
Zehnter Schlag.
„Ich habe Angst, Judy“
Elfter Schlag.
Der letzte Schlag der Turmuhr verklang und eine flutartige Welle aus purem Schmerz überrollte mich, presste mir alle Luft aus den Lungen. Verzweifelt versuchte ich zu atmen, doch meine Lungen weigerten sich zu arbeiten. Wie ein Fisch auf dem trockenen öffnete und schloss ich meinen Mund immer wieder, während schreckliche Krämpfe meine Muskeln erzittern ließen.
Mein Brustkorb drückte sich nach oben und ich hörte das Brechen mehrerer Rippen. Schlagartig bekam ich wieder Luft, doch sogleich investierte ich sie in einen gellenden Schrei, welcher meine Stimmbänder zu zerreißen drohte.
Meine Finger verkrampften sich und ich fühlte wie ich etwas darin verbog. Mein Herz schlug schneller, doch statt heißem Blut schien es Eiswasser durch meine Adern zu jagen. Ein weiterer Schrei kämpfte sich den Weg durch meine trockene Kehle.
Weitere Knochen brachen, doch dort war so unendlich viel Schmerz, dass ich nicht sagen konnte wo er neu entflammte. Meine Zehen rollten sich ein, meine Knöchel knackten. Ich stemmte meine Fersen in den Tisch, versuchte den ganzen Schmerz einfach wegzudrücken, doch es brachte nichts. Mein Becken krachte zurück auf das harte Metall. Der nächste Laut der aus meinem Mund kam glich dem eines Tieres.
Meine Schulter drückten sich nach hinten, die Hände krallte ich schmerzhaft in den Tisch. Der nächste Schrei blieb mir in der Kehle stecken.
Ein widerwärtiges Würgen kroch mir den Hals hinauf, eine einsame Träne rollte aus meinem Augenwinkel
Der Schmerz war weg. Kaum formten sich diese vier Worte in meinem Kopf, drehte ich mich auf die Seite und gab einen Schwall aus Blut und Erbrochenem von mir. Judy strich mir in großen Kreisen über den Rücken, während mein Körper sich immer wieder verkrampfte, bis sich mein gesamter Mageninhalt in einer großen, übelriechenden Lache auf dem Boden verteilt hatte.
Ich drehte mich zurück auf den Rücken und sackte schwer atmend in mich zusammen.
„Gehts wieder?“, Judy hörte sich ehrlich besorgt an, als sie mir eine tränennasse Haarsträhne hinters Ohr strich. Ich hob meine Hand um mir über die Wangen zu wischen, doch auf halbem Weg hielt ich inne und richtete mich, plötzlich überhaupt nicht mehr erschöpft, kerzengerade auf.
Meine Hand sah anders aus. Aus dem cremigen beige meiner Haut, ist schneeweiß geworden und meine angeknabberten Nägel strahlen mir stark und Krallenförmig entgegen. Ich drehte meine Hand im Licht, doch egal wie ich sie hielt, die Krallen blieben.
Eine zweite Hand schob sich über meine. Ich hob den Blick und begegnete Judiths jadegrünen Augen. Sie sahen so anders aus.
Schon immer waren ihre Augen faszinierende, nie endende Weiten in denen man zu versinken drohte, doch nun war ich in der Lage die schwarzen Verästelungen zu sehen, welche sich von ihrer Iris ausgehend bis ins Weiße schoben. Auch die goldenen Sprenkel, oder der hellblaue Fleck in ihrem linken Auge waren mir bis heute nicht aufgefallen.
Ich sah zurück auf unsere verschränkten Hände. Identisch. Weiß. Glatt. Überirdisch.
„Du bist jetzt wie ich.“, flüsterte sie. Ich spitzte die Ohren. Selbst ihre Stimme klang anders. Wie die hellsten Glocken schimmerte sie, ein sanft säuselnder Singsang. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
Meine Sinneswahrnehmungen waren so anders. Ich roch die Luft nicht nur, ich schmeckte sie auch. Ich schmeckte den trockenen Staub, den einst so teuren Wein, welcher nun vergoren und zerronnen in den Rillen des Bodens klebte, ich schmeckte mein eigenes Blut auf der Zunge.
Irgendetwas in mir veränderte sich schlagartig. Ein unmenschliches Verlangen entflammte in meinem Inneren und drohte mich glühend heiß zu versengen. Jenes Verlangen setzte meine Kehle in Brand und trocknete mich aus. Ein knurren stieg in mir hoch. Als mir jenes wie Donnergrollen über die Lippen kam, erschreckte ich mich so sehr vor meiner selbst, dass das seltsame Verlangen in dünnen Rauchschwaden verpuffte.
„Entschuldige“, sagte, nein, sang ich. Meine Stimme glich Judys Singsang haargenau, auch meine Stimme schillerte nun in einem hellen Sopran. Ich griff mir überrascht an die Lippen, was Judith ein Lachen entlockte.
„Du erinnerst mich an meine Zeit als Jungvampirin, Bree.“, lachte sie. „Du hast Durst. Komm mit, ich helfe dir“, sagte sie nun völlig ernst.
Eine Jungvampirin mit Durst, in einem Schloss voller Menschen. Wir beide wussten, wie schlecht dies enden konnte, deshalb ließ ich mich von ihr mitziehen.
Nur mit einem Seidentuch bekleidet tappste ich hinter Judy her. Sie führte mich sicher durch das Labyrinth der Bibliothek, und nachdem wir die Eingangstür jener passiert hatten, schaute sie für mich um jede Ecke um sicherzugehen, dass mich niemand erblickte.
Was der König und die Königin wohl davon hielten wenn ihnen zu Ohren käme, dass die Kronprinzessin noch nach Mitternacht, und nur mit einem beschmutzten Seidentuch bekleidet, durch die Gänge huschte? Der Gedanke amüsierte mich und ich spielte mit dem Gedanken, für etwas Lärm zu sorgen, damit dieses Szenario eintrat. Doch Judy zog mich erbarmungslos weiter durch die unzähligen Flure und Gänge, bis wir sicher vor meinem Gemach standen.
Ich stieß die Tür auf und trat ein. Im Kamin prasselte ein wärmendes Feuer, auf dem Beistelltischchen stand eine noch dampfende Teekanne und ein Tablett mit Keksen. Ich roch das dezente Parfüm einer meiner Zofen, welches an den Kissen, die auf dem Sofa und den Sesseln lagen, klebte.
Die Balkontür stand offen, und die weißen Vorhänge wogen sich in der sanften Nachtluft. Ich tat einen Schritt in Richtung dieser, doch Judy hielt mich zurück.
„Du solltest dich zuerst umziehen“, merkte sie grinsend an und ich schlug mir die Hand vor die Stirn.
„Danke, das wäre wohl keine schlechte Idee.“, erwiderte ich und zog mich in mein Schlafzimmer zurück.
In ein dunkles Nachtkleid geschlüpft und mit meinem eng um mich geschlungenen Morgenmantel, trat ich zurück in den Vorraum meines Gemachs. Judy saß auf einem der beiden Sessel, die Kekse und der Tee waren weg, stattdessen standen nun zwei Weingläser und eine undurchsichtige Flasche auf dem Tischchen.
Sobald ich mich gesetzt hatte, öffnete meine beste Freundin die Flasche, goss uns von der dunkelroten Flüssigkeit ein und drückte mir ein Glas in die Hand.
Meine Kehle entflammte als ich den metallischen Geruch des Blutes wahrnahm, doch ich zögerte. Ich hatte in meinem Leben schon einige male Blut getrunken, doch auf Halbvampire hatte es eine berauschende Wirkung. Wie der Alkohol bei Menschen vernebelte es mir die Sinne. Ich hasste das Gefühl nicht mehr Herr über meinen eigenen Körper zu sein.
„Warum trinkst du nicht? Du musst doch schrecklichen Durst haben.“, bei der Erwähnung dessen brannten die Flammen in meinem Hals noch heißer. Ich wollte Judy nicht von meiner Angst erzählen. Ein Vampir der Angst hatte Blut zu trinken. Ich wusste, dass Judith mich niemals auslachen würde, doch peinlich war es mir trotzdem. Ich räusperte mich unnötigerweise bevor ich zu sprechen begann.
„Du weißt doch wie ungern ich Blut trinke. Ich mag es nicht so trunken vor Glück zu sein.“, ich schaute auf eines der reich verzierten Kissen und friemelte an den Rüschen herum. Ich holte erneut Luft bevor Judith anfangen konnte zu sprechen. „Natürlich weiß ich das es anders sein wird, und es ist auch total dä..“,
„Pscht“, Judy lächelte mich an. Sie Lächelte, sie lachte mich nicht aus. „So ging es mir auch“, sie lehnte sich entspannt zurück und trank einen Schluck. Meine Kehle brachte mich noch um. Überrascht zog ich eine Braue nach oben, und Judy erzählte mir von ihrer Zeit als Jungvampirin.
Oftmals prusteten wir los, und nach und nach, ohne das ich es merkte, nahm sie mir meine irrationale Angst.
Trotz meiner großen Klappe war ich eine sehr ängstliche und vorsichtige Person. Ich zierte mich nie davor meine Meinung preiszugeben, noch drückte ich mich vor den seltenen Streits bei Hofe, und doch beherrschte eine irrationale Angst mein Leben.
Langsam beruhigten Judith und ich uns von unserem Gegacker, und ohne mir dessen bewusst zu werden führte ich das Glas an meine Lippen um einen Schluck zu nehmen, doch sobald der erste Tropfen auf meine Zunge fiel, gab es für mich kein halten mehr, und ich stürzte den gesamten Inhalt des Glases auf einmal herunter. Mein Gegenüber gab keinen Kommentar dazu ab, schenkte mir jedoch großzügig nach.
Wir unterhielten uns noch ein paar Stunden, doch als die Uhr anzeigte, dass es bereits vier Uhr morgens war, und das Feuer im Kamin langsam herunter brannte, standen meine Freundin und ich auf.
„Wohin gehen wir?“, fragte ich, doch folgte ihr schon ins Nebenzimmer.
„Du bist seit etwa vier Stunden ein Vampir und du hast dich noch gar nicht angesehen.“, schmollte sie. Ich musste mir ein Lachen verkneifen, doch gehorchte brav und stellte mich vor den großen Spiegel.
Der runde, goldene Rahmen bestand aus scharfkantigen Figuren, welche ineinander verschlungen an das tosende Meer erinnerten. Fest in der Wand verankert hatte ich ihn mir als kleines Mädchen oft als Portal in eine andere Welt vorgestellt. Stundenlang saß ich auf dem Boden und habe vor mich hin geträumt oder gelesen.
Judy stellte sich hinter mich und nahm mir meinen Morgenmantel ab, welchen sie achtlos zu Boden warf. Sie quiekte begeistert auf und sprang wie ein Flummi auf und ab. Ich versuchte sie so gut es ging zu ignorieren und schaute stattdessen fasziniert in den Spiegel vor mir.
Mein schwarzes Haar floss glatt über meine Schultern, an meiner Brust vorbei und endete kurz unter den Rippenbögen. Es schien länger als sonst zu sein, glatter, glänzender. Ich nahm eine Strähne in die Hand und rieb sie kurz zwischen den Fingern, ehe ich sie mir hinters Ohr strich.
Mein Gesicht sah anders aus. Die hohen Wangenknochen waren geblieben, genauso wie der scharfe Kiefer, doch insgesamt wirkten meine Gesichtszüge weicher. Meine dunkelbraunen Augen wirkten fast schwarz und meine Wimpern schienen länger denn je. Mein Blick schweifte über den Rest meines Körpers. Ich war mir ziemlich sicher ein Stück gewachsen zu sein, denn meine Satinhose endete in der Mitte meiner Waden. Meine Taille war schmaler, das Becken breiter, meine Brüste praller und generell wirkte ich.. rund? Ich sah ein paar mal hinauf und hinab bis mir auffiel was mich störte.
Ich sah erwachsen aus. Ich war kein Mädchen mehr, ich war eine Frau. Meine körperliche Reife hatte sich an meine geistige angepasst. Ich sah mindestens fünf Jahre älter aus.
Die Frau im Spiegel war noch ich, ich erkannte mich eindeutig wieder, doch ich hatte mich stark verändert. Ich wusste nicht ob ich zufrieden mit dem war was ich sah. Diese Person in deren Augen ich da sah war unbestritten schön, doch war sie einer Königin würdig? In nunmehr fünf Jahren würde ich mein Erbe antreten, und ich würde so sein wie jetzt. Die Jahrhunderte würden mich nicht mehr verändern.
Ich zog meine Freundin neben mich und grinste sie durch das Glas hinweg an. Ich würde niemals so schön sein wie Judy. Wir waren so unterschiedlich. Judy's Haar fiel ihr in blonden Locken über den Rücken und endete erst kurz über dem Po, während meines sich ab einem gewissen Punkt weigerte länger zu werden. Judy's Augen waren jadegrüne Portale durch welche man bis auf den Grund ihrer Seele blicken konnte, während meine ein dreckiges schlammbraun aufwiesen. Judith war rein äußerlich die besser Thronerbin, ganz so wie es in den Büchern stand.
Sie war die Prinzessin welche der Prinz aus dem Turm befreite. Die Schönheit die für Neid auf der ganzen Welt sorgte. Und ich war einfach nur Ich. Es reichte mir Ich zu sein. Mir reichte eine durchschnittliche Bree, doch mein Volk brauchte jemand anderen.
„Und was sagst du?“, ich drehte der Frau im Spiegel den Rücken zu.
„Es gefällt mir.“, ich log nicht, denn mir gefiel wirklich was ich sah.
„Es gefällt dir? Du bist nicht völlig vom Hocker und möchtest im Kreis herumspringen?“, lachte sie ein glockenhelles Lachen. Ich stieg erneut ein.
Oh Götter, ich sand einen stummen Hilfeschrei gen Himmel. Seit gefühlten Stunden saß ich nun schon in meinem Bad und ließ mich wie eine Puppe ankleiden, frisieren und bepinseln. Gerade stach mir Lydia dutzende Haarnadeln in die Kopfhaut und rupfte mir etliche Haare aus.
„Stillhalten Prinzessin“, fuhr sie mich harsch an. Ich verdrehte die Augen und zog eine Schnute.
Judy hatte sich bereits vor Stunden verabschiedet und war einem wichtigen Auftrag nachgegangen. Seltsamerweise ging sie genau zwei Minuten bevor mein Vorbereitungsteam meine Gemächer stürmte, und hatte sich seitdem nicht mehr blicken lassen.
Ich verzog mein Gesicht als mir eine weitere Nadel in den Kopf gerammt wurde. Langsam mussten meine Haare doch genug halt haben.
Im Gegensatz zu den Anweisungen meiner Zofen hielt ich nicht still sondern zappelte weiterhin herum um den fiesen Folterinstrumenten zu entkommen. Mir reichte schon das aufgerüschte Kleid mit den hässlichen Dreiviertel Ärmeln, oder die viel zu rosanen Handschuhe, welche meine, nun abgeschliffenen, Krallen verbargen.
Jetzt fehlt nur noch ein Schleier, witzelte ich in Gedanken, was mir ein leises auflachen entlockte.
Ein paar meiner Zofen hielten kurz Inne oder sprangen sogar ein wenig von mir weg. Die meisten unserer Bediensteten waren rein menschlich, nur eine Handvoll unreiner Eunuche bildeten die Ausnahme.
Es gab zwei Arten von uns Vampiren, welche sich in der Gesellschaft stark unterschieden. Einmal die geborenen, zu welchen ich zählte. Wir waren auch als die toten Vampire, die Reinen oder ganz simpel als Lystra bekannt. Wir waren nie ganz menschlich gewesen, selbst bei unserer Geburt hatten wir nur einen sehr kleinen Teil Mensch ins uns. Bis zu unserem achtzehnten Lebensjahr gingen wir durch die verschiedene Phasen der Verwandlung, bis wir schließlich zum vollwertigen Vampir wurden.
Wir Lystra waren rein, waren nie menschlich, wurden nie von fremden Gift berührt, während die Clouts oder auch die Unreinen als Menschen zur Welt kamen und erst im Laufe ihres Lebens gebissen, und somit verwandelt wurden. Judy gehörte zu ihnen, dass sie den Hof überhaupt betreten durfte war ein Wunder.
Im gesellschaftlichen Rang waren die Clouts so weit unten wie es als überirdisches Wesen nur möglich war. Nur eine Stufe über den Menschen.
Ich hörte die satten, feuchten Herzschläge, meiner Zofen, welche ihr Blut verlockend zirkulieren ließen. Meine Kehle entflammte erneut, was mir beinahe ein Knurren entlockte. Meine Lippen öffneten sich schon, als ich mich zur Vernunft rief und zwang an etwas anderes zu denken; das sich Lydia allerdings gerade jetzt über mich beugte und ihre Halsschlagader genau vor meiner Nase pochte, trug nicht gerade zu meinem Wohlbefinden bei.
So sanft ich konnte schob ich sie von mir weg und deutete, ohne, dass die anderen es mitbekamen, erst auf meinen, dann auf ihren Hals. Sie nickte mir verständnisvoll zu.
„Wir sind fertig“, sie hielt weiterhin Blickkontakt. Ich wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen, diesmal allerdings nicht, um meine Zähne darin zu vergraben.
Lydia war seit ich denken konnte an meiner Seite. Sie war wie die Mutter die ich nie wirklich hatte, denn die Königin war zu beschäftigt um sich um ihren Nachwuchs zu kümmern. Aus diesem Grund wurden einfache Menschen aus ihren Familien gerissen um sich um mich zu kümmern.
Sobald ich alt genug war um zu verstehen weshalb Lydia nie von meiner Seite wich, sogar im Nebenzimmer schlief, plagten mich Schuldgefühle. Schon oft hatte ich ihr angeboten zurück in ihr Heimatdorf zu ziehen, doch jedes mal hatte sie abgelehnt.
Die Zofen schwärmten wie ein aufgescheuchtes Bienenvolk los und wuselten so schnell sie konnten aus meinen Gemächern. Als das leise klicken der Tür ertönte, blies ich die Luft aus, welche ich, ohne es selbst zu merken, angehalten hatte.
Ihre verbliebenen Gerüche im Zimmer reichten aus um mir die Sinne weiterhin zu vernebeln. Auf einmal war meine liebenswerte Zofe kein Mensch mehr, sondern Nahrung. Meine Augen flogen automatisch zurück auf ihren Hals und ich fantasierte darüber meine Fänge in jenen zu schlagen.
Erschrocken über meine eigenen Gedanken sprang ich nahezu auf und flüchtete auf den Balkon, flüchtete vor einem Menschen. Das Königspaar wäre wahrscheinlich nicht einmal entzürnt über den Verlust. Sie würden darüber hinwegsehen und jemand neues einstellen. Solange meine Taten den Krieg nicht beeinflussten, war alles nur halb so schlimm.
Ich schnaubte und murmelte leise, und politisch inkorrekte, Flüche vor mich hin, als Lydia mich von hinten antippte.
„Harter Tag?“, in der Hand hielt sie eine Tasse mit einer mir nur allzu bekannten, dunkelroten Flüssigkeit. Dankbar nahm ich sie entgegen, schon der erste Schluck beruhigte meinen gereizten Hals.
„Eher hartes Leben“, seufzte ich und setze mich auf einen der weißen Gartenstühle, welche ich vor Jahren auf den kleinen Balkon gequetscht hatte. Ich bedeutete meinem Gegenüber sich ebenfalls zu setzten; sie kam der Aufforderung bereitwillig nach.
„Es wird nicht besser, Brianna. Ich weiß, dass es schwer ist.“, ich antwortete nicht, sondern ließ den Blick in die Ferne schweifen.
Der königliche Garten blühte über das ganze Jahr in den unterschiedlichsten Farben, doch auch dies verlor mit seiner Zeit den Reiz. Alles verlor mit seiner Zeit den Reiz. Ich litt schon lange an chronischer Langeweile, es machte irgendwann keinen Spaß mehr durch die Korridore zu schleichen und die Bediensteten zu erschrecken, genauso wie meine Raubzüge durch die Küche, oder die endlosen Spaziergänge durch den Garten. Selbst die rauschenden Feste und Bälle waren keine erfreulichen Anlässe mehr.
Mein Blick glitt über die robusten, weißen Schlossmauern, welche nicht nur Eindringlinge draußen hielten, sondern auch uns im Innern einsperrten. Noch nie war ich auf der anderen Seite gewesen, doch ich sah die leuchtende Stadt, weit unter uns, ich hörte die Straßenmusik, und manchmal, ganz selten, sah ich auch wie die Menschen dort unten lebten, weit hinter den Mauern, und weit hinter dem dunklen Wald.
„Wieso muss ich die Prinzessin spielen?“, fragte ich sie wahrscheinlich zum tausendsten mal. Lydia rieb sich die Schläfen, müde von der immerwährenden Diskussion. „Warum darf ich nicht in der Stadt leben. Wieso darf ich abends nicht zu der schönen Musik tanzen gehen?“, meine Stimme nahm einen quengelnden, kindlichen Ton an, doch es kümmerte mich nicht.
„Du darfst doch tanzen gehen. Wenn du nur einmal auf den Bällen erscheinen würdest, Kind.“
„Du weißt, dass ich das nicht will, dass ist nicht das, was ich meine“, jetzt fehlte nur noch, dass ich mit dem Fuß aufstampfte und die Arme verschränkte. Ich wollte doch nur ein einziges mal in die Stadt gehen. Nur einmal, und danach nie wieder. Judy schlenderte ständig durch die Stadt. Oft brachte sie mir neue Bücher oder Farben mit, sie erzählte mir von den bunten Läden und den aufgeschlossenen Menschen, von den kleinen Mädchen welche sich auf dem Marktplatz Blumen ins Haar webten, und von den Müttern, die wunderschöne Kleider für ihre Töchter kauften.
Wäre ich ein einfaches Stadtmädchen, dann hätte meine Mutter mir bestimmt auch ein Kleid zum Geburtstag geschenkt. Es wäre nicht teuer gewesen, doch ich hätte mich gefreut, und anschließend hätte sie mir das Haar gebürstet. Auf dem Marktplatz hätten wir Blumen gekauft, und sie uns, genau wie die Mädchen aus Judys Erzählungen, gegenseitig in die Haare gewoben.
Eine Träne rollte mir über die Wange, doch ich drehte mich schnell um und wischte sie weg. Ich hörte wie Lydia aufstand, und spürte wenige Sekunden später, ihre warme Hand auf meiner Schulter.
„Lass uns wieder reingehen“, meine Stimme hörte sich fest und klar an, wofür ich unfassbar dankbar war. Meine Zofe seufzte, folgte mir allerdings zurück in meine Gemächer.
Die letzten zehn Minuten hatte Lydia sich an meinem Kleid zu schaffen gemacht, als sie dann jedoch erneut anfing an meiner Frisur herumzuzupfen, beeilte ich mich aus meinen Gemächern zu entkommen.
Heute war nicht nur mein Geburtstag, sondern auch der Tag meines letzten Rituals. Ich wurde vollkommen in die Gemeinschaft der Vampire aufgenommen, und das, indem ich erfuhr zu welcher Adelsgruppe ich gehörte.
Ich war zwar die biologische Tochter meiner Eltern, doch meine Kräfte ließen sich trotzdem in Adelshäuser unterteilen. Seit Jahren fantasierte ich darüber was ich wohl konnte. Ich hoffte inständig keine langweiligen Kräfte wie die Vampire des Hauses Ventos zu erben, welche den lieben, langen Tag damit verbrachten das Wetter zu bändigen. Eine Königin die es regnen lassen konnte wenn sie es brauchte, war im Krieg zu nichts nutze.
Ich raffte mein Kleid und rannte eine der hunderten Treppen in meinem Flügel des Palastes herunter, wobei mich meine Schuhe ein ums andere mal ins straucheln brachten. Innerlich verfluchte ich die viel zu hohen Absätze, welche mich selbst im Stehen behinderten.
Ich wusste nicht wie spät es war, doch da die Zeremonie um Punkt zwölf begann, nahm ich an, dass ich den, eine Stunde vorher beginnenden, Empfang verpasst hatte.
Schlitternd bog ich um die letzte Ecke, ehe ich mein Tempo drosselte und mehr oder weniger elegant die letzten Gänge bis in den Thronsaal lief.
Wie erwartet war der Thronsaal bereits von Gästen überflutet, an allen Ausgängen standen Königswächter und überwachten die ausgeladene Menge. Die meisten anwesenden erkannten mich nicht auf Anhieb als Thronfolgerin, doch sobald die ersten Damen anfingen höflich zu knicksen breitete sich die Nachricht meiner Ankunft rasend schnell aus.
Ich versuchte in der Menge unterzutauchen und griff zur Tarnung nach einem Glas Sekt, welche Diener in Massen auf silbernen Tabletts durch den Saal trugen.
Ich roch daran, und verzog sofort die Nase. Der alkoholisch, bittere Duft sorgte dafür, dass sich alles in mir zusammenzog. Ich würde den Inhalt wahrscheinlich unauffällig nach und nach in die Pflanzen gießen, welche die Wände säumten. Die letzten drei Jahre hatte es jenen nicht geschadet und sie erfreuten sich noch immer bester Gesundheit.
Gerade als ich den Blick erneut über die Menge schweifen ließ und nach bekannteren Gesichtern ausschau hielt, krallte sich eine kalte Hand in meinen Arm. Ich quiekte empört auf und drehte mich der dreisten Person zu.
Meine Mutter stierte mich an und der Ausdruck ihrer Augen verhieß nichts gutes. Oh, oh, flüsterte eine winzige Stimme in meinem Kopf, während ich mir ein nettes Lächeln ins Gesicht kleisterte. Die Hand der Königin grub sich noch tiefer in mein Fleisch.
„Wo kommst du her?“, zischte sie so leise, dass nur ich sie hören konnte.
„Wir hatten Schwierigkeiten mit dem Kleid“, das war noch nicht mal gelogen, zumindest nicht ganz. Ich merkte wie meine Mundwinkel langsam absackten; mein Lächeln musste nun eher wie ein Zähnefletschend aussehen. Meine Fänge bohrten sich unangenehm in meine Unterlippe. Eilig schloss ich den Mund und entschied mich spontan für einen neutralen Gesichtsausdruck, welchen mir Lady Clearwater eingetrichtert hatte. Nichts durchbrach diese gleichgültige Fassade, selbst wenn meine Gefühle in meinem inneren Amok liefen, sah man äußerlich rein gar nichts.
Meine Mutter durchbohrte mich mit ihrem stechenden Blick, und ich wartete auf die Ohrfeige, welche auf diesen Ausdruck für gewöhnlich folgte. Doch sie kam nicht, stattdessen passierte etwas völlig anderes.
Die Königin sah über meinen Kopf hinweg, nickte jemandem zu und ließ mich, nach einem letzten auflodern ihrer stahlblauen Augen, los und eilte davon.
Ich stand einige Sekunde vollkommen verwirrt, und unfähig mich zu bewegen, da, während ich das seltsame Gespräch revue passieren ließ.
Es war nicht unüblich für meine Mutter mich beinahe hysterisch anzukeifen, wenn etwas nicht laut ihren Vorstellungen ablief, doch heute wirkte sie beinahe.. aufgelöst?
Ich schüttelte langsam meinen Kopf und nahm einen Schluck des widerwärtigen Sektes um den schalen Geschmack auf der Zunge loszuwerden, zu meiner Überraschung schmeckte er besser als ich ihn in Erinnerung hatte.
Als ich mich langsam wieder gesammelt hatte, beschloss ich mich etwas unter mein Volk zu mischen, ein paar Verbindungen herstellen und mich mit dem hohen Adel gut stellen. Trotz meines unangefochtenen Platzes als Thronerbin, konnte meine Zeit als Königin zur Hölle werden, wenn die Geistlichen und hochrangigen Volksleute sich von mir abwandten.
Ich ließ meinen Blick abermals über die Menge schweifen, analysierte die Gesichter der in kleinen Gruppen stehenden Hofdamen und Kaufleute.
Bevor ich mich jedoch für eine entscheiden konnte, knickste eine junge Frau vor mir, sie musste etwa in meinem Alter sein. Ihre Lippen zierte ein breites Lächeln und ihre Augen strahlten, wie es eigentlich nur die eines Kindes konnten.
Ein königsblauer Einteiler umschmeichelte ihre Figur, die hohen Absätze ihrer Schuhe streckten ihre Beine elegant, täuschten jedoch nicht über ihre geringe Körpergröße hinweg.
„Guten Tag“, ich konnte ihre Stimme nicht anders als engelsgleich beschreiben. Ein klarer, schimmernder Sopran, welcher mir eine angenehme Gänsehaut bescherte.
„Den wünsche ich ebenfalls“, eine jämmerliche Antwort. Meine Fähigkeiten im smalltalk waren definitiv nicht ausgereift.
Sie kicherte in ihrem Engels-Sopran und entblößte eine Reihe schneeweißer Zähne, und zwei winzige Fangzähne, welche sich kaum von den anderen Unterschieden. Ich stutzte. War sie etwa keine Vampirin? Ich hörte keinen Herzschlag. Noch ehe ich einen weiteren Blick auf ihr Gebiss werfen konnte schlossen sich ihre Lippen wieder.
„Auf welchen Namen hört Ihr?“, eine unverfängliche Frage, perfekt für den Einstieg in ein gemächliches Gespräch.
„Erin“, sie lächelte erneut. Weshalb lächelte sie so viel? Andererseits machte es sie sympathisch, diese grauen Gemäuer benötigten mal wieder etwas Schwung.
Langsam fingen wir an ein wenig im Saal umherzuwandern, vereinzelt wurden wir gegrüßt und hielten für ein kurzes Gespräch an, schritten jedoch nach nur wenigen Minuten weiter.
„Ihr seid anders als ich erwartete“, merkte sie nach nur wenigen Minuten an.
„Was hattet Ihr denn erwartet?“, der Eindruck den ich hinterließ war mir sehr wichtig, so war es schon immer gewesen.
„Bitte lacht mich nicht aus, doch ich dachte Ihr seid ein verzogenes Kind.“, ich hob eine Braue an und Erin redete schnell weiter. „Natürlich dachte ich nicht das Ihr ein Kind seit! Eher an, ach ich weiß nicht“, sie schnaubte frustriert.
„Macht Euch keine Sorgen Lady Erin“, ich versuchte sie zu beschwichtigen, doch sie brach in schallendes Gelächter aus. Die Herren des nächstgelegen Tisches hielten inne und starrten uns an, schnell liefen wir weiter.
„Ich bin vieles, doch eine Lady bin ich nicht“, sie wischte sich eine glänzende Träne aus dem Augenwinkel. Ihre Reaktion zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen, auch ihr Kirschmund verzog sich.
„Dann erklärt mir: Wie seid Ihr ins innere des Schlosses gelangt?“
„Nun, meine Tante gehört der Adelsgruppe der Vaun an. Sie sorgt unter anderem für den Wald den das Schloss umgibt.“, die Adeligen der Gruppierung Vaun waren die Naturverbundenen. Sie konnten Blumen und Bäume in Sekundenschnelle aus dem Boden wachsen lassen, doch meistens nutzten sie ihre Kräfte für die Landwirtschaft oder den Forst, wie es Erins Tante es tat.
„Also lebt Ihr unten in der Stadt?“, fragte ich sehnsüchtig. Erin nickte, dabei sprangen ihre kupfernen Locken wild auf und ab, die Eisenperlen, welche sie an einigen stellen eingeflochten hatte, klimperten wie ein Windspiel.
„Doch Ihr verpasst keinen Falls etwas, Prinzessin. Lediglich ein paar Dorftrottel und unfreundliche Ladenbesitzer“, ihre Miene verdüsterte sich kurzzeitig, hellte sich jedoch sofort wieder auf.
Die Zeit mit Erin verflog regelrecht, und ich hoffte sie noch öfter im Schloss anzutreffen.
„Ihr seid zum ersten mal hier. Ich würde mich freuen wenn Ihr uns öfter einen Besuch abstatten würdet.“, ich biss mir augenblicklich auf die Zunge und starrte zu Boden. Ich hoffte sie empfand dies nicht als unfreundlich oder gar aufdringlich, ich bereute meine Worte sofort.
Doch meine Sorge schien ganz und gar unberechtigt als Erin mich noch breiter angrinste und heftig nickte.
„Ich würde mich freuen öfter Euer Gast zu sein, Prinzessin“
„Oh bitte, nennt mich Bree. Ich mag diese Förmlichkeiten nicht“, ich wusste nicht ob mein Angebot überhaupt legal war, doch niemand der umstehenden schien auf uns zu achten.
„Das kann ich doch nicht. Das ist Euch gegenüber respektlos.“, sie kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
„Und wenn ich es befehle?“, ich grinste.
„Okay, Bree“, ihre Wangen wurden rot, obwohl ich keinen Herzschlag hörte. Seltsam. Sie sah mir direkt ins Gesicht und unsere Blicke begegneten sich.
Ihre Augen hatten beinahe dieselbe Farbe wie Judys, doch etwas an ihnen störte mich. Sie waren trüb, so als ob man durch dreckiges Glas sehen würde. Iris und Pupille waren klar getrennt, keine kunstvollen Verästelungen, kein Übergang. Eine Seite grün, eine schwarz.
Jetzt wo mir ihre Augen aufgefallen waren, wirkte ihr ganzes Gesicht irgendwie.. grotesk. Die Augen unecht, die Haut zu weich, in etwa wie die der teuren Porzellanpuppen, welche meine Großmutter vor ihrem Tod gesammelt hatte. Die Schatten unter Augen und Wangenknochen ließen ihr Gesicht plötzlich hohl wirken, als hätte man ein Laken über einen Schädelknochen gespannt. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinem ganzen Körper aus, unweigerlich nahm ich Abstand von ihr.
„Brianna!“, erfreut über jegliche Ablenkung wandte ich mich der Stimme zu, auch wenn meine Instinkte mich anschrien, Erin nicht den Rücken zu kehren.
Ganz nach dem Motto: Schlimmer geht immer, tauchte die Königin erneut hinter mir auf. Diesmal krallten sich ihre Finger jedoch nicht in meine Haut, sondern strichen mir unerwartet liebevoll über die Wange. Dieser Tag war wirklich außerordentlich seltsam. Ich erwartete schon fast das jemand laut „Streich!“, rief, und meine Mutter wieder ihre kalte Seite zum Vorschein ließ.
Schnell kippte ich den Rest meines Sektglases hinunter, ungeachtet der Etikette, welche ich gerade wohl auf schreckliche Weise misshandelt hatte.
„Du siehst wunderschön aus. Die Unsterblichkeit steht dir, Süße“, war dies wirklich meine Mutter? Auf Anhieb wünschte ich mir ein zweites Glas herbei.
„Es ist soweit“, teilte sie mir jedoch nach einer kurzen Pause mit, in welcher ich sie lediglich angestarrt hatte, machte auf dem Absatz kehrt und ließ mich mit Porzellanpuppen-Erin allein zurück.
„Erin ich denke du solltest..“, setzte ich an, doch die junge Frau war wie vom Erdboden verschluckt. Ich drehte mich einige male um mich selbst, doch Erin blieb verschwunden. Ich grummelte etwas von wegen Unhöflichkeit einer Autoritätsperson in meinen imaginären Bart.
Gleichzeitig forderte die Königin alle Gäste auf, sich nach draußen in den königlichen Wintergarten zu begeben, der eigentlich gar kein Wintergarten war. Das einzig Wintergartentaugliche war der weiße Pavillon, welcher jedoch gerade mal Platz für vier Erwachsene darbot.
Die wabernde Menge der Gäste bewegte sich nur langsam nach draußen und einige Grüppchen hatten sich noch nicht einmal aufgelöst. Ich steuerte auf eine der gläsernen Flügeltüren zu und wollte mich unauffällig unter die Gäste mischen, um nachher keinen dramatischen Auftritt hinlegen zu müssen, als einer der Königswächter seinen Arm nach mir ausstreckte und mir bedeutete ihm zu folgen.
Er führte mich zurück in den Thronsaal und durch die Tür durch die ich gekommen war. Zwei Gänge weiter hielten wir vor einer schweren Eisentür, vor welcher sich zwei weitere Königswachen positioniert hatten. Er verbeugte sich knapp und verschwand zurück in Richtung Thronsaal.
Mir schwante übles, als die Wachen die Tür aufzogen und Sonnenlicht den Gang flutete. Früher hätte mich das Sonnenlicht bestimmt geblendet, dachte ich noch, ehe mir mein totes Herz in die Hose rutschte.
Ich schaute auf eine malerische Szene. Ein weißer Teppich direkt vor meinen Füßen, welcher von Rosenbüschen gesäumt wurde. Zu meiner linken und rechten schwarze Bänke, auf welchen Hunderte Vampire saßen, welche mich allesamt durch ihre verurteilenden Augen anstarrten.
An den Holzstreben welche sich verschnörkelt in einer Art Baldachin über den gesamten Gang bis zu jenem weißen Pavillon führten, hingen Lampions in den Farben meines Hauses. Schwarz und Gold.
Kalter Schweiß brach mir aus, als ich den ersten Schritt auf den flauschigen Teppich setzte. Die Sonne berührte zum ersten mal seit ich eine vollwertige Vampirin war meine Haut, sofort wurde mir beinahe unerträglich heiß, doch ich ertrug es mit einem gekünstelten Lächeln auf den Lippen.
Ich hielt Ausschau nach Erin, doch keines der Gesichter sah ihr auch nur annähernd ähnlich. Mit einer Mischung aus Frustration und Erleichterung meisterte ich die letzten Schritte bis zur ersten Reihe, in welcher ich mich letztendlich niederließ.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die sanfte Musik, welche selbst hier draußen gespielt wurde, nicht bemerkt. Genauso wenig wie mir erst hier, auf der sicheren Bank, der Duft von Honig und Tau auffiel, welcher dick in der Luft hing.
Das Königspaar stand im erhöhten Pavillon und ließ den Blick über die tuschelnde Menge schweifen, mein Vater sah aus als suchte er nach einer Person. Ich drehte mich unauffällig nach hinten, doch ich sah nichts auffälliges. Als ich mich jedoch wieder dem Pavillon zuwandte, nickte der König jemandem zu und räusperte sich.
Dort wo noch vor Sekunden Getuschel zu hören war, herrschte nun absolute Stille. Es war gruselig welche Wirkung eine einzelne Person haben konnte, solange man ihr einen Titel verlieh. Für mich war dies nichts anderes. Ein Titel. Denn eigentlich war jeder hier gleich, alle waren wir Vampire, doch wir stritten uns um Wörter, eine Anrede. Hoheit, Lady, oder doch Majestät? In meinen Augen war dies alles Schwachsinn.
„Vor nunmehr achtzehn Jahren erblickte Prinzessin Brianna die Welt.“, ich schaltete meine Ohren schon jetzt auf Durchzug. Ich wollte mir keine Anekdoten über mein langweiliges Leben anhören, oder mir erneut darüber klar werden, welches Wunder es doch war, dass ich überhaupt lebte.
Ich hörte ihm zu, doch mit den Gedanken war ich ganz woanders. Ich dachte über Porzellanpuppen-Erin nach, über Judy und über mein Leben als Unsterbliche. Ich rätselte über meine Zukunft, dachte über meine Amtszeit als Königin nach und irgendwann schweifte ich ab und döste vor mich hin.
Als ich jedoch das Wort ,Krieg‘ hörte, erwachte ich aus meinem Dämmerzustand und zollte der Rede meines Vaters Aufmerksamkeit.
„Bevor wir nun jedoch mit dem Ritual beginnen, will ich euch für eure treuen Dienste danken. Der Krieg zerrt an uns allen, doch wir werden uns..“, ich sah rot.
Weshalb konnte es nicht einmal nur um mich gehen. Heute war einer der wichtigsten Tage meines Lebens, doch der Krieg zerstörte ihn. Wobei. Nicht der unsichtbare Krieg zerstörte diesen Moment, es war mein Vater.
Ich fühlte wie mir Tränen in die Augen stiegen und meine Sicht verschleierten. Ein Kloß saß in meinem Hals und ich unterdrückte gerade noch so ein Schluchzen, als mir eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel rollte. Schnell wischte ich sie weg und setzte eine gelassene Miene auf, doch in meinem Inneren braute sich bereits ein Sturm zusammen.
Wut, Trauer und schiere Verzweiflung und Frustration wurden zu roten Blitzen welche durch meine Gedanken zuckten und jeden freundlichen Ansatz vernichteten. Ich fühlte weitere Tränen welche heiße Spuren auf meinem Gesicht zogen, doch es war mir egal. Viel zu verwirrt von den Gefühlen welche in mir tobten, versuchte ich einen kühlen Kopf zu bewahren, doch ich war viel zu aufgebracht.
Von außen musste es so aussehen, als würden mich die Worte meiner Eltern rühren, doch in Wahrheit verstand ich kein Wort. Es war so unfassbar still in meinem Kopf. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt, die Zeit verging anders, langsamer.
Ich sah mich um, doch es fühlte sich fremd an. Ich bemerkte die hunderten Lampions und die Rosen, fühlte das Gewicht meines Diadems wie eine Zentnerlast auf meinem Haupt. Ich blickte auf die Anzüge und die Kleider der Gäste, und fragte mich willkürlich ob ich so war. War ich ein Mädchen welches man in bunte Kleider steckte, der man Kronen aufzwängte und sie in einem Rosengarten losließ? Machten mich die Rüschen und die Diademe und die Lampions glücklich? Mit anderen Worten ausgedrückt: War ich wirklich eine Prinzessin, eine Königin, oder spielte ich nur die Rolle?
Ich sah die lächelnden Gesichter meiner Eltern, sah meinen applaudierenden Vater, welcher mich ansah. Ich sah die kleinen Lachfältchen, welche sich um seine stahlgrauen Augen legten.
Ich sah den ausgestreckten Arm meiner Mutter, doch ich wusste nicht was sie von mir wollte. Ihre vollen, roten Lippen bewegten sich als sie zu mir sprach, doch ich konnte nicht hören was sie sagte. Ihre Hand öffnete und schloss sich einige male, bis ich verstand was ich tun sollte.
Wie in Trance erhob ich mich und griff nach der flachen Hand der Königin, doch sobald sich meine Fingerspitzen über ihre glatte Haut schoben, hörte ich so leise, ob ich mich fragte ob ich es mir nicht nur eingebildet hatte, ein knacken wie von Porzellan. In diesem Moment wusste ich, dass etwas in mir unwiderruflich zerbrochen war.
Verloren stand ich auf der ersten Stufe des Pavillon und starrte den Gang entlang. Die Gäste starrten derweilen mich an.
Meine Sinne waren noch immer wie betäubt, ich konnte nichts anderes tun als zu starren, und zu starren, und zu starren. Ich wusste nicht wie lange ich so dastand, und mich nicht bewegte.
Sollte ich etwas sagen? Doch ich wusste nicht was, meine Zunge klebte an meinem Gaumen, und meine Lippen verweigerten mir ihren Dienst.
Plötzlich regte sich etwas. Ein Mann schritt den Gang entlang. Er sah jung aus, doch taten dies nicht alle Vampire? Seine Augen fixierten mich. Sein helles Haar wippte bei jedem Schritt mit, und nach einer kleinen Ewigkeit, kam er endlich vor mir zum stehen. Er verbeugte sich etwas zu tief, und drückte mir einen Kuss auf die Hand. Ich spürte die Berührung nicht, doch ich sah sie.
Plötzlich fiel mir sein Name wieder ein. In dunklen Zimmern hatten meine Eltern über ihn gesprochen. Chase.
Er drehte mir den Rücken zu, und seine schmalen Lippen bewegten sich, als er sich zu meinem Volk wandte. Einige lachten, andere schmunzelten, und wieder andere starrten mich einfach nur weiterhin an, und verzogen keine Miene.
Er trat zu mir in den Pavillon und kniete sich vor mir nieder, ganz so als wolle er mir einen Antrag machen, doch seine Hände schlossen sich stattdessen um meine eigenen, und er führte das Geflecht aus unseren Fingern an seine Stirn. Seine Augen schlossen sich, und er hielt den Atem für einige Sekunden an, bevor er sichtlich erschrocken vor mir zurückwich und immer wieder murmelte: „Sie ist eine Ungelistete“.
Seine Worte rissen mich aus meiner Trance. Auf einmal waren die Farben satter, die Geräusche lauter und ich spürte wie meine Stimmbänder wieder in Betrieb traten.
Sie ist eine Ungelistete. Die Worte sprangen in meinem Schädel hin und her. Die Ungelisteten Vampire ließen sich nicht in Adelsgruppen unterteilen. Ihre Kräfte waren einzigartig, und somit gefährlich. Als ungelisteter Vampir hatte man nahezu keine Chancen auf ein soziales Leben.
Der Geräuschpegel stieg an, lautstark versuchten Adelige ihren Standpunkt klar zu machen. „Sperrt sie ein!“, „Tötet sie!“, „Ungeheuer!“.
Ihre Worte trafen mich tief, tiefer als sie sollten. Ich krümmte mich etwas, versuchte jedoch trotzdem meine Maske aufrechtzuerhalten, doch zum ersten mal in meinem Leben spürte ich, wie das feinsäuberliche Konstrukt meiner Persönlichkeit, welches ich mir über so viele Jahre mühevoll erarbeitet hatte, Risse bekam. Als dann auch noch meine Eltern zu mir traten und mir ihre Hände auf die Schultern legten, war es vorbei mit meiner Selbstbeherrschung.
Ich gab meinem Fluchtinstinkt nach, machte mich aus den Umklammerungen meiner Eltern frei und stürmte an den Bänken vorbei in den Garten.
Ich hörte das flüsterzarte Echo meines Namens auf ihren Lippen, doch ich drehte mich nicht um.
Dornen zerrten an meinen Kleidern und rissen die feine Seide in Fetzen. Ich fühlte wie sich einzelne Strähnen aus dem Haarknoten auf meinem Kopf lösten, und durch die Tränen an meinem Gesicht kleben blieben. Ich machte mir nicht die Mühe sie wegzustreichen.
Meine Füße trugen mich immer weiter vom Pavillon weg.
Weg von meinen Eltern.
Weg von den Vampiren.
Weg von Chase.
Irgendwann änderte sich der Boden unter meinen nackten Füßen. Gras wurde zu Stein, und Stein zu weichem Teppich. Statt blauem Himmel und Schäfchenwolken, umgaben mich nun die kalten, und mir so unendlich vertrauten Gemäuer von Schloss Kalik.
Ich rannte immer weiter, huschte wie ein Schatten immer tiefer ins Labyrinth aus staubigen Gängen und Dunkelheit, bis ich vor Judys Gemächern zum stehen kam.
Verzweifelt und den Tränen erneut nahe, schlug ich auf die Tür ein. Gerade als ich ein verdächtiges knacken hörte, riss meine beste Freundin mir die Tür auf.
In ein Handtuch gewickelt und mit klatschnassen Haaren schaute sie mich keine Sekunde an ehe sie mich zu sich zog und die Tür zurück ins Schloss knallte. „Wer war es? Ich mach sie fertig.“, tobte sie, während ich wie ein Häufchen elend auf der Couch saß und sie beobachtete.
In diesem Moment war sie mehr Raubtier als Mensch. Nungut, Menschen waren wir definitiv keine, doch unsere Rasse hatte die Wildheit die der eines Raubtieres ähnelte schon lange abgelegt. Zumindest die meiste Zeit über.
„Niemand hat irgendetwas getan“, ich wusste nicht ob ich die Worte laut aussprach oder sie nur dachte, doch Judith blieb stehen und musterte mich für einen Augenblick.
„Was ist denn passiert? Wie siehst du überhaupt aus und wo sind deine Schuhe?“, ihre Stimme nahm einen alarmierenden Unterton an, doch ich war für einen moment zu sehr mit der Frage über meine Schuhe beschäftigt. Ich musste sie tatsächlich irgendwo verloren haben.
„Ich bin eine Ungelistete“, hauchte ich beschämt. Auf mein Geständnis folgte minutenlange Stille welche den Raum dominierte. Ich sah kein einziges mal unter meinen verklebten Wimpern auf, doch ich wusste, dass sie mich anstarrte. Ihr Blick schien mich nahezu zu durchbohren.
„Sag das nochmal“, ein harscher Befehl, kein Mitgefühl, absolute Kälte, welche ich von ihrem sonnigen Gemüt nicht gewohnt war.
In mir zog sich alles zusammen, mein Körper weigerte sich die Worte ein weiteres mal herauszupressen. „Sag das nochmal!“, schrie sie mir entgegen und schüttelte mich an den Schultern.
Eine Erinnerung zuckte durch meine Gedanken. Mein Vater der vor mir stand, und mich mit erhobenem Zeigefinger anbrüllte. Ich hatte Blumen gepflückt. Rosen um genau zu sein. Ich wollte sie der Königin schenken, doch diese war überhaupt nicht erfreut darüber, dass ich ihre Lieblingsblumen zerstört hatte.
Ich sei ein unnützes Kind, warf er mir vor. Selbstsüchtig und egoistisch, würde keine Sekunde nachdenken, bevor ich alles zerstörte.
Ich erinnere mich noch allzu gut an die heißen Tränen und das Loch welches seine Worte in mein kindliches Herz gerissen hatte.
„Ich bin eine Ungelistete“, würgte ich genauso leise wie zuvor heraus.
Ich konnte die Emotionen welche sich in Judiths Augen widerspiegelten nicht deuten, als sie mich losließ, ganz so, als hätte meine Berührung sie verbrannt. Sie taumelte ein paar Schritte zurück, und musterte mich von Kopf bis Fuß, ohne etwas zu sagen.
Ihr anhaltendes Schweigen verletzte mich mehr als Worte es je könnten. Ich hatte mit vielen negativen Reaktionen gerechnet, ja sogar mit Beleidigungen, doch niemals hätte ich dieses Verhalten von Judy, meiner besten Freundin seit Kindertagen, gerechnet.
Die Judy, die mir während meines ersten Liebeskummer den Rücken gestreichelt hatte, die Judy, mit der ich nachts in die Bibliothek eingebrochen war, die Judy, die eigentlich immer für mich da sein sollte. Doch sie war es nicht.
Ihr Schweigen glich einem Hochverrat an unserer Freundschaft. Ein siedend heißer Stich fuhr in mein Herz, während Eiswasser durch meine Adern floss, mich betäubte, mir jegliche Gefühle nahm. Doch der Schmerz blieb, und es war der schlimmste Schmerz, den ich je gefühlt hatte. „Ich verstehe.“, meine Stimme zitterte, als ich mich langsam erhob. Judith starrte mich nur an. Blieb stumm.
Ich kehrte ihr den Rücken, lief auf die Tür zu, und dann endlich, als meine Hand auf der rauen Oberfläche ihrer Tür lag, sprach sie. „Bree“, sie hörte sich gequält an, so als hätte ich ihre Seele gerade in tausende Teile zerschmettert. War sie nicht selbst eine Unreine, eine Verstoßene, eine Ungelistete?
Aus Schmerz folgte Zorn, das war gut. Zorn war immer besser als dieser unendliche Schmerz welcher in meinem Inneren pochte.
Ich drehte mich nicht um, sah sie nicht an, als die nächsten Worte über meine Lippen kamen, welche wohl das grausamste waren, was ich je sagen würde. „Eure Hoheit, ich bin deine Prinzessin.“, meine Stimme war klar, obwohl meine Seele erneut zerschmettert wurde, und sich in Abermillionen Partikeln in meinem Inneren ergoß.
Ich drückte die Tür auf und lief mit dem letzten Funken Würde den ich noch aufbringen würde in Richtung meiner Gemächer.
Ich lag in meinem Bett. Stunden? Tage? Wochen?; ich wusste es nicht, doch es war mir gleichermaßen egal. Judith hatte oft geklopft, mich angebettelt die Türen zu öffnen. Sie hatte geschrien und geweint, bis meine Leibwachen sie weggezerrt hatten. Irgendwann zog ich mir die schwere Decke über den Kopf und hielt mir die Ohren zu. Ich wusste, dass ich aufstehen musste. Ich wusste, dass ich mir Dreck und Tränen vom Körper waschen musste. Ich wusste, dass ich mein Haar kämmen musste, welches in fettigen Strähnen um mein Gesicht lag. Ich wusste dies alles, doch ich stand nicht auf. Ich bewegte mich keinen Millimeter, atmete nicht einmal. Meine Gedanken rasten durch meinen Kopf, spuckten schreckliche Worte aus, und verstummten anschließend für kleine Ewigkeiten. Ungelistet, unwürdig, unrein. In Dauerschleife trommelten sie gegen meinen Schädel und bereiteten mir schreckliche Kopfschmerzen. Ich massierte meine Schläfen, doch die Verzweiflung blieb. Was hieß das alles für mich? Würde ich verstoßen und enterbt werden? Würde ich auf dem großen Platz hingerichtet werden, vor einer großen, jubelnden Menge, welche mir wüste Beschimpfungen an den Kopf werfen würde? Würde mir mein eigener Vater das Herz aus der Brust reißen und es verbrennen? Auch dies wusste ich nicht. Das alles brachte nichts. Je mehr ich mir das Hirn zermaterte, desto wirrer wurden meine Gedanken. Vielleicht war es ja auch gar nicht so schlimm. Nach dem ersten Schock würden sie sich alle erholen, mein Leben wäre wie zuvor: langweilig und ungefährlich, zumindest redete ich mir dies ein, wohl wissend, dass es nicht so einfach werden würde. Auf die Trauer folgte die Verzweiflung auf welche Wut folgte, welche mich dazu verleitete mehr als ein Teeservice gegen die Wände zu schmettern. Auch meine Kommode überlebte die Begegnung mit mir nicht, ebensowenig wie meine Orchidee, welche zerfetzt auf einem Grab aus Erde lag. Haareraufend stand ich nun also dort. Dort alleine in meinem unendlich leeren Zimmer, umringt von meinen kahlen Wänden. Früher hatte ich versucht diese leere mit Kunst zu füllen, doch auch die liebevoll bemalten Leinwände lagen zerfetzt auf dem Boden. Ich bückte mich um einen von diesen aufzuheben. Tiefes blau und goldene Sprenkler starrten mich an, die ausgefransten Ränder zogen lange Fäden, welche ich mir um den Zeigefinger wickelte. Ich erinnerte mich an dieses Gemälde, ich selbst saß in stundenlanger Arbeit vor meiner geliebten Staffelei. Ich selbst hatte das Meer noch nie gesehen, doch der Roman, welchen Judith mir aus der Stadt mitgebracht hatte, beschrieb die Marineblautöne und die salzige Briese nur allzu genau, in welcher sich die Protagonistin Hals über Kopf in eine leidenschaftliche Urlaubsromanze stürzte. Ein seichtes Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als ich mich daran erinnerte, wie akribisch ich Farben auf meiner Palette mischte, bis ich endlich das Blau gefunden hatte, das Blau welches die stürmische See meiner Gedanken beschrieb. Seit Jahren ist das Bild der hohen See das Letzte was ich sehe bevor ich einschlafe, und das Erste wenn ich aufwache. Doch jetzt ist es weg. Zerfetzt und unter einem Haufen aus Chaos begraben.
Tag der Veröffentlichung: 23.08.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch mir selbst. Meinem kindlichen-Ich, welches schon immer von Büchern und Geschichten besessen war. Dieses Buch ist einer meiner Träume die mich schon seit einem guten Jahrzehnt begleiten.
Ich bedanke mich bei allen die mir geholfen haben diesen Traum zu verwirklichen und immer noch hinter mir stehen.
- Blair Linton