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Als ich meinen Schrank aufräume, fällt mir eine kleine Schmuckschachtel die Hände. Darin liegen die Totenkopfohringe, die ich vor Jahren von Markus zum ersten Jahrestag bekommen hatte. Für meine damaligen Maßstäbe, war das eine richtig lange Beziehung.

Markus und ich hatten auf meiner Abiparty zueinander gefunden. Das war zu einer Zeit, in der ich ziemlich revoluzzermäßig drauf war. Mein Abi hatte ich nur durch eine Verkettung äußert günstiger Umstände bestanden und zu meinem Look, der aus vielen Ohrringen und wenigen Klamotten bestand, paßte meine distanzierte Einstellung zu Anstrengungen jeglicher Art ganz hervorragend. Außerdem hatte ich seit dem „Crazy“ Video von Aerosmith ein Bauchnabelpiercing. Früher galt das nämlich noch als ein Zeichen ultimativer Verkommenheit.

Bei so viel Coolness hatte ich logischerweise keine Lust darauf mit den Jungs aus meiner Stufe rumzuhängen, die Arztsöhne waren und ständig graue Rollkragenpullover trugen. Ihre Revolution gegen das System bestand darin, Zigarettenkippen auf die Straße zu werfen und dabei mit der Idee zu liebäugelten im Gegensatz zu ihren Eltern nicht die FDP zu wählen. Das fand ich ganz armselig.

Markus war da anders. Der wusste noch nicht mal, dass er schon wählen durfte. Dabei war er zu Beginn unserer Beziehung schon 23. Genau diese Unverbildetheit machte ihn damals für mich unglaublich attraktiv. Genau wie die Tatsache, dass er sexuell eigentlich ständig zur Verfügung stand. Bei dem stand nämlich wirklich immer alles - und das ständig. Manchmal sogar über 15 Minuten im Eiswasserbecken der Saunalandschaft in Herten.

Das habe ich später auch mal meiner Hausärztin erzählt, die Markus dann unbedingt sofort kennenlernen wollte. Jedoch nicht um - wie ich erst vermutet hatte - über ihn herzufallen und sich an seiner Jugend zu laben. Vielmehr hatte sie mit Hilfe meiner Erzählung eine sehr gefährliche krankhafte Gefäßveränderung bei Markus diagnostiziert die unbehandelt zu irreparablen Schäden an dessen Liebesstab führen könnte. Da dieser Krankheit äußerst selten vorkommt, wollte sie mit der Dokumentation und Heilung dieses Phänomens in Fachkreisen berühmt werden. Leider konnte ich ihr aber bei diesen engagierten Plänen aber mehr nicht helfen, da ich mit Markus inzwischen Schluss gemacht hatte.

Aber damals war mit Markus Gefäßen noch alles sehr in Ordnung, was sich unglaublich beziehungsfördend auswirkte. Außerdem fühlte ich mich an seiner Seite ehrlich gesagt auch so ein bisschen Bonny und Clyde mäßig. Denn da Markus Job bei der Barmer Ersatzkasse ihn zeitlich nicht wirklich einspannte hatte er auch noch genug Möglichkeiten, sich um den Aufbau seiner Zweitkarriere zu kümmern. Er plante nämlich als Dealer für Kleinstmengen den ganz großen Durchbruch zu schaffen. Kleinstmengen deshalb, weil er nicht besonders risikobereit war.

Ich persönlich hielt diesen Plan immerhin für wahrscheinlicher als seinen beruflichen Aufstieg bei der Barmer, zumal Markus zwar den richtigen Freundeskreis für eine kleine Milieukarriere hatte aber niemals eine Führsprecher bei der Versicherung gefunden hätte. Mit genau diesem millieunahen Freundeskreis ballerte er sich gern tagelang die Birne zu; wenn es etwas härter werden sollte in Holland. Anlässlich meines neunzehnten Geburtstages durfte ich sogar einmal mitkommen, denn Markus hatte mir zu meinem Jubeltag einen Ausflug ins Tulpenland geschenkt.

Dort wollten wir mit einigen seiner Freunde in einem Coffeeshop den Freuden des Hanfrauchens legal nachgehen und dabei jede Menge Spaß haben. Leider stellte sich jedoch schon nach wenigen Kilometern auf der A40 heraus, dass ich aber gar nicht mitrauchen können würde. Es wollten sich nämlich alle Mitreisenden einschließlich des Fahrers einen paffen - und der Fahrer war Markus. Fairerweise muss ich immerhin zugeben, dass sich mein gehirnschwacher Freund, der schon im nüchternen Zustand einer der schlechtesten Autofahrer der Welt war zumindest anbot auch die Rückfahrt zu übernehmen. Da ich aber nicht wirklich erleben wollte, was passieren würde wenn der schlechteste Autofahrer der Welt nach dem Genuss von zwei Kilo schwarzer Afghane zum Lenkrad greifen würde, war schon kurz nach dem Beginn unseres Ausflugs klar, dass ich die Jungs wieder nach Hause fahren muss. Happy Birthday!

Der gewählte Coffeeshop erwies sich als echter Geheimtipp und so hatten auf der Rückfahrt alle beste Laune. Nur ich war aus nahe liegenden Gründen schlecht drauf. Beherzt trat ich deshalb aufs Gas, weil ich meine bekifften Mitreisenden möglichst schnell wieder im schönen Ruhrgebiet abzuladen und Markus genau eine Sekunde später zur Sau machen wollte. Dass ich es damit wohl etwas zu eilig gehabt hatte, erkannte ich erst, als ich im Rückspiegel des Opel Kadetts die Blaulichter der Polizei sah.

Nur Sekunden nachdem ich meine Mitreisenden auf unsere beharrlichen Verfolger aufmerksam gemacht hatte, kam Leben in den alten Kadett: Wo sich vor Augenblicken noch vollgeknallte Berufsjugendliche ihren berauschten Visionen hingegeben hatten, war die Realität jetzt jäh zurückgekehrt. Die Realität und die Angst vor dem Strafmass, das verhängt wurde wenn man beim Schmuggel von zwei Kilo Marihuana erwischt werden würde, denn genau soviel hatten wir offensichtlich im Auto. Die Zeit, mir die gegebene Situation schonend und angemessen zu erklären war wegen des sich ständig verringernden Abstandes zu dem holländischen Streifenwagen einfach nicht gegeben und so erfuhr ich nur in hastig vorgebrachten Worten von unserer wertvollen Fracht und unserer bedrohten Freiheit.

Es war unfassbar. Ich war 19 und hatte gerade meinen Führerschein gemacht. Doch während ich mich zwei Minuten zuvor nur in der Gefahr wähnte, diesen wegen beharrlicher Geschwindigkeitsübertretung sofort wieder zu verlieren war ich nun – so erfuhr ich ebenfalls von meinen Mitreisenden - nah an einer mehrjährigen Gefängnisstrafe. Obwohl ich die damals wahrscheinlich wirklich verdient hätte, allerdings für meine grenzenlose Naivität. Denn das Ganze konnte natürlich nur passieren, weil ich weltfremd genug gewesen war, um Markus zu glauben, dass wir ü b e r h a u p t nichts mitnehmen würden. „Zwei Kilo,“ erklärte mir die Gen-Null, während ich ihn mit genau diesem Vorwurf konfrontierte und blickte mich aus blutroten Augen im Rückspiegel an: “Zwei Kilo. Das ist doch nichts.“

Eine Gefängnisstrafe war für ihn vermutlich auch „nichts“. Bei ernsthafter Betrachtung seiner Person war sowieso davon auszugehen, dass er früher oder später mehrere seiner Lebensjahre mal hinter Gittern verbringen würde. Jedoch nicht, weil er bei einem superintelligent eingefädeltem Diamantenraub hops genommen werden würde, bei dem unglücklicherweise ein höchst unwahrscheinliches und völlig außerhalb der ernsthaft zu erwägenden Möglichkeiten liegendes Detail schief gegangen war. Für viel wahrscheinlicher hielt ich es, dass er von irgendeinem seiner „Freunde“ mal wieder nach Strich und Faden verarscht werden würde und dann jahrelang eingesperrt in einer winzigen Zelle darüber nachdenken könnte, was denn wohl falsch gelaufen sei. Selbstverständlich ohne es jemals herauszufinden!

Da ich mir jedoch zu diesem Zeitpunkt aber noch eine ruhmreiche Laufbahn als Deutschlands härteste Scheidungsanwältin ausmalte, hatte ich keine Lust, meine engagierten Karrierepläne durch einen Gefängnisaufenthalt unnötig zu verzögern. Deshalb sah ich nur noch einen Ausweg und trat aufs Gas - und das feste. Ich war auf der Flucht und damit hatte ich bisher recht wenig Erfahrung was das einzige war, dass ich mit meinen eventuell- bald- Mitangeklagten teilte. Im Wagen war natürlich bereits Panik ausgebrochen.

Nur Nikolai, ein stark übergewichtiger Freund von Markus aus Weißrussland der offiziell sein Geld als Baggerfahrer und Teilzeitkraft in dem erfolglosesten Tätowierstudio der Welt verdiente, schien immer noch wortlos auf dem Beifahrersitz seinen Rausch zu genießen. Doch plötzlich nutzte er das vorherrschende Chaos und riss die Kontrolle über das Fluchtauto an sich indem er mir entschlossen ins Lenkrad griff. So zwang er mich zu waghalsigen Überholmanövern und Zick-Zack- Kursen zwischen friedlich über die Autobahn tuckernden Holländern mit Wohnwagenanhängern und hielt mich mit irrem Blick auch noch dazu an das Gaspedal voll durchzutreten. Derart verängstigt folgte ich seinen wahnsinnigen Anweisungen. Was hatte ich denn schon zu verlieren außer meinem Leben, denn von meiner Freiheit hatte ich mich innerlich schon längst verabschiedet. Immerhin bestand durch Nikolais beherztes Eingreifen die minimale Chance meine Karriere als Staranwältin unbehindert anpacken zu können.

Diese höchst attraktive Aussicht verlieh mir neue Kraft: An der nächsten Autobahnausfahrt vollbrachten Nikolais Hände am Lenkrad und mein rechtes Bein auf dem Gaspedal in perfekter Abstimmung einen absolut suizidtauglichen Fahrbahnwechsel über drei Spuren. Gemeinsam meisterten wir noch eine scharfe Rechtskurve, dann rasten wir mit ungefähr 180 km/h von der Autobahn. Das war ein Wert der immer noch weit unter meinem aktuellen Pulsschlag und grob geschätzte 130 Punkte über dem IQ von Markus lag.

Der wähnte sich bereits wieder in Sicherheit und meldete sich nun mutig von der Rückbank aus zu Wort. Seine lallenden Worte verfolgen mich noch heute: “Siehste Baby, ist ja alles wieder gut gegangen. Bist echt immer voll unentspannt. Supergeil wieviel Kohle wir mit dem Gras machen können. Gut, dass Die Bullen uns das nicht weggenommen haben. Sonst hätten wir morgen ja noch mal fahren müssen und da wollte ich eigentlich zum Fußball.“

Das war der Zeitpunkt, an dem ich dann keine weiteren Fragen mehr hatte. Deshalb hat es mich auch nie wirklich gewundert, dass Markus von dem Geld, das man ja angeblich „ganz leicht“ mit dem supergewinnreichen Verkauf unseres Schmuggelgutes machen könnte nie etwas gesehen hat. Der wurde eben einfach immer verarscht.

Aber die Gefäße, die waren top in Ordnung. Bei Markus...


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Tag der Veröffentlichung: 02.02.2009

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