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Prolog

 Prolog

Heute bin ich ein alter Mann, dem man die Last seines, viel zu lang andauernden Lebens ansehen kann und der, so hoffe ich, bald seinem Schöpfer gegenübertreten wird. Deshalb schreibe ich diese Zeilen, als Warnung für alle, die mir nachfolgen werden. Ich habe lange geschwiegen, aber, es war auch, Gott Lob, nicht von Nöten, über all die Dinge zu sprechen, die mir seit Jahren durch den Kopf gehen. Ich bin immer der Meinung gewesen, dass das, was ich mit meinem Freund, Andreas, in meiner Jugend erlebt habe, nur uns etwas anginge, und ich wollte, genau, wie er mein Geheimnis mit ins Grab nehmen. Doch nun ist mir klar geworden, dass die Geschehnisse, von denen ich nun zu berichten gedenke, viel zu wichtig sind, als dass sie in Vergessenheit geraten sollten. Es werden vielleicht Zeiten folgen, Gott gebe, dass es nicht so ist, in denen mein Wissen von Nutzen sein könnte. Ich hatte das unsagbare Glück, jemanden kennen zulernen, der mir in der schwersten Zeit meines Lebens beistehen konnte. Ich hoffe nur, dass, wenn es einmal so weit kommen sollte, auch meine Nachfahren jemanden finden, der ihnen in dieser schweren Zeit helfen kann. Andreas, ich habe die Hoffnung, dass wir uns bald wieder sehen, denn lange wird es nicht mehr dauern und ich folge dir dorthin, wo du jetzt bist.

Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden, so auch die meinen. Die Narben verblassen, aber sie verschwinden niemals vollkommen. Auch meine Narben sind verblasst, jedenfalls die Äußeren. Aber, die in meinem Innern ist, nach wie vor, trotz der endlosen Zeit, die seither vergangen ist, genauso schmerzhaft, wie zu Anfang.

Ich möchte meinen geliebten Nachfahren dieses unsagbare Leid ersparen. Meine Kinder sollen diese Erfahrung nicht machen müssen. Es reicht, dass sie mich beherrschten. Deshalb bin ich auch, nach all den Jahren, endlich bereit, die Geschehnisse von damals zu Papier zu bringen. Möge Gott geben, dass meine Zeit noch ausreicht, um sie vollständig auf diesen Seiten niederzuschreiben, damit die Nachwelt, bis in alle Ewigkeit, vor der Macht gewarnt ist, die uns einst Verderben brachte und derer wir so schwer habhaft wurden.

Kapitel 1

 Kapitel 1

Dunkelheit lag über den Bergen. Alles war in tiefes Schwarz getaucht. Selbst der Himmel, der sich in den Nächten durch seine Sternenvielfalt von der Schwärze abhob, war verhangen und lag, wie ein dunkles, schweres Tuch, über den Gipfeln des Gebirges.

Es war Frühling und normalerweise konnte man, selbst um diese Zeit, die Rufe der Eulen oder das Raunen der Baumkronen im Wind, hören. Doch nicht so heute. Es wehte kein Lüftchen und auch die Tiere hatten sich in ihren Höhlen verkrochen. Kein Wolf, kein Falke, nichts, aber auch gar nichts war zu erkennen. Es war totenstill.

Die Welt hatte anscheinend beschlossen, in Bewegungslosigkeit und Stille zu verharren, so als warte sie auf etwas.

Langsam, ganz langsam kam er zu sich. Er lag flach auf dem nackten Felsen und fror. Es war ungewöhnlich kalt für diese Jahreszeit, denn es roch nach Schnee. Er spürte die scharfen Kanten des Gesteins, die ihm in die Wange schnitten. Jeder Knochen seines Körpers schmerzte, dabei brannte seine rechte Seite, als hätte man ein Feuer darin entzündet. Vorsichtig öffnete er die Augen. Ein unerträglicher Schmerz durchzuckte ihn. Benommen ließ er die Lider wieder sinken. Sein Kopf dröhnte, während er mit geschlossenen Augen versuchte, sich zu bewegen.

Er wollte sich auf den Rücken drehen, um zu verhindern, dass das schroffe Gestein weiterhin sein Gesicht zerschnitt, aber, etwas Schweres, Hartes lag auf seinem Rücken, über dem sich seine Haut zum Zerreißen spannte. Es musste sich um einen Holzbalken oder etwas Ähnliches handeln. Seine Hände waren mit Lederriemen daran befestigt und auch seine Füße hatte man zusammengebunden.

In dieser Lage war er kaum fähig, seinen Kopf zu drehen, geschweige denn, seinen ganzen Körper. Er riss mit den Händen leicht an den Fesseln, doch bei jedem Versuch schnitten sie ihm nur noch tiefer ins Fleisch. Sinnlos dachte er.

Erst jetzt bemerkte er etwas Warmes, Feuchtes, das ihm, von der Stirn, über seine Nase und Mund, das Kinn hinunterlief. Behutsam fuhr er mit der Zunge über seine Lippen. Sie waren kalt, obwohl die Flüssigkeit, auf ihnen, warm war. Blut!, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Blut! Er stöhnte leise.

Leichter Schneefall setzte ein und er zitterte. Nun vollkommen wach öffnete er abermals seine Augen. Er wollte auf keinen Fall noch einmal einschlafen, deshalb zwang er sich, gegen die Schmerzen anzukämpfen und seine Augen offen zuhalten.

Zunächst sah er verschwommen, dann allmählich konnte er seine Umgebung klarer erkennen. Ein Feuerschimmer erhellte, von irgendwoher, einen Teil seiner Umgebung und ließ dunkle Schatten, die wie gefräßige Dämonen wirkten, auf den nackten Felsen tanzen. Es mussten also Menschen in seiner Nähe sein. Er zog seine Beine vorsichtig an und schob sie unter seinen Körper. Ein stechender Schmerz in seiner rechten Seite durchzuckte ihn. Benommen schloss er die Augen, holte tief Luft und blieb in dieser Stellung liegen. Nachdem er wieder halbwegs klar denken konnte, fuhr er mit der Bewegung fort und rollte sich nun vollends auf die Seite.

Endlich konnte er nicht nur den nackten Felsen sehen. Seine Kleidung hing in Fetzen an seinem Körper und auf der rechten Seite, in der Höhe seines Nabels, verfärbte ein dunkler Fleck sein vormals weißes Hemd. Wahrscheinlich kam der Schmerz von einer Verletzung an dieser Stelle.

Aber, was war geschehen? Er versuchte, sich zu erinnern. Wer war er? Nichts! Sein Name wollte ihm einfach nicht mehr einfallen. Auch, der Zustand, in dem er sich befand, war ihm völlig unerklärlich. Was wusste er überhaupt noch?

Da war etwas! Etwas Seltsames! Ein Gesicht, das von kupferfarbenen Locken umrahmt wurde. Die Haut schimmerte wie Elfenbein in der Sonne. Ein dunkelgrünes Gewand, das den Ton der Haut nur noch mehr hervorhob. Wangen gerötet, wie die eines Pfirsichs. Aber, das Faszinierendste waren diese smaragdgrünen Augen, die er, wie hypnotisiert anstarrte. Sie versanken förmlich in seinem Blick, so als wollten sie in ihn hinein sehen. Nichts schien ihnen zu entgehen, weder seine Gedanken noch seine Seele. Das Merkwürdige daran war jedoch, dass er es geschehen ließ, scheinbar sogar genoss.

Wer war diese Frau? Und eine Frau war es mit Sicherheit. Selbst, wenn er es gewollt hätte, was allem Anschein nach nicht der Fall war, er hätte ihrem Blick nicht ausweichen können. Sie lächelte und öffnete den Mund, als wollte sie etwas zu ihm sagen. Doch stattdessen küsste sie ihn. Oder war er es, der sie küsste? Er meinte, ihre weichen Lippen und die Wärme ihrer Nähe noch immer auf seiner Haut zu spüren, als ein dumpfes Lachen aus der Ferne ertönte. Das Bild verschwamm vor seinen Augen und holte ihn zurück in die raue Wirklichkeit. Er sah nur noch die Dunkelheit und die tanzenden Schatten des Feuers.

Kam dieses Lachen aus seiner Erinnerung, oder war es Realität? Wenn er es wirklich gehört hatte, dann musste es, von den Leuten, die dort in seiner Nähe das Feuer entzündet hatten, zu ihm herüber geweht sein. Vielleicht waren sie ja diejenigen, denen er seine jetzige Lage verdankte. Aber, wieso saßen sie dann so weit abseits, und ließen ihn auf den nackten Felsen liegen? Wenn er ihr Gefangener war, warum wurde er dann nicht bewacht? Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. Wie lange lag er eigentlich schon hier? Wieder versuchte er, sich zu entsinnen.

Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war, seiner Meinung nach, die untergehende Sonne, die hinter den Gipfeln der Berge verschwand. Jetzt war es tiefste Nacht. Es waren demnach Stunden vergangen. Kein Wunder, dass man ihn so achtlos liegen ließ. Oder war es vielleicht Absicht? War es ihnen egal, was aus ihm wurde? Wollten sie ihn einfach seinem Schicksal überlassen? Wenn die Männer, oder, wer auch immer dort am Feuer saß, diejenigen waren, die ihn hierher gebracht hatten, dann wussten sie auch von seinen Verletzungen. Vielleicht sollte er ja hier in dieser unwirtlichen Umgebung erfrieren oder verbluten. Aber, warum? Was, in Gottes Namen, hatte er getan, um solch eine Strafe zu verdienen? In seinem Kopf hämmerte und pochte es.

Der Schnee tanzte nun in dicken Flocken zur Erde. Eine dünne Schneeschicht überzog bereits seinen Körper. Etwas schien unaufhörlich tiefer in sein Fleisch zu dringen, sodass ihm das Atmen immer schwererfiel. Auch das Brennen und Stechen in seiner Seite wurde heftiger. Erneut stöhnte er leise. Es hatte keinen Sinn, sich weiterhin das Gehirn zu zermartern. Er konnte sich sowieso an nichts Wichtiges erinnern. Alles um ihn herum, drehte sich. Sein Magen verkrampfte sich, was seinen Zustand nur noch unerträglicher machte. Seine Lider wurden schwer wie Blei. Immer wieder fielen sie ihm zu. Zunächst versuchte er noch dagegen anzukämpfen, denn er wusste, dass er, wenn er in diesem Moment das Bewusstsein verlor, vermutlich erfrieren würde. Er wollte nicht sterben. Noch nicht! Nicht jetzt! Bitte, großer Gott, lass mich jetzt noch nicht sterben! Ich habe noch so viele Dinge zu klären!

Er hielt sich noch eine Zeit lang gewaltsam wach, doch die Kälte breitete sich unbarmherzig in seinem Körper aus. Seine Arme und Beine waren mittlerweile taub. Auch ließ der Schmerz langsam nach und machte einer unendlichen Müdigkeit Platz. Hatte es überhaupt Sinn, sich gegen sein Schicksal aufzulehnen? Wenn dies das Ende war, dann musste er es akzeptieren, ob er wollte oder nicht.

Gott, dachte er, wenn es dich gibt, dann mach, das es schnell vorüber ist. Hab Erbarmen mit mir. Ich begebe mich in deine Hände, denn, was auch immer ich getan habe, du wirst mir vergeben. Dein Wille geschehe.

Dann schloss er erschöpft seine Augen, hieß die Dunkelheit willkommen und ließ sich erneut in die tiefe Bewusstlosigkeit zurückgleiten, aus der er nur kurz erwacht war, mit der Gewissheit, wohl möglich nie wieder aufzuwachen.

Kapitel 2

 Kapitel 2

 Rilana saß, in dicke, warme Decken gehüllt, am Feuer und starrte in die züngelnden Flammen. Sie hatten in einer Felsnische vor dem drohenden Unwetter Unterschlupf gesucht.

Hier in den Bergen war das Wetter zu dieser Jahreszeit noch höchst unberechenbar. In den Ebenen, über die sie geritten waren, hatte die Frühlingssonne schon die ersten Blütenknospen sprießen lassen und die Wiesen zeigten bereits ein zartes Grün. Doch hier, auf den schroffen Felsen des Gebirges, war der Frühling noch nicht eingezogen. Die Berggipfel wurden weiterhin von den Schneekronen des Winters bedeckt, und selbst die Tiere schienen in ihrem Winterschlaf zu verharren.

Gegen Abend hatten sie dieses Plateau erreicht. Hier gab es einen Unterschlupf für die Nacht und ein kleiner Gebirgsbach schlängelte sich durch die schroffen Felsen. Beinahe ein idyllisches Plätzchen. Doch war es wirklich so idyllisch? Es roch nach Schnee. Deshalb hatten ihre Begleiter beschlossen, die Nacht hier zu verbringen. Die vier Männer saßen etwas abseits und betranken sich nun schon seit Stunden. Sie feierten ausgelassen ihren Erfolg.

Rilanas Blick wanderte von einem zum anderen. Einen kannte sie persönlich, die anderen nur vom Sehen. Dieser eine, Archibald von Arosa, war der Waffenmeister ihrer Mutter. Sein Aussehen verriet die Anzahl der Schlachten, in denen er in seinem Leben gekämpft hatte. Er besaß nur ein Auge, das bei jeder Gelegenheit kampfes- und mordlustig aufblitzte. Das Andere, Fehlende wurde von einer schwarzen Augenklappe verdeckt. Sein Gesicht wurde von einem wild wuchernden Bart, in dem sich bereits erste graue Strähnen zeigten, bedeckt, was seine ursprünglichen Züge kaum noch erkennbar machte und seine Haare standen, wie die Borsten eines Stachelschweins in alle Richtungen ab. Alles in allem wirkte er ziemlich wild. Dennoch besaß er jedoch das volle Vertrauen ihrer Mutter, der er, wie ein dunkler Schatten folgte. Rilana aber fand ihn eher unheimlich.

Die drei anderen Männer waren ihr, vom Namen her, unbekannt. Wahrscheinlich gehörten sie zu Arosas Garde. Einer ihrer Begleiter füllte die Becher der anderen erneut mit Wein.

»Wollt Ihr auch etwas von unserem Wein? Er wird Euch, nach all der Aufregung gut tun!«, die tiefe Stimme Archibalds riss sie aus ihren Gedanken.

»Nein, danke!«, mit einem kräftigen Seufzer wickelte sie sich fester in ihre Decken. Sie war einfach noch immer zu durcheinander.

»Ich hätte besser auf Euch aufpassen sollen! Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass man Euch entführt. Es wird ein Freudenfest geben, wenn unser Bote Eurer Mutter die Nachricht Eurer glücklichen Rettung überbringt. Noch dazu, da wir ihr den Urheber Eurer Entführung gleich nachliefern!?«, in Archibalds Stimme lag ehrliche Reue. Das verwunderte sie, denn sie hatte ihn immer für einen alten, gefühllosen Klotz gehalten. »Wir werden Euch in das Stadtschloss Eurer Mutter begleiten. Sie selbst ist bereits auf dem Weg dorthin. Nachdem Ihr verschwunden wart, meinte der Großkanzler, es wäre besser so. Eure Entführung hat das ganze Land in hellen Aufruhr versetzt. Wie Ihr wisst, seid Ihr sehr beliebt«, Archibald grinste sie vorsichtig an. »Wir müssen Euch jetzt nur noch gesund und munter nach Hause bringen, damit sich alles beruhigt.«, er sah ihr tief in die Augen. Als keine Reaktion von ihr kam, wurde er ernst. »Hat Euch der Kerl auch wirklich nichts angetan?«, als sie immer noch schwieg, erhellte ein Grinsen erneut sein verwildertes Gesicht. »Ist aber auch ein ganz schön zähes Bürschchen. Hätte nicht gedacht, dass er so lange durchhält!«

Rilanas Gedanken schweiften ab. Abermals holte Archibalds Stimme sie in die Wirklichkeit zurück. »Hat ganz schön Prügel bezogen. Wehrt sich, wie ein Tiger. War gar nicht so leicht, Euch zu schützen und ihn zu überwältigen ...! Aber, jetzt wird alles wieder gut. Ihr seid in Sicherheit, unter meinem Schutz. Ich werde Euch nach Hause bringen.«, seine Worte sollten sie beruhigen, doch Rilana war alles andere als ruhig. »Habt Ihr vielleicht eine Ahnung, wer der Kerl sein könnte? Ich, jedenfalls, habe ihn noch nie zuvor gesehen und glaubt mir, er wäre mir sicher aufgefallen.« Rilana schwieg. Was sollte sie ihm antworten? Ihr Blick wanderte von Archibald zu dem jungen Mann, der in einiger Entfernung auf dem Plateau vor ihrem Unterschlupf lag. Ihre Begleiter hatten ihn, im wahrsten Sinne des Wortes, dorthin geworfen und einfach liegen lassen. Da er zu diesem Zeitpunkt bewusstlos gewesen war, und bis jetzt anscheinend sein Bewusstsein noch nicht zurück erlangt hatte, lag er noch immer in derselben Haltung, in der sie ihn vor Stunden verlassen hatten, auf dem nackten, kalten Boden. Viel Bewegen konnte er sich sowieso nicht, selbst wenn er erwachte, denn er war an einen dicken Holzklotz, wie ein Ochse an ein Joch gebunden und auch seine Füße waren gefesselt. Es schneite leicht und sein Körper war bereits mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Trotz der Entfernung konnte sie erkennen, dass er am ganzen Leib zitterte. Kein Wunder! Selbst hier am Feuer spürte sie den Hauch der eisigen Luft. Vielleicht war er doch aufgewacht. »Hört Ihr nicht? Ich habe Euch soeben etwas gefragt!« Archibald schaute sie nachdenklich an. »Ihr seit heute Abend so schweigsam! Könnt Ihr mir schwören, dass er Euch nichts getan hat?«

»Er hat mir nichts getan! Das könnt Ihr mir beruhigt glauben!« Rilana schrie die Worte förmlich. »Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist«, fügte sie leiser hinzu. Aber ich wüsste es nur zu gerne, vervollständigte sie in Gedanken den Satz und seufzte.

»Ich kann euch nicht erklären, wieso,« Archibald rückte ein Stück näher an sie heran, »aber das Ganze macht irgendwie keinen Sinn. Ich möchte wissen, woher er kommt und was er mit dieser Sache bezweckte! In unserer Umgebung schweigt er ja, wie ein Stockfisch. Hat er wenigstens euch gegenüber Andeutungen gemacht?«

»Ich habe keine Ahnung, wer er ist und warum er mich entführt hat. Wirklich nicht!«, sie antwortete völlig geistesabwesend, während sie ihren Blick weiterhin auf dem jungen Mann im Schnee richtete. »Aber, eins kann ich Euch mit Bestimmtheit sagen, spätestens morgen früh wird er mausetot sein, wenn wir ihn dort liegen lassen. Wir müssen ihn aus der Kälte ans Feuer holen.«, sie erschrak über sich selbst. »Ich glaube, meine Mutter würde es nicht gutheißen, wenn Ihr den Schuldigen als Leiche in das Schloss bringt.« Und ich auch nicht!

»Ihr habt recht«, meldete sich nun auch einer der anderen Männer zu Wort. »Wenn wir ihn, wie bisher, dort liegen lassen, wird er mit Sicherheit die Nacht nicht überstehen. Das würde uns nur den ganzen Spaß verderben. Wo wir doch noch so viel mit ihm vorhaben!« Die Männer grinsten, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus.

»Aber, sie hat recht!«, meldete sich nun auch der dritte Mann zu Wort, »selbst hier am Feuer ist es unerträglich kalt.« Archibald wurde ernst.

»Was macht Ihr euch Gedanken über diesen Hund? Hunde sind zähe Tiere. Er wird es schon überstehen!« Rilana war sich da nicht so sicher. Sie beobachtete, wie das Häufchen Elend, denn mehr war von ihrem jungen Entführer nicht übrig, seine Beine bewegte und dann leise aufstöhnte. Das war zwar ein Zeichen dafür, dass er noch lebte, aber lange hielt er bestimmt nicht mehr durch. In diesem Zustand konnte man solch eine Nacht nicht überleben.

Die Gestalt am Boden sackte nun erneut zusammen und blieb regungslos liegen. Auch die Bewegungen seines Brustkorbes wurden immer schwächer. Das war kein gutes Zeichen! Abrupt drehte sie sich zu Archibald um, während ihre Augen in die Flammen des Feuers starrten. Ihre Gedanken, aber, blieben bei dem bleichen, leblos wirkenden Mann im Schnee.

Etwas war mit ihm. Etwas, was sie sich nicht erklären konnte. Vom ersten Augenblick an. Etwas, was sie zunehmend verwirrte. Rilana dachte zurück an ihre erste Begegnung.

Es waren seine Augen. Diese strahlenden, dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, in denen man unterzugehen schien, faszinierten sie vom ersten Augenblick an. Er hieß Raoul. Soviel wusste sie. Seine Stimme war genauso fesselnd, wie seine Augen. Nicht so tief, wie Archibalds, aber mit einem weichen Unterton. Das war im Großen und Ganzen auch schon alles, was sie über ihn in Erfahrung gebracht hatte.

Es war wieder einmal so ein Abend gewesen, den sie am liebsten aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätte. Wie üblich hatte ihre Mutter zum Anlass ihrer bevorstehenden Reise nach Andrass ein großes Fest gegeben. Es war jedes Mal geradezu überwältigend. Zahllose Spielleute, Gaukler und Gäste versammelten sich an Tischen, die unter der Anzahl der gereichten Speisen fast brachen. Wein, solange bis keiner mehr stehen konnte und eine aufgesetzte Fröhlichkeit, die ihr auf den Magen schlug. Ihr war das alles derartig auf die Nerven gegangen, dass sie händeringend nach einem Vorwand gesucht hatte, schnellstmöglich zu verschwinden. Die Musik dröhnte nur noch in ihren Ohren. Die Gäste benahmen sich wie die Vandalen und zu allem Überfluss hatte sie auch noch das ungenierte öffentliche Geturtel ihrer Mutter mit deren Großkanzler, de Beriot, ertragen müssen. Schließlich hatte sie Müdigkeit und Kopfschmerzen vorgetäuscht und war dann regelrecht vor dem Treiben geflohen. Der obere Bereich des Schlosses lag ruhig im Lichtschein der wenigen Fackeln, fast so als fände nicht gerade unter ihm ein derartiges Treiben statt. Nur das leise Klirren der Kettenpanzer und Schwerter einiger weniger Wachen, die hier oben postiert waren und langsam ihre Runden zogen, unterbrach die Stille. Instinktiv atmete sie erleichtert aus, dabei verlangsamte sie ihre Schritte. Ihre Räumlichkeiten lagen am hinteren Ende des langen Korridors und, wie sie verwundert feststellte, befanden sich weder Wachen vor der Tür, noch unmittelbar in ihrer Nähe. Eine Nachlässigkeit ihrer Mutter, die in derartiger Weise bisher so noch nicht vorgekommen war. Ein weiterer Grund auszuatmen, denn in letzter Zeit fühlte sie sich durch die ständige Präsenz des Wachpersonals noch eingeschränkter und gefangener, als bisher. Ihre Verwunderung wurde noch größer, als sie die Türe zu ihren Räumen öffnete. Nicht einmal die alte Arana, ihre ehemalige Kinderfrau war anwesend. Sie war vollkommen allein. Endlich! Nach, wer weiß wie vielen Wochen hatte sie es geschafft, all ihren Aufpassern, Dienstboten und Gott weiß wem noch zu entkommen und eine Weile für sich zu sein. Glücklich ließ sie sich auf das breite Bett fallen und schloss ihre Augen. Sie erfreute sich an der Ruhe und lauschte den Stimmen der Tiere, die im Schutze der Nacht aus ihren Höhlen gekrochen waren und die Abwesenheit der Menschen genossen. Alles war so friedlich und harmonisch.

Plötzlich hörte sie etwas, was nicht zu den anderen Lauten passte und was noch schlimmer war, sie spürte, dass sich etwas in ihrer Nähe bewegte. Doch, noch bevor sie schreien konnte, legten sich warme, weiche Lippen auf ihre und verschlossen sanft ihren Mund. Eine ziemlich dreiste Vorgehensweise, wenn man bedachte, wer sie war, doch in diesem Moment vergaß sie völlig, zu denken. Sie öffnete zaghaft ihre Augen und sah in das Gesicht eines jungen Mannes. Für einen kurzen Moment gab er sie frei, grinste sie an und küsste sie dann erneut. Dabei versank sein Blick in ihren Augen. Seine Augen waren die faszinierendsten, die sie je gesehen hatte. Dunkel und unergründlich wie Bergseen, in denen sich der Mond spiegelt, mit goldenen Sprenkeln, die sie an polierten Bernstein erinnerten. Sie erwiderte seinen Kuss, ohne sich überhaupt im Klaren darüber zu sein, was sie gerade tat. Alles um sie herum schien vergessen. Nur noch der Rhythmus ihres immer lauter hämmernden Herzens war ihr einziger Bezug zur Wirklichkeit. Als er begriff, dass sie keinerlei Anstalten machte zu schreien, oder gar vor ihm zu fliehen, gab er sie frei. Er kniete neben ihrem Bett und spielte versonnen mit einer ihrer Locken, die sich aus ihren Zöpfen gelöst hatte, dabei vergrub sich sein Blick noch tiefer in ihren Augen.

»Wer seid Ihr?« Ihre Stimme klang rau. Er antwortete ihr nicht, sondern senkte stattdessen leicht seinen Blick und drehte sein Gesicht von ihr weg. »Wieso seid Ihr hier? Was wollt Ihr von mir und wie seid Ihr überhaupt hier hereingekommen?« Wieder antwortete er ihr nicht, doch es schien ihr, als hätte ihre Frage ihn irgendwie verletzt, denn die Art und Weise, wie er seine Schultern hängen ließ und die Trauer, die jetzt in seinen Augen lag, als er sich ihr erneut zuwandte, sprach Bände.

»Prinzessin, ich will euch nicht ängstigen, aber wir haben keine Zeit. Kommt!« Seine Stimme war tief, melodisch und unglaublich sanft. Sie war so von ihr gefangen, dass sie zunächst gar nicht begriff, was er eigentlich gesagt hatte. Erst als er mit seinem Finger auf den Balkon vor ihrem Fenster deutete, sie auf seine starken Arme nahm, langsam hochhob und dann zum Balkon trug, durchschaute sie, was er vorhatte. Unter heftigem Kopfschütteln und Zappeln versuchte sie ihm zu entkommen, doch er hielt sie auf seinen Armen gefangen, als wäre sie so leicht, wie eine Feder.

»Ihr seid wahnsinnig! Wie stellt Ihr euch das vor? Ich kann nicht mit euch kommen. Überall sind Wachen! Sie werden uns sofort entdecken. Lasst mich herunter! Sofort oder ich schreie, als sei der Leibhaftige hinter mir her!« Er grinste nur. »Wirklich, ich schreie hier alles zusammen, so lange, bis uns jeder im Schloss hören kann!« Wieder grinste er.

»Ihr meint, bei dem Lärm, der dort unten herrscht, würde Euch irgendjemand hören? Sogar die Wachen feiern und die wenigen, die hier oben postiert sind, werden mich nicht aufhalten. Sie haben mich vorhin nicht aufgehalten und sie werden es auch jetzt nicht tun. Wie glaubt Ihr, bin ich in Eure Räume gelangt? Vielleicht geflogen? Prinzessin, ich möchte Euch auf gar keinen Fall wehtun, nichts liegt mir ferner, aber, wenn Ihr Euch weiter wehrt, dann wird es wehtun. Macht mir also bitte keine Schwierigkeiten. Ich verspreche Euch, dass ich Euch alles erklären werde, wenn wir erst in Sicherheit sind.«

»In Sicherheit? Seid Ihr von Sinnen? Dies hier ist mein zu Hause. Wenn nicht hier, wo meint Ihr, wäre ich sonst in Sicherheit?«

»Ich möchte mit euch nicht darüber streiten.«

»Ihr schuldet mir eine Antwort!« Doch anstatt auf ihre Frage zu reagieren, eilte er auch schon auf den Balkon zu. Rilana zappelte und wand sich in seinen Armen, wie ein Fisch am Haken, doch ihr Entführer schien von ihren Anstrengungen vollkommen unbeeindruckt. Je mehr sie zappelte, desto fester hielt er sie. Als sie ihr Ziel erreichten, sah sie, dass im Unterholz, das wild unter ihrem Fenster wucherte, ein gesatteltes Pferd stand. Ohne Vorwarnung sprang er, sie immer noch fest auf seinen Armen haltend, in die Tiefe. Mit einem Ruck landeten sie auf dem Rücken des Tieres. Wie er es fertiggebracht hatte, dabei weder sie noch das Pferd zu verletzten, war ihr auch jetzt noch ein Rätsel. Anschließend ließ er sie langsam vor sich in den Sattel gleiten und legte dabei seinen Arm fest um ihre Taille. Wieder hämmerte ihr Herz, als wollte es aus ihrer Brust springen, während er sein Pferd mit einem leisen Schnalzen in Bewegung setzte und im wilden Galopp davon stob. Sie hatte nicht die leiseste Chance zu entkommen. Aber wollte sie das überhaupt noch? Er machte sie neugierig und was noch viel schlimmer war, er faszinierte sie. Aus der Ferne hörte sie noch das Klirren von Rüstungen und die aufgeregten Schreie der Wachen, die ihre Entführung bemerkten, dann waren sie auch schon in der Dunkelheit verschwunden.

Von nun an konzentrierte sich ihr Entführer nur noch auf die Flucht. Bei Tagesanbruch hatten sie bereits eine weite Strecke zurückgelegt und sie die Hoffnung auf Rettung aufgegeben, denn, obwohl ihre Entführung offensichtlich bemerkt worden war, waren nirgends Reiter oder Wachen zu sehen. Am späten Vormittag war Rilana am Ende ihrer Kräfte. Sie war müde, hatte Durst und ihr Gesäß schmerzte von dem ungewöhnlich langen Ritt.

»Haltet das Pferd an oder ich springe einfach ab! Ich brauche dringend eine Rast!« Ihr Begleiter zügelte ohne zu zögern sein Pferd, sprang hinunter und half ihr aus dem Sattel.

»Was soll das alles? Was habt Ihr mit mir vor?« Sie war wütend, dabei sah sie ihn fragend an. Er erwiderte ihren Blick, machte aber keinerlei Anstalten ihr zu antworten. »Stellt Euch nicht taub! Ich habe ein Recht auf eine Antwort!« Erneutes Schweigen. Anscheinend wollte er nicht reden, denn er grinste sie nur an. Das machte Rilana noch wütender. Sie schrie ihn an und trommelte mit ihren Fäusten auf seine Brust. »Erst verschleppt Ihr mich! Dann ignoriert Ihr mich einfach! Ich weiß nicht, was ich davon halten soll! Aber wartet nur! Die Wachen werden uns eher finden, als es Euch lieb ist! Wenn sie Euch erst einmal in ihre Finger bekommen, dann ...!«, das Grinsen in seinem Gesicht wurde breiter. Er ergriff ihren Arm und zog sie enger zu sich heran. Während er mit seiner anderen Hand sanft über ihre roten Locken strich und versonnen mit einer Strähne spielte, legten sich erneut seine Lippen auf ihren Mund. Sein Kuss war leidenschaftlich, fordernd und er kam so unverhofft, dass Rilana keinem klaren Gedanken mehr fassen konnte. Solche Dreistigkeit hatte sie noch nie zuvor erlebt. Eigentlich hätte sie ihn hassen müssen, aber irgendwie war sie selbst dazu nicht in der Lage. Er ließ sie erst los, als er merkte, dass sie sich etwas beruhigt hatte.

»Mein Name ist Raoul!« Er sah sie fragend an, als rechnete er mit irgendeiner Reaktion auf seinen Namen. Was erwartete er? Dass sie sagen würde, »schön euch endlich kennen zulernen«? Sie war so wütend auf ihn, dass sie ihn schließlich nur noch anbrüllte.

»Ihr seid also Raoul! Und, Raoul, wollt Ihr mir nun sagen, was das Ganze hier soll und was Ihr mit mir vorhabt?« Wieder bekam sie keine Antwort. Stattdessen lief er zu seinem Pferd und holte eine Wasserflasche aus der Satteltasche. Sollte sie fliehen? Aber, wohin? Erst in diesem Moment betrachtete sie ihren Entführer genauer. Raoul war jung. Sehr jung. Vielleicht vier oder fünf Jahre älter als sie selbst. Sein Körperbau war anders, als sie es von den Männern hier kannte. Er wirkte nicht plump, sondern eher, wie eine große Katze, schlank, geschmeidig und kraftvoll. Er sah auch sonst nicht aus, wie irgendein Angehöriger ihres Volkes. Hier waren die Männer meist blond oder rothaarig, mit Ausnahme Arosas, der, allerdings, auch vor Jahren aus einem fernen Land gekommen war. Raoul besaß zwar dieselben schwarzen Haare, wie Archibald, doch seine fielen in dunklen Locken bis hin zu seinen Schultern und standen nicht struppig von seinem Kopf ab, wie es bei Arosa der Fall war. Seine Haut hatte die Farbe einer Haselnuss. Entweder, weil er seine Tage vorwiegend im Freien verbrachte, oder aber von Natur aus. Sein Gesicht zierte eine schmale Nase, hohe Wangenknochen und ein voller Mund und war nicht so kantig und grob, wie bei den meisten anderen Männern. Auch trug er keinen Bart, obwohl sich mittlerweile einige dunkle Stoppeln auf seinem Gesicht zeigten, die ihm ein verwegenes Aussehen verliehen. Der junge Mann kam mit der Wasserflasche auf sie zu und reichte sie ihr.

»Es tut mir leid, dass es so kommen musste! Ich wollte das nicht, das müsst Ihr mir wirklich glauben! Ich hatte gehofft ...! Aber, leider ...!«, er sah sie eindringlich an und schwieg erneut. Dann ließ er sich neben sie ins Gras sinken und schloss seine Augen. Was musste so kommen? Was wollte er nicht? Was hatte er gehofft? Sie verstand nicht, was er meinte. Es hatte auch keinen Sinn ihn danach zu fragen, denn er machte keinerlei Anstalten die Unterhaltung fortzusetzen. Nachdem sie sich gestärkt und einige Zeit schweigend nebeneinandergesessen hatten, nahm er sie bei der Hand, hob sie auf den Rücken des Tieres, ließ sich hinter ihr in den Sattel gleiten und sie setzten ihre Reise fort.

Das Knistern eines Holzscheites holte Rilana in die Wirklichkeit zurück. Ihr Blick wanderte zu dem Plateau vor ihrem Unterschlupf. Die Schneeflocken tanzten nun wild in die dunkle Nacht hinein. Ich muss etwas unternehmen, sonst ist er in spätestens einer Stunde erfroren, dachte sie, und so einfach kommst du mir nicht davon.

»Ich glaube, er hält nicht mehr lange durch. Man sieht ihn ja kaum noch, unter der dicken Schneedecke.« Abermals drehte sie sich den Männern am Feuer zu. »Meint Ihr nicht auch, dass es allmählich Zeit wird, ihn hier ans Feuer zu holen. Mag ja sein, dass er ein elender Schurke ist, aber, ihn dann einfach im Schnee verrecken zu lassen, ist auch keine Lösung!« Archibald zog eine ernste Miene. Er betrachtete nun ebenfalls die leblos wirkende Gestalt im Schnee.

»Ihr habt recht! Es ist zwar eine Lösung, aber, ich glaube auch, dass sie nicht die Beste ist. Wir sind es Eurer Mutter schuldig, den Kerl lebend abzuliefern. Werfried, Friedward! Holt ihn her!« Die beiden angesprochenen Männer erhoben sich widerwillig von ihren Plätzen und trotteten hinaus in die dunkle Nacht.

»Ich, an Eurer Stelle, würde ihn verrecken lassen, oder eigenhändig erwürgen!«, das kam von dem vierten Mann.

»Und den Schergen die Arbeit abnehmen?«, Archibald fiel ihm ins Wort. »Ich jedenfalls habe keine Lust, auf unserer gesamten weiteren Reise eine Leiche mitzuschleppen. Wir werden bestimmt noch Tage unterwegs sein, da sie,« er deutete auf Rilana, »jetzt bei uns ist. Ein Toter würde uns nur noch mehr aufhalten! Bis zur Stadt ist es noch ein langer Weg.« Rilana horchte auf. Archibald erwähnte es ja schon einmal, dass sie sich gar nicht auf dem Weg zurück zu ihrem Wintersitz befanden. Ihre Mutter war bereits nach Andrass aufgebrochen. Die Stadt lag aber einige Tagesritte nördlich von Barwall, ihrem Wintersitz, entfernt, und deshalb würde sie wahrscheinlich noch über eine Woche mit den Männern verbringen müssen.

»Ich freue mich schon auf das Spektakel! Es wird bestimmt eine öffentliche Hinrichtung geben. Die letzte Große ist ja schon einige Jahre her. Solch eine Gelegenheit ergibt sich bestimmt nicht noch einmal!« Das war zum wiederholten Mal der vierte Mann. »Hoffentlich lässt die Königin sich etwas Schönes einfallen! Vielleicht eine Vierteilung oder eine Ausweidung oder Ähnliches. Diesmal muss Blut fließen. Viel Blut. Das ist sie uns einfach schuldig. Sie wird eine öffentliche Aburteilung stattfinden lassen und sie wird sie auch ausführen müssen.« Rilana war über die Begeisterung, die in seinen Worten lag, so erschrocken, dass sie angewidert ihr Gesicht verzog. Ihr war zwar bewusst, dass ihre Mutter in Hinblick auf ihre Tochter keinen Spaß verstand, dennoch hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht daran gedacht, dass ihr Entführer öffentlich hingerichtet werden könnte. Kerkerhaft oder Sklaverei, vielleicht, aber direkt Vierteilen oder Ausweiden? Diese Dinge geschahen hier nur ganz selten. Sie jedenfalls konnte sich nur an ein einziges dieser Schauspiele erinnern. Man musste auch schon ein außergewöhnlich schweres Verbrechen begangen haben, um solcherlei Strafe zu verdienen und ihre Entführung empfand sie, weiß Gott nicht, als so abscheulich, denn, was hatte er ihr im Großen und Ganzen denn schon angetan? Rein gar nichts! Außer, dass er die Dreistigkeit besessen hatte, mitten in der Nacht, in ihre Räume einzudringen und sie zu verschleppen. Ansonsten war nichts, aber auch gar nichts vorgefallen, was derartige Maßnahmen rechtfertigen würde. War sie wirklich so naiv?

»Sie erinnerte sich noch gut an die Verhandlung, bei der sie hatte anwesend sein müssen. Sie war gerade 13 Jahre alt geworden. Viele hochgestellte Adelige, unter anderem auch den Onkel ihres Vaters, hatte man tot aufgefunden. Alle hinterrücks auf die grausamste Weise ermordet. Einige Berater ihrer Mutter waren diesem Treiben ebenfalls zum Opfer gefallen. Der Schuldige wurde in den Gerichtssaal geführt. Er stand vor ihrer Mutter und dem Großkanzler, ohne den geringsten Anflug von Reue. Auch sonst machte er nicht den Eindruck, als bedauerte er die Vorfälle. Im Gegenteil. Die Schwere der Anklage ließ ihn völlig kalt. Er wirkte vollkommen teilnahmslos. Jetzt, im Nachhinein betrachtet, war sich Rilana sicher, dass irgendetwas mit diesem Mann nicht gestimmt hatte. Raoul hatte zwar genau wie er, zu allem geschwiegen, aber ihr Entführer hatte wenigstens auf seine Art irgendwie reagiert. Dieser Mörder hingegen war völlig unbeteiligt. Er spielte mit einer Kordel seines Hemdes, während sein Blick starr auf den Baldachin über dem Thron ihrer Mutter, gerichtet war. Im Nachhinein erschien es ihr, als wäre sein Körper zwar anwesend gewesen, aber sein Geist ...! Je mehr sie jetzt über diese Sache nachdachte, desto weniger konnte sie sich das alles erklären. Wäre sie diejenige gewesen, die man angeklagt hätte, sie hätte mit aller Macht versucht, sich herauszureden. Sie hätte vermutlich solange beteuert und bereut, bis man ihr geglaubt und von einer Verurteilung abgesehen hätte. Nicht so dieser Mann. Seine leeren Augen starrten unentwegt auf ihre Mutter. Dann lachte er. Es war das Lachen eines Wahnsinnigen, hysterisch und schrill.

Rilana konnte sich noch gut an das damalige Urteil erinnern, denn es war das letzte seiner Art seit nunmehr 4 Jahren. Ihre Mutter hatte ihn, zu einem schnellen Tod durch das Beil verurteilt. Als die Wachen den Verurteilten damals aus dem Saal führten, hallte sein krankes Lachen noch immer durch den Raum. Er leistete keinen Widerstand, denn er schien überhaupt nicht zu begreifen, was eigentlich vor sich ging. Selbst als man ihn auf das Schafott führte, zeigte er keinerlei Regung. Nicht einmal als sie ihn auf den Richtblock banden, zeigte er Angst. Es war geradezu unheimlich, mit welcher Gelassenheit dieser Mann seinem Tod ins Auge blickte. Rilana war bei der Hinrichtung nicht anwesend. Sie entzog sich solchen Schauspielen. Ihr war aber durchaus bewusst, dass sie, wenn sie einmal den Platz ihrer Mutter einnahm, sich nicht mehr weigern konnte, solchen Dingen beizuwohnen. Wollte sie den Männern nun Glauben schenken, dann stand die Nächste unmittelbar bevor und dieser würde sie sich nicht so leicht entziehen können, denn immerhin betraf das Verbrechen sie selbst.

Damals nach der Hinrichtung war Rilana zu ihrer Mutter gelaufen. Sie hatte gehört, wie in anderen Ländern mit derartigen Verbrechern umgegangen wurde, und wollte nun wissen, warum es bei ihnen anders war. Ihre Mutter antwortete damals:

»Gib den Menschen die Möglichkeit, sich gegenseitig zu zerfleischen und sie werden es auf der Stelle tun. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Merk dir das gut, Kind. Du musst lernen, nicht ein Wolf unter ihnen zu werden, sondern ihr Rudelführer. Sie brauchen alle jemanden, der ihnen sagt, was zu tun ist, ohne Wenn und Aber. Wenn du sagst: Lauf, dann müssen sie laufen. Wenn du sagst: Spring, dann müssen sie springen. Wenn du aber sagst, töte, dann töten sie. So einfach ist das. Es gibt Länder, in denen die Herrscher vergessen haben, was es heißt, zu herrschen. In diesen braucht das Volk Abschreckung, Ablenkung und Erheiterung. Das wird durch diese Schauspiele erreicht. Bei uns ist solch ein Vorgehen nicht von Nöten.« Rilana verstand zu jener Zeit nicht genau, was ihre Mutter damit meinte, aber, heute hatte sie etwas erlebt, was sie an diese Worte erinnerte. Es stimmte schon, dass es Menschen gab, die Gefallen daran fanden, andere zu quälen und zu demütigen. Die Tatsache, dass sie jedoch auch in ihrem Land existierten, hatte ihr aber einen solchen Schock versetzt, dass er ihr auch jetzt noch in den Knochen steckte.

Wie dem auch sei, bis zu Raouls Verurteilung oder Hinrichtung blieb ihr noch etwas Zeit. Irgendwie würde sie schon das Schlimmste verhindern. Oder hätte sie ihn besser im Schnee erfrieren lassen sollen? Um ihre trüben Gedanken fortzuwischen, fuhr sie sich mit der Hand durch ihre Haare. Sie musste einfach hoffen, dass ihr etwas einfiel, um wenigstens sein Leben zu retten.

Die beiden Männer erreichten jetzt die fahle Gestalt auf dem Plateau und zogen sie ruckartig in die Höhe. Werfried und Friedward schleiften den reglosen Körper durch den Schnee, hin zu ihrem Unterschlupf. Dort angekommen ließen sie ihn, wie einen Mehlsack auf den Boden fallen. Aufgrund seiner Lage, gefesselt und noch immer oder schon wider bewusstlos, prallte Raoul mit einem dumpfen Schlag auf den harten Steinboden. Nicht die geringste Bewegung ging von ihm aus. Sein gesamter Körper war mit einer blutigen Kruste überzogen, die von den Wunden herrührte, die Archibald und seine Männer ihm während des Kampfes am späten Nachmittag zugefügt hatten. Obwohl es kein fairer Kampf gewesen war, hatte Raoul sich tapfer geschlagen.

Als die Sonne bereits hoch im Zenit stand, hatten sie eine Lichtung am Rande eines kleinen Waldes erreicht. Raoul verlangsamte das Tempo und sah sich unruhig um.

»Stimmt etwas nicht?«, wollte sie deshalb von ihm wissen. Er zügelte nun endgültig sein Pferd und deutete auf einige immergrüne Sträucher in einiger Entfernung.

»Steigt ab und lauft!«

»Wieso?«

»Fragt nicht! Los versteckt euch hinter den Büschen. Ich möchte nicht, dass Euch etwas zustößt.« Mit einem sanften Schubs, ließ er sie vom Rücken seines Tieres gleiten. Sie wollte protestieren.

»Aber …!«, er beugte sich zu ihr herunter.

»Es ist zu ruhig! Prinzessin, bitte, beeilt Euch! Vertraut mir!«, sie starrte ihn bewegungslos an. Sein Atem streifte ihren Hals, während er nach ihrer Hand griff. »Bitte, ich …!«, er drückte zärtlich einen Kuss auf ihren Handrücken. »Tut es mir zuliebe. Ich würde mir nie verzeihen, wenn … Lauft! So schnell Ihr könnt!«, sie nickte zögernd, entzog ihm ihre Hand und eilte dann mit gerafften Röcken auf die Büsche zu, dabei spürte sie seinen Blick, der ihr unentwegt folgte. Erst als sie im dichten Buschwerk verschwunden war und sich ins Gras fallen gelassen hatte, gab Raoul seinem Pferd die Sporen. Was sie dann sah, ließ ihr den Atem stocken. Aus dem dichten Unterholz des Waldes flogen Pfeile auf ihn zu, doch, anstatt sein Pferd zu wenden, ritt er geradewegs in den Pfeilhagel hinein. Wenn sie von vornherein gewusst oder auch nur geahnt hätte, wer dort im Unterholz auf sie lauerte, sie wäre bei ihm geblieben und hätte ihn an diesem Wahnsinn gehindert.

Sie hatte den Atem angehalten und gesehen, wie er den Geschossen auswich und fast schon den Wald erreicht hatte, als ihn ein Pfeil traf und sich tief in seine rechte Seite bohrte. Rilana schrie auf, während Raoul nach vorne in den Sattel sackte. Die im Dickicht lauernden Männer stoben nun unter lautem Gebrüll auf ihn zu. Von ihrem Versteck aus konnte Rilana nicht genau erkennen, wie viele es waren, aber, sie schätzte, dass es sich um etwa zwanzig bis dreißig schwer bewaffnete Krieger handelte. Raoul versuchte unterdessen den Pfeil aus seiner Seite zuziehen. Doch er steckte wohl zu tief, als dass er ihn ohne große Schwierigkeiten einfach hätte herausziehen können, deshalb biss er die Zähne zusammen und brach ihn einfach ab. Dann richtete er sich mühsam wieder auf. Sie sah, wie er heftig nach Luft rang. Noch nicht ganz Herr seiner Sinne, riss er an den Zügeln seines Pferdes. Das Tier bäumte sich auf. Wieder und wieder stieg es in die Höhe. Die aus dem Unterholz kommenden Männer verteilten sich nun um seinen wild um sich schlagenden Gaul. Näher und näher rückten die Angreifer an ihn heran, während er sich verzweifelt an die Mähne seines Pferdes klammerte. Schließlich konnte er sich jedoch nicht mehr halten und fiel rückwärts auf den Boden. Das Tier, endlich von seiner Last befreit, galoppierte durch die Schar der Kämpfer hindurch und verschwand im Dickicht des Waldes.

Raoul rappelte sich auf, sprang auf die Füße und zog gleichzeitig ein Schwert aus der Scheide. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er es bei sich trug, aber, das war auch nicht weiter verwunderlich, denn anders, als es hier der Brauch war, trug er die Scheide nicht an einem Gürtel um die Hüften, sondern auf dem Rücken unter seinem Umhang. Gegen die Anzahl der Angreifer, die ihn jetzt vollständig einkreisten, bestand keine Chance. Er kämpfte zwar wie ein Wolf und konnte einige Angreifer niederstrecken, doch schließlich schlugen sie ihn von hinten mit einem dicken Knüppel nieder. Rilanas Entführer stürzte zu Boden und rührte sich nicht mehr. Ein großer, breitschultriger Kerl entfernte sich daraufhin von der Meute und kam auf die Büsche zu, die ihr als Zuflucht dienten. Ängstlich kroch sie tiefer in das Dickicht, doch beim Näher kommen erkannte Rilana in ihm, Archibald von Arosa, den Waffenmeister ihrer Mutter. Unterdessen verschwanden einige der Männer im nahe gelegenen Wald, während die anderen Raoul belagerten.

»Seit Ihr wohl auf? Wir haben euch hoffentlich nicht erschreckt! Der Kerl wird euch nichts mehr tun.« Archibald hatte Rilana erreicht und reichte ihr nun seine Hand. »Kommt! Wir haben noch einen langen Weg vor uns!«, sie starrte ihn an, unfähig sich zu bewegen. Dann aber ergriff sie irritiert seine Hand.

»Wir sind sofort losgeritten, als wir von eurer Entführung hörten. Kommt mit! Meine Männer erwarten euch!« Sie gingen auf die Horde Männer zu, die sich noch immer um Raoul scharrte. Unter freudigem Gebrüll wurden Rilana und ihr Begleiter von ihnen begrüßt. »Weckt ihn auf!« Zwei Männer ergriffen ihren Entführer und zogen ihn unsanft in die Höhe, während der Mann, von dem sie jetzt wusste, dass er Werfried hieß, eine Wasserflasche aus seiner Satteltasche zog und ihm den Inhalt ins Gesicht goss. Raoul hustete und schlug dann seine Augen auf. Rilana konnte erkennen, wie sein Blick die Umgebung absuchte, über die Männer glitt, Archibald fixierte und schließlich auf ihr haften blieb. Sie wusste nicht wieso, aber etwas in seinem Blick, drang bis tief in ihre Seele. Sie wäre am liebsten zu ihm gelaufen, doch Archibalds Anwesenheit und ein unbestimmtes Gefühl, dass sie dadurch eventuell alles nur noch viel schlimmer machen würde, hielt sie davon ab. Zunächst erwiderte sie seinen Blick. Sie starrte ihn genauso unvermittelt an, wie er sie, dann jedoch senkte sie ihre Lider und seufzte. »Wer seid Ihr?« Archibalds Stimme zerriss die Luft. Ihr Entführer reagierte jedoch nicht, sondern starrte sie weiterhin wie gebannt an. »Wer Ihr seid, will ich wissen! Zum Teufel noch mal!« Archibald kochte vor Wut. Er blitzte den jungen Mann aus seinem gesunden Auge an. Als dieser sich noch immer nicht rührte, schlug Arosa mit seiner Faust zu. Er traf Raouls Bauch dicht neben der Stelle, in der noch immer die Pfeilspitze steckte. Archibalds Leute grölten vor Begeisterung. »Sagt Ihr mir nun, wer Ihr seid?« Raoul schnappte nach Luft und sackte vorn über. Gleichzeitig ließen seine Häscher ihn los und er fiel zusammengerollt wie ein Wollknäuel in das Gras. Unterdessen ließ Archibald sich neben dem jungen Mann auf die Knie sinken, dabei zog er das Gesicht ihres Entführers an den Haaren in seine Richtung. Entsetzt starrte Raoul ihn an. Dann biss er sich auf seine Unterlippe und ignorierte ihn weiter. »Seid Ihr schwerhörig? Ich habe euch etwas gefragt!« Raoul zuckte mit den Schultern und schloss die Augen. Das trieb Archibald nun vollkommen zur Weißglut. »Jetzt reicht es! Ihr habt es nicht anders gewollt! Dreißig Hiebe! Mal sehen, ob Ihr dann immer noch schweigt!« Unter dem lauten Gejohle ihrer Waffenbrüder packten Werfried und Friedward Raouls Arme, rissen ihn unsanft in die Höhe und zerrten ihn zu einer großen, alten Eiche, die etwas abseits der Lichtung stand. Der Baum ragte, mit seiner gewaltigen, kahlen Krone, wie ein knöcherner Riese, aus dem Wald heraus. Sein Stamm besaß einen Umfang, den gut und gerne drei Männer nicht hätten umfassen können. Während die beiden Schergen, Raoul zu dem Baum führten, drehte dieser sein Gesicht in Richtung Rilana. Zum wiederholten Male suchten seine Augen die ihren. Sie erwiderte seinen Blick, obwohl sie lieber in eine andere Richtung gesehen hätte. Ein dritter Mann, derjenige, der jetzt mit ihnen am Feuer des Unterschlupfs saß, lief zu seinem Pferd. Er zog ein Seil und einen Lederriemen aus seiner Satteltasche. Dann schritt er auf die Kerle zu, die gerade den Baum erreichten.

Rilanas Magen schlug Purzelbäume. Ihr Herz hämmerte bis zu ihren Schläfen. Sie wusste, was nun folgen sollte, obwohl sie bisher solch eine Prozedur noch nicht miterlebt, und somit auch nicht die geringste Vorstellung davon hatte, mit welcher Brutalität so etwas vonstattenging. Der Mann warf den Strick über den Ast, den er für den Stärksten hielt und zog, mit voller Kraft, an den herunterhängenden Enden des Seils. Das alte Holz knirschte und knackte, aber dennoch hielt es seinen Bewegungen stand. Schließlich grinste er selbstgefällig und trat zur Seite. Das war das Zeichen für Werfried und Friedward. Die beiden Henkersknechte zerrten, den sich immer heftiger sträubenden Raoul unter den massigen Zweig. Jegliches zur Wehr setzen half nichts. Ein Ende des Stricks band Friedward fest an seine Hände, während Werfried das andere noch einmal über den Ast warf und dann mit aller Macht daran zog. Die Arme ihres Entführers wurden mit aller Gewalt in die Höhe gezogen. Erst, als sich Raouls Körper wie die Sehne eines Bogens spannte, beendete der Scherge die Prozedur. Die übrigen Männer tobten vor Begeisterung. Das Pochen in Rilanas Schläfen wurde unerträglich. Unterdessen rissen die Häscher Raoul den Umhang von seinen Schultern. Dann folgte sein Hemd. Seine bloße Haut, die ebenfalls diese haselnussbraune Färbung hatte, wurde sichtbar. Er war kräftiger gebaut, als sie zunächst angenommen hatte. Sein Rücken ließ deutlich erkennen, dass er es gewohnt war, ihn täglich zu trainieren. Fasziniert starrte sie ihn an. Derjenige, der den Lederriemen in den Händen hielt, drehte sich nun Rilana und den anderen Männern zu.

»Hauptmann, wollt Ihr?« Er hob den Gurt in die Höhe, um ihn dann, wie eine Peitsche auf den Boden knallen zu lassen. Das Geräusch dröhnte in Rilanas Ohren. Unwillkürlich zuckte sie zusammen.

»Lass gut sein, Wilbur! Das kannst du viel besser als ich, aber lass ihn am Leben, wir brauchen ihn noch!« Archibald grinste, während seine Leute in schallendes Gelächter ausbrachen.

Nie würde sie vergessen, mit welcher Begeisterung Wilbur, jetzt erinnerte sie sich auch wieder an den Namen ihres blutrünstigen vierten Begleiters, erneut an die alte Eiche herantrat. Sichtlich erfreut, mit der Präzision eines Uhrwerks, begann er mit seiner Aufgabe. Er holte mit dem Lederriemen weit nach hinten aus. Dann ließ er ihn mit der Wucht eines Hammers auf Raouls bloßen Rücken knallen. Bereits beim ersten Aufprall zog sich eine blutige Strieme quer über die nackte Haut. Der junge Mann zuckte zusammen, sog laut Luft durch seine Zähne, vermied es jedoch, zu schreien. Der zweite Schlag verlief diagonal zum Ersten. Auch diesmal sah man nur ein leichtes Zucken, das durch den am Baum hängenden Körper fuhr. Wilbur hatte sichtlich Spaß, an dem, was er gerade tat. Wieder und wieder ließ er die Peitsche knallen. Die Striemen zogen sich bereits wie ein Gitternetz über Raouls Rücken. Sein Blut lief an ihm herunter und verfärbte die Reste seines vormals weißen Hemdes tiefrot. Doch immer noch spannte der junge Mann verzweifelt seine Muskeln an. Trotz seiner Pfeilverletzung versuchte er weiterhin standzuhalten, was ihm jedoch sichtlich schwerfiel. Dennoch schrie er auch jetzt noch nicht. Wilbur, wütend über seinen mangelnden Erfolg, steigerte zunehmend die Wucht seiner Schläge.

»Fünfzehn, sechzehn.« Die Männer neben ihr zählten unter Gebrüll jeden einzelnen Hieb.

»Siebzehn, achtzehn.« Der Gurt traf Raoul mit solch einer Wucht, dass sein Körper nachgab und sein Kopf in den Nacken fiel. Schrei endlich, dachte sie, dann lassen sie dich in Ruhe. Du musst schreien, damit er aufhört. Doch der Gefangene machte keinerlei Anstalten, auch nur einen Ton von sich zu geben.

»Neunzehn, zwanzig.« Rilana konnte sich das Spektakel nicht länger mit ansehen.

»Einundzwanzig.«, Raoul stöhnte leise. Das war endgültig zu viel. Sie musste würgen, während sie angewidert dem Geschehen den Rücken zuwandte. Dann rannte sie, als wäre der Teufel hinter ihr her, zurück zu den Büschen, die ihr vor nicht allzu langer Zeit als Unterschlupf gedient hatten.

»Zweiundzwanzig.« Völlig außer Atem ließ sie sich auf den Boden hinter die Sträucher fallen.

»Dreiundzwanzig.« Im hohen Bogen entleerte sich der Inhalt ihres Magens. Sie würgte sich beinahe die Seele aus dem Leib. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie wollte nur noch alleine sein, alles um sich herum vergessen. Von Ferne ertönten noch immer die Stimmen der Männer, während Rilanas Herz wild in ihrer Brust hämmerte.

»Und dreißig.« Ein lauter Schrei zerriss die Luft. Dann plötzlich wurde es still. Fast schon bedrückend, gespenstisch still. Sie lauschte gespannt, doch es blieb still. Gott sei Dank, es war vorbei.

Selbst hier im Gebirge wurde ihr bei der Erinnerung an diese Szene ein weiteres Mal speiübel. Warum hatte er nicht einfach geredet? Es hätte gar nicht erst so weit kommen müssen.

»Wollt Ihr etwas trinken? Hier ist Wasser!« Archibald war ihr in der Zwischenzeit zu den Büschen gefolgt. Mit Tränen verschmiertem Gesicht schaute sie auf den großen, bärtigen Mann, der vor ihr stand.

»Das war eure erste Auspeitschung, nicht wahr?«, sie nickte. »Mir ging es auch nicht viel besser, als ich das zweifelhafte Vergnügen meiner Ersten hatte. Aber, man gewöhnt sich an alles!« Er hob ihr Gesicht in die Höhe, dabei trocknete er behutsam ihre Tränen, während er sanft auf sie einredete. »Es gibt Männer, wie Wilbur, die Gefallen an so einem Spektakel finden. Ich, hingegen, hätte es dem Knaben lieber erspart. Es ist nicht einfach, eine Meute, wie meine Männer zu befehligen. Widerstand ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Ich muss ihnen zeigen, wer hier das Sagen hat! Wenn dann so ein Bürschchen all meine Bemühungen ignoriert, trägt er allein die Verantwortung, für das, was danach mit ihm geschieht. Deshalb musste ich so reagieren, allein schon wegen meiner Männer. Es tut mir Leid, dass ich Euch das zugemutet habe! Aber es ging wirklich nicht anders! Versteht Ihr das?« In Rilanas Augen schossen zum wiederholten Mal Tränen.

»Ihr seid mir keine Erklärung schuldig.«

»Das weiß ich. Dennoch ...« Sie war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Eine Zeit lang schwiegen sie beide, dann schließlich sagte Archibald. »Kommt jetzt! Es wird Zeit. Ich möchte noch vor Einbruch der Dunkelheit das Gebirge erreichen. Der Weg ist noch weit und mit dem Gefangenen und Euch werden wir nur langsam vorankommen.«

Auf die Lichtung befanden sich nur noch vier Pferde, Wilbur, Friedward, Werfried und der gefesselte Raoul, den sie mit einem Seil hinter sein Pferd gebunden hatten. Er kauerte, kniend, mit nach vorne gebeugtem Oberkörper, auf dem Boden. Dabei zitterte er wie Espenlaub. Sein Hemd, von dem nicht mehr als Fetzen übrig waren, hing blutdurchtränkt an seinem Körper. Dunkelrote Striemen blitzten zwischen den Stoffstücken hervor und sie würgte erneut. Rilana konnte seinen Anblick kaum noch ertragen, denn, was ihn auch zu ihrer Entführung getrieben hatte, das hier hatte er nicht verdient. Nein, dachte sie, an diesen Anblick werde ich mich wohl niemals gewöhnen.

»Hier,« Archibald hielt ihr abermals die Wasserflasche entgegen.

»Habt Ihr nichts Stärkeres?« Die Männer grinsten. Werfried, der neben seinem Pferd stand, nahm einen Lederschlauch aus seiner Satteltasche.

»Trinkt langsam! Er ist sehr stark.« Er warf den Schlauch in ihre Richtung. Archibald fing ihn mit einer Hand auf und reichte ihn ihr. Zunächst zögerte sie, dann aber nahm sie gierig einen kräftigen Schluck. Würziger, schwerer Wein, rann durch ihre Kehle. Als ein wohliges Gefühl in ihr aufstieg, trank sie erneut. Ihre Übelkeit legte sich etwas und sie atmete langsam aus. Dann wanderte ihr Blick erneut zu Raoul. Wie mochte es ihm wohl gehen? Seltsam, dachte sie, frage ich mich allen Ernstes, wie es ihm geht? Das war doch wohl offensichtlich! Er war ja nicht einmal in der Lage aufzustehen. Sollte sie ihm vielleicht helfen? Aber, wie? Ihm die Flucht zu ermöglichen, war ihr unmöglich. Warum dachte sie überhaupt über derartige Dinge nach? Raoul war doch eigentlich für seine Situation selbst verantwortlich. Hätte er auf Archibalds Fragen geantwortet, wäre es gar nicht erst so weit gekommen. Während sie ihren Gedanken nachhing, war sie immer näher an den jungen Mann herangerückt. Seine Augen waren noch immer geschlossen. Sie mich an, schoss es ihr durch den Kopf. Du sollst mich ansehen. Vorsichtig berührte sie die Schulter ihres Entführers. Die zaghafte Berührung ließ ihn ängstlich zusammenzucken, sodass sie sich nicht mehr so sicher war, ob sie auch das Richtige tat. Mit seinen gefesselten Händen versuchte er seinen Kopf zu schützen, so als erwarte er, dass seine Peiniger ihn erneut traktierten. Als er merkte, dass dies nicht der Fall war, ließ er seine Arme langsam sinken, hob vorsichtig seinen Kopf und öffnete seine Augen. In ihnen lagen nicht nur Angst und Verzweiflung, sondern auch eine Trauer, die ihr beinahe das Herz zerriss. Am liebsten hätte sie ihn in ihre Arme genommen und getröstet, doch stattdessen flüsterte sie nur.

»Habt keine Angst! Ich bin es nur! Ich will euch nicht wehtun! Ich bin nur gekommen ...! Habt Ihr Durst? Hier, ich habe etwas zu trinken für Euch!« Es war das Einzige, was ihr in diesem Moment einfiel. Sie wusste ja selbst nicht so genau, warum sie ihn ansprach. Seine Augen wanderten nun fragend zu ihren. Er durchdrang sie geradezu mit seinem Blick. Abermals war Rilana nicht fähig, sich von ihm abzuwenden. Völlig verdreckt und mit einer blutigen Unterlippe wirkte er, wie ein kleiner Junge, der gerade seine erste Tracht Prügel bezogen hat. Wieso konnte er sie so in seinen Bann ziehen?

In der Zwischenzeit belud Archibald mit seinen Männern die Pferde. Rilana kniete sich neben ihren Entführer und setzte ihm den Trinkschlauch an die Lippen. Während er durstig trank, hob er zögernd seine gefesselten Hände und versuchte zaghaft ihre Wange zu streifen aber es gelang ihm nicht. Ein Zittern fuhr durch seinen Körper und er stöhnte leise. In Rilanas Augen sammelten sich Tränen. Sie war wie elektrisiert von seiner Bemühung. Wie in Trance rutschte eine ihrer Hände von dem Trinkschlauch und suchte verzweifelt seine Nähe. Zärtlich umschlossen ihre Finger die Seinen. Gleichzeitig erwiderte Raoul, seiner Lage zum Trotz, ihre Geste.

»Prinzessin, ich ...« Seine Finger erhöhten leicht den Druck. »Ich wollte nicht ...«, wieder schloss er die Augen.

»Ich werde Euch helfen! Irgendwie! Ihr müsst mir nur vertrauen!«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Wieso? Wieso lag ihr so viel daran, dass er ihr vertraute? Wieso wollte sie ihm überhaupt helfen? Ihre Gedanken verwirrten sie nur noch mehr. Er nickte, während er sie erneut anstarrte, dabei näherten sich seine Lippen gefährlich den ihren. Es sah aus, als wollte er sie noch einmal küssen. Auch ihre Lippen näherten sich unaufhaltsam den Seinen. Plötzlich rutschte ihr der Weinschlauch aus der zitternden Hand und fiel klatschend vor ihnen auf dem Boden ins Gras. Von dem Geräusch zurück in die Wirklichkeit geholt, zog Rilana erschrocken ihre Hand aus Raouls Fingern, der ebenso erschrocken, seinen Kopf erneut zu Boden senkte, und sprang auf. Archibald stampfte auf sie zu.

»Was ist hier los?«

»Vielleicht bin ich ja zu erschöpft. Der Trinkschlauch ist so schwer …«, sie lächelte verlegen. Archibald hob skeptisch die Braue seines gesunden Auges und fixierte die beiden, sagte aber kein Wort. Er hob den Schlauch vom Boden und warf ihn zu Wilbur, der ihn zurück in seine Satteltasche stopfte. Irgendetwas stimmte hier nicht, da war er sich sicher.

»Seid Ihr bereit? Wir müssen jetzt aufbrechen.« Archibald wartete nicht auf Rilanas Antwort, sondern ergriff ihre Hand und zog sie vehement an dem Gefangenen vorbei, ohne dem jungen Mann weiterhin Beachtung zu schenken. Raoul hob unterdessen seinen Kopf. Wieder starrten sie sich gegenseitig an. Seine Lippen formten ein stummes »Danke« und er murmelte leise etwas vor sich hin, was sie jedoch nicht verstehen konnte. Wieso redete er mit ihr und nicht mit den Männern? Es wäre ihm so einiges erspart geblieben, wenn er Archibald sofort geantwortet hätte. Wieso bekamen die Männer von ihm keine Antwort? Wieso wollte er nicht, dass sie seinen Namen erfuhren? Wer war er, dass er all diese Dinge geheim zuhalten versuchte? Welches Geheimnis verbarg sich hinter diesem jungen Mann? Raoul! Sie sprach seinen Namen in Gedanken aus. Ich werde herausbekommen, welches Geheimnis hinter dir und meiner Entführung steckt!

Archibald erreichte mit Rilana sein Pferd und hob sie auf den Rücken des Tieres. Dann glitt er hinter ihr in den Sattel. Auch die anderen Männer saßen auf. Die kleine Gruppe setzte sich in Bewegung. Friedward, der auf dem Pferd saß, hinter das man Raoul gebunden hatte, ließ es in Trab fallen. Der Gefangene wurde mit einem Ruck nach vorne gezogen. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es, auf seine Füße zu kommen, denn ansonsten hätte das Tier ihn über den Boden geschleift. So, aber, stolperte er hinter dem Gaul her. Rilana, unfähig weiterhin auf den Gefangenen zu achten, starrte geistesabwesend auf den Pfad, über den sie ritten.

Die Sonne zog unaufhaltsam ihren Kreis, über den, von kleinen Wolken bedeckten, Himmel. Sie stand bereits tief im Zenit, als die sechs Reisenden die schneebedeckten Gipfel des Arrasgebirges vor sich sahen. Während des gesamten Ritts hatten sie nicht gerastet. Raoul versuchte noch immer verzweifelt mit dem Pferd Schritt zu halten, doch er war bereits am Ende seiner Kräfte. Wieder und wieder stolperte er und rappelte sich auf. Auch Rilana bekam zusehends Schwierigkeiten, sich im Sattel zu halten. Sie war lange Ritte nicht gewohnt. Das gewaltige Bergmassiv zog sich, wie ein großes, felsiges Band, durch die Landschaft. Es war ein überwältigender Anblick.

»Wir haben es gleich geschafft. Nur noch wenige Augenblicke und wir erreichen eine Anhöhe, auf der wir rasten können.« Rilana atmete auf. Endlich würde sie von diesem Tier herunter kommen und sich ausstrecken können. Werfried und Wilbur gaben ihren Pferden die Sporen und sie jagten voraus. Die anderen folgten weiterhin dem Pfad, allerdings, in einem, weitaus gemächlicherem, Tempo. Auf diese Weise erreichten sie ein Felsplateau, das auf einer kleinen Anhöhe lag. Oberhalb befand sich ein Vorsprung, der eine Nische bildete und unterhalb floss ein Gebirgsbach durch die schroffen Felsformationen. Am Abendhimmel zogen dichte Wolken auf, die sich meterhoch über den Berggipfeln auftürmten. Werfried befand sich bereits in der Felsnische und richtete das Lager für die Nacht. Wilbur erwartete die Ankömmlinge auf der Anhöhe. Archibald zügelte sein Pferd und auch Friedward brachte sein Tier zum Stehen. Beide saßen sie ab. Dann half Archibald Rilana aus dem Sattel. Während er sie auf den Boden stellte, brach Raoul hinter Friedward Tier unter lautem Stöhnen zusammen. Er war völlig entkräftet. Zitternd lag er auf dem Boden.

»Es wird gleich ein Unwetter geben. Geht schon einmal voraus. Wir kümmern uns um den Burschen.«, dabei deutete er mit dem Finger auf Raoul. Gleich darauf spürte Rilana, wie Archibald sie sanft in Richtung Felsnische schob. Sie zögerte. Unschlüssig sah sie auf Raoul, während Archibald zu Friedward lief, leise einige Worte mit ihm wechselte und schließlich zu ihr zurückkehrte.

»Kommt jetzt!« Widerwillig ließ sie sich von Archibald zu ihrem Lagerplatz führen. Wilbur und Werfried kamen ihnen, mit einem dicken, langen Holzscheit bewaffnet, entgegen, grinsten sie an und gingen dann zu Friedward und dem Gefangenen. Ihr Blick folgte den beiden, bis sie Raoul erreicht hatten. Nackte Angst lag in seinen Augen. Sollte sie die Männer aufhalten? Aber konnte sie das überhaupt? Wieso ertrug er diese Tortur so widerstandslos, als wäre er ein Lamm, das man zur Schlachtbank führt? Warum kämpfte er nicht? Warum das alles? War sie es wert, sich um ihretwegen fast zu Tode prügeln zu lassen? Als sie in der Felsnische ankam, ließ sie sich neben dem bereits entfachten Feuer nieder und schloss müde die Augen. Sollen sie doch mit ihm machen, was sie wollen. Er will es ja nicht anders. Ich will gar nicht erst sehen, was sie dort unten mit ihm machen. Es interessiert mich auch nicht, versuchte sie sich einzureden, obwohl sie wusste, dass sie sich selbst belog. Stimmen drangen zu ihr herauf.

»Was machen wir mit ihm?«

»Ich habe da so eine Idee!« Es war Wilbur, der in lautes Gelächter ausbrach. Sie hörte einen dumpfen Schlag und darauf folgend ein leises Stöhnen. Wieder und wieder hörte sie dieselben Geräusche. Rilana hielt sich die Ohren zu. Ich will nicht wissen, was dort unten geschieht. Verzweifelt versuchte sie, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Aber egal worauf sie sich auch zu konzentrieren versuchte, sie war in Gedanken immer bei ihm. Warum genossen diese Männer es nur dermaßen, andere Menschen zu quälen? Warum bereitete Archibald diesem Schauspiel nicht endlich ein Ende? Der große, bärtige Mann saß ihr gegenüber und streckte genüsslich seine Füße dem Feuer entgegen. Die Szene auf dem Plateau schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren. Wollte auch er, dass man ihren Entführer bis zum bitteren Ende malträtierte, um ihn zu demütigen? Angewidert senkte sie ihren Blick, dann schloss sie erneut ihre Augen.

»Aufhören!« Sie merkte nicht, dass sie das, was sie gerade dachte, auch leise vor sich hinflüsterte. »Aufhören! Ich flehe Euch an! Hört auf!« Archibald trat neben sie und legte eine Hand auf ihre Schulter.

»Warum?«, wollte er von ihr wissen. Sie hob ihren Kopf und sah ihm ins Gesicht.

»Sagt ihnen einfach, dass sie aufhören sollen!«

»Warum?«, er blieb hartnäckig.

»Reicht es nicht, wenn ich es Euch befehle?« Archibald sah ihr jetzt in die Augen. Was wollte er von ihr? Sie konnte seinen Blick nicht deuten, wie sehr sie sich auch anstrengte. Tränen liefen über ihre Wangen. »Ich kann es nicht mehr ertragen!«, sie schrie ihn an. »Wie könnt Ihr nur zulassen, dass Eure Männer ihre Triebe dermaßen ausleben? Haben sie ihn nicht schon genug traktiert? Anscheinend seid auch Ihr nicht besser, als sie, denn sonst hättet Ihr ihnen längst Einhalt geboten! Erregt es euch, wenn Menschen vor euren Augen beinahe zu Tode gefoltert werden? Was seid Ihr nur für Menschen? Ihr widert mich an!«, sie schluchzte. »Er jedenfalls hätte mich von seinen Männern nicht so zurichten lassen!«

»Seid Ihr Euch da sicher? Hat er Euch vielleicht etwas erzählt, was er uns verschwiegen hat?«

»Das habe ich nicht gesagt! Aber, wenn Ihr überhaupt noch etwas von ihm erfahren wollt, dann solltet Ihr Eure Henkersknechte besser zurückrufen!« Trotz seines schlechten Gewissens, konnte sich Archibald ein Grinsen nicht verkneifen. Er hatte genug gehört, fürs Erste. Seine Inszenierung hatte tatsächlich zum gewünschten Erfolg geführt. Zum Glück war Rilana so mit ihren Gedanken beschäftigt gewesen, dass sie nicht mehr auf die Männer auf dem Plateau geachtet hatte. Hätte sie weiterhin beobachtet, was dort vor sich ging, so hätte sie vermutlich bemerkt, dass Friedward und Werfried, Wilbur und ihren jungen Entführer, der kurz nach ihrer Ankunft bewusstlos zusammen gebrochen war, vor ihren Blicken schützten, während Wilbur neben dem jungen Mann kniete und mit dem Knüppel vor sich auf den Boden schlug und dabei herzzerreißend stöhnte.

»Wilbur, hör auf! Es reicht!« Wilbur störte sich nicht im Geringsten an seinen Worten. Er befand sich geradezu in Ekstase. »Wilbur!« Archibalds Stimme wurde lauter. »Hör endlich auf! Es reicht! Oder willst du etwa schon hier das zu Ende führen, was eigentlich Aufgabe der Königin sein sollte?« Wilbur hielt inne. Er zwinkerte Archibald zu. Dann plötzlich wurde es totenstill. Rilanas Blick wanderte noch einmal auf das Plateau. Raoul lag nun flach auf dem Bauch. Den schweren Holzklotz, wie ein Joch über seinen Schultern. Wilbur zog gerade die Lederbänder fest, die Raouls Handgelenke an den Klotz fesselten. Dann verschnürte er auch noch die Beine des Gefangenen. Anschließend entfernte er sich in Richtung Unterschlupf, während ihr Entführer einfach in der aufkommenden Dunkelheit liegen blieb. Als die Männer wieder vollzählig waren, begangen sie, sichtlich erleichtert, einen Becher Wein nach dem anderen zu füllen. Sie schütteten den schweren, roten Wein in sich hinein, als wäre er Wasser. Das war im Großen und Ganzen auch schon die einzige Beschäftigung, der sie nun schon seit Stunden nachgingen. Bis zum jetzigen Zeitpunkt.

Kapitel 3

 Kapitel 3

Auf Andrass Straßen herrschte reges Treiben. Der Frühling hatte endlich Einzug gehalten. Die Bewohner der Stadt, die, die harten Wintermonate, meist in ihren Häusern verbrachten, rannten geschäftig durch die belebten Gassen, in deren Winkeln die Händler und Handwerker ihre Waren und Dienste feilboten. Es schien, als sei das Land endlich aus seinem Winterschlaf erwacht. Aranadias Hauptstadt, Andrass, war die einzige große Stadt des Landes mit einem Seehafen. Er stellte nicht nur eine wichtige Verbindung zur restlichen Welt dar, sondern war auch der bedeutendste Handelsstützpunkt des Landes. Da Andrass weit im Norden lag, verirrten sich während der langen Wintermonate nur selten Schiffe in diese abgelegene Gegend, zumal die stürmische See eine Überfahrt nahezu unmöglich machte. Allmählich schmolz die Frühlingssonne das Eis und die ersten Handelsschiffe fuhren in den Hafen ein. Es war jedes Jahr ein bewegendes Schauspiel. Die Fahnen und Segel der großen Handelsflotten blähten sich im Wind. Auf den Docks standen die Menschen und bejubelten die Ankommenden. Sie warteten sehnsüchtig auf die eintreffenden Waren. Aus dem ganzen Land versammelten sich die Kaufleute, um ihre eigenen Erzeugnisse gegen erlesene Stoffe und Gewürze zu tauschen. Es war ein ständiges Hin und Her.

Am frühen Morgen war die »Persepolis« in den Hafen eingelaufen. Ein großes Handelsschiff aus dem Süden. Sie war mit Honig, Getreide, Seidenstoffen und allerlei orientalischer Gewürze beladen, alles von erlesener Qualität. Schon ihre Ankunft war eine Sensation. Ihr großer, schwerer Rumpf mit der Gold geschmückten Galionsfigur tanzte auf den Wellen und ihre roten Segel strahlten in der aufgehenden Sonne. Man sah ihr von vornherein an, dass sie etwas Besonderes war, nicht nur weil sie ohne Landesflagge fuhr. Dennoch oder gerade deshalb strömten die Menschen in Scharen zu dem imposanten Segler.

Ruben stand an Deck und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reling. Er war genauso imposant, wie sein Schiff. Er maß fast einen Meter neunzig und war von kräftiger Gestalt. Das Blau seiner Kleidung leuchtete schon von Weitem in der hellen Frühlingssonne. Aber, das Auffälligste an ihm war zweifellos, seine haselnussbraune Haut und die schulterlangen, glatten, schwarzen Haare, die durch die leichte, vom Meer kommende Brise, in sein Gesicht wehten. Er hatte einige seiner Männer, in der Morgendämmerung, direkt nach ihrer Ankunft, in das Hafenviertel geschickt, um Proviant für ihre Weiterreise an Bord zu nehmen. Marcus, sein erster Offizier war für diese Dinge geradezu prädestiniert. Er war in Verhandlungen äußerst geschickt und erzielte immer die besten Preise. Lukas, seinen Steuermann ließ er ebenfalls von Bord gehen. Allerdings mit einem speziellen Auftrag. Jetzt erwartete er die beiden Männer, die darüber hinaus zu seinen besten Freunden zählten, voller Ungeduld. Durch die Menschenmenge, die sich auf den Docks tummelte, sah er, wie Marcus sich seinen Weg zurück zum Schiff bahnte.

»Aye, Marcus! Hast du alles erledigt!«

»Aye, aye, Kapitän! Ganz schön abgefeimte Hunde hier. Aber, es ist alles so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt habe. Für ein paar Ballen Stoff füllen sie unser Lager wieder.«

»Ich hätte es auch nicht anders von dir erwartet.« Ruben grinste den jungen Mann, der jetzt vor ihm stand breit an. Marcus war fast einen Kopf kleiner als Ruben. Er trug seine dunklen, lockigen Haare kurz geschnitten unter einer Art Kopftuch. Sein rechtes Ohr zierte ein riesiger Ohrring und in seinem Gesicht wuchs ein kleiner Ziegenbart.

»Ich hätte nicht erwartet, dass hier so viel los ist. In der Stadt wimmelt es nur so von Händlern.« Marcus strich sich über seinen Kinnbart. Eine Angewohnheit, über die sich Ruben sonst köstlich amüsieren konnte, doch heute erregten andere Dinge seine Aufmerksamkeit.

»Ich habe gehört, dass es jedes Jahr hier so zugeht. Die Winter sind hart und lang in Aranadia. Sobald der Frühling beginnt, kriechen sie alle aus ihren Hütten und strömen in die Stadt. Uns kann es doch nur recht sein. Zum einen fallen wir dann nicht auf und zum anderen erfahren wir vielleicht mehr.« Ruben zwinkerte Marcus zu, der sein Gesicht zu einem breiten Grinsen verzog. »Hast du Lukas irgendwo gesehen?«

»Nachdem wir heute Morgen gemeinsam von Bord gingen, hat er sich sofort in das Gewühl gestürzt, um auf direktem Wege in die Hafenschenke zu gehen. Seit dem habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

»Merkwürdig!« Ruben strich sich die Haare, die ihm immer wieder in das Gesicht wehten, aus den Augen, während sein Blick suchend über die Menschenmenge auf den Docks glitt. »Das kann doch nicht so lange dauern! Er sollte ihn doch nur in der Spelunke treffen und dann auf dem schnellsten Weg zum Schiff zurückkehren. Hoffentlich ist nichts schief gegangen!« Ruben machte ein nachdenkliches Gesicht und starrte weiterhin, wie gebannt, auf die tosende Menge auf den Docks.

»Was soll denn schon schief gegangen sein? Es wird doch wohl nicht allzu schwer sein, jemanden unbemerkt in einem Gasthaus zu treffen. Außerdem sind wir es doch gewohnt, deine Aufträge so unauffällig wie möglich auszuführen.« Ruben wurde zunehmend nervöser. Lukas war bereits vor Stunden aufgebrochen. Das Treffen sollte kurz nach Sonnenaufgang stattfinden und jetzt war es bereits Mittag.

»Ahmed!«, forderte er einen seiner Matrosen auf. »Klettere in den Ausguck und sieh nach, ob du Lukas von oben irgendwo ausmachen kannst!« Ruben wusste zwar, dass es bei dieser Menschenmasse nahezu unmöglich war, einen einzelnen zu erkennen, es beruhigte ihn aber ungemein, es wenigstens zu versuchen.

»Aye, aye, Kapitän!« Der angesprochene Matrose kletterte in die Wanten, stieg in den Ausguck und hielt Ausschau, während Ruben ihn mit seinen Blicken verfolgte.

»Nichts zu sehen, Kapitän!«

»Das habe ich mir gedacht!«, nervös beugte sich Ruben über die Reling und starrte in die Menge.

»Mach dir keine Sorgen. Er wird bestimmt gleich zurückkommen. Deinem Cousin geht es gut. Du wirst schon sehen. Die beiden haben bestimmt vor lauter Wiedersehensfreude die Zeit vergessen.«, Ruben trat von der Reling zurück und wand sich erneut Marcus zu, der sich nachdenklich über seinen Bart strich.

»Ich gehe hinunter in meine Kajüte. Sagt Lukas, ich will, dass er sich unverzüglich bei mir meldet, wenn er an Bord kommt!« Wenn Marcus recht hat, und die beiden ein Saufgelage veranstaltet haben, dann reiße ich jedem Einzelnen von ihnen den Kopf ab und werfe sie anschließend über Bord, dachte er. Als er in etwa auf halbem Weg zu seiner Kabine war, riss ihn ein Tumult auf den Docks aus den Gedanken. Instinktiv machte er auf dem Absatz kehrt und ging zurück. Die Menschen bildeten jetzt eine Traube um einen Mann und schrien aufgeregt durcheinander. Neugierig geworden sprang er über das Geländer auf die Gangway und lief hinüber zu der tosenden Meute.

»Was ist hier los?«, Ruben sah mit grimmigem Blick auf die tobende Menschenmasse herunter. Aufgrund seiner Körpergröße wirkte er geradezu Furcht einflößend. Die Menge verstummte.

»Es geht nicht gegen Euch, Herr. Wir streiten uns auch nicht. Es ist nur, es gibt Neuigkeiten in der Stadt. Die Herolde verkünden es überall. Nachdem er versucht hat, die Königin zu ermorden, hat jemand unsere Prinzessin entführt. Gott Lob, unsere allergnädigste Majestät blieb jedoch unverletzt. Sie befindet sich bereits auf dem Weg hierher, nach Andrass. Die Garden und die Armee haben den Auftrag, die Entführung zu vereiteln und den Entführer tot oder lebendig in unsere Stadt zu bringen. Möge Gott sie schützen und unsere Prinzessin heil aus den Händen dieses Bastards befreien. Lang lebe unsere Königin!«

»Lang lebe unsere Königin und Gott schütze die Prinzessin!« Die Menge schrie und tobte, während Ruben fassungslos auf den vor ihm stehenden Mann starrte. Das konnte und durfte doch alles nicht wahr sein. Diese Geschichte erschwerte einfach alles. All seine Pläne wurden mit den Worten dieses Mannes über den Haufen geworfen. Aber, es half alles nichts. Er musste jetzt abwarten bis Lukas zurückkam, um mit ihm zu reden.

Ruben saß in seiner Kajüte. Da es bereits dämmerte, war der Schein der Kerze, die unaufhörlich auf die Tischplatte tropfte, das einzige Licht, das den Raum noch erhellte. Ihre Flamme warf tanzende Schatten an die Wand. Er beugte sich über ein Blatt Papier, das direkt vor ihm auf den Tisch lag, und war so darin vertieft, dass er das Tropfen der Kerze gar nicht bemerkte. Wieder und wieder überflog er die Zeilen.

Treff mich in der Hafenschenke, kurz vor Sonnenaufgang, am 18. März. Es ist dringend. Ich muss unbedingt etwas mit dir besprechen. Alles hat sich geändert, du wirst sehen. Ich habe Dinge erfahren, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Ich hoffe nur, wir können trotzdem an unserem Plan festhalten. Damit wir nicht auffallen, schick’ am besten Lukas. Er kann mich unauffällig zu dir führen. Alles Weitere erzähle ich dir dann bei unserem Treffen.

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Darunter prangte sein Siegel. Diese Nachricht war eindeutig von seinem Cousin. So viel war sicher. Aber, wo steckte dieser Kerl? Lukas hatte sich bis jetzt noch immer nicht bei ihm gemeldet, was äußerst ungewöhnlich war, denn ansonsten führte er Aufträge unverzüglich aus. Ruben wusste mittlerweile nicht mehr, was er von all dem halten sollte. Sollte sich sein Cousin einen Scherz mit ihm erlaubt haben, dann war es einer von der übelsten Sorte. Es ist doch sonst nicht seine Art, dachte er, erst die Pferde scheu machen und dann nicht erscheinen. Etwas stimmt da nicht, sonst wäre er zu dem Treffen erschienen und Lukas mit Sicherheit wieder an Bord. Aber vielleicht war er ja auch erschienen und Marcus hatte mit seiner Vermutung recht. Lukas und sein Cousin waren fast gleich alt. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit und so ein Wiedersehen konnte durchaus feucht, fröhlich verlaufen. Es klopfte an der Tür. Von dem Geräusch aufgeschreckt, wendete Ruben seinen Blick von der Nachricht ab und hob seinen Kopf.

»Herein!« In der Tür erschien der blonde Lockenschopf seines Steuermanns.

»Aye, Kapitän!« Lukas betrat den Raum. Er machte keinen angetrunkenen Eindruck, demnach hatte auch keine Wiedersehensfeier stattgefunden.

»Du bist spät dran!«, bemerkte Ruben nebenbei. »Und?« Er betrachtete neugierig den jungen Mann, der nun vollständig in dem Raum stand.

»Nichts und!«

»Wo zum Teufel bist du gewesen?«

»Ich habe Stunden in dieser stinkenden Hafenkaschemme auf ihn gewartet. Aber, da war nicht die geringste Spur von ihm. Ich habe die Leute dort gefragt, doch keiner kannte ihn. Du weißt genau so gut wie ich, dass er nicht gerade unauffällig ist. Mit seinen langen, dunklen Haaren und dem braunen Teint müsste er hier unter diesen hellhäutigen Rotschöpfen eigentlich auffallen wie ein bunter Hund. Aber es ist merkwürdig, niemand hat ihn gesehen oder konnte sich an ihn erinnern. Er scheint, wie vom Erdboden verschluckt.« Lukas zog eine ernste Miene. Seine blauen Augen funkelten. »Ruben!«

»Ja?«

»Da ist noch etwas, was mir Sorgen macht! Hast du schon die Neuigkeiten gehört?«

»Du meist das mit der Entführung und dem Mordversuch an der Königin? Ja, habe ich!«

»Ist es nicht komisch, dass das gerade jetzt passiert? Was hattet ihr eigentlich genau geplant?«, Lukas fixierte Ruben, der verlegen auf die vor ihm liegende Nachricht starrte.

»Eigentlich wollte er nur die Lage auskundschaften. Nachdem Abdullahs Kopf mit einer Nachricht zurückgesandt wurde, wollte er Gewissheit. Immerhin geht es um seine Zukunft. Er ist mit Charles auf dem Landweg hierher geritten. Es gingen Gerüchte um, nach denen Roxane etwas plane. Wir wollten uns hier in Andrass treffen, um alles Weitere zu besprechen. Aber anscheinend ist etwas schief gegangen.«

»Eigentlich? Du meinst doch nicht etwa ...?«

»Ich glaube nicht, dass er dumm genug wäre, einen Alleingang zu wagen, noch dazu einen Mordversuch. Er ist zwar temperamentvoll, aber kein Idiot. Wenn er wirklich etwas mit der Entführung zu tun haben sollte, dann kann das nur bedeuten, dass er etwas erfahren hat, was ihn zu dieser Tat zwang. Gott gebe, dass es nicht so war!« Ruben erhob sich und lief nervös auf und ab, dabei fuhr er sich wiederholt durch seine langen Haare. Lukas schwieg. »Das Einzige, was ihn zu solch einer Dummheit hätte verleiten können, wäre die Tatsache, dass das Leben der Prinzessin auf dem Spiel stünde. Ich kann und will aber nicht glauben, dass Roxane fähig wäre, ihrer eigenen Tochter etwas anzutun. Ihrem Mann damals, vermutlich. Unbequemen Adeligen, höchst wahrscheinlich. Aber, ihrer eigenen Tochter?« Ruben sah Lukas fragend in die Augen, als erwarte er in ihnen eine Antwort.

»Ich war noch in der Stadt!«, lenkte der junge Mann vom Thema ab.

»Das hätte ich mir auch denken können! Wäre auch unwahrscheinlich, dass du fast einen ganzen Tag in einer Hafenschenke verbringst und noch dazu allein!« Ruben wurde wütend. Er war sich bewusst, dass sein jetziger Ausbruch eigentlich nicht seinem Steuermann galt, sondern vielmehr demjenigen, dessen Nachricht ihn hierher getrieben hatte, aber dennoch tat es gut, seinen Gefühlen endlich Luft zu machen.

»Warte! Bevor du mir den Kopf abreißt, hör mich erst einmal an!« Ruben murmelte etwas in sich hinein, ließ den jungen Mann aber weiter sprechen. »Als ich von der Entführung erfuhr, wurde ich neugierig. Ich wollte mich noch etwas umhören. Du weist genau so gut, wie ich, dass sich Gerüchte unter der Bevölkerung schneller verbreiten, als ein Lauffeuer. Für einen Golddukaten erfährt man viel.« Er grinste Ruben vielsagend an und zeigte dabei seine schneeweißen Zähne.

»Spann mich nicht länger auf die Folter, oder ich werfe dich in das Fischfass. Was hast du erfahren?«

»Es gibt mittlerweile zwei Versionen der Geschichte. Eine Offizielle und eine, nah, du weißt schon!« Ruben nickte. »Zuerst die Offizielle: Die Königin hielt sich, wie jedes Jahr zu dieser Zeit, mit ihrer Tochter in ihrem Winterquartier in Barwall auf. Vorgestern Nacht soll ein vermummter, gedungener Mörder in den Palast eingedrungen sein. Er soll zunächst die Räumlichkeiten der Königin aufgesucht haben. Laut Angaben, hat er, auf Roxane eingestochen, die aber, wie durch ein Wunder, unversehrt blieb. Danach soll er sich in die Gemächer der Prinzessin geschlichen haben. Nachdem er ein paar Wachen niedergestreckt hatte, wurde die Gute vom ihm besinnungslos geschlagen. Anschließend floh er mit ihr. Einige andere Wachen fanden ihre toten Kameraden und die verstörte Königin. Seither jagen sie den Halunken durch das ganze Land. Archibald von Arosa hat von der Königin persönlich den Auftrag erhalten, ihn auf jeden Fall lebend hier nach Andrass zu bringen. Roxane selbst ist noch in der Nacht aufgebrochen. Sie will vor dem Volk und vor den Reisenden ein Exempel statuieren. Zuvor soll der Entführer aber noch seine Auftraggeber preisgeben, denn, laut Herold, soll es sich bei der Entführung um eine Verschwörung von höchster Stelle handeln. Man nimmt an, dass einige Adelsfamilien die Königin aufgrund ihrer rücksichtsvollen Regierung aus dem Weg schaffen wollten, um so an die Macht zu gelangen. Rilana soll so lange versteckt werden, bis sichergestellt ist, dass Roxane auch wirklich tot ist. Man sagt die Prinzessin soll als Marionette auf den Thron gesetzt werden, um den zweifelhaften Bedürfnissen dieser Königsgegner zu Willen zu sein. So viel zur offiziellen Fassung.«

»Das verkünden die Herolde? Im Ernst?«, Ruben war überrascht und wütend zugleich. »Dass ich nicht lache! Roxane und rücksichtsvoll? Sind die Leute hier blind und von allen guten Geistern verlassen, oder wollen sie ihre Augen und Ohren nur vor der Wahrheit verschließen? Es würde mich nicht wundern, wenn Roxane diese Geschichte nur erfunden hat, um mit ihrer Hilfe einige lästige Untertanen los zu werden. Das würde haargenau zu Ihr passen.« Lukas nickte.

»Dennoch eins steht auf jeden Fall fest; darin sind sich nämlich alle einig. Die Prinzessin ist entführt worden.«

»Wer ist eigentlich dieser Archibald von Arosa?«

»Er ist der Waffenmeister der Königin. Wie ich hörte, ein äußerst verschlagener, alter Haudegen. Steht schon seit vielen Jahren in Roxanes Diensten. Er soll nicht gerade zimperlich mit Gefangenen umgehen.« Ruben setzte sich zurück an den Eichentisch. Die Kerze flackerte, durch seine Bewegungen, bedrohlich auf.

»Kann ich jetzt auch noch die inoffizielle Version hören?« Lukas blaue Augen leuchteten, wie die einer Katze, im Kerzenschein.

»Also gut. Nun die Inoffizielle. Du weist ja, dass ich gut darin bin, Informationen, die eigentlich nicht für die Ohren der Allgemeinheit bestimmt sind, zu beschaffen und es ist mir eine Freude ...«, Ruben verdrehte die Augen.

»Lukas! Lass das! Raus mit der Sprache oder du landest doch noch in der Fischtonne. Du machst mich wahnsinnig!« Lukas grinste breit.

»Ist ja schon gut. Ich erzähle ja schon, was ich herausgefunden habe. Aber darf ich mich vorher noch setzen und, ach ja, willst du mir nichts zu trinken anbieten, mein Mund ist schon vollkommen trocken und ich glaube nicht, dass ich in diesem Zustand weiter erzählen kann!« Lukas wartete nicht einmal Rubens Antwort ab. Er setzte sich einfach auf den Stuhl, der Ruben gegenüber vor dem Eichentisch stand. Mit einer schnellen Bewegung griff er sich einen Silberbecher und füllte ihn mit Wein aus einer Karaffe. Nachdem er ihn vollständig geleert hatte, nahm er ihn mit einem Ruck von seinem Lippen und ließ ihn auf die Tischplatte knallen. Schließlich wischte er sich mit der einen Hand über die Mundwinkel und streckte seine andere aus, um erneut nach der Karaffe zu greifen.

»So hast du nun alles, oder soll ich dir noch eine Hure kommen lassen, die dir vorher gefällig ist?« Lukas hielt in seiner Bewegung inne. Scheinbar schockiert sah er Ruben in die Augen.

»Wie kommst du darauf, dass ich nur Zeit schinden will?« Gespielt beleidigt, ergriff er nun die Karaffe und goss seinen Becher wiederum voll Wein. »Aber, in Ordnung. Ich werde jetzt erzählen, was ich weiß.« Der junge Mann schlug lässig die Beine übereinander und lehnte sich zurück. »Schütte dir auch lieber etwas Wein ein. Du wirst ihn brauchen!« Ruben sah seinen Gegenüber verständnislos an, ergriff dann aber ebenfalls einen Becher und füllte ihn. Anschließend lehnte auch er sich zurück. »Wie ich aus zuverlässigen Quellen weiß,« begann Lukas nun zu erzählen, »traf vor einigen Tagen ein Bote aus Baranagua bei der Königin in Barwall ein. Er bat um eine Audienz, die ihm nach langem Hin und Her dann auch letztendlich gewährt wurde. Der Bote überbrachte Geschenke für die Königin und Prinzessin Rilana von König Samuel. Anschließend übergab er noch einen Brief an Roxane. Sie öffnete die Nachricht, las sie und wurde daraufhin kreidebleich. Kurzerhand befahl sie ihren Wachen, den Boten unverzüglich gefangen zu nehmen und ihn auf der Stelle in den Kerker zu werfen. Der arme Mann wusste nicht, wie ihm geschah und landete im tiefsten Kellerverlies des Schlosses. Von dort verschwand er dann, wie von Geisterhand, in der darauf folgenden Nacht. Man erzählt sich, Roxane und de Beriot haben ihn schnell und diskret aus dem Weg geräumt.«

»Das entspricht schon eher ihrem Charakter! Er hat vermutlich jemanden als Boten mit einer Nachricht losgeschickt, um zu erreichen, dass Roxane sich an Williams Versprechen erinnert. Das hat der Königin nicht gepasst. Sie nahm wahrscheinlich an, dass er der letzte Versuch Samuels sei, sie an die Vereinbarung zu erinnern. Und so hat sie ihn einfach verschwinden lassen. Ich habe auch, so eine wage Ahnung, wen er geschickt haben könnte. Verdammter Mist!«

»Charles?«

»Ja, Charles, Gott sei seiner Seele gnädig. Ich hoffe nur, dass er vor seinem Tod nicht allzu viel erzählt hat.« Ruben sah Lukas nachdenklich an. Der andere erwiderte seinen Blick.

»Wenn Charles tot ist, dann ist er jetzt alleine unterwegs, und wenn Charles geredet hat, könnte dein Vetter schon lange das Los seines Dieners teilen. Ich sagte ja schon, er sieht nicht gerade unauffällig aus.«

»Genau das, macht auch mir Sorgen. Er hat möglicherweise Charles in seinem jugendlichen Leichtsinn losgeschickt, ohne sich vorher Gedanken über die Konsequenzen zu machen. Wahrscheinlich hat er nicht damit gerechnet, dass Roxane sofort handelt.«

»Aber weiter, meine Geschichte ist noch nicht zu Ende. Roxane entließ im Anschluss daran, ihren gesamten Hofstaat und ließ de Beriot rufen. Es gab einen gewaltigen Streit zwischen den beiden. Sie beschuldigte de Beriot, nicht alle erforderlichen Maßnahmen getroffen zu haben. Sie hätte ihm doch bereits vor Jahren befohlen, alle Boten Baranaguas schon an der Grenze abzufangen. Es wäre zu gefährlich, sie bis ins Schloss vordringen zu lassen. Rilana sei kein Kind mehr, das sollte er stets Bedenken. Außerdem sollte er doch dafür sorgen, dass Samuel endlich die Hoffnung auf eine Einlösung des Versprechens aufgebe. Er wüsste doch nur zu gut, dass sie andere Pläne mit Rilana hätte. De Beriot beteuerte unterdessen, alles Erdenkliche getan zu haben, um zu verhindern, dass das Ehrenwort des toten Königs eingelöst werden müsste.« Lukas beäugte Ruben, dessen Miene immer düsterer wurde und dessen Mundwinkel gefährlich zu zucken begangen.

»Und wir wissen beide, was er damit gemeint hat!« Ruben schlug mit der Faust auf den Tisch. Er erinnerte sich nur zu gut daran, dass die Boten seines Onkels, König Samuels, seit Jahren schon nicht mehr lebend nach Baranagua zurückgekehrt waren. Entweder verschwanden sie einfach, oder man schickte sie stückweise, mit den besten Grüßen an den König in ihre Heimat zurück. Andere Könige hätten wahrscheinlich schon längst unmissverständliche Schritte eingeleitet, aber, sein Onkel wollte, um der alten Freundschaft mit König William, Roxanes verstorbenen Ehemann, Willen, zwischen den beiden Ländern kein Blut vergießen. Deshalb hatten Ruben und sein Cousin, der Sohn König Samuels, auch beschlossen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, zumal Rilana Mitte des Jahres bereits achtzehn Jahre alt würde und somit der Vereinbarung nichts mehr im Wege stünde. Sein Onkel hatte widerwillig ihrem Plan zugestimmt. Er vertraute darauf, dass Ruben und die anderen bereit wären, das Leben seines einzigen Sohnes und Erben, mit aller Macht zu schützen. Aber Ruben hatte mittlerweile den Eindruck, dass ihm die Sache mehr und mehr aus den Händen glitt. »Ich frage mich, was diese Hexe mit der Prinzessin vorhat? Etwas Gutes doch bestimmt nicht!«

ÜBER DEN AUTOR

 ÜBER DEN AUTOR

Bereits seit ihrer Jugend schreibt Daniela Vogel Liedertexte, Kurzgeschichten, Gedichte und Berichte. Sie war viele Jahre in der Schülerzeitung ihres Gymnasiums tätig und eine Zeit lang die Chefredakteurin. Nach ihrer Schulzeit studierte sie Mathematik und Informatik. Erst als ihre Kinder aus dem Gröbsten heraus waren, begann sie erneut mit dem Schreiben. „Die Erbin der Steine“ ist ihre dritte Veröffentlichung und der zweite Roman ihrer „Die Chroniken Aranadias“ - Reihe. Daniela Vogel ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit ihrer Familie in Duisburg

 

 

Bereits erschienen:

 

Die Tochter des Drachen ( Die Chroniken Aranadias 1)

 

Die Kristallgrotte ( Die Kinder Albas 1)

 

1. Auflage: Die Herrin der Seelen als „Die Erbin der

Steine“ ( Die Chroniken Aranadias 2)

 

 

Impressum

Texte: Daniela Vogel
Bildmaterialien: Lara Le Gray
Cover: Daniela Vogel
Satz: Daniela Vogel
Tag der Veröffentlichung: 20.08.2018

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all diejenigen, die mir Mut gemacht haben.

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