Prolog
Sie lag auf einem mit Fellen bedeckten Himmelbett. Die ersten Strahlen der Sonne drangen durch die dunklen Vorhänge und versuchten alles in ihr goldenes Licht zu tauchen, doch sie bemerkte es nicht einmal. Sie stöhnte, dann schrie sie laut auf. Die Alte, die neben ihr hockte und ihre vom Schweiß und Fieber glühende Stirn mit kalten, feuchten Tüchern kühlte, seufzte leise.
„Es ist gut! Nicht mehr lange und Ihr habt es überstanden", flüsterte sie ihr leise ins Ohr. Erneut schrie sie, während eine Woge des Schmerzes ihren Körper schüttelte.
„Ich hasse ihn! Ich hasse sie alle! Sie werden büßen, das schwöre ich, bei allem, was mir heilig ist.“
„Ihr dürft nicht so viel sprechen! Spart Euch Eure Kraft, für das, was noch kommt.“ Die Alte sah sie nachdenklich an. „Beim ersten Mal verflucht man immer Gott und die Welt. Ihr seid da keine Ausnahme, aber mit der Zeit wird es besser. Je öfter Ihr ein Kind bekommt, desto leichter fällt es Euch.“ Sie bäumte sich auf, als eine weitere Welle sie erfasste und griff nach der Gurgel der Alten.
„Für mich wird es nie einfacher werden! Ich bin nicht wie alle anderen. Ich werde kein weiteres Kind bekommen! Das weißt du so gut wie ich. Wofür habe ich dich rufen lassen, wenn du nicht bereit bist, mir zu helfen?“, sie schrie ihre Gegenüber geradezu an, während sie fester zudrückte.
„Ich kann Euch noch nicht helfen!“, brachte die Alte mühevoll hervor. „Die Geburt ist noch nicht weit genug vorangeschritten!“
„Dann schneide es mir aus dem Leib. Ich will es nicht! Vielleicht können wir so ...“
„Aber ...!“
„Nichts aber! Ich war nie der Typ, der anstandslos nur erduldet und sich schweigend fügt. Das weißt du so gut wie ich. Erst zwingt sie mich zu Dingen, die ich abgrundtief hasse, dann verflucht sie mich, weil ich dieses verdammte Schicksal einfach nicht akzeptieren wollte und konnte. Doch dann, ..., Merana", sie wimmerte leise, als eine weitere Wehe ihren Körper erfasste. „Ich konnte ihn nicht ...“, brachte sie unter Schluchzen hervor. „Ich konnte nicht tun, was sie von mir verlangt hat. Ich konnte es nicht. Er ... Als sie das mit uns erfahren hat, hatte sie nichts Besseres zu tun, als ihn dazu zu bringen, mich zu nehmen. Glaubst du, mir liegt etwas an dem da?“, sie deutete auf ihren Bauch. „Es ist von unserem Blut! Es wird genau so ein Monster wie wir! … Sie wird schon dafür sorgen", fügte sie leise hinzu.
„So dürft Ihr nicht reden! Was kann das arme Würmchen dafür?“
„Was es dafürkann?“, wieder schrie sie. „Es wird mich umbringen!“
„Es wird Euch nicht umbringen“, sie nickte schweigend.
„Ich weiß! Aber, was mir bevorsteht, ist schlimmer als der Tod. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte mir den Gefallen getan, mich zu töten. Aber er konnte es nicht, weil sie ihn von mir ferngehalten hat. Ich weiß nicht, was sie ihm gesagt hat, aber, …, Merana, als ich merkte, dass ich schwanger bin, habe ich ihn förmlich angefleht, es zu tun, bevor es zu spät ist, doch ...“, sie schluchzte leise. „Sie will und wollte immer, dass es mein Schicksal beschließt und nun hat sie es geschafft. Es wird mich hassen. Er wird mich hassen. Sie hat mich immer gehasst!“
„Er hasst Euch nicht, ganz im Gegenteil. Er liebt Euch!“
„Welche Art von Liebe soll das sein?“ Sie brach in Tränen aus. Als die nächste Wehe ihren Körper erfasste, schluchzte sie noch lauter. „Merana ich versteh es nicht! Warum hat er mir das angetan?“
„Kind beruhigt Euch! Er hat es nicht gewollt! Genauso wenig wie Ihr selbst, aber er hatte nicht die Wahl.“
„Man hat immer eine Wahl!“, gab sie zurück.
„Man, vielleicht, aber nicht Ihr beide!“
„Wird sie", sie deutete auf ihren geschwollenen Leib, „genau so sein wie wir?“ Die Alte zuckte mit den Achseln.
„Keine Ahnung!“
„Du darfst nicht zulassen, dass sie auch ihr Leben zerstört! Töte uns!“
„Ach, Kind ...“
„Du hast gesehen, was sie uns angetan hat. Du musstest miterleben, was aus uns geworden ist. Ich will ihr", wieder deutete sie auf ihren Bauch, „dieses Schicksal ersparen. Du weißt, was mit mir geschieht, wenn das Kind auf der Welt ist. Lass nicht zu, dass sie ...“, wieder traf sie eine Wehe wie ein Faustschlag in den Unterleib und sie schrie erneut. „Was auch geschieht, nimm das Kind und verstecke es. Bring es fort von hier! Hörst du? Sie darf es nicht in die Finger bekommen. Sie hat mir das alles nur angetan, weil ich eine solche Enttäuschung für sie war. Merana, die Dinge werden sich wiederholen. Sie wird nicht eher ruhen, bis sie bekommt, was sie will.“
„Wie wollt Ihr ihr erklären, dass das Kind weg ist?“
„Ich werde gar nichts erklären. Ich werde es nicht mehr können", fügte sie schreiend hinzu. „Geh ihn holen, er soll mit ansehen, was er mir angetan hat und dann mit dieser Schuld leben. Er ist doch in der Nähe?“ Die Alte nickte. „Gut! Dann geh! Er soll miterleben, was geschieht, denn auch ihn wird irgendwann das gleiche Schicksal ereilen. Sie wird nicht zulassen, dass sie ...", wieder deutete sie auf ihren Bauch, „bei ihm aufwächst, deshalb wird sie auch ihn ...“
„Kind ...“
„Es wird genauso enden, wie bei allen anderen. Geh ihn holen, sonst ist es zu spät.“
„Ich weiß nicht, ob er ...“
„Er wird kommen, glaub mir!“, unterbrach sie die Alte. „Sie wird sich an seinem Unglück weiden wollen und dann wird sie mit ihm das machen, was sie auch mit all den anderen gemacht hat. Sie liebt es, ihren Triumph auszukosten.“ Die Alte erhob sich zögernd, blickte noch einmal auf sie herunter und verschwand dann aus ihrem Blickfeld. Die Wehen kamen in immer kürzeren Abständen, was nur bedeuten konnte, dass die Geburt kurz bevorstand. Wieder schluchzte sie leise. Sie hatte ihn geliebt, obwohl es eigentlich unmöglich war. Schon als sie ihn das erste mal gesehen hatte. Es war einfach geschehen, ohne dass sie es gewollt hätte. Er hatte gewusst, was sie war und warum sie niemals beieinanderliegen konnten. Er hatte es akzeptiert und sie in Frieden gelassen, solange bis ... Ihre Mutter! Ihre verfluchte Mutter hatte ihn mit einer List dazu gebracht, ihr die Unschuld zu rauben und somit ihren und seinen Untergang besiegelt. Schon richtig, es gehören immer zwei dazu, aber ihre Mutter war so weit gegangen, ihm einen Trank zu verabreichen, damit diese eine Nacht auch Folgen hatte. Sie hätte nie für möglich gehalten, dass ihre Mutter bereit wäre, sie dermaßen zu hintergehen. Aber sie hatte es getan und das nur, weil sie ihn vor ihr beschützt hatte. Im Grunde genommen bereute sie nicht, was geschehen war. Alles was sie tat, geschah aus Liebe. Auch ihm konnte sie keinen Vorwurf machen. Auch er tat es nur aus Liebe. Sie beide waren in die Falle getappt und das Schlimmste daran war, dass sie diese Falle auch noch genossen hatten. Sie hatte seit ihren Kindertagen gewusst, was mit ihr geschehen würde, wenn sie schwanger würde und das Kind auch austrug. Aber dennoch hatte sie sich ihm bereitwillig hingegeben, in der Hoffnung, dass es nicht so weit kommen würde. Sie hasste das Kind nicht. Sie liebte es schon jetzt abgöttisch. Immerhin war es ein Teil von ihr und ihm. Aber der Gedanke, dass ihre Mutter es in die Finger bekäme, war ihr einfach unerträglich. Sie musste es einfach in Sicherheit bringen und er war ihre einzige Hoffnung. Jetzt, wenn er mit eigenen Augen sehen würde, was ihr widerführe, dann würde er sie verstehen, aber jetzt war es zu spät. Zu spät für sie selbst und für sie beide, aber nicht zu spät für das Kind. „Atticus!“, sie flüsterte leise seinen Namen. „Wieso? Wieso nur?“ Durch die Tür ihres Gefängnisses, denn nichts anderes war ihr komfortables Gemach, trat ein wahrer Hüne. Seine hellblonden Haare fielen ihm bis auf seine muskulösen Schultern. Seine Waffen klirrten leise, als er sich ihrem Bett nun näherte. Große blaue Augen sahen sie gequält an.
„Silvana, das wollte ich nicht. Du musst mir glauben. Ich ...“
„Was hat sie dir erzählt? Dass wir von nun an bis in alle Ewigkeiten glücklich miteinander sein können? Sie hat dich getäuscht! Sie ist ...“ Silvana schrie erneut, doch diesmal war die Wehe anders als vorher. Die Alte, die ebenfalls das Zimmer betreten hatte, drängte sich an ihm vorbei.
„Sie hat es gleich geschafft! Geht zur Seite! Ich muss meine Arbeit machen!“
„Nein!“, kreischte Silvana. „Er soll bleiben, wo er ist. Er soll mit ansehen, ...“ Atticus griff betroffen nach ihrer Hand und drückte sie. Mit der anderen schob er eine ihrer langen Haarsträhnen aus ihrem Gesicht.
„Silvana, ich liebe dich! Ich ...“ In diesem Moment beugte sich die Alte über ihren Unterleib.
„Das Kind kommt! Ich kann es schon sehen!“
„Nein!“, Silvanas Stimme überschlug sich. „Atticus, bitte! Ich flehe dich an, töte mich, bevor es zu spät ist. Erspare mir mein Schicksal! Du kannst nicht wollen, dass ...“ Weiter kam sie nicht. Die Alte zog bereits das Kind aus ihrem Leib. Als der erste Schrei ertönte, flüsterte sie noch leise, „Nimm das Kind und bring es an einen sicheren ort! Versprich es mir!“, dann verwandelte sie sich vor seinen Augen zu Stein. Atticus starrte von seiner Geliebten auf das Kind in den Armen der Alte.
„Es ist ein Mädchen! Ihr habt eine wunderschöne Tochter!“ Doch Atticus hörte der Alten nicht mehr zu.
„Silvana? Nein!“, er schrie die Worte in seiner Verzweiflung, während sich seine Augen mit Tränen füllten. „Was habe ich dir nur angetan?“ Er schluchzte leise, während er seine Arme um den kalten Marmorkörper schlang und seinen Kopf auf ihrer Brust bettete. „Sie hat mir versprochen, dass sie den Fluch zurücknimmt. Sie hat es versprochen! Sie sagte, wir wären auf ewig vereint. Sie ...“
„Sie kann den Fluch nicht zurücknehmen.“ Atticus starrte die Alte verwirrt an.
„Was sagst du da?“
„Ich sagte, sie kann den Fluch nicht zurücknehmen. Solange sie existiert, werden all ihre Nachkommen, das gleiche Schicksal ereilen.“
„Dann werde ich sie töten!“ Er sprang auf, doch die Alte hielt ihn zurück.
„Das könnt Ihr nicht! Kein Mann kann sie töten. Nur eine ihrer Nachkommen kann das und damit den Fluch aufheben. Habt ihr die Statuen in der großen Halle gesehen? Sicher habt ihr das. Wer könnte sie nicht sehen? Atticus, ich muss Euch jetzt etwas anvertrauen, was meinen Tod bedeuten würde, wenn sie je erführe, dass ich es Euch gesagt habe. Aber ich kann nicht mehr. Ich halte das alles nicht länger aus. Zu viele Generationen mussten leiden.“ Jetzt war es die Alte, die leise schluchzte. „All diese Statuen waren Menschen. Um genauer zu sein. Die Weiblichen waren ihre Tochter und die Tochter ihrer Tochter und die Tochter ihrer Tochter ihrer Tochter ... Das geht schon seit Äonen so. Solange ihre Nachkommen Töchter gebären, wird es auch ewig fortdauern. Silvana wollte den Kreislauf durchbrechen, in dem sie geschworen hat, niemals ein Kind zu empfangen. Aber Ihr seht ja selbst, was es ihr gebracht hat. Sie ist nur zu einer weiteren Statue in der Sammlung ihrer Ahnin geworden. Auch Ihr werdet ihr Schicksal teilen, wenn Ihr nicht das tut, was Silvana von Euch verlangt hat. Die männlichen Statuen waren nämlich allesamt die Geliebten ihrer Töchter. Das Grausamste an der Sache ist jedoch, dass obwohl aus Stein, ihre Herzen weiter schlagen. Sie leben allesamt in dieser steinernen Hülle. Sie stehen sich gegenüber, können sich sehen und fühlen den Schmerz, den es bedeutet, so nah beieinander und doch auf ewig getrennt zu sein. Sie sehen ihre Töchter aufwachsen und erleben, wie sie dasselbe Schicksal ereilt. Deshalb wollte Silvana, dass Ihr sie tötet.“
„Aber sie hatte mir versprochen, dass Silvana ...“, seine Stimme brach.
„Ihr seid nicht der Erste, der ihr geglaubt hat. Wollt auch Ihr Eurer Geliebten gegenüberstehen und sehen, wie sie Euer Kind zerstört, ohne die geringste Möglichkeit, es zu verhindern? Wollt auch Ihr ewig leiden?“
„Aber, wie soll man den Fluch aufheben? Wie den Kreislauf brechen, wenn man sie nicht töten kann? Das Schicksal steht doch fest. Es ist unabänderlich.“
„So würde ich das nicht sehen. Es gibt immer eine Möglichkeit sein Schicksal zu ändern. Es ist nicht leicht, aber es ist möglich.“
„Wie?“
„Es gibt eine Prophezeiung.“
„Eine Prophezeiung?“
„Ein Orakel hat vor unendlich langer Zeit ihren Untergang prophezeit. Silvana dachte, dass sie diejenige wäre, die es schaffen könnte, den Kreislauf zu durchbrechen, aber die List ihrer Mutter hat ihrer Hoffnung ein jähes Ende gesetzt. Ich wusste von Anfang an, dass sie nicht diejenige sein konnte, von der in der Prophezeiung die Rede ist. Aber ich denke, Eure Tochter könnte es sein.“
„Wie kommst du darauf?“
„Hört mich an und merkt Euch die Verse, es könnte für Euch und Eure Tochter lebenswichtig werden. Die Prophezeiung lautet:
Mit List gezeugt, aus Leid geboren,
Wird sie zu Höherem erkoren.
Aus Sehnsucht entsprungen, durch Hoffnung gefeit,
Ahnungslos zur Liebe bereit.
Aus dem Meer wird er kommen, wie
Vorherbestimmt.
Der Kreislauf endet mit einem Kind.
Doch der Treue ergeben, wird sie weiter leben.
Sein Tod wird besiegeln, wie sehr sie sich lieben.
Um den Schmerz zu beenden, muss das Schicksal
Sie wenden.
Das Lied muss erschallen, ihr Gesang wird
Erklingen,
Die Mauern fallen und die Felsen zerspringen.
Was verdammt, wird erlöst und ewig bestehen,
Der Fluch wird gebrochen und die Macht
Untergehen.
Ich wusste, dass Silvana nicht diejenige welche sein konnte, da Ihr zwar übers Meer, aber nicht aus dem Meer gekommen seid. So, nun aber genug der Rede.“ Sie drückte ihm das Kind in die Arme. „Geht, bevor es zu spät ist. Wenn sie Euch findet und berührt, werdet Ihr Silvanas Schicksal teilen. Wollt Ihr das? Also geht!“ Atticus blickte auf seine Geliebte, dann auf das Kind in seinen Armen.
„Ich kann nicht fort. Ich kann ...“
„Ihr könnt nicht nur, Ihr müsst! Für Silvana könnt Ihr im Moment nichts tun, für sie", sie deutete auf das Kind, „aber schon. Ich werde Euch helfen, den Palast ungesehen zu verlassen und jetzt, verliert keine Zeit. Sie wird gleich hier sein.“ Atticus nickte, während er sich noch einmal über Silvana beugte und sie küsste.
„Ich werde nicht eher ruhen, bis ich dich wieder in meinen Armen halten kann, das verspreche ich dir, bei allem, was mir heilig ist.“ Noch einmal küsste er sie. Ihm war, als würde die unbewegliche Statue seiner Geliebten ihm zunicken, aber das war vermutlich nur seine Einbildung. Schließlich aber löste er sich von ihr und folgte der Alten, die bereits vor dem Kamin stand. Sie drückte einen der Steine, der Boden senkte sich und legte eine Treppe frei, die in die Tiefe führte.
„Folgt dieser Treppe und dem Gang. Sie werden Euch nach draußen bringen. Dort lauft Ihr, so weit Euch Eure Füße tragen. Nehmt ein Schiff oder tut sonst was, aber bringt die Kleine in Sicherheit. Denkt daran, sie ist Eure einzige Hoffnung.“ Er nickte.
„Hat Silvana dir gesagt, wie sie sie nennen wollte?“ Er blieb noch einmal stehen und sah die Alte fragend an. Merana nickte.
„Nennt sie Saphira. Der Saphir besitzt eine große Beschützerfunktion. Er wird Eurem Kind Schutz bieten. Außerdem steht er für Weisheit, Treue, Klugheit und Vernunft, alles Eigenschaften, die sie benötigen wird.“ Wieder nickte er. „Geht jetzt und viel Glück!“
„Das werde ich brauchen!“, mit diesen Worten verschwand er über die Treppe in dem dunklen Gang. Merana betätigte erneut den Stein und die Treppe verschwand genauso schnell, wie sie erschienen war. Dann schritt sie langsam auf das Bett zu.
„Silvana", flüsterte sie leise. „Ich weiß, dass du mich hören kannst. Sie werden in Sicherheit sein. Du weißt, dass du mir immer die Liebste von allen warst. Ich verspreche dir hiermit, dass ich alles Erdenkliche tun werde, damit sie es schaffen, den Kreislauf endlich zu durchbrechen.
Kapitel 1
Ruben stand an Deck der „Persepolis“, und schlang seinen Umhang fester um seinen Körper. Seit fünf Tagen herrschte absolute Flaute. Kein Lüftchen ging, sodass die Segel schlaff an den Masten hingen. Seit einigen Stunden war Nebel aufgezogen, eigentlich unmöglich, da nicht der leiseste Hauch eines Windes zu spüren gewesen und es viel zu warm dafür war. Aber dennoch war er aufgezogen. Der Nebel war so dicht, dass er kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Die Planken unter seinen Füßen knarrten leise, als er nun langsam auf und ab schritt. Es war geradezu unheimlich, denn aufgrund der Tatsache, dass seine Augen kaum etwas sehen konnten, war sein Gehör umso besser. Doch das Unheimlichste an der ganzen Sache war, dass er im Grunde genommen nichts hörte außer dem Klang seiner eigenen Schritte. Sein Blick fiel nach oben in Richtung Hauptmast, wo sich der Ausguck befand. Aber es war zwecklos jemanden dort hinaufzuschicken, er würde sowieso nichts entdecken können. Resignierend zuckte er mit den Schultern und wanderte dann wieder zurück in Richtung seiner Kajüte. Dort angekommen warf er seinen Umhang auf seine Koje und setzte sich an seinen breiten Schreibtisch. Zwei Jahre waren sie nun schon unterwegs und seine Männer, obwohl ihm treu ergeben, wurden langsam ungeduldig. Zu groß war ihr Heimweh, zu groß die Sehnsucht nach ihren Familien. Er verstand sie nur allzu gut. Auch er hatte Sehnsucht. Doch die Geschehnisse von vor zwei Jahren hatten ihn zutiefst verwirrt und in diesem Zustand wollte er keinem seiner eigenen Leute vor die Augen treten. Erst musste er wieder mit sich selbst klarkommen, bevor er zurückkehren konnte. Dass sein Zustand aber so lange anhalten würde, damit hatte er nicht einmal im Traum gerechnet. Wieder drängten sich die Ereignisse von damals in seine Gedanken und wieder raubten sie ihm die Luft zum Atmen. Etwas Ähnliches hatte er schon einmal durchstehen müssen. Doch zu jener Zeit war er noch ein Kind gewesen, dass von Erinnerungen gequält, kaum in den Schlaf gefunden hatte. Jetzt war er ein Mann und musste sich endlich in den Griff bekommen. Doch kaum hatte er diesen Entschluss gefasst, da entstanden vor seinem inneren Auge auch schon wieder die Bilder der Vorfälle von damals. Sie brachen förmlich aus ihm heraus wie die tosenden Fluten des Meeres. Er lauschte gespannt in die Stille, in der Hoffnung etwas zu hören, was ihn von seinen Gedanken ablenken, und ihn aus seiner Trübseligkeit reißen könnte, aber es war auch weiterhin totenstill. Diese absolute Stille war kaum noch zu ertragen!
Er hatte sich immer für mutterseelenallein auf der Welt gehalten, doch die Ereignisse von damals hatten ihn eines Besseren belehrt. Zuerst war sein tot geglaubter Vater wieder erschienen und dann auch noch seine Mutter. Er hatte Jahre gebraucht, um über den Tod der beiden wenigstens einigermaßen hinwegzukommen, und dann waren sie wie aus dem Nichts plötzlich wieder aufgetaucht. Er wusste nicht, wie er mit dieser Tatsache umgehen sollte. Einfach zur Tagesordnung überzugehen und so zu tun, als wäre nie etwas geschehen, war ihm unmöglich. Zu viel war in der Zwischenzeit passiert. Er war nicht mehr der kleine Junge, der sich ihnen weinend in die Arme warf, wenn es für ihn zu schwierig wurde, die Dinge allein zu meistern. Er war jetzt ein Mann und er hatte viel zu früh lernen müssen, mit seinen eigenen Entscheidungen zu leben und für seine Taten geradezustehen. Wie immer, wenn er an seine Eltern dachte, schossen ihm die Bilder aus seiner Kindheit in den Kopf. Seine zutiefst verwirrte Mutter, die ihn unbedingt in ein Kloster stecken wollte. Seine beiden älteren Brüder, die im Hof vor seinem Fester ihren Waffenübungen nachgingen, während er oben in seiner Kammer mit den Lateinlektionen seines Lehrers, Vater Barnabas, beschäftigt gewesen war. Seine Flucht vor seiner Mutter. Der See, der auf ihrem Gut gelegen hatte und dann das Auftauchen Gorregs des Schwarzen, der seinen Bruder Daniel mit einer Axt, die eigentlich ihn hatte treffen sollen, getötet hatte. Seine Mutter, die bereitwillig mit diesem Schwein ins Haus gegangen war, nur um ihre beiden Söhne vor ihm zu schützen. Das Drachenemblem, das Gorreg ihm tief in seine Haut gebrannt hatte und schließlich Elias, den sie an ein Rad gebunden, gefoltert und zuletzt auch noch geblendet hatten. Sein Bruder hatte ihn angefleht, ihn zu töten und er hatte es letztendlich getan, obwohl sich seine Geburt erst acht Mal gejährt hatte. Die Konsequenz daraus war allerdings, dass er sich über Jahre hinweg die größten Vorwürfe gemacht hatte. Doch mittlerweile konnte er mit seiner damaligen Tat umgehen und sie als das akzeptieren, was sie gewesen war: Ein Akt der Gnade. Womit er aber immer noch nicht richtig leben konnte, war die Tatsache, dass auch sein Vater ihn, trotz der Vorfälle von damals verlassen, und in dem Glauben gelassen hatte, er wäre in einer Schlacht getötet worden. Gut, sein Vater hatte ihm seine Gründe dafür plausibel dargelegt, doch Ruben war in seinem Innern unbewusst noch immer der kleine Junge, der mit seinem Schicksal haderte. Es half auch nichts, dass er in seiner Tante und seinem Onkel so etwas wie neue Eltern gefunden hatte und sein kleiner Vetter, für ihn mehr ein Bruder, als alles andere gewesen war. Sie waren einfach nicht seine richtige Familie. Seine richtige Familie hatte ihn bloß kläglich im Stich gelassen. Sein Verstand sagte ihm zwar, dass er an seines Vaters Stelle vermutlich genauso gehandelt hätte, aber sein Herz schrie noch immer nach den Zuwendungen und der Liebe, die er in all den Jahren nicht von ihm bekommen hatte.
Als wenn das nicht alles schon schlimm genug gewesen wäre und er nicht schon genug gelitten hätte, musste das Schicksal dann vor zwei Jahren noch einmal mit voller Wucht zugeschlagen. Sein Vetter Raoul hatte damals endlich seine große Liebe gefunden. Seine Bestimmung! Und er? Er hätte fast den Tod der beiden verschuldet. Er war in Gorregs und Xorenas Falle getappt, wie ein unbedarfter Tölpel. Wenn auch Raoul und Rilana ihm verziehen hatten und immer wieder beteuerten, dass es nicht seine Schuld gewesen wäre, so konnte er selbst sich jedoch nicht verzeihen. Die Bilder seines Versagens gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf. Nachdem Gorreg oder de Beriot, wie er sich zu diesem Zeitpunkt nannte, ihn unter seine Kontrolle gebracht hatte, musste er mit ansehen, wie er selbst Dinge tat, für die er sich abgrundtief hasste. Er konnte noch immer de Beriots Stimme in seinem Kopf hören, die ihm befahl, seinen eigenen Vater umzubringen. Er sah noch immer, wie er sich Rilana über die Schulter schmiss, hörte ihr Flehen, ihr zu helfen, und wie er sie schließlich in dieses stinkende Loch geworfen hatte. Das Schlimmste aber an seiner damaligen Lage war die Tatsache gewesen, dass de Beriot ihn Xorena oder Roxane, wie sie sich zu diesem Zeitpunkt genannt hatte, als Objekt ihrer Begierde geschenkt hatte. Er hatte keinen freien Willen besessen und jeden ihrer noch so perversen Wünsche erfüllt, obwohl er nichts lieber getan hätte, als ihr die Gurgel umzudrehen. Er war noch nicht einmal fähig gewesen Worte, geschweige denn ganze Sätze zu bilden. Wie ein Tier hatte sie ihn in einen Käfig gesperrt, denn das Monster, das sie aus ihm gemacht hatten, wurde nur von seinen Trieben beherrscht, die ihn trotz der Schmerzen, die sie ihm zugefügt hatte, immer wieder in ihre Arme trieben. Es war die reinste Folter gewesen, ihr Sexsklave und gleichzeitig ihr Prügelknabe zu sein. Sein Geist hatte jedes Mal laut aufgestöhnt und „Nein“ geschrien, aber sein Körper, der vollständig unter de Beriots Kontrolle stand, hatte geradezu nach ihr gegiert. Er war dem Wahnsinn so nah gewesen, dass es oftmals nur einer Kleinigkeit bedurft hätte und er hätte sich mit Freuden hineingestürzt. Meist, wenn er kurz davor stand, es wirklich zuzulassen, hatte sie von ihm abgelassen und sein Geist hatte sich für kurze Zeit an die irrige Hoffnung geklammert, es wäre endlich vorbei. Aber es war nicht vorbei. Monate lang hatte sie ihn gequält, bis sie schließlich scheinbar genug von ihm hatte und einen noch perfideren Plan ausheckte. Noch immer musste er an ihre Berührungen denken und noch immer ekelte es ihn an, was er damals alles getan hatte. Oft genug wurde er auch jetzt noch des Nachts schweißgebadet wach. Das Einzige, was ihm dann einfiel, war zu überprüfen, ob sein Verstand auch wirklich noch seinen Körper beherrschte. Nur um kurz darauf wieder einzuschlafen und das Ganze noch einmal durchzumachen. Sowohl Raoul als auch sein Vater hatten ihn damals bedrängt, ihnen zu sagen, was sie mit ihm gemacht hatte. Er aber hatte beharrlich geschwiegen und sich fest vorgenommen, niemals über seine Gefangenschaft zu reden. Warum die beiden mit Dingen belasten, die sie nichts angingen? Er würde schon irgendwann fähig sein, auch diese Episode seines Lebens in die hinterste Ecke seines Verstandes zu verbannen, und dann wäre er endlich frei und könnte ihnen gegenübertreten. Noch war es allerdings nicht so weit.
Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Da er sich bereits an die absolute Stille gewöhnt hatte, erschrak er bei dem Geräusch. Er blickte auf und versuchte verzweifelt, seine Gedanken zu ordnen, bevor er leise, „Komm herein!“, flüsterte. In der Tür erschien der blonde Lockenkopf seines ersten Steuermanns und mittlerweile besten Freundes Lucas.
„Ruben entschuldige die Störung, aber wir müssen dringend reden.“ Ruben nickte.
„Ich weiß!“ Lucas kam durch die Tür, schloss sie leise und setze sich dann auf den Stuhl, der Ruben gegenüberstand.
„Ruben, ich möchte dich nicht drängen, aber ...", begann Lucas zögernd.
„Was ist los? Warum zögerst du? Du sagst doch sonst auch alles, was du denkst.“
„Es geht um die Männer. Du weißt, sie stehen alle hinter dir. Aber langsam werden sie ungeduldig. Wir sind jetzt bereits zwei verdammte Jahre unterwegs, ohne ein richtiges Ziel vor Augen zu haben. Sie fragen sich langsam, wofür unsere Reise überhaupt gut ist. Wir treiben keinen Handel. Wir suchen nicht nach Schätzen. Wir sind in keine Schlachten verwickelt. Wir segeln einfach nur so durch die Gegend ohne Sinn und Verstand. Der Proviant wird langsam knapp, da wir seit über drei Monaten keinen Hafen mehr angelaufen haben. Wenn wir unsere Vorräte nicht bald auffüllen, dann riskierst du, dass sie krank werden. Willst du, dass sie Skorbut bekommen? Willst du, dass es eine Reise ohne Wiederkehr wird? Willst du ihren Tod? Oder ist es deiner, den du herbeisehnst?“ Ruben sah ihn nachdenklich an. „Du schließt dich tagelang hier unten ein und grübelst. Irgendwann reicht es. Und mir reicht es schon lange. Du bist mein bester Freund, aber ich kann und will nicht mehr mit ansehen, wie du dich selbst zerstörst. Was ist damals geschehen, dass dich dermaßen verändert hat? Du hattest vorher doch auch schon einiges erlebt, was andere nicht so leicht hätten wegstecken können. Doch seit dich diese Hexe in ihren Klauen hatte, bist du nicht mehr du selbst. Du bist ein gebrochener Mann. Doch anstatt dagegen anzukämpfen, suhlst du dich geradezu in deinem Elend. Wenn es nur um dich gehen würde, würde ich dir ja deine Schwermut gönnen. Kann sein, dass du deinen Zustand vielleicht sogar genießt, aber es geht nicht nur um dich. Die Männer haben ein Recht darauf ihre Familien wiederzusehen. Genug ist genug. Willst du eine Meuterei riskieren? Willst du, dass sie das vollenden, was Roxane damals begonnen hat? Komm endlich wieder zu dir!“
„Bist du fertig?“ Rubens Stimme klang matt.
„Noch lange nicht! Ich habe dir deinen Willen gelassen. Ich bin dir gefolgt. Ich habe für dich immer die Drecksarbeit erledigt, wenn wir in Schwierigkeiten geraten sind, aber wenn du nicht langsam Vernunft annimmst, dann kannst du auf mich auch nicht mehr zählen. Du isst kaum noch etwas. Du schläfst nicht. Du ziehst dich tagelang in die Einöde deiner Kajüte zurück und redest mit Niemandem. So geht das nicht weiter! Sieh dich noch an. Du bist nur noch ein Schatten deiner selbst. Ich habe es so satt! Ich kenne dich bereits, seit ich denken kann, aber so habe ich dich noch nie gesehen. Nicht einmal als dein Vater damals verschwand und da warst du noch ein Kind. Reiß dich endlich zusammen. Ich habe keine Lust, deine Leiche ins Meer zu versenken, denn lange wird es nicht mehr dauern, wenn du so weiter machst.“
„Was weißt denn du?“ Ruben schrie ihn geradezu an.
„Was ich weiß?“, schrie Lucas zurück. „Ich weiß, dass ich gerade dabei bin, meinen besten Freund zu verlieren! Ich weiß, dass ich damit nicht leben könnte! Ich weiß, dass ich nicht länger tatenlos zusehen kann und ich weiß, dass Raoul mir in den Arsch treten würde, wenn er wüsste, dass ich so lange geschwiegen und dir deinen Willen gelassen habe.“, Lucas Stimme wurde eine Spur leiser. „Mein Gott, Ruben! Was damals auch geschehen ist, es ist kein Grund der ganzen Welt den Rücken zuzukehren. Du weißt, du kannst mit mir über alles reden. Also rede endlich. Das macht es leichter!“
„Ich kann nicht!“, Ruben rang verzweifelt die Hände. „Lucas, es ist nicht so, dass ich nicht reden will. Ich würde gerne, aber ich kann nicht! Jedes Mal, wenn ich nur daran denke, bekomme ich keine Luft mehr. Es schnürt mir die Kehle zu. Es ist, als hätten Roxane und de Beriot mir damals die Worte, die ich für das benötige, was sie mir angetan haben, aus meinem Kopf geschnitten. Ich weiß, du kannst mich nicht verstehen, aber ich kann mich ja kaum selbst verstehen. Denkst du, mir geht es gut? Glaubst du wirklich, ich würde es genießen, mich in meinem, wie sagtest du doch gleich, Elend zu suhlen? Lucas, ich suhle mich nicht in meinem Elend! Ich will nur, dass es endlich aufhört!“
„Und deshalb begehst du Selbstmord auf Raten?“
„Werde nicht melodramatisch!“
„Ich bin nicht melodramatisch. Ich bin nur ein guter Beobachter!“, Ruben nickte.
„Ich weiß!“
„Wirst du dich nun endlich zusammenreißen?“ Ruben starrte ihn lange schweigend an, dann jedoch nickte er.
„Ich werde es versuchen. Aber ich kann dir nichts versprechen.“
„Das ist mehr, als ich erwartet habe und Ruben, denk daran, mein Angebot steht. Wenn du bereit bist zu reden, dann bin ich bereit zuzuhören.“ Wieder schwiegen sie eine Weile.
„Jetzt aber zu unserem anderen Problem. Ich habe nicht übertrieben, als ich dir sagte, die Männer werden ungeduldig. Ungeduldig ist vielleicht nicht das richtige Wort, ich würde es eher lethargisch nennen“, begann Lucas von Neuem das Gespräch. „Wenn nicht bald etwas geschieht, dann werden sie meutern. Du weißt, dass der Aberglaube viele Männer der See beherrscht. Auch in deinen Leuten ist er stark verwurzelt. Sie halten die Flaute, die seit Tagen herrscht für ein schlechtes Omen. Als heute Morgen dann auch noch der Nebel wie von Geisterhand aufzog, waren es nicht wenige, die auf ihre Knie fielen und Gott um Gnade anflehten. Du musst mit ihnen reden. Sie haben Angst!“
„Ich werde mit ihnen reden. Obwohl ..., Lucas, etwas stimmt wirklich nicht. Ich halte das alles nicht für ein schlechtes Omen, so weit würde ich nicht gehen, aber ... Findest du es nicht auch merkwürdig, dass während einer tagelangen Flaute plötzlich so dichter Nebel aufzieht, dass man kaum die Hand vor Augen sehen kann. Dann diese Stille. Diese verfluchte tödliche Stille! Ich war heute Morgen an Deck und ich konnte noch nicht einmal ein leises Plätschern der Wellen hören. Das Einzige, was ich hören konnte, war mein Atem und meine Schritte auf den Planken. Sonst nichts! Rein gar nichts! Das ist nicht normal. Etwas geht hier vor sich und ich weiß nicht, was es ist. Wäre ich so abergläubisch wie unsere Mannschaft, dann würde ich wahrscheinlich auch auf die Knie fallen und beten.“
„Ruben, das ist es nicht allein. Die Männer glauben unser Schiff sei verflucht. Ich weiß nicht, ob du überhaupt mitbekommen hast, wo wir uns gerade befinden. Das hier ist die Meerenge von Alara. Du hast unser Schiff geradewegs hineinmanövriert. Du kennst doch die alten Legenden?“, Lucas wartete gespannt auf seine Antwort, doch, noch bevor er etwas erwidern konnte, nahm er ihm das Wort aus dem Mund. „Jeder Seefahrer kennt die Legenden. Es heißt, die Meerhexe kontrolliert die Gewässer. Wenn ihre Stimme erschallt, verwandelt sich das Meer in eine tosende Flut, die alles mit sich reißt. Noch kein Schiff ist unbeschadet davongekommen. Meist verlieren sie die komplette Ladung und die Hälfte der Mannschaft. Wer in die Fluten gerissen wird, bleibt für immer verschollen. Die Männer, die es überleben, und es sind wenige, reden meist nur noch wirres Zeug, auf das man sich keinen Reim machen kann. Sie sind dem Wahnsinn nahe und erholen sich nie wieder.“
„Lucas, du glaubst doch nicht diese Geschichten? Meerhexe? Also wirklich!“
„Wenn etwas wie Roxane existiert, wieso dann nicht auch eine Meerhexe? Hättest du es für möglich gehalten, dass irgendjemand in der Lage wäre, den Menschen die Lebenskraft zu nehmen, um sich damit zu erneuern?“ Ruben schwieg. „Wenn Roxane zu so etwas fähig war, wer sagt mir dann, dass es nicht auch andere gibt, die ihr Leben durch Magie verlängern?“
„Roxane hat ihren Opfern förmlich die Lebenskraft ausgesaugt. Aber welche Art von Magie, so frage ich dich, bewirkt, dass sich die Wogen des Meeres erheben und Schiffe zerschellen lassen? Und zu welchem Zweck soll das gut sein? Toten kann man keine Lebenskraft entziehen. Sie besitzen keine mehr.“
„Sicher, aber ...“
„Ach, Lucas, jetzt überlege doch einmal. Was passiert, wenn ein Schiff in einen Sturm gerät? Meist verliert man einen Teil der Ladung und einige Männer werden von Bord gespült. Die Meerenge von Alara verbindet zwei Meere miteinander und ist äußerst klippenreich. Eines davon hat durch den Hiberastrom immer eine enorm hohe Wassertemperatur, deshalb entstehen hier so viele Stürme wie nirgendwo sonst. Demnach ist sie eine der gefährlichsten Wasserstraßen überhaupt. Da aber die meisten Seeleute nicht unsere Ausbildung genossen haben und oftmals weder schreiben noch lesen können, suchen sie nach Erklärungen, die ihrem Wissensstand entsprechen. Glaub mir, eine Wasserhexe ist für sie wesentlich einfacher zu begreifen, als die Erkenntnisse der Wissenschaft.“
„Wenn du meinst! Aber es ist die Meerhexe, nicht eine Wasserhexe!“
„Was soll das heißen?“
„Ruben", Lucas Stimme wurde gefährlich leise, „die Männer, die von den Reisen zurückgekehrt sind, reden alle ohne Ausnahme von einer tagelangen Flaute. Dann zog Nebel, wie von Geisterhand auf, der ebenfalls einige Tage andauerte. Zu guter Letzt hörten sie eine Stimme. Die Stimme war so lieblich, dass sie von einer Göttin hätte stammen können. Keiner konnte ihr entrinnen. Der Gesang war so schön, dass es ihnen die Tränen in die Augen trieb. Niemand dachte mehr daran, seiner Arbeit nachzugehen. Niemand rührte auch nur einen Finger. Doch dann änderte sich etwas. Aus dem lieblichen Gesang wurde ein infernalisches Gekreische. Das Meer, vorher glatt wie ein Spiegel, erhob sich, als müsste es sich unter Schmerzen verkrampfen. Aus der Flaute wurde ein höllischer Sturm, der an den Segeln ihrer Schiffe riss. Doch die Besatzungen rührten noch immer keinen Finger, weil sie auch weiterhin wie hypnotisiert der Stimme zuhörten. Als sie endlich wieder zur Besinnung kamen, war es schon zu spät. Viele wurden in die Tiefe gerissen. Viele Schiffe zerschellten an den zerklüfteten Felsen und ihre Besatzungen kehrten nie zurück. Doch diejenigen, die es überlebten, schwören, dass die Stimme sie auch heute noch nachts verfolgt und auf die See lockt, so als wolle sie das vollenden, was sie begonnen hat.“
„Lucas, ich kenne die Legenden. Ich weiß, was die Männer über Jahrhunderte hinweg berichtet haben, aber denkst du wirklich, dass auch nur ein Fünkchen Wahrheit darin liegt. Es ist Seemannsgarn. Es gibt keine Beweise, außer dem Geschwafel eines betrunkenen Matrosen in einer Kaschemme.“
„Ich würde dir ja auch recht geben, wäre die Sache mit Roxane nicht geschehen.“ Ruben musste unwillkürlich grinsen.
„Lucas, sag dass das, was ich denke, nicht wahr ist.“, Lucas wirkte verlegen. Ruben betrachtete ihn eingehend, dann brach er in schallendes Gelächter aus, während Lucas ihn verwirrt anstarrte.
„Schön, dass du deinen Humor wiedergefunden hast. Aber ich denke nicht, dass ich der Grund für deine Erheiterung sein sollte.“ Lucas wirkte sichtlich gekränkt.
„Du hast ja keine Ahnung!“ Rubens Gelächter steigerte sich noch eine Spur. Es brach mit voller Wucht aus ihm heraus. Er musste sich den Bauch halten und Tränen traten ihm in die Augen.
„Erfreulich, dass ich dich so amüsiere.“ Lucas wurde langsam wütend.
„Ach, Lucas!“ Ruben bekam kaum noch Luft. „Ich hätte dich niemals für so, … sagen wir es einmal so, kleingläubig gehalten. Du glaubst die Geschichten wirklich!“, Ruben beruhigte sich ein wenig. „Und, was ich niemals von dir gedacht hätte, du hast Angst!“
„Ja, Ruben", gab er zögernd zu. „Ich habe eine Scheißangst! Nachdem, was vor zwei Jahren vorgefallen ist, frage ich mich ständig, ob es davon noch eine Steigerung gibt. Ich frage mich, was ich getan hätte, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre. Und ich frage mich, ob wir nicht einfach nur verdammtes Glück hatten, dass wir alle mit heiler Haut aus der Sache herausgekommen sind. Vielleicht sind wir ja nur vom Regen in der Traufe gelandet. Du hast vorhin selbst gesagt, dass hier etwas nicht stimmt. Es ist nicht normal, was sich hier vor unseren Augen abspielt. Und ich will verflucht sein, wenn ich nicht zugeben könnte, dass mir das alles ganz und gar nicht gefällt.“
„Du hast recht", Ruben wurde mit einem Mal wieder todernst. „Ich denke auch, dass etwas vor sich geht, von dem wir nicht wissen, was es ist. Aber daran, dass unser Schiff von einer Meerhexe verflucht werden soll, daran glaube ich erst, wenn es so weit ist. Wenn wir den Gesang hören sollten, dann kannst du mir immer noch einen deiner sarkastischen Sprüche an den Kopf knallen. Aber in der Zwischenzeit müssen wir die Männer irgendwie beruhigen, denn auch damit hast du recht, ich habe mich viel zu lange verkrochen. Die Männer brauchen Führung vor allem jetzt.“
„Gott sei Dank! Endlich kommst du zur Vernunft.“, Lucas atmete hörbar aus. „Wenn wir das hier lebend überstehen sollten, dann kannst du ja immer noch deinen Selbstmord auf Raten fortsetzen. Irgendwie werde ich die Männer schon wieder nach Hause kriegen, schließlich bin ich ja der Steuermann und noch dazu dein erster Offizier.“
„So mag ich dich! Immer einen Spruch auf den Lippen und immer das letzte Wort.“
„Wäre es anders, würdest du mich dann nicht mehr mögen?“ Lucas verzog sein Gesicht, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.
„Lucas, du bist ein solcher Kindskopf! Aber irgendwie schaffst du es immer, meine Stimmung ein wenig aufzuhellen ... Danke!“
„Nicht der Rede wert! Aber wir sollten jetzt wirklich mit den Männern reden, bevor sie noch eine Dummheit machen!“
Als die beiden Männer das Deck betraten, war der Nebel noch eine Spur dichter geworden. Sie schritten das Deck ab, in der Hoffnung auf einen der Männer ihrer Mannschaft zu treffen, doch der gesamte obere Bereich des Schiffes war menschenleer. Das Geräusch ihrer Schritte schien wie Donnerhall durch die endlose weiße Masse zu dringen. Da der Nebel die Sonnenstrahlen bereits seit den frühen Morgenstunden verdrängt hatte, wurde es zudem immer kälter. Ruben fror. Er schlang seinen Umhang fester um seinen Körper und seufzte. Der Nebel fraß sich einfach durch alles. Seine Kleidung fühlte sich klamm an und auch sein schulterlanges, pechschwarzes Haar wurde langsam feucht. Auf See war es fast an der Tagesordnung, dass man nass wurde, aber die Nässe, die sie jetzt durchdrang, war anders. Sie war geradezu bedrohlich. Da sie keinen der Männer auf dem Oberdeck finden konnten, beschlossen sie, ins erste Unterdeck zu gehen, wo sich die Kojen der Matrosen befanden. Als sie den großen, dunklen Raum betraten, herrschte dort dieselbe tödliche Stille, wie auf dem oberen Deck. Keiner der anwesenden Männer sagte ein Wort. Hin und wieder hörte man ein leises, mutloses Seufzen und dann war es wieder still. Es schien fast, als wären sie sogar zu ängstlich zum Atmen. Ruben betrachtete seine Männer voller Sorge. Er hatte die Männer seiner Crew allesamt persönlich ausgewählt. Sie alle waren hervorragende Kämpfer, die oft genug schon ihre Kraft und ihren Mut unter Beweis gestellt hatten. Jetzt aber lagen sie alle mit vor Angst geweiteten Augen in ihren Hängematten und starrten sinnierend vor sich hin. Ruben konnte ihren Anblick kaum ertragen. So hatte er seine Mannschaft noch nie zuvor gesehen.
„Männer!“, erhob er zögernd seine Stimme. Einige zuckten fast panisch zusammen, andere schienen ihn noch nicht einmal zu bemerken.
„Was habe ich dir gesagt? Sie sind vollkommen lethargisch. Es ist sogar noch schlimmer als heute morgen!“, unterbrach ihn Lucas und flüsterte ihm ins Ohr. Ruben klopfte ihm leicht auf die Schulter und nickte dann.
„Ich verstehe!“, gab er genauso leise zurück. Laut aber fügte er, „Wir müssen reden!“, hinzu. „Ich weiß", setzte er seine Rede fort, „dass ich in letzter Zeit, nicht für Euch da war. Ich habe mich weder um Eure Sorgen und Nöte noch um Eure Ängste und Wünsche gekümmert. Ich weiß, ich war kein guter Kapitän, aber das wird sich nun wieder ändern.“ Ein Raunen ging durch die Mannschaft. Anscheinend hatte er jetzt endlich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. „Lucas ist der Ansicht, wir wären schon viel zu lange auf See. Er hat mir mitgeteilt, dass Ihr Eure Familien vermisst und endlich wieder nach Hause zurückkehren wollt. Ist das richtig?“ Einer der Männer in der hintersten Ecke des Raumes antwortete ihm.
„Es ist nicht so, dass wir nicht gerne auf See sind, wenn Ihr das vielleicht glauben solltet. Aber, zwei Jahre sind eine lange Zeit, wenn man nichts zu tun hat.“
„Ihr denkt also, Ihr habt nicht zu tun?“
„Nichts Richtiges! Wir sehen keinen Sinn in unserer Reise. Reisen wir nur um des Reisens willen, oder haben wir ein Ziel?“ Wieder ging ein Raunen durch die Männer.
„Ihr wisst alle, was vor zwei Jahren geschehen ist.“, die Männer nickten. „Roxane ist verschwunden. Unsere Aufgabe besteht darin, festzustellen, ob sie irgendwo anders wieder aufgetaucht ist. Ist Euch das Ziel genug?“
„Wir wissen, warum wir eigentlich unterwegs sind. Doch weshalb steuern wir dann nicht jeden uns bekannten Hafen an und forschen nach. Oftmals gehen wir mehrere Monate nicht an Land. Denkt ihr, sie treibt hilflos auf dem Meer oder ...“
„Das also ist Euer Problem. Ihr wollt öfter an Land!“
„Kapitän, es liegt uns fern, Euch zu kritisieren und eigentlich haben wir auch nicht das Recht dazu, aber, obwohl die „Persepolis“ ein riesiges Schiff ist, ist sie auf Dauer nicht groß genug für uns. Wir leben hier seit einer gefühlten Ewigkeit auf engstem Raum. Da kommt es leicht zu Reibereien. Wenn wir öfter an Land gingen, könnten wir ...“
„Ich verstehe!“, unterbrach Ruben ihn. „Es geht Euch also im Grunde genommen darum, dass Ihr nicht genügend Möglichkeiten habt, Euch auszutoben. Das hätte ich mir denken können.“
„Einige von uns haben wirklich Heimweh!“
„Ich verspreche Euch, den nächsten Hafen auf unserer Route anzulaufen. Seit Ihr dann zufrieden?“
„Wir werden keinen weiteren Hafen anlaufen können!“, die Antwort seines Matrosen war ein Flüstern.
„Wieso glaubt Ihr das?“
„Die Flaute, der Nebel, sie kommt uns holen!“ Zum wiederholten Male ging ein Raunen durch die Männer. Einige bekreuzigten sich, andere murmelten leise Gebete vor sich hin.
„Wer kommt uns holen?“
„Kapitän, die Meerhexe! Sie hat uns mit ihrem Bann belegt. Sie hat unser Schiff verflucht. Wir werden alle elendiglich zugrunde gehen!“
„Leute ...!“, weiter kam er nicht. In diesem Moment ging ein Ruck durch das Schiff. Die Planken knarrten und ächzten, während der Rumpf nach Steuerbord kippte. Ruben, der nicht damit gerechnet hatte, geriet ins Stolpern. Nur sein Griff nach dem Pfahl, der sich unmittelbar in seiner Nähe befand, verhinderte, dass er auf den Boden fiel. Lucas hatte nicht so viel Glück. Er ruderte mit den Armen und versuchte verzweifelt sich an einer Hängematte festzuhalten. Doch es half nichts. Er stürzte bäuchlings auf den Boden. Als er sich einigermaßen gefangen hatte, probierte er sich wieder aufzurichten, doch das Schiff schlingerte jetzt auf Backbord. Er wurde durch die Wucht der Bewegung mitgerissen und kullerte über den Boden, wie ein getretener Ball. Ruben versuchte verzweifelt seinen Arm zu greifen. Immer wieder warf sich das Schiff von der einen auf die andere Seite. Nach mehreren Anläufen gelang es ihm schließlich Lucas mit einer Hand zu packen und ihn auf die Beine zu ziehen, währen er sich mit der anderen auch weiterhin an den Pfahl klammerte.
„Lucas, wir müssen an Deck! Was ist hier los?“, Lucas nickte ihm völlig außer Atem zu.
„Ich weiß auch nicht", entgegnete ihm dieser gepresst, „So etwas habe ich auch noch nie erlebt.“
„Bist du verletzt?“
„Nein, bei mir ist alles in Ordnung!“ Das Schiff bewegte sich nun immer schneller von einer zur anderen Seite.
„Glaubst du, du kannst mir folgen? Wir müssen nach oben! Die Anker müssen gelichtet werden, bevor die Ketten reißen.“ Ruben löste seine Hand von dem Pfosten. Es war gar nicht so leicht die schaukelnden Bewegungen des Schiffs auszugleichen, aber schließlich gelang es ihm irgendwie. Er tastete sich wackelig auf den Ausgang zu, während Lucas ihm genauso wackelig folgte.
„Männer!“, Lucas drehte sich noch einmal zu den Kojen um. „Folgt mir!“
Als Ruben das Deck betrat, glaubte er seinen Augen nicht trauen zu können. Der Nebel hatte sich verzogen. Anstatt seiner verdeckten nun pechschwarze Wolken die Sonne und es tobte ein Orkan, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Turmhohe Wellen schleuderten das Schiff von einer auf die andere Seite. Einige brachen sich über der Reling, so dass ihre gewaltigen Wassermassen an den Vertäuungen der Kisten, Fässer und Kanonen rissen, die sich auf Deck befanden. Es war einfach infernalisch. Die nächste Welle schwappte in seine Richtung und er musste sich mit aller Gewalt an der Halterung der Treppe festkrallen, sonst wäre er mit ihr in das untere Deck gespült worden. Lucas, der ihm gefolgt war, klammerte sich genauso hilflos wie er selbst an den nächstbesten Gegenstand, den er zu fassen bekam.
„Wir müssen die Segel einholen", schrie Ruben gegen das Tosen des Windes an. „Sind die Männer hinter dir?“
„Ja", schrie Lucas zurück.
„Dann sag ihnen, sie sollen Anker lichten und die Segel raffen.“
„Aber ...“
„Nichts aber. Wir müssen es tun! Die Segel bieten dem Sturm zu viel Fläche, wenn wir sie jetzt nicht einholen, dann werden wir kentern. Macht schon! Ich versuche, mich irgendwie zum Steuer vorzutanzen. Wir müssen das Schiff drehen, bevor es zu spät ist.“ Eine weitere Welle brach sich über Deck. Eine der großen Kanonen löste sich aus ihrer Halterung und bewegte sich mit der Geschwindigkeit einer ihrer Kugeln auf die andere Seite. „Sag den Männern, sie sollen bloß vorsichtig sein. Ich würde ihnen das Ganze ja ersparen, aber, wenn wir noch länger warten, gehen wir unter. Also los! Und viel Erfolg!“
„Dir auch!“
„Ach und Lucas, eins noch! Keine Heldentaten! Wenn wir das Schiff nicht retten können, dann setzt die Männer in die Beiboote.“
„Das ist doch Wahnsinn! In den Beibooten haben sie kaum eine Chance.“
„Jedenfalls eine Größere, als die, die sie haben, wenn das Schiff mit ihnen untergeht.“
Ruben hatte sich fast bis zum Ruder durchgekämpft, als er es wahrnahm. Zunächst hielt er es für eine Sinnestäuschung, dann aber wurde es immer deutlicher und schließlich konnte selbst er nicht mehr leugnen, was er dort hörte. In das Tosen des Windes mischte sich die Stimme einer Frau. Es war kein lieblicher Gesang, sondern ein fast schon höllisches Gekreische. Die Töne waren so schrill und hoch, dass es in den Ohren wehtat. Er presste verzweifelt seine Hände auf seine Ohren, um den Klang ein wenig abzudämmen, doch je mehr er presste, desto lauter wurde die Stimme. Langsam drehte er sich seinen Männer zu, auch ihnen schien es ähnlich zu gehen. Einige standen, genau wie er, mit auf die Ohren gepressten Händen auf Deck und starrten nur noch angstvoll vor sich hin, während andere sich, wie unter starken Schmerzen leidend auf den Boden warfen und schrien. Wieder brach sich eine Welle so heftig, dass sie mit ihren Wassermassen die Hälfte seiner Männer von Bord spülte. Mehrere Verankerungen lösten sich gleichzeitig. Kisten, Fässer und Kanonen verwandelten sich in Geschosse, die alles, was ihnen im Weg stand, mit sich rissen. Er sah Lucas, der sich verzweifelt an den Hauptmast klammerte, während er sein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse verzog und dabei so laut schrie, dass er selbst das infernalische Gekreische übertönte. Ruben nahm seine Hände herunter und versuchte in Lucas Richtung zu gelangen.
„Lucas halte durch! Verdammt!“ Er sprang über eine Kiste, die auf ihn zu schlitterte, während zur gleichen Zeit ein Fass sein Bein streifte. Auch er schrie auf, doch eher aus Wut als aus Schmerz. „Lucas!“ Beim Näherkommen sah er, dass sich auf Lucas Hemd rote Flecken bildeten. Irgendetwas musste ihn verletzt haben. „Verdammt noch mal, Lucas", schrie er, „antworte mir.“ Lucas klammerte sich auch weiterhin an den Mast, den Kopf gesenkt und schwer atmend. Als er Rubens Stimme hörte, blickte er kurz auf.
„Ruben?“ Ruben befand sich jetzt in seiner unmittelbaren Nähe. Er packte seinen Freund und schob ihn vehement zur Seite, als er erkannte, dass eine Kanone geradewegs auf sie zu rollte. Er schaffte es gerade noch sie beide aus der Gefahrenzone zu bringen, da hörte er auch schon ein lautes Knacken. Die Segel über ihnen blähten sich und zerrten an der Takelage, bis diese riss. Der Wind trieb die gewaltigen Stoffbahnen hin und her. Sie knallten gegen den Mast und zogen an dem massiven Holz, solange bis es schließlich nachgab und in der Mitte brach. Ruben hielt die Luft an, denn er realisierte, dass der wuchtige Pfahl sich nun langsam in ihre Richtung senkte. Er rollte sich über Lucas, um ihn zu schützen und ihn mit seinem Körper abzuschirmen. Es krachte laut, dann spürte er, wie etwas seinen Rücken traf. Der Schmerz fuhr ihm durch seine Glieder wie ein Blitz und er stöhnte auf. Er versuchte noch sich und Lucas, von der Last des Mastes zu befreien, als ihn etwas am Hinterkopf traf. Ihm wurde schwarz vor Augen, doch bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er noch, wie sich das infernalische Gekreische der Frau in teuflisches Gelächter verwandelte.
Kapitel 2
Rilana stand vor dem Bettchen ihres Sohnes und betrachte gedankenverloren sein schlafendes Gesicht. Er sah Raoul so ähnlich, dass ihr der Kleine fast wie eine jüngere Ausgabe ihres Mannes erschien. Liebevoll streichelte sie seine Wange, während der Kleine seinen Daumen in den Mund steckte und im Schlaf laut schmatzend daran nuckelte.
„Du kannst ruhig näher herankommen. Er schläft.“
„Wie machst du das nur immer? Ich habe mich fast lautlos bewegt und doch hast du mich gehört.“ Kräftige Arme umschlangen von hinten ihre Taille, während er zärtlich ihren Nacken küsste.
„Ich brauche dich nicht zu hören, um zu wissen, dass du da bist", erwiderte sie ihm. „Ich kann deine Nähe fühlen.“ Sie drehte sich langsam zu ihm um und sah ihm in die Augen, während er sich zu ihr hinunter beugte und sie küsste. „Ich meine es ernst Raoul", fuhr sie unbeirrt fort, als er sich von ihr löste. „Ich kann dich spüren, bevor du überhaupt dasselbe Zimmer betrittst. Seit jener Nacht in der Höhle ist es so. Es ist, als hätte sie uns durch ihr Blut miteinander verwoben. Wenn du in meiner Nähe bist, fühle ich mich vollständig. Doch sobald du dich auch nur etwas von mir entfernst, habe ich das Gefühl, ich würde auseinandergerissen.“
„Tröste dich, mir geht es genauso.“ Raoul ergriff ihre Hand und beide drehten sich dem Bettchen zu. Raoul seufzte. „Unser Sohn ist jetzt schon über ein Jahr auf der Welt und er hat ihn noch nicht einmal gesehen.“ In seiner Stimme lag Bedauern und eine Trauer, die Rilanas Herz fast zerrissen.
„Er wird kommen!“
„Ich weiß, irgendwann wird er zurückkehren, aber es fällt mir schwer, so lange zu warten. Er war für mich immer der große Bruder, den ich nicht hatte. Ich vermisse ihn schrecklich.“ Rilana bettete ihren Kopf gegen Raouls breite Brust und seufzte nun ebenfalls.
„Lass ihm Zeit! Er muss erst einmal mit sich selbst ins Reine kommen, bevor er zurückkehrt. Er hat genauso viel durchgemacht wie wir, vielleicht sogar noch mehr. Nur im Unterschied zu uns musste er mit all dem alleine klarkommen.“
„Er ist nicht alleine! Er hat mich!“
„Du weißt, dass das nicht dasselbe ist. Raoul gib ihm die Chance das zu finden, was wir haben. Dann wird er auch wieder nach Hause kommen.“
„Rilana, ich weiß selbst, dass ... Verdammt! Ich gönne ihm ja alles Glück der Welt, aber wir haben seit zwei Jahren nichts mehr von ihm gehört. Es könnte sonst was mit ihm geschehen sein. Vielleicht hat deine Mutter ja doch überlebt und ihn wieder in ihre Finger bekommen. Vielleicht sitzt er wieder in einem Käfig und sie … Verflucht, er wollte nicht darüber reden, was sie mit ihm gemacht hat, aber sein Gesichtsausdruck, als ich ihn danach fragte ... Es muss die Hölle gewesen sein.“ Rilana drehte sich ihm zu und sah ihm tief in die Augen.
„Wenn sie überlebt hätte, glaubst du wirklich, sie hätte nichts Besseres zu tun, als Ruben erneut zu quälen. Denkst du nicht auch, sie wäre eher hierher zurückgekehrt, um uns die Hölle heißzumachen? Immerhin war ich schuld an ihrer Niederlage. Ich habe ihren Geliebten getötet. Ich habe dich vor ihr gerettet. Ich habe sie David in die Hände gespielt. Ich habe ...“
„Rilana, ich liebe dich und ich liebe dich noch mehr, seit ich weiß, was du für uns alle getan hast, aber deine Mutter ist unberechenbar. Jeder normale Mensch wäre zu uns zurückgekehrt um seine Rache zu genießen, doch deine Mutter ist kein normaler Mensch. Überlege doch einmal, wie lange sie ihre Rache an David herausgezögert hat. Sie hat sich über Jahrhunderte hinweg zurückgezogen, solange bis sie in Vergessenheit geriet und dann hat sie mit voller Wucht zugeschlagen. Sie konnte ja nicht ahnen, dass David ebenfalls noch lebte. Wäre er nicht gewesen", seine Stimme brach, „hätte keiner von uns standhalten können und er", er deutete auf seinen Sohn, „wäre niemals geboren.“
„Trotzdem kann und will ich nicht glauben, dass sie irgendwo steckt und Ruben in einen Hinterhalt lockt.“
„Du hast ja recht", gab er zähneknirschend zu, „tief in meinem Herzen halte auch ich es für ziemlich unwahrscheinlich. Aber dennoch mach ich mir langsam Sorgen. Selbst wenn er etwas Zeit für sich brauchte, sind zwei Jahre verdammt lang.“
„Hast du schon mit seinem Vater gesprochen?“ Raoul nickte.
„Das habe ich. Auch Armand macht sich allmählich Sorgen. Er befürchtet mittlerweile, dass Ruben mit der Situation so überfordert war, dass er gar nicht mehr nach Hause zurückkommen will. Er macht sich die größten Vorwürfe. Er denkt, Ruben wird es ihm nie verzeihen, dass er ihn damals allein zurückgelassen hat.“
„Und was denkst du?“
„Ich denke, dass er seinen Sohn unterschätzt. Ruben ist nicht nachtragend. Er hat verstanden, warum sein Vater das alles getan hat.“
„Das denke ich auch“, erneut küsste er sie.
„Rilana, es fällt mir schwer dir das zu sagen, aber ...", er hielt mitten im Satz inne.
„Du willst ihn suchen“, beendete sie seinen Satz. „Ich versteh dich, auch wenn es bedeutet, dass es mir fast das Herz bricht, solange von dir getrennt zu sein. Versprich mir, zu mir zurückzukehren. Versprich mir, dass du dich nicht unnötig in Gefahr begibst. Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren.“
„Ich verspreche es. Außerdem werden mich Wilbur und Marcus begleiten. Die beiden werden schon auf mich aufpassen.“
„Wann wirst du gehen?“
„Unser Schiff läuft morgen früh mit der Flut aus.“ Rilana nickte, während ihr, Tränen in die Augen traten.
„Dann haben wir noch diese eine Nacht", flüsterte sie ihm zu.
„Ja, mein Herz! Diese eine Nacht und ich werde sie für dich unvergesslich machen.“
Kapitel 3
Die untergehende Abendsonne, deren gleißender, glühender Ball bereits zur Hälfte hinter dem Horizont versunken war, tauchte das Meer und den Strand in ihr rotes Licht. Drei Tage lang hatte ein solcher Sturm getobt, wie noch niemals zuvor in ihrem Dasein. Sie konnte sich auf jeden Fall nicht an etwas Ähnliches erinnern. Der Himmel hatte sich verdunkelt als wäre es tiefste Nacht. Der Regen peitschte über die Wellen, die sich meterhoch aufgetürmt und fast den gesamten Strand überspült hatten. Der Wind hatte mit einer solchen Gewalt an den Bäumen gezerrt, das viele jetzt entwurzelt auf dem Boden lagen. Es war einfach höllisch gewesen. Inzwischen war es wieder fast windstill und das Meer lag wie ein glatter Spiegel vor ihren Augen. Die Wellen plätscherten gemächlich auf den Sand und nur durch das angeschwemmte Strandgut konnte man noch erahnen, was sich in den letzten Tagen abgespielt hatte.
Saphira, stand mit ihren nackten, von der Sonne gebräunten Beinen im knietiefen Wasser und betrachtete den Horizont. Die leichte Abendbrise fuhr durch ihr langes, weißblondes Haar und spielte mit ihren Locken. Es war eine Wohltat nach drei Tagen endlich wieder das Haus verlassen und ihr Gesicht in die Sonne halten zu können. Saphira atmete tief ein und saugte die salzhaltige Luft in ihren Körper. Über ihr kreisten Möwen, die hin und wieder zur Landung ansetzen, um in dem angeschwemmten Treibgut nach Krabben oder irgendwelchem anderen Getier zu suchen. Alles wirkte so friedlich und sie genoss jede Sekunde. Hier, in diesem Augenblick fühlte sie sich frei. So frei, wie noch niemals zuvor.
Es war nicht so, dass sie sich zu Hause eingesperrt fühlte. Ihr Vater hatte ihnen einen wahren Palast geschaffen. Die Räume waren riesig und die Fenster so groß, dass das Tageslicht bis in die hintersten Winkel dringen konnte. Doch Saphira hasste es innerlich, vom Meer getrennt zu sein. Nur, wenn die sanften Wellen ihre Knöchel umspielten, war sie richtig lebendig und die letzten drei Tage waren für sie die Hölle gewesen. Schon als kleines Mädchen hatte es sie immer wieder zum Meer gezogen. Oft verbrachte sie Stunden damit, einfach nur mit den Füßen im seichten Wasser zu stehen und wortlos den Horizont zu betrachten. Ihr Vater hatte immer genau gewusst, wo sie war und was sie trieb, doch er hatte sie niemals gestört oder sie daran gehindert. Erst wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, war er gekommen, hatte sie auf seine starken Arme genommen und zurück ins Haus getragen. Sie konnte sich auch heute noch nicht erklären, wieso sie tat, was sie getan hatte. Aber der Drang es immer wieder zu wiederholen war einfach übermächtig. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, auch wenn sie es noch so oft versucht hatte. Ihr Vater hatte ihr einmal erklärt, dass sie die Liebe zum Meer von ihrer Mutter geerbt hätte. Seine Augen hatten sie traurig angeblickt und er hatte sogar geweint. Ihr Vater weinte sonst nie! Es war für sie ein Schock gewesen, ihn so zusehen. Deshalb hatte sie auch nicht weiter gebohrt, obwohl sie gerne mehr über ihre Mutter erfahren hätte. Irgendwann, so hoffte sie wenigstens, würde ihr Vater von selbst anfangen, zu erzählen. Doch noch war es nicht so weit.
Saphira betrachtete noch einmal den Horizont. Der Himmel war jetzt in sämtliche Rotschattierungen getaucht, die sie kannte. Von hellorange bis zum dunkelsten Purpur war jede erdenkliche Nuance ihrer Lieblingsfarbe vorhanden. Es war ein überwältigender Anblick. Nach jedem heftigen Sturm war es immer so. Ihr schien es, als wollte sich die Natur mit diesem Farbenspiel bei ihr für die vergangenen Tage entschuldigen. Sie seufzte, dann flüsterte sie leise, „Danke!“, in den Himmel. Da es schon spät war und die Sonne ihre letzten Strahlen bald im Meer versenken würde, beschloss sie noch kurz das Treibgut nach irgendwelchen brauchbaren Gegenständen abzusuchen. Es war schon erstaunlich, was ein so gewaltiges Unwetter alles an den Strand spülte. Proviantkisten und Fässer waren da ihre geringste Beute. Sie besaß mittlerweile eine gewaltige Sammlung von Gegenständen aus der gesamten Welt. Da gab es kunstvoll bemalte Krüge aus dem hohen Norden, wie ihr Vater ihr erklärt hatte. Waffen mit verzierten Klingen. Manche gebogen, wie eine Banane, andere gerade wie ein Messer nur viel länger. Kisten mir wunderschön gearbeiteten Schlössern und jede Menge Kleidung. Sie selbst trug am liebsten ihre kurze Tunika, die ihr bis knapp unter ihr wohl gerundetes Gesäß reichte und die sie mit einem Gürtel über ihrer schmalen Taille zusammenraffte. Dennoch waren die Kleider, die sie auf ihren Erkundungstouren gefunden hatte, einfach wunderschön. Am besten gefiel ihr ein Dunkelrotes, dass mit Spitze besetzt war. Es war aufwendig bestickt und die kleinen Perlen, die das Muster vervollständigten, schimmerten wie kleine Tränen auf der dunklen Seide. Ihr Vater hatte damals, als sie es entdeckt hatte, gemeint, es wäre bestimmt für eine Prinzessin angefertigt worden, und da sie ja seine Prinzessin wäre, würde es demnach ausgesprochen gut zu ihr passen. Sie hatte nur gelacht und erwidert, wenn sie dieses Kleid trüge, würde sie es nur ruinieren. Es wäre viel zu schade, um damit durch das salzige Wasser zu waten. Da hatte ihr Vater auch lachen müssen. Jetzt hing das Kleid sorgfältig gereinigt und geglättet in ihrem Zimmer, so als warte es nur darauf, dass sie es endlich anzog.
Die Sonne war jetzt nur noch als schmaler Strich am Horizont zu erkennen. Wieder seufzte sie. Wenn sie sich nicht ein wenig beeilte, dann würde die Sonne endgültig untergehen, noch bevor sie etwas erbeuten könnte. Sie gab sich einen Ruck und watete aus dem Wasser heraus in Richtung Strand. Dort angekommen lief sie zu den verstreuten Seetanghaufen, die überall herumlagen. Einige waren nichts weiter als das, was sie auch sein sollten: Seetanghaufen. Doch schon nach kürzester Zeit hatte sie etliche Dinge gefunden, die sie nebeneinander auf dem noch immer warmen Sand aufreihte. Zufrieden betrachte sie ihre Ausbeute. Da gab es verschiedene Krüge, einen mit Juwelen verzierten Dolch und ein goldenes Schmuckkästchen, das sie zu Hause öffnen würde. Sie lief noch ein Stückchen weiter über den Sand, als plötzlich etwas am Rand der Bucht ihre Aufmerksamkeit erregte. Dort hatte der Wind einen riesigen Haufen Treibholz angespült, der über und über mit schwarzem Seetang bedeckt war. Inmitten dieses fast schwarzen Haufens sah sie etwas Rotes aufblitzen. Wie von selbst trugen sie ihre Füße in seine Richtung. Als sie ihn fast erreicht hatte, verlangsamte sie ihre Schritte. Was war nur mit ihr los? Sie zögerte sonst doch nicht? Vorsichtig, fast lautlos trat sie näher, dann sah sie ihn. Er lag bäuchlings auf etwas, was vermutlich einmal eine Schiffsplanke gewesen war. Seine Kleidung war vom Sand vollkommen verdreckt und völlig zerrissen. Sein tiefschwarzes, schulterlanges Haar klebte feucht auf seinem Gesicht, sodass sie seine Züge nicht erkennen konnte. Eine tiefe Wunde klaffte an seinem Hinterkopf und auch sein übriger Körper war mit Schnitten und Rissen übersät. Er musste die Hölle durchgemacht haben, aber die vergangenen Tage waren ja auch die Hölle gewesen. Woher er wohl kam? Sicher von einem Schiff, das im Sturm an den schroffen Klippen zerschellt war. Lebte er noch? Saphira zögerte. Sollte sie noch näher herangehen? Schließlich aber siegte ihre Neugier über ihre Vorsicht. Ohne sich dessen überhaupt richtig bewusst zu sein, ging sie Schritt für Schritt auf den jungen Mann zu.
Während sie sich ihm jetzt zaghaft näherte, knabberte sie nervös an ihrer Unterlippe. Es war ja nicht so, dass ihr Vater der einzige Mann in ihrem bisherigen Leben war. Doch alle Männer, die sie bisher gesehen hatte, waren in ihres Vaters Alter und somit vollkommen uninteressant für sie. Selbst von den Männern der Wache, die ihr Vater zu ihrem Schutz irgendwann mit auf die Insel gebracht hatte, war keiner in ihrem Alter. Es schien ihr fast, als hätte ihr Vater bei der Auswahl der Männer es zur Bedingung gemacht, dass sie auf keinen Fall jünger als er selbst sein durften. Der Mann hier vor ihr, zu dem sie sich nun langsam hinunterbeugte, war da ganz anders. Er war in etwa so groß wie ihr Vater und ihr Vater war ein richtiger Hüne. Er überragte die meisten seiner Männer fast um eine Haupteslänge. Doch nicht nur seine Größe war ihr aufgefallen. Sein pechschwarzes Haar zeigte noch keinerlei Zeichen des Alters. Weder wurde es langsam licht, noch durchzogen graue Strähnen die volle Haarpracht. Es wirkte so seidig, dass sie am liebsten ihre Finger hineingegraben hätte, um auszuprobieren, ob es sich auch genauso seidig anfühlte. Durch seine zerrissene Kleidung schimmerte haselnussbraune Haut, die sich über seine Muskelberge spannte. Sein Körper wirkte so perfekt, wie der, einer dieser Statuen, die in ihrer Vorhalle standen und die alte Götter darstellen sollten. Saphira hielt den Atem an. Noch immer hatte er sich nicht bewegt. Nicht einmal das Heben und Senken seines Brustkorbes war zu erkennen. „Großer Gott", betete sie im Stillen, „lass ihn leben.“
Dadurch, dass er sich noch immer nicht gerührt hatte, wurde sie langsam etwas mutiger. Sie kniete sich neben ihm und strich vorsichtig sein Haar aus seinem Gesicht. Doch mit dem, was sie jetzt sah, hatte sie auf keinen Fall gerechnet. Für einen Mann sah er viel zu gut aus. Seine Augen waren geschlossen und deshalb stellte sie sich vor, dass er sie jeden Moment öffnen würde. Waren sie blau wie das Meer, oder tiefschwarz wie der Seetang, der ihn bedeckte? Sie wusste nicht, was ihr besser gefallen würde. Seine Wangenknochen traten ein wenig hervor, wohl, weil er tagelang nichts zu sich genommen hatte. Doch das beeinträchtigte in keinster Weise sein gutes Aussehen. Seine Lippen waren voll, und obwohl sie, durch seinen langen Aufenthalt im Salzwasser aufgesprungen waren, fiel ihr nichts Besseres ein, als sich zu fragen, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er sie küsste. „Saphira", ermahnte sie sich selbst, „du musst aufhören zu träumen. Erst musst du feststellen, ob er überhaupt noch lebt, bevor du dir Dinge vorstellst, die niemals geschehen werden.“ Unsicher fuhr sie mit einer Hand über die Konturen seines Gesichtes, über seine Lippen und sein mit kurzen, dunklen Haaren übersätes Kinn hinunter, bis zu seiner Halsschlagader. Sie drückte ihre Finger leicht dagegen, um nach seinem Puls zu tasten. Zunächst fühlte sie nichts, und sie wollte sich schon abwenden, um die Männer ihres Vaters zu holen, damit sie ihn auf ein Schiff schaffen konnten, um ihn dem Meer zu übergeben, doch dann spürte sie ein zaghaftes Klopfen. Genau in diesem Moment schnellte eine seiner Hände nach oben und umfasste fest ihr Handgelenk. Saphira schrie vor Schreck laut auf. Von dunklen Wimpern umrandete, bernsteinfarbene Augen blickten sie flehend an.
„Bitte", hörte sie ihn leise flüstern. „Ihr müsst mir helfen.“ Seine Augen schlossen sich wieder, sein Griff lockerte sich und er brach erneut zusammen. Er lag wieder genauso starr vor ihr, wie zuvor. Saphira war so entsetzt, dass sie zu keiner Bewegung fähig war. Sie hockte neben ihm, als wäre sie zu einer Salzsäule erstarrt, unfähig den Blick von ihm abzuwenden oder sich zu erheben, um nach Hause zu laufen. Wie lange sie dort hockte, konnte sie nicht genau sagen, nur dass es mittlerweile stockfinster geworden war. Ganz langsam kam sie wieder zur Besinnung. Von Ferne hörte sie die Schreie ihres Vaters, der verzweifelt ihren Namen rief.
ÜBER DEN AUTOR
Bereits seit ihrer Jugend schreibt Daniela Vogel Liedertexte, Kurzgeschichten, Gedichte und Berichte. Sie war viele Jahre in der Schülerzeitung ihres Gymnasiums tätig und eine Zeit lang die Chefredakteurin. Nach ihrer Schulzeit studierte sie Mathematik und Informatik. Erst als ihre Kinder aus dem Gröbsten heraus waren, begann sie erneut mit dem Schreiben. „Die Erbin der Steine“ ist ihre dritte Veröffentlichung und der zweite Roman ihrer „Die Chroniken Aranadias“ - Reihe. Daniela Vogel ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit ihrer Familie in Duisburg
Bereits erschienen:
Die Tochter des Drachen ( Die Chroniken Aranadias 1)
Die Kristallgrotte ( Die Kinder Albas 1)
1. Auflage: Die Herrin der Seelen als „Die Erbin der
Steine“ ( Die Chroniken Aranadias 2)
Texte: Daniela Vogel
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Daaniela Vogel
Satz: Daniela Vogel
Tag der Veröffentlichung: 17.08.2018
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meinen Mann und meine Kinder