Die Kristallgrotte
Von Daniela Vogel
Beißender, fauliger Gestank nahm ihm fast die Luft zum Atmen. Er lag auf modrigem, feuchtem Stroh. Es war so kalt, dass die nach Verwesung und Schimmel riechenden Dämpfe seiner mehr als kargen Bettstatt als weiße Nebelschwaden, die langsam emporstiegen und schließlich im Nirgendwo verpufften, um ihn herum waberten. Sein Magen drehte sich und er musste all seine Beherrschung zusammennehmen, um sich nicht zu übergeben. Er schlang seinen Mantel fester um seinen Körper, dabei richtete er sich auf und sah sich um. Wo war er hier nur wieder herein geraten? Und wo war hier eigentlich? Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, überhaupt eingeschlafen zu sein.
Er befand sich in einer Art Grotte, deren Wände von seltsamen Kristallen durchzogen waren. Sie warfen das Licht der wenigen Fackeln, die rings um sein provisorisches Lager postiert waren, in allen Farben des Regenbogens auf sein Gesicht und ließen seine Umgebung merkwürdig durchsichtig erscheinen.
Bei Jupiter! Wo war er? Wie war er hierher gekommen? Obwohl die ungewöhnliche Kulisse, vor der er sich befand, geradezu bizarr wirkte, fühlte er kaum Angst. Doch sein Puls raste und sein Körper zitterte. Verdammt! Wieso suchte Fortuna immer nach ihm, wenn sie Schabernack treiben wollte? Gab es nicht genug andere, die sie hätte narren können? Warum war immer er derjenige, der in derartige Situationen geriet? Dabei hatte er doch nur, … Fortuna schien ihn wirklich zu hassen, … jedenfalls in letzter Zeit. Er zog das Unglück ja geradezu magisch an! Wodurch hatte er nur diesmal ihr Interesse an ihm geweckt und anschließend ihren Zorn auf sich gezogen? Caitlin, schoss es ihm durch den Kopf. Sie war bei ihm gewesen, bevor ... Ja, bevor was eigentlich? Und, wo, bei Jupiter, war sie jetzt?
»Caitlin?«, seine Stimme klang rau und hallte unheimlich in einem nicht endenwollenden Echo von den Wänden. Das war allerdings beängstigend und bei jeder Woge seiner eigenen Stimme zuckte er unwillkürlich zusammen.
»Caitlin? Wenn du hier irgendwo in meiner Nähe bist, dann antworte mir«, versuchte er es noch einmal etwas leiser, nachdem der mörderische Widerhall endlich verebbt war. Doch eine Antwort blieb aus. Resignierend ließ er sich auf sein Lager zurückfallen. Es hatte keinen Sinn! Sie war nicht hier! Er war allein! Allein in einem anscheinend unterirdischen, malerisch schönen Gefängnis, von dem er nicht einmal wusste, wo es lag, auf welche Weise er hineingelangt war und warum er sich überhaupt darin befand.
Ein leises Schlurfen riss ihn aus seinen Gedanken. Er schloss die Augen und lauschte. Das Schlurfen wurde langsam lauter und verstummte schließlich in seiner unmittelbaren Nähe. Die Stille, die daraufhin herrschte, war ihm unerträglich. Letztendlich hielt er es nicht länger aus. Er öffnete seine Augen und sah direkt in das zerfurchte, verwitterte Gesicht des Mannes, der vor geraumer Zeit zu seinem unsichtbaren Schatten geworden war und ihn seitdem unablässig verfolgte und beobachtete. Gwydion! Der Erzdruide und oberste Magier!
»Ihr seid also endlich erwacht! Zu schade! Ich dachte schon, mein kleines Problem hätte sich von selbst erledigt! Doch, wie ich leider feststellen muss, ist dem nicht so!« Die schnarrende, eisige Stimme des Alten fuhr ihm durch Mark und Bein. Gwydion fixierte ihn aus wässrigen, eisblauen Augen, die keinerlei Gefühlsregung erkennen ließen. Er musterte ihn von oben bis unten, während ein diabolisches Grinsen seine ansonsten teilnahmslosen Gesichtszüge zu einer dämonischen Fratze verzerrte. »So lernen wir uns am Ende also doch noch kennen.«
»Als ob wir uns nicht schon längst kennen würden! Schließlich konnte ich keinen Schritt mehr ohne Eure aller Orts gepriesene Anwesenheit tun«, entgegnete er dem Alten, nachdem er seine Sprache wider gefunden hatte.
»Ah, wie ich höre, habt Ihr also meine bescheidene Gegenwart gespürt. Das spricht für Euch. Dennoch, soweit ich mich erinnern kann, hatten wir beide noch nicht das Vergnügen von Angesicht zu Angesicht miteinander zu reden.«
»Ein Umstand, den ich auch weiterhin liebend gern herausgezögert hätte.«
»Junger Mann, Ihr nehmt den Mund reichlich voll für einen in eurer Lage!« Der Blick des Alten wurde noch ein wenig durchdringender, doch er hielt ihm mit aller Macht stand. Dabei richtete er sich vollends auf.
»Was soll das heißen? In meiner Lage? Bin ich euer Gefangener? Doch, wo sind dann die Ketten?«
»Ich würde euch eher einen Gast nennen und Ketten bedarf es nicht.«
»Dann verratet mir eines. Wo ist sie? Wo habt Ihr sie hingebracht? Ist sie auch hier unten? Haltet Ihr sie irgendwo in meiner Nähe versteckt? Ich weiß, dass ich das hier Euch zu verdanken habe, kein anderer hätte die Dreistigkeit, mich hierher zu verschleppen und das vor den Augen der Besatzer. Also leugnet nicht! Es ist mir egal, was mit mir geschieht, aber, bei allen Göttern, sagt mir, was Ihr mit Caitlin gemacht habt!« Während seiner kurzen Rede erstarrten die Gesichtszüge des Alten zu Eis. Langsam kehrte dieser ihm den Rücken zu.
»Ich leugne ja gar nicht! Aber glaubt Ihr wirklich, ich würde Euch ihren Aufenthaltsort verraten, jetzt, da ich es endlich geschafft habe, euch beide zu trennen?« Der hämische Tonfall des Alten trieb ihn zur Weißglut und er musste seine Hände hinter dem Rücken zu Fäusten ballen, um ihm nicht unverzüglich an die faltige Gurgel zu springen. »Wie anmaßend von Euch!«, fuhr dieser unbeirrt fort. »Aber typisch für euer Volk! Ihr haltet euch noch immer für das Maß aller Dinge, obwohl ihr es doch mittlerweile eigentlich besser wissen müsstet.« Gwydion wandte sich ihm erneut zu. Seine Augen blitzten gefährlich auf und schienen blutunterlaufen.
»Wer glaubt Ihr, dass Ihr seid? Ihr fallt wie die Heuschrecken über uns herein. Ihr macht vor nichts und niemandem halt. Weder respektiert ihr unsere Götter, noch akzeptiert ihr unsere Kultur oder toleriert unser Sein. Ihr erobert und mordet und das nur, weil ihr euch für die auserwählte Rasse haltet. Ich muss euch enttäuschen! Dem ist nicht so! Weder seid ihr auserwählt, noch die Rasse, deren Bestimmung es ist, über die Völker dieser Welt zu herrschen. Ihr manövriert euch nur Schritt für Schritt auf euren eigenen Untergang zu. Darin seid ihr nicht die Ersten und ihr werdet auch nicht die Letzten sein. Eines muss ich jedoch zugeben. Anfangs habe ich euch ob eurer Hartnäckigkeit doch wirklich und wahrhaftig geschätzt. Aber, das ist nun endgültig vorbei! Ihr seid zu weit gegangen! Ihr habt uns zwar erobert, oder, wie ihr es zu nennen pflegt, dem Reich angeschlossen, um uns Barbaren zu kultivieren, aber, so einfach machen wir es euch nicht! Ihr könnt unser Land verwüsten, unsere Frauen schänden und uns versklaven, aber eines werdet ihr niemals können, …, ihr könnt uns weder unseren Stolz noch unsere Seele nehmen. Ja, junger Eroberer, damit habt Ihr nicht gerechnet. Es gibt Völker, die sich nicht bereitwillig wie Lämmer zur Schlachtbank führen lassen. Die nicht vor der Standarte des Adlers in den Staub sinken und sich niemals mehr erheben, und wir gehören ihnen an. Dieses Mal habt ihr einen Fehler begangen! Ihr habt uns unterschätzt! Gewaltig unterschätzt! Ihr hättet diese Insel meiden sollen, wie euer Gott Vulcanus das Meer, oder Pluto das Licht.«
»Wieso erzählt Ihr mir das alles? Was habe ich mit all dem zu schaffen? Glaubt Ihr, ich wäre freiwillig hierher, in diese Einöde, in dieses barbarische, unwegsame Land gekommen? Wendet euch mit euren Anklagen an den Kaiser oder an den Statthalter dieser Provinz. Ich bin ein einfacher Soldat. Was schert mich die Politik!«
»So, so, ein einfacher Soldat! Ich würde den Sohn des Gaius Lucius Maximus nicht als einen einfachen Soldaten bezeichnen. Aber, genau das meinte ich! Ihr biegt euch die Wahrheit so zu Recht, wie es euch gerade am günstigsten erscheint. Sagt mir, Sohn des Lucius, habt Ihr ein Gewissen? Oder ist es Euch durch all Eure Lügen und Halbwahrheiten abhandengekommen? Fühlt Ihr die Schreie all derer, die Ihr unter Euer Banner zwingt und die dann ihr letztes Bisschen Leben in der Arena aushauchen, um euch Zerstreuung zu verschaffen? Oder lassen sie Euch kalt? Könnt Ihr noch ruhig schlafen? Oder quälen sie Euch in euren Träumen?« Wieder trafen sich ihre Blicke. Während der Alte ihn eindringlich musterte, kaute er verlegen auf seiner Unterlippe. »Ah, habe ich Euren wunden Punkt getroffen? Sollte da doch so etwas wie ein Herz in Eurer Brust schlagen? Für wahr, Ihr scheint allmählich zu begreifen, welch großer Unterschied darin besteht, von den glorreichen Heldentaten Eurer ruhmreichen Armeen am heimischen Herdfeuer zu hören, oder mitzuerleben, mit wie viel Blut Eure, ach so gepriesenen, Siege erkauft wurden.«
»Ich ...«
»Sagt nichts!«
»Aber, ich wollte nicht ...!«
»Nein! Ihr wollt nie! Aber ihr tut es trotzdem und vergesst darob zu denken! Dies ist unser Land! Wir sind hier seit Anbeginn aller Zeit! Nicht Ihr! Uns wurde dieses Land von den Göttern gegeben, um ihnen zu dienen und sie zu ehren! Nicht Euch! Wir sind diejenigen, die so fest mit dieser, …, wie nanntet ihr sie noch gleich? ... Ach, ja, unwegsame Einöde verwurzelt sind, wie die alten Eichen in unseren Wäldern. Habt Ihr einmal versucht, einen alten Baum zu verpflanzen? Wisst Ihr, was dann mit ihm geschieht? Sicher wisst Ihr das, doch was schert es Euch? Euch kümmert weder die Tatsache, dass Ihr dadurch ein Geschöpf der Götter zerstört, noch die weitreichenden Konsequenzen Eures Tuns. Wer, so frage ich Euch, spendet euch dann Schatten, wenn Ihr erschöpft von der Arbeit ein ruhiges Plätzchen sucht? Wer schützt Euch vor Wind und Regen? Wer gibt den Tieren des Waldes dann ein Obdach? Ja, das alles wollt Ihr nicht bedenken und Ihr tut auch so, als ginge es Euch nicht im Geringsten etwas an. So seid Ihr nun einmal: Elende Ignoranten! Nichts als elende Ignoranten!« Gwydions Stimme wurde bei seinen letzten Worten gefährlich leise.
»Ihr tut mir Unrecht! Ich wollte nicht zerstören. Ich wollte ein Bündnis schaffen, das ...«
»Ein Bündnis? Welcher Art? Besteht in Euren Augen ein Bündnis darin, dass ihr die Hohepriesterin entehrt und versucht sie auf Eure Seite zu ziehen? Muss sie diejenige sein, die Euch und Eurer Sache bedingungslos folgt und alles für Euch aufgibt, oder seid Ihr bereit das Gleiche auch für sie zu tun?« Er schwieg. «Das habe ich mir gedacht! Dennoch hätte ich Euch nicht für so töricht gehalten.«
»Ja, aber ...«
»Aber! Immer aber!« Gwydions Stimme wurde noch eine Spur eisiger. »Ihr habt nicht die geringste Ahnung, auf was und auf wen Ihr Euch eingelassen habt! Habe ich recht?« Wieder schwieg er. «Gut, dann versuche ich es Euch zu erklären. Ihr, ahnungsloser Sohn des Lucius, habt Euch erdreistet, unseren größten Schatz für Euch zu beanspruchen. Caitlin ist seit ihrer Geburt unsere Hohepriesterin. Die Auserwählte! Unser Bindeglied zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und unserer Zukunft. Ihr, törichter, junger Eroberer, habt versucht, sie uns zu nehmen. Gleichsam einer Seele, die den Körper verlässt und ziellos umher irrt. Zurück bleibt nichts als Leere. Ohne sie sind wir nichts! Und ohne uns ist sie verloren! Fast hättet Ihr erreicht, was weder euer Kaiser noch seine ruhmreichen Legionen bewirken konnten, aber, den Göttern sei Dank, ich konnte euch trennen und so das Schlimmste verhindern. Das Schicksalsrad dreht sich endlich wieder in seine vorherbestimmte Richtung. Und nun, Sohn des Lucius, werdet ihr die Früchte eures Tuns ernten! Ihr werdet büßen, wie noch keiner vor euch!«
»Gwydion, ich hatte keine Ahnung ...«
»Nein, das hattet Ihr wohl wirklich nicht, denn sonst ...«
»Gwydion, bitte sagt mir, wo Ihr sie hingebracht habt! Geht es ihr gut? Lebt sie?«
»Was erdreistet Ihr Euch, mich so etwas zu fragen? Sagte ich nicht gerade eben, sie wäre unser größter Schatz!«
»Dann lasst mich sie sehen! Lasst mich noch ein letztes Mal mit ihr reden!« Gwydion hielt inne.
»Habt ihr nicht schon genug angerichtet?«
»Bitte, Gwydion, nur das eine Mal noch! Dann könnt Ihr mit mir machen, was Ihr wollt. Ich werde mich nicht einmal wehren. Aber, ich flehe Euch an, sagt mir wenigstens, was mit ihr geschehen ist.« Der Alte musterte ihn erneut.
»Sie ist endlich ihrer Bestimmung gefolgt.«
»Was soll das heißen?« Er war am Ende seiner Geduld. Gwydion hatte ihn, bei den Göttern, wahrhaftig genug gereizt und beleidigt. Diese Antwort war eindeutig zu viel des Guten. Was hatte er sich denn schon Großes zuschulden kommen lassen? Nichts weiter, als sich in die falsche Frau zu verlieben. Das hämische Grinsen des Alten brachte das Fass zum Überlaufen. Er stürmte auf ihn zu, doch noch, bevor er ihn erreichen konnte, spürte er eine eisige, unsichtbare Hand, die sich um seine Kehle schloss und bedächtig immer fester zudrückte. Er rang verzweifelt nach Luft, doch das Atmen fiel ihm immer schwerer. Kurz bevor er jedoch das Bewusstsein verlor, ließ die Hand von ihm ab und er stürzte fast ohnmächtig zu Boden.
»Wage es nie wieder! Meine Macht reicht aus, dich wie eine Wanze zu zertreten, elendes Menschlein!« Aus Gwydions Stimme war jedwedes Schnarren verschwunden. Sie donnerte ihm entgegen, wie eine tosende Naturgewalt und das Echo der Wände schien sie noch zu verstärken. »Vergiss sie!«
»Das kann ich nicht! Gwydion, bitte, tut mit mir, was immer Ihr wollt, aber gebt sie frei. Sie trifft keine Schuld.« In seiner Verzweiflung, die nach und nach seine Wut verdrängte, fiel er sogar vor dem Alten auf die Knie.
»Sie freigeben? Ich kann sie nicht freigeben. Sie gehört mir nicht! Sie gehört einzig und allein den Göttern und unserem Land. Sie ist unsere Seele, unsere Hoffnung, unser Schutz und unsere Zukunft. Sie wird niemals frei sein.«
»Und, was sagt sie dazu?«
»Sie hat es verstanden und ist ihrer Bestimmung gefolgt.«
»Bei allen Göttern, das sagtet Ihr bereits. Aber, ich verstehe es nicht. Lasst mich mit ihr reden, bitte, ich ...«
»Lass das Wimmern und Winseln. Genug ist genug! Trage es mit Fassung, wie ein Mann! Du wirst sie nie wieder sehen! Niemals! Du wirst vergessen! Vergessen müssen!«
»Ich sie vergessen? Ihr verlangt Unmögliches von mir. Ich werde sie suchen und finden. Ich schwöre euch, ich werde sie mitnehmen. Sie wird vergessen! Vergessen, dass Ihr sie für Eure Zwecke missbrauchen und ihr ein Leben ohne Freude und Glück auferlegen wolltet.«
»Du wirst was? Ha! Du unterschätzt schon wieder meine Macht!« Die Farbe von Gwydions Augen wechselte von eisig blau zu flammend rot. Starr vor Entsetzen, hielt er den Atem an. Das war nicht möglich. Seine Augen spielten ihm wahrscheinlich nur einen Streich. Doch je mehr er den Alten anstarrte, desto offensichtlicher wurde die Tatsache, dass Gwydion sich vor seinen Augen veränderte. Was geschah hier? War er nicht mehr Herr seiner Sinne?
»Ja, mein, ach so eifriger, kleiner Eroberer, jetzt beginnst du, zu begreifen. Doch jetzt ist es zu spät! Zu spät zum davon rennen, oder mir zu trotzen. Du bist mir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Welch erhebendes Gefühl!« Nicht nur Gwydions Augen schienen plötzlich zu glühen. Das unheimliche rote Funkeln breitete sich zunehmend über seinen gesamten Körper aus und hüllte ihn förmlich ein. »... Ach ja, ich vergaß, du wirst nicht einmal in der Lage sein, deinen kleinen Finger zu rühren, wenn ich erst einmal mit dir fertig bin.« Wider spürte er die eisige Hand, die sich um seine Kehle legte, und langsam zudrückte. Gwydions Blick bohrte sich bis tief in seine Seele und er hörte sein diabolisches Lachen, das seinen Schädel beinahe zerspringen ließ.
»Wenn du meinst, dass dies hier das Ende wäre, dann hast du dich getäuscht.« Er japste und versuchte mit aller Gewalt der eisigen Umklammerung zu entkommen. »Ich bin noch lange nicht mit dir fertig. Ich werde dir viel Zeit geben. Viel Zeit zu vergessen. Aber du wirst nicht vergessen und genau das wird dein Untergang sein. Wie lange, glaubst du, dauert die Ewigkeit? Wie groß, meinst du, ist ein Schmerz, der nie vergeht? Oh ja, junger Eroberer, du wirst es bald wissen! Sehr bald sogar! Du wirst lernen durch die Zeit zu irren, ohne dir bewusst zu sein, dass du überhaupt etwas lernst. Du wolltest, was nicht für dich bestimmt war. Du nahmst, ohne zu fragen und es geschah, was niemals hätte geschehen dürfen. Dafür wirst du jetzt büßen. Du wirst das Gefühl haben, etwas verloren zu haben. Du wirst danach suchen, aber du wirst es nicht finden. Glaub mir, du wirst so weit vergessen, dass du noch nicht einmal weißt, was dich so ruhelos macht, selbst, wenn ich es dir auf einem silbernen Tablett servieren würde. Erst am Ende deiner Suche wirst du erkennen, doch dann ...« Gwydion brach in schallendes Gelächter aus. »Das wird meine Rache sein. Mein Fluch!« Er versuchte weiterhin sich aus der eisigen Umklammerung des Alten zu befreien, doch er war mit seinen Kräften am Ende. »Winde dich nur, wie ein Wurm, Menschlein, doch es wird dir nichts nützen. Vor mir gibt es kein Entkommen!« Selbst als er bereits in eine tiefe Bewusstlosigkeit hinüber glitt, hörte er noch von Ferne die Stimme des Alten. Schließlich aber umfing ihn nichts als Schwärze und er ließ sich dankbar hineingleiten.
Ein durchdringendes, monotones Fiepen riss ihn aus dem Tiefschlaf. Er fluchte laut, während sich seine Augen in der Dunkelheit auf die hellgrün erleuchteten Ziffern seines Digitalweckers richteten und er verzweifelt versuchte in dem leuchtenden Mischmasch etwas Sinnvolles zu erkennen. Verdammt! Halb drei Uhr nachts! Das bedeutete, dass er noch nicht einmal zwei Stunden geschlafen hatte. Das war eindeutig zu wenig. Dass er momentan nicht ganz bei der Sache war und sich Fehler leistete, die ihm unter normalen Umständen niemals unterlaufen wären, war ihm schon vor Tagen aufgefallen. Wie er aber, in drei Teufel Namen, auf die hirnrissige Idee gekommen war, den Wecker auf diese nachtschlafende Zeit zu stellen, war ihm dennoch ein Rätsel. So dämlich konnte selbst er nicht sein. Und schon gar nicht, wenn der nächste Tag mit allen möglichen Terminen nur so vollgestopft war. Er drückte im Halbschlaf auf sämtliche Knöpfe und atmete erleichtert auf, als das Fiepen endlich verstummte. Dann ließ er sich zurück in die Kissen fallen und war wenig später auch schon wieder eingeschlafen.
Kaum eine viertel Stunde später riss ihn erneut ein lautes Piepsen aus dem Schlaf. Er wollte schon nach dem Wecker greifen, um ihn mit aller Gewalt gegen die Wand zu schleudern, als er begriff, dass es nicht der Wecker war, der ihn zum wiederholten Male aus dem Schlaf riss, sondern das Telefon. Er richtete sich langsam auf, griff mit einer Hand nach dem Apparat neben seinem Bett, während er mit der anderen nach dem Lichtschalter suchte und dabei die Nacht insgeheim zum Teufel schickte.
»Ja!«
»Simon? Bist du das?« Die Stimme am anderen Ende klang aufgeregt.
»Wer sonst? Benedikt? ... Bist du von allen guten Geistern verlassen? Weißt du, wie spät es hier ist? Viertel vor drei! Nachts! Wenn ich es noch einmal betonen darf. Ich schwöre dir, wenn du mir nichts Wichtiges zu sagen hast, dann dreh ich dir deinen dürren Hals um.« Sein rüder Ton ließ die Stimme am anderen Ende der Leitung abrupt verstummen.
»Gütiger Himmel, Junge«, kam nach einer Weile zögernd eine Antwort. »Ich habe im Eifer des Gefechts doch tatsächlich nicht an die Zeitverschiebung gedacht. Aber, du wolltest ja, dass ich mich sofort bei dir melde, wenn wir etwas finden.«
»Ja, sicher! Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass du es gleich so wörtlich nimmst.« Das hätte er sehr wohl, wenn er ehrlich mit sich selbst gewesen wäre, denn am anderen Ende der Leitung befand sich niemand anderes als Professor Benedikt Peters, berühmter Archäologe und sein bester Freund, wenn er überhaupt jemanden als solchen bezeichnen wollte. Sie hatten sich vor Jahren auf einem Symposium über keltische Geschichte kennengelernt, bei dem der Professor mit seinen verrückten Thesen nicht gerade Begeisterungsstürme unter seinen Kollegen auslöste. Er jedoch war von dem gerade einmal 1,60 m großen, spindeldürren Mann mit der riesigen Hornbrille, die ihm das Aussehen der Stubenfliege Puck aus der Zeichentrickserie „Biene Maya“ verlieh, geradezu fasziniert gewesen. Die Vehemenz, mit der dieser kleine Mann seine Meinung gegen alle anderen verteidigte und seine nahezu unerschöpfliche Energie hatten ihn davon überzeugt, dass eben dieser Mann genau der Richtige wäre, um ihn bei seiner ganz persönlichen Passion zu unterstützen. Ein äußerst kostspieliges Privatvergnügen, aber er konnte es sich ja leisten. So bestand nun schon seit einigen Jahren ein überaus gewinnbringendes Verhältnis zwischen ihnen beiden, das sowohl ihm als auch dem Professor bisher nichts als Vorteile verschafft hatte. Dass daraus eine so tiefe Freundschaft entstehen könnte, damit hätte er im Traum nicht gerechnet, aber auch das hatte sich für beide Seiten nur als positiv herausgestellt. Gut, wenn Benedikt mit Ausgrabungen beschäftigt war, dann vergaß er Zeit und Raum, aber das war ein Übel, das er nur allzu gerne in Kauf nahm, denn die Ergebnisse sprachen jedes Mal für sich. Heute war eben er derjenige, der diese Schrulle seines Freundes ausbaden musste, doch, so dachte er sich, was soll’s! Es gab weitaus Schlimmeres.
Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und griff instinktiv nach der Flasche sündhaft teuren, schottischen Whiskey, die halb voll, vom Vorabend übrig geblieben, auf seinem Nachtisch neben dem Wecker stand. Kein Wunder, dass er das vermaledeite Ding falsch gestellt hatte. Erst die Feier in seiner Firma und dann auch noch seine private mit sich selbst, das hätte vermutlich sogar einen Bären aus dem Konzept gebracht.
»Scheiße!« entfuhr es ihm, während er die Flasche an seine Lippen setzte und den Inhalt gierig trank.
»Hörst du mir überhaupt zu? Simon? Was ist nur los mit dir?« Er brummte etwas in den Hörer, was die andere Seite mit einem tiefen Seufzer quittierte.
»Schmeckt dir der Whiskey?« Simon de Luca, der gerade den letzten Rest seines Whiskeys verschluckte, prustete los und starrte entgeistert in den Hörer.
»Woher, in drei Teufel Namen, weißt du ...?«
»Weil ich dich mittlerweile viel zu gut kenne. Du bringst dich mit dem Zeug noch einmal selbst um, mein Freund. Hör auf einen alten Mann. Mach nicht den gleichen Fehler. Das Zeug vernebelt nur deine Sinne. Es erlöst dich nicht von deinen Problemen. Du brauchst einen klaren Kopf, wenn du deine Aufgabe erledigen willst! Und außerdem habe ich keine Lust, meinen besten Freund und Mäzen auf diese Weise zu verlieren. Reiß dich gefälligst zusammen!«
»Ach, Benedikt! Werde doch nicht gleich immer so melodramatisch! Du hast ja keine Ahnung, was hier los ist. Hinter mir liegt eine Scheißwoche und diese Nacht setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Ich werde mich schon nicht umbringen!« Jedenfalls nicht auf diese Weise fügte er in Gedanken hinzu.
»Das will ich dir aber auch geraten haben!« Es entstand eine Pause.
»So, nachdem du mir nun den Kopf gehörig gewaschen und mich aus meinen Träumen, wenn auch Albträumen, gerissen hast und an Schlaf sowieso nicht mehr zu denken ist, würdest du jetzt bitte so freundlich sein, zum eigentlichen Grund deines Anrufs zu kommen. Du weißt, ich plaudere gerne mit dir, aber du hast mich bestimmt nicht angerufen, nur um mit mir Small Talk zu treiben. Also, schieß schon los. Was ist passiert?« Kaum waren seine Worte verklungen, da bemerkte er auch schon, wie eine innere Unruhe von ihm Besitz ergriff. Er griff erneut nach der Whiskey Flasche, ließ sie aber sofort wieder sinken, als er feststellte, dass er sie bereits geleert hatte. Außerdem hatte Benedikt recht. Ein noch größerer Brummschädel wäre keinesfalls förderlich für seine morgigen Verhandlungen.
»Sitzt du?«, tönte es in diesem Moment vom anderen Ende.
»Wieso?«
«Simon, du hattest recht!«
»Womit hatte ich recht?«
»Mensch, Junge, wir haben ein Grab gefunden. Hier in dieser gottverlassenen Gegend! Vollkommen intakt! Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es keltischen oder piktischen Ursprungs ist. Etwas daran ist merkwürdig. Aber, auf jeden Fall ist es eine Sensation! Die Reporter werden uns in Scharen belagern, wenn sie erst einmal Wind von der Sache bekommen. Was hältst du davon, dich auf den Weg zu machen, um dabei zu sein? Ich möchte dich bei mir haben, wenn wir es näher untersuchen. Simon, du weißt, ich bin nicht gerade der euphorische Typ ...«, er musste unwillkürlich Grinsen, denn Professor Peters war die Euphorie in Person. »..., aber«, fuhr dieser unbeirrt fort, »ich sage dir, so etwas hast du noch nie gesehen! Ich kann mir gut vorstellen, welchen Wirbel alle darum machen werden. Herr Gott noch mal, Simon, ich fühle mich wie Carter bei der Entdeckung von Tut Anch Ammons Grab.« Simon de Luca starrte ungläubig auf den Hörer in seiner Hand. Wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was Benedikt ...
»Du sagst ja gar nichts, Junge!«
»Ihr habt wirklich etwas gefunden?«
»Nicht nur etwas, mein Junge! Etwas ganz Großes! Etwas Einmaliges! Etwas, was die Welt noch nicht gesehen hat und das genau an der von dir beschriebenen Stelle. Es ist einfach unfassbar!«
»Wirklich?«
»Junge, du hörst dich an, als könntest du es selbst nicht fassen. Wer hat mir denn die ganze Zeit in den Ohren gelegen und das mit einer Überzeugungskraft, die selbst den ungläubigen Thomas nicht weiter hätte zweifeln lassen? Und nun ist der Erfolg dein Werk! Du hattest recht! Gegen jede Vernunft hattest du recht! Es existiert und ich glaube, wir haben es gefunden.«
Simons Knie wurden weich. Seine Hand, die den Telefonhörer dermaßen umklammerte, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, zitterte mit einem Mal und seine Kehle wurde staubtrocken. Er hievte seine Beine ungelenk aus dem Bett, kam wackelig auf seinen Füßen zum Stehen und zwang sich dabei ruhig ein und aus zu atmen, um seinen Pulsschlag wieder auf ein normales Maß zu senken.
»He, Junge, hast du nicht gehört, was ich dir eben gesagt habe? Ich sagte ...«
»Verdammt, ich habe es gehört!«, seine Stimme klang so belegt, dass er sich selbst kaum verstehen konnte. Er schluckte ein paar Mal, hustete, dann fuhr er fort. «Ich kann es nicht fassen! Benedikt, dass ist ...«
»Dann beweg dein knackiges Hinterteil endlich in Richtung Flughafen und überzeuge dich selbst davon.«
»Du hast gut reden! Für dich ist es dein Beruf, für mich hingegen ein Hobby. Ich glaube, mein Aufsichtsrat wäre nicht gerade begeistert, wenn ich die Sitzung morgen aufgrund irgendwelcher persönlichen Belange einfach so platzen ließe. Wir stehen gerade vor einem richtig fetten Deal und da kann ich hier nicht so einfach verschwinden.«
»Du meinst, du steckst in einem richtig fetten Deal und traust keinem deiner Leute zu, ihn nach deiner Vorstellung abzuschließen. Du bist unverbesserlich! Wie lange, glaubst du, wird es noch dauern?«
»Ich hoffe, dass ich Ende nächster Woche alles unter Dach und Fach habe. Danach stehe ich dir voll und ganz zur Verfügung. … Eine Frage hätte ich jedoch noch. Was ist eigentlich so ungewöhnlich an unserem Fund?« Er konnte das Grinsen seines Freundes am anderen Ende der Leitung geradezu hören.
»Das, mein Lieber, wirst du schon selbst herausfinden müssen.«
»Das ist nicht fair! Schließlich bezahle ich dafür!«
»Das Leben ist nie fair!«
»OK, .... OK! Ich lass dir deinen Spaß, aber wehe dir, wenn es mich nicht vollkommen aus den Socken haut ...!«
»Das wird es!«
»Gut zu wissen! ... Ich melde mich dann bei dir, wenn ich den Flug gebucht habe. Sag mal, muss ich mir einen Mietwagen nehmen, oder kannst du einen deiner Leute entbehren, damit er mich abholen kommt?«
»Sicher kann ich das. Wie du schon bemerktest, zahlst du ja auch schließlich dafür ... Ach und noch etwas! Lass dich von deinen Firmenfuzzies nicht fertigmachen. Denk an deine Gesundheit!«
»Das tue ich doch immer, mein Freund. Also dann bis später!«
»Bis später! Wir sehen uns!« Das Knacken am anderen Ende der Leitung zeigte ihm, dass Benedikt aufgelegt hatte. Er starrte noch lange auf den stummen Hörer, dann ließ er ihn geistesabwesend auf sein Bett fallen.
Simon de Luca, seines Zeichens Chef von Lucano Industries, einige Milliarden Dollar schwer und sonst kaum aus der Fassung zu bringen, rang nach Luft und ließ sich auf die Bettkante fallen. Seine große, breitschultrige Gestalt, die eher der eines gut trainierten Athleten, denn eines Managers glich, mit dem dunkelbraunen, schulterlangen Haar und den faszinierenden, wasserblauen Augen, die ihm vor nicht allzu langer Zeit den Titel „Sexiest Manager alive“ bei der Boulevardpresse eingebracht hatte, sackte auf der Bettkante zusammen und schlug die Hände vor sein Gesicht.
»Oh, mein Gott!«, flüsterte er vor sich hin. Er befand sich in einem Stadium zwischen Melancholie und Aufregung und er wusste auch nur zu gut, warum er gerade auf diese Weise auf den Anruf seines Freundes reagierte.
»Wenn es doch nur wahr wäre! Wenn Benedikt doch nur recht hätte!« War er seinem Ziel wirklich so nah? Ein letzter Funke Hoffnung, den er bereits in der hintersten Ecke seines Selbst vergraben hatte, keimte langsam in ihm auf. Er fingerte geistesabwesend nach seiner seidenen Bettdecke, erhob sich zögernd und wickelte sich dabei, in seiner betont lässigen Art, die kühle Stoffbahn um seine bloßen Hüften. Dann trat er vor die Balkontür und öffnete sie. Ein eisiger Windzug erfasste ihn und ließ seine Haare wie eine seidige Fahne nach hinten wehen.
Zu seinen Füßen lag Manhattan. Ein winterliches Manhattan, denn, so kurz vor Weihnachten, lag es unter einer dichten Schneedecke, aus der die Wolkenkratzer wie gepuderte Riesen hervorragten. Er sog die kalte Winterluft tief in seine Lungen, dabei starrte er von seinem Penthouse auf die menschenleeren, verschneiten Straßen. Die Lichter des riesigen Baumes vor dem Rockefeller Center waren selbst von hier oben aus noch gut zu erkennen. Alles wirkte so friedlich. Friede! Welch schönes Wort! Aber eben nur ein Wort, nicht mehr! Er beobachtete eine Kehrmaschine, die den Platz um die Tanne vom Schnee befreite, während eine zweite über die künstlich angelegte Eisfläche fuhr, um sie für den nächsten Tag wieder befahrbar zu machen. Weihnachten! Hatte es jemals Bedeutung für ihn gehabt? Er konnte sich nicht daran erinnern, auch nur einen Gedanken daran verschwendet zu haben. Wieso dann gerade jetzt? Vielleicht, weil du alt wirst!, beantwortete er sich selbst die Frage. Seine Belegschaft hätte vermutlich gelacht, denn äußerlich wirkte er noch immer, wie ein Mitte-zwanzig-Jähriger. Er aber wusste es besser. Die alljährlichen Feiern in seiner Firma, anlässlich des bevorstehenden Weihnachtsfestes, waren für ihn zu einer permanenten Herausforderung geworden. So auch gestern! Er verstand die Hochstimmung, die dieses Fest jedes Jahr bei seiner Belegschaft hervorrief, ohne sie jedoch teilen zu können. Denn, im Gegensatz zu einem Großteil seiner Mitarbeiter, die im Anschluss an die Firmenfeier die Festtage im Kreis ihrer Freunde und Familien verbrachten, wartete auf ihn nur die Einsamkeit und Leere seines viel zu teuren, eigens für ihn designten Penthouses, das ihm im Grunde genommen nur dazu diente, sich selbst vor der restlichen Welt abzuschotten. Ein Zufluchtsort, den neben ihm nur seine Haushälterin Mathilda betreten durfte. Er warf seinen Blick zurück in den nun hell erleuchteten Raum. Die marmornen Statuen von Jupiter, Juno, Diana und Apoll schienen ihn demonstrativ anzugrinsen. Ja, sie alle hatten ihn verlassen und das schon vor so langer Zeit. Sie traf genauso viel Schuld an seiner Einsamkeit, wie ihn selbst. Und dadurch, dass er jeden Tag mit ihren kalten, leblosen Statuen verbrachte, wollte er sich selbst beweisen, dass er in der Lage war, ihnen zu trotzen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Er hatte sich geirrt. Das war ihm heute Nacht klar geworden. Er würde niemals in der Lage sein, dem Schicksal zu trotzen. Was also war ihm noch geblieben? Nur sein Stolz und den würde er sich von keinem nehmen lassen. Nicht einmal von diesen eiskalten, marmornen Geschöpfen. Er seufzte, dabei wanderte sein Blick auf die Spitze des „Empire State Buildings“. Noch immer übte das alte Gebäude eine große Faszination auf ihn aus, denn es übertraf all die anderen Gebäude bei Weitem an Schönheit.
»Was sagst du dazu, mein Freund?« richtete er sein Wort an das alte Gebäude. »Liegt es an Weihnachten oder an Benedikts Anruf, dass ich hier stehe, wie ein kompletter Narr und auf die leeren Straßen starre?« Weihnachten! Das Fest des Erlösers! Erlösung, das Wort, das zwar in seinem Wortschatz existierte, von dem er aber weder die wirkliche Bedeutung kannte, noch eine Ahnung hatte, wie sie sich anfühlen würde. Konnte man überhaupt an dessen Existenz glauben? Das Telefonat eben hatte ihn bis auf die Grundmauern erschüttert. Er war all die Jahre einem Hirngespinst nachgejagt, so hatte er wenigstens geglaubt. Und nun war dieses Hirngespinst zum Leben erwacht und er, töricht, wie er war, klammerte sich an den kleinen Funken Hoffnung, der tief in seinem Innern zu glimmen begonnen hatte. Verdammt! Nicht schon wieder! Er war schon zu oft enttäuscht worden. Viel zu oft! Er wollte sich nicht mehr in jene Euphorie steigern, die nur dazu führte, letztendlich in ein noch viel tieferes und schwärzeres Loch zu fallen. Diesmal könnte er sich nicht noch einmal daraus befreien, so viel war sicher. Diesmal wäre es sein Untergang! Doch, was nutze es, dass sein Verstand sich verzweifelt zu wehren begann, während sein verräterisches Herz der Hoffnung bereits Tür und Tor geöffnet hatte? Konnte er sie zulassen? Wollte er sie zulassen? War es möglich, dass ...? Gab es für ihn tatsächlich eine Zukunft ohne Einsamkeit und Leere? Konnte er nach all den Jahren wirklich erlöst werden? Fragen, die er sich nicht beantworten konnte, die er aber nur zu gerne beantwortet hätte und die er sich beantworten musste, bevor es zu spät war.
Dieses Grab war seine erste Spur! Die Spur seiner Träume, die ihm endlich die Stelle gezeigt hatte, an der er suchen musste. Nach all den Jahren der Verzweiflung. Eine Spur zu seiner Bestimmung, seiner Zukunft, zum Leben allgemein. Das war so sicher, wie das „Amen“ in den Kirchen. Ja, er wollte endlich mit dem Leben beginnen und nicht nur so dahinvegetieren. Dieses Grab war seine Chance, endlich den Weg zu finden. Sein rettender Anker, ein Strohhalm, an den er sich klammern wollte, und wäre es auch sein Ende. Was, so fragte er sich, hatte er denn schon Großartiges zu verlieren? Reichtum? Macht? Dinge, auf die er liebend gerne verzichten würde. Und wenn dieser Weg wieder eine Sackgasse sein sollte, dann gab es immer noch die Möglichkeit, sich ... Nein, er musste einfach die Hoffnung zulassen, das war er sich nach all den Jahren einfach schuldig.
Die darauffolgenden Tage waren die schlimmsten seines Lebens, wenn man einmal davon absah, dass in seinen Augen sein bisheriges Dasein kaum eine Steigerung zuließ. Die Verhandlungen, die er schon für abgeschlossen gehalten hatte, zogen sich wie Kaugummi in die Länge. Doch, Gott sei Dank, rückten die Weihnachtsfeiertage unaufhaltsam näher, sodass seine Verhandlungspartner schließlich doch noch einlenkten. Zusätzlich hatte ihm sein Aufsichtsrat, der ebenfalls mit einem schnellen Abschluss gerechnet hatte und dem Dollarzeichen schon in den Augen gestanden hatte, die Hölle heißgemacht. Er hatte sich von diesen geldgierigen Schwachköpfen doch tatsächlich anhören müssen, er hätte nicht mehr den nötigen Biss, ein Projekt dieser Größenordnung zu aller Zufriedenheit durchzuziehen. Er und nicht den nötigen Biss? Was bildeten sich diese hirnlosen Affen eigentlich ein? Wer hatte denn aus der einstmals maroden Firma das gemacht, was sie heute war? Und wer finanzierte jedes noch so aussichtslose und schwachsinnige Projekt, nur um sie bei Laune zu halten? Dankbar hätten sie sein sollen, doch Geld verdarb nun einmal den Charakter.
Wenn er geglaubt hatte, dass damit sein Soll an Unannehmlichkeiten für diese Woche erfüllt gewesen wäre, dann hatte er sich jedoch gewaltig getäuscht. Denn, zu allem Überfluss war dann auch noch diese penetrante Presseziege, Valeria Bishop, vom „Morning Star“ bei ihm aufgekreuzt. Sie hatte mit ihren Hüften gewackelt, mit ihren Augen geklimpert und sich dann, wie ein Bluthund an seine Fersen geheftet, nur um exklusiv über die Verhandlungen berichten zu können. Das hatte sie ihm jedenfalls gesagt! Er aber war der Ansicht, dass diese junge Dame weitaus mehr im Sinn gehabt hatte, als seine schnöden Geschäfte. Ihre Artikel waren äußerst informativ gewesen. Nicht in Bezug auf seine Verhandlungen, sondern auf sein Privatleben. Sie hatte jedwede Information, die sie über seine Person erhaschen konnte, an die Öffentlichkeit gezerrt und ihn wie eine kostbare Rarität der Weiblichkeit dargeboten mit dem Ergebnis, dass er wie ein Rockstar von dem schönen Geschlecht überall, wo er auftauchte, nur so belagert wurde. Als wenn es in dieser verdammt großen Stadt nicht genug andere, interessantere Leute geben würde, die sich nur darum rissen, jeden Morgen neue, Seiten füllende Artikel über sich selbst in den Auslagen der Zeitungskioske bewundern zu können. Zu seinem Glück hatte sie aber irgendwann im Laufe der Woche ihr Interesse an ihm verloren. Wahrscheinlich musste sich jetzt ein, aus ihrer Sicht, reizvolleres Opfer, mit ihr herumschlagen. Fortuna sei Dank!
Als sich dann auch noch seine anderen Probleme weitestgehend in Luft aufgelöst hatten, hatte er endlich wieder frei atmen und sich den wirklich wichtigen Dingen in seinem Leben zuwenden können, wie zum Beispiel seinem Besuch bei Benedikt.
Jetzt saß er, zwar einige Tage später als ursprünglich geplant, aber dennoch weitgehend gut gelaunt, in einem äußerst komfortablen Flieger nach Glasgow.
Nach einem turbulenten Start lag New York momentan direkt unter ihm. Die dicke Wolkendecke, die sich, wie eine weißgrau schimmernde Berglandschaft unter der Maschine auftürmte, zeugte von dem heftigen Schneetreiben, das dort unten noch immer herrschte. Es grenzte schon beinahe an ein Wunder, dass man ihnen bei diesem Sauwetter überhaupt die Starterlaubnis erteilt hatte, wenn auch nur zögernd und mit Verspätung. Er hatte schon fast damit gerechnet, dass Fortuna wieder einmal seine Pläne durchkreuzen würde und er unverrichteter Dinge in sein Penthouse zurückkehren müsste, als die Verantwortlichen doch noch ihr OK gaben. Vermutlich lag es an den bevorstehenden Weihnachtstagen. Tausende von wartenden Fluggästen in einem kalten, total überfüllten Flughafen, keine gute Publicity! Welch weise Entscheidung sie doch getroffen hatten. Der Geburt des Erlösers sei Dank!, schoss es ihm durch den Kopf, dabei lehnte er sich relaxed in seinem geräumigen erste Klasse-Sitz zurück.
Eine blond gelockte Stewardess oder Flugbegleiterin, wie sie sich seit geraumer Zeit nannten, sah jedoch in dieser einfachen Geste eine Aufforderung, sich ihm zügig zu nähern. Dementsprechend steuerte sie nun mit kreisenden Hüften geradewegs auf ihn zu.
»Mister de Luca? Ist bei Ihnen alles in Ordnung?« Er starrte sie verwirrt an. Während sie sich tiefer zu ihm hinunter beugte, als es notwendig gewesen wäre. Dabei wippte das Schiffchen, das keck auf ihren dichten Locken thronte, aufreizend hin und her. »Darf ich Ihnen noch etwas bringen?« Ihre veilchenblauen Augen fixierten seine, solange bis er verstohlen zur Seite blickte, während sie ihn verzückt anlächelte,
»Nein, danke!«, erwiderte er deshalb schnell. »Ich habe alles, was ich brauche!« Jedenfalls alles, was du mir geben könntest, fügte er in Gedanken hinzu.
»Sind Sie sicher?«, wieder lächelte sie vielsagend. »Soll ich Ihnen nicht doch noch etwas bringen? Ein Glas Champagner oder ein Journal?« Sie war hartnäckig, das musste er ihr lassen. Hartnäckiger als die meisten anderen. Ihr Oberkörper streifte scheinbar zufällig sein Gesicht, während sie die Jalousie vor das Fenster zu seiner Linken zog und damit die Sonnenstrahlen, die die dichte Wolkendecke mittlerweile in ein weißes Wattemeer verwandelt hatten, nach außen verbannte. Verdammt! Warum musste sie das jetzt tun? Und dabei dieser Duft! Veilchen! Wie ihre Augen! Er stöhnte leise, gleichzeitig drückte er sich tiefer in seinen Sitz. Es war ja nicht so, dass er sich seiner Wirkung auf das andere Geschlecht nicht bewusst gewesen wäre, doch, mussten sie es immer gleich übertreiben? Nicht einmal hier oben, hoch über den Wolken hatte er seine Ruhe vor ihnen. Er fluchte leise, dann schloss er seine Augen. Er war dem schönen Geschlecht nicht abgeneigt. Das war nicht sein Problem! Aber in seiner momentanen Verfassung konnte er einfach keine Frau an seiner Seite gebrauchen. Er kam ja kaum mit sich selbst klar, geschweige denn in einer Beziehung. Doch seit, dank Miss Bishop, sein Konterfei sämtliche Titelseiten der Gazette schmückte, galt er nun einmal als einer der gefragtesten Junggesellen diesseits und jenseits des Atlantiks. Dementsprechend war es für ihn auch immer schwerer geworden, all den blond gelockten, brünetten oder rothaarigen Schönheiten, die sich, alle samt, nur ein Ziel gesetzt hatten, ihn in den Hafen der Ehe zu locken, aus dem Weg zu gehen. Und außerdem wollte er nur eine Bestimmte. Er war sich nicht sicher, ob er sie überhaupt jemals finden würde und dabei suchte er sie schon so lange. Doch, wenn es endlich so weit sein würde, dann, so viel stand für ihn fest, wüsste er auch sofort, dass sie es wäre. Und diese hier war es definitiv nicht!
Für den Rest des Fluges beschloss er deshalb zu schlafen, oder wenigstens so zu tun, denn das Risiko, dass eine der weiteren vier Flugbegleiterinnen der ersten Klasse genauso viel Aufhebens um seine Person machen würde wie die Erste war ihm definitiv zu groß. Es dauerte eine Weile, doch schließlich döste er ein.
Er befand sich in einem unwegsamen Waldgelände und hatte das Gefühl bereits seit Stunden einfach nur herumzuirren. Jetzt lag vor ihm eine Lichtung, die bis hinunter an die Ufer eines Sees reichte. Zu seinem Erstaunen konnte er jedoch keinerlei Bewegung auf der Oberfläche des Gewässers erkennen. Einzig und alleine die bleiche Scheibe des Mondes schien wie ein leuchtend weißer Ball in seiner schwarzen Tiefe zu versinken. Ein Käuzchen schrie und von Weitem hörte er das Heulen der Wölfe, die mit ihrem Gesang Luna lobpreisten, so als wollten sie sie zu sich auf die Erde rufen. Er lauschte halbherzig ihrem Gesang, während seine Gedanken weit in die Ferne schweiften. Dabei verfluchte er im Stillen sich und seine Situation. Warum hatte Hadrian ihn auch gerade hierher in dieses barbarische Land abkommandieren müssen? Der Ruf des Käuzchens schien ihn zu verspotten. Wollten ihm jetzt etwa sogar schon die Tiere sein Unvermögen vor Augen führen?
»Ja, spotte nur! Ich habe es nicht besser verdient! Ich war ein solcher Narr!« Wie, um seinen Worten beizupflichten, schrie das Käuzchen ein weiteres Mal. Ein eisiger Windhauch fuhr ihm durch sein schulterlanges Haar und er fröstelte, obwohl der See noch immer völlig reglos da lag und auch die Baumkronen keinerlei Anzeichen von einer derartigen Luftbewegung erkennen ließen. Er schlang seinen Umhang enger um seine Schultern und hob drohend seine Faust gen Himmel.
»Fortuna! Ist das hier wieder dein Werk? Benutzt du mich schon wieder als Spielball deines Treibens? Ich muss zugeben, diesmal hast du wirklich ganze Arbeit geleistet!«, murmelte er vor sich hin, während er sich auf einem alten knorrigen Baumstumpf niederließ und dabei sein Gesicht in seinen Händen vergrub. Eine Weile saß er einfach nur schweigend da. Das Gezeter der Tiere wurde lauter und es schien ihm, als wollten sie ihn mit ihrer endlosen Litanei völlig aus der Fassung bringen, als plötzlich ein leises Knacken seine Aufmerksamkeit erregte. Er hob seinen Kopf und spähte in die Richtung, aus der es kam. Doch nichts geschah! Ein Reh!, schoss es ihm durch den Kopf. Vermutlich hatte er bloß ein Reh aufgeschreckt. Er sah sich noch einmal um, konnte aber auch weiterhin nichts erkennen. Wieder ließ er seinen Kopf sinken, um sich erneut seiner Trübsinnigkeit hinzugeben, als ein weiteres Knacken ertönte. Diesmal ein wenig lauter. Irgendetwas oder Irgendjemand näherte sich ihm, so viel stand fest. Er erhob sich leise von dem Baumstumpf und drängte sich instinktiv zurück in die Büsche. Dann schob er sich tiefer in das Unterholz, immer darauf bedacht so wenig Geräusche wie nur irgend möglich zu machen, bis das dichte Blattwerk ihn vollends verschluckte. Was erwartete ihn? Ein wildes Tier, oder hatte er vielleicht ungewollt einen geheimen Versammlungsort der Barbaren gefunden? Hatte er sich, wie immer, aus purem Leichtsinn in Gefahr gebracht? Konnte es überhaupt noch schlimmer kommen? Er wartete, innerlich angespannt und zu allem bereit. Doch, was er nun zu Gesicht bekam, war alles andere nur nicht barbarisch. Es raubte ihm schier den Atem, ließ sein Herz bis zu seinem Hals schlagen und sein Blut pulsierte durch seine Adern wie die tosenden Fluten des Tibers.
Offensichtlich hatten die Wölfe mit ihrem Geheul Erfolg gehabt, denn auf der Lichtung erschien eine Göttin. Luna selbst, eingehüllt in das weiße Licht ihres himmlischen Abbildes. Nur wenige handbreit vor ihm hielt sie inne und drehte ihm den Rücken zu. Ihr weißes, wallendes Gewand, dem das weiche, silberne Licht des Mondes einen nahezu überirdischen Glanz verlieh, reichte in sanften Wellen bis hinunter auf ihre Füße. Es war ein Bild, wie aus seinen kühnsten Träumen, nur dass er diesmal anscheinend nicht träumte.
Sie schritt nun langsam auf das Ufer des Sees zu, während sie scheinbar zufällig ihr Gewand anmutig von ihren Schultern gleiten und es achtlos auf den Boden fallen ließ. Er vergaß zu atmen und starrte nur noch auf die grazile Gestalt vor seinen Augen. Bei Jupiter, Juno und allen ihm bekannten Göttern, so etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Ihr seidiges, dunkles Haar fiel bis hinunter zu ihren Schenkeln, so dass es viel mehr von ihr verdeckte, als ihm lieb war. Und, was noch schlimmer war, da sie ihm auch weiterhin ihren Rücken zudrehte, konnte er ihr Gesicht nicht erkennen, aber er war sich dennoch sicher, dass es von demselben überirdischen Glanz sein musste, wie auch der Rest von ihr. Sie war die menschgewordene Venus, auf die Erde gekommen, nur um ihn in ihren Bann zu ziehen.
Die junge Frau hob nun ihre Arme gen Himmel und richtete ihren Blick auf Lunas runde Scheibe, dabei verfiel sie in eine Art Singsang. Augenblicklich verstummte das Heulen der Wölfe und selbst die Schreie des Käuzchens verebbten. Einzig und allein ihre liebliche, glasklare Stimme hallte, wie der Gesang einer Sirene durch die nun ansonsten totenstille Nacht.
»Jupiter«, flüsterte er leise vor sich hin, »sag mir, dass ich träume. Das hier kann nur ein Traum sein!« Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Im Grunde genommen wusste er gar nichts mehr. Zunächst beobachtete er sie nur weiterhin fasziniert aus seinem Versteck heraus. Dann aber bewegte er sich so leise, wie es ihm nur irgend möglich war auf sie zu. Es geschah vollkommen unbewusst, fast so als steuerte ihn eine unsichtbare Macht. Erst als er direkt hinter ihr stand, realisierte er, was er getan hatte. Doch zurück konnte er nicht. Nicht jetzt, wo er ihr schon so nah war! Instinktiv streckte er seine Hand nach ihr aus, zog sie aber sofort zurück, als er merkte, was er im Begriff war zu tun. Er wusste, dass er gerade dabei war, die größte Dummheit seines Lebens zu begehen, aber, wie, bei allen Göttern, hätte er es verhindern können, wenn sein Verstand sich bereits bei ihrem ersten Anblick verabschiedet hatte? Er sah seine Hand, die nun zaghaft eine lange Strähne ihres Haares berührte und fluchte im Stillen. Verdammt! Es fühlte sich genauso seidig an, wie es aussah. Er wollte sein Gesicht in dieser Fülle vergraben, doch irgendetwas hielt ihn zurück, obwohl sie von all dem nichts zu bemerken schien. Noch einmal zögerte er kurz, dann aber, durch ihre scheinbare Ahnungslosigkeit angespornt, streifte er mit seinen Fingern ihren Arm und legte vorsichtig seine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte leicht zusammen, während er den Druck behutsam verstärkte und sie allmählich zu sich herumdrehte.
»Mister de Luca! Ich möchte ja nicht unhöflich erscheinen, aber die anderen Fluggäste haben bereits vor einer halben Stunde den Flieger verlassen. Wollen sie denn nicht gehen? Das Reinigungspersonal wartet schon!« Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass nicht die unbekannte Schöne aus seinem Traum, sondern die blond gelockte Flugbegleiterin vor ihm stand. Schnell sprang er auf, kramte sein Handgepäck aus dem Fach über ihm und eilte aus der Maschine. Dass er dabei fast die Flugbegleiterin umrannte, die dies mit einigen wütenden Kommentaren quittierte, nahm er in all der Eile kaum noch wahr.
Über Glasgow lag eine dichte graue Wolkendecke. Es nieselte leicht, dafür war es jedoch bedeutend wärmer als in New York. Vor dem Flughafengebäude wartete bereits Chris McKinley, einer von Professor Peters Assistenten, auf ihn. Der junge Mann war vielleicht Mitte zwanzig, hager, hatte feuerrotes Haar und eine runde Nickelbrille auf seiner Nase, die ständig bis auf seine Nasenspitze rutschte und die er deshalb von Zeit zu Zeit hektisch wieder auf ihren eigentlich dafür vorgesehenen Platz zurückdrückte. Chris McKinley wirkte im Allgemeinen äußerst hektisch, nervös und irgendwie gehetzt auf ihn. Dementsprechend zügig verstaute der junge Mann das Gepäck in dem viel zu kleinen, klapprigen, knallroten Austin Mini und verwies ihn energisch auf den Beifahrersitz. Dann startete er den Motor und brauste los, fast so als seien Scharen von, Gott weiß was, hinter ihnen her. Je länger die Fahrt dauerte, desto deutlicher wurde ihm, dass sein Chauffeur nicht gerade begeistert davon war, dass Professor Peters ausgerechnet ihn ausgewählt hatte, seinen Freund und Mäzen quer durch ganz Schottland bis hin zur „Isle of Skye“ zu kutschieren. Er war stumm wie ein Fisch und beachtete ihn kaum. Einzig und allein das Radio dudelte unentwegt vor sich hin.
Als sie Fort William passiert hatten, versuchte Simon de Luca schließlich das Schweigen zu brechen.
»Mister McKinley, sie sind einer von Benedikts Studenten, habe ich recht?«
»Hmm ...«
»Hauptgebiet keltische und piktische Geschichte nehme ich an.«
»Hmm ...«
»Sie reden nicht gerade viel, stimmt’s?«
»Hmm ...« Es war zum Mäusemelken, sein Gegenüber erstickte jede Art von Konversation bereits in ihrem Keim. Dennoch wirkte der junge Mann dabei nicht unhöflich oder gar abweisend auf ihn, sondern eher nachdenklich oder ein wenig zerstreut. Wieder folgte eine Zeit lang nichts als Schweigen, bis sein Chauffeur plötzlich das Radio leiser drehte, den Wagen auf dem Seitenstreifen zum Stehen brachte und ihn eindringlich anstarrte.
»Ist 'was?«, wollte er deshalb von ihm wissen.
»Das kann man wohl sagen!« Chris McKinley betrachtete ihn nun noch abschätzender. »Ich will ja nicht neugierig erscheinen, oder vielleicht aufdringlich, aber, Mister de Luca, da gibt es etwas, was mich schon die ganze Zeit über beschäftigt und was ich Sie gerne fragen wollte.« Simon de Luca musterte nun seinerseits seinen Gegenüber, während dieser unbeirrt fortfuhr. »Wieso befasst sich ein Mann wie Sie ausgerechnet mit keltischer und piktischer Geschichte? Ihr Name ist auf keinen Fall keltischen Ursprungs, demnach sind Sie nicht wie einige ihrer gelangweilten Zeitgenossen auf der Suche nach Ihren Wurzeln. Was also ist es, das Sie antreibt? Reiner Mangel an Abwechslung? Neugier? Oder ist es noch etwas anderes? Ich weiß, Sie haben einen Haufen Kohle, doch, warum leisten Sie sich damit einen eigenen Professor? Ich will ja nichts gegen Benedikt sagen, er ist immerhin einer der fähigsten Köpfe unseres Fachbereichs, dennoch ist es ungewöhnlich, dass Sie gerade ihn mit einer Ausgrabung dieser Größenordnung betrauen. Und, wo wir schon einmal beim Thema Ausgrabungen sind, Benedikt hat beiläufig erwähnt, dass wir diesen Fund Ihnen zu verdanken haben. Wie kommt ein absoluter Laie, wie Sie, auf die Idee, dass sich in solch einer gottverlassenen Gegend, fern ab vom Festland etwas befinden könnte und noch dazu so etwas? Ich verstehe das nicht! Ich habe sämtliche uns bekannte Chroniken durchforstet, habe alte Schriften verglichen und jedwede Kultgegenstände, die ich finden konnte, auf Hinweise untersucht, jedoch alles ohne Ergebnis. Ich habe nirgendwo auch nur die leiseste Andeutung auf das gefunden, was wir entdeckt haben. Wo also haben Sie Ihre Informationen her? Und sagen Sie jetzt bloß nicht, Sie hätten das Zweite Gesicht oder irgendeinen ähnlichen Humbug, das werde ich Ihnen nämlich nicht abkaufen.«
»Ganz schön viele Fragen, für einen, der mich bis jetzt völlig ignoriert und angeschwiegen hat!«
»Ganz schön viele Ungereimtheiten, die ich mir nicht erklären kann, Mister de Luca!«
»Touché, Mister McKinley! Also gut! Wie sie vielleicht wissen, habe ich Benedikt vor einigen Jahren auf einem Symposium über keltische Geschichte ...«
»Das weiß ich bereits! Was ich jedoch nicht weiß ist, warum waren Sie dort? Was Professor Peters dort gemacht hat, steht in sämtlichen Fachblättern. Es war ja geradezu ein Skandal! Aber warum befanden Sie sich dort? Ich verstehe ja, wenn Leute sich für die Ägypter und deren Hochkultur begeistern, allein schon wegen der großen Bauwerke, die sie uns hinterlassen haben oder der Schätze, die noch immer unter dem Wüstensand vermutet werden. Aber die Kelten oder Pikten? Die meisten ihrer Bauwerke, so es sie gab, sind zerfallen. Hin und wieder werden zwar Gräber entdeckt, in denen Grabbeigaben oder kultische Gegenstände gefunden werden, aber damit war’s das dann auch. Meist hat das alles nur einen ideellen Wert. Ich will nicht sagen, dass sie unbedeutend waren, aber wissen Sie, wie die Römer sie genannt haben? Barbaren und im Grunde genommen waren sie das auch. Es heißt, sie hätten ihre Feinde verspeist, ähnlich wie die Azteken, nur dass diese uns wiederum Pyramiden und Ruinen hinterlassen haben, die so gewaltig sind, dass man von ihnen einfach fasziniert sein muss.«
»Erlauben Sie mir eine Gegenfrage?« McKinley nickte, dabei rutschte ihm seine Brille erneut auf die Nasenspitze, sodass er sie hektisch zurück an ihren Platz schob. »Warum befassen Sie sich mit den Kelten, wenn sie in Ihren Augen doch so unbedeutend sind?«
»Wer behauptet, dass sie unbedeutend waren? Ich habe nichts dergleichen gesagt. Aber bei mir ist das auch etwas anderes. Meine Wurzeln liegen in diesem Land. Generationen von McKinleys haben dieses Land bewohnt, haben in unzähligen Schlachten für dieses Land gekämpft und sind dafür gestorben. Unser Blut tränkt diese Erde, Mister de Luca. Wir haben dazu beigetragen, es zu dem zu machen, was es heute ist. Ist es dann nicht verständlich, dass ich wissen will, wie diese Vorfahren lebten, was sie dachten und womit sie sich befassten? Ist es nicht wichtig, seinen Ursprung zu kennen, um sich selbst zu verstehen?«
»Eine gesunde Einstellung für einen Mann ihres Alters!«
»Wollen Sie mich verarschen? Sie sind doch höchstens fünf Jahre älter als ich!« Simon de Luca grinste über das ganze Gesicht und zeigte dabei seine strahlend weißen Zähne. Er mochte diesen Jungen, vielleicht sogar mehr, als es ihm lieb war.
»So meinen Sie? Danke, für das Kompliment!« McKinley nickte und zum wiederholten Male verrutschte seine Brille. Diesmal ließ er sie jedoch genau dort, wo sie war, was ihm ein etwas schrulliges Aussehen verlieh.
»Sie haben meine Fragen noch nicht beantwortet, Mister de Luca!«
»Ich weiß, Mister McKinley!« Die beiden musterten sich eine Weile schweigend, so als könnte jeder den anderen mit Hilfe seines Blickes aus der Reserve locken. Dann aber erschien fast gleichzeitig ein Grinsen auf beiden Gesichtern.
»Simon! Sie können mich Simon nennen!«
»Gut, aber nur wenn Sie auch Chris zu mir sagen«, antwortete ihm sein Gegenüber, während er seine Brille zurechtrückte. »Was ist? Bekomme ich nun meine Antworten?« Der Junge war hartnäckig, aber auch das gefiel ihm an ihm.
»Also schön! Es liegt an diesem Land. Trotz all der Belagerungen, Kämpfe und Schicksalsschläge, die es in seiner langen Geschichte erdulden musste, ist es noch immer dasselbe geblieben. Ich sehe die saftigen Wiesen der Lowlands, die Hügel und Gebirgsketten der Highlands, seine zerklüftete Küste mit all den Felsen, Buchten und Stränden und frage mich, was dieses Land ausmacht. Sind es die Lochs, die Legenden und Sagen oder seine Menschen? Das alles zieht mich magisch an. Es ist noch genauso wild und ungezähmt wie vor Hunderten von Jahren und das, obwohl es belagert und unterdrückt wurde. Barbarisch? Ja, man könnte es so nennen! Aber auch faszinierend! Hat ein solches Land es nicht verdient, dass man seine Anfänge erforscht? Deshalb gebe ich mein Geld nicht für Autos oder Frauen aus, sondern für Professor Peters.« Chris musterte ihn noch eine Weile prüfend, dann jedoch startete er den Motor und brachte den Wagen zurück auf die Straße. Anscheinend genügte ihm seine Antwort, denn er machte keinerlei Anstalten die Unterhaltung fortzusetzen. Simon de Luca atmete unwillkürlich aus. Es war noch nicht an der Zeit, dass der Junge das volle Ausmaß seiner Besessenheit kennenlernte. Denn, das, was ihn antrieb, ging weit über normale Besessenheit hinaus. Sie ging so tief unter die Haut, dass sie sogar schmerzte. Und den Grund dafür? Wie hätte er dem Jungen den wahren Grund für seine Manie erklären sollen, ohne zu riskieren, dass er ihn für vollkommen verrückt hielt. Er würde es schon noch früh genug erfahren. Nur im Moment war die Zeit noch nicht reif dafür. Dennoch war er sich ziemlich sicher, dass in naher Zukunft all die Dinge an die Oberfläche gelangen würden, die er so lange in seinem Schneckenhaus vergraben hatte. Dinge, die er selbst kaum glauben konnte. Er hoffte nur, dass derjenige, mit dem er sie endlich teilen würde, auch in der Lage wäre, ihre Tragweite zu begreifen und ihn zu unterstützen. Ja, und irgendwie schien ihm der Gedanke nicht abwegig, dass Chris McKinley eben derjenige, welcher sein würde.
Den Rest der Fahrt verbrachten sie mit dem üblichen Small Talk. Dabei vermied es jeder unbewusst, erneut auf das Thema Geschichte und was damit zusammenhing, einzugehen.
Es dämmerte bereits, als sie die Brücke, die das Festland mit der „Isle of Skye“ verband, passierten. Simon de Luca rutschte aufgeregt auf seinem Sitz hin und her, während Chris McKinley dagegen mittlerweile die Ruhe selbst zu sein schien. Bei jedem Meter, den sie sich nun ihrem eigentlichen Ziel näherten, wuchs Simons innere Unruhe und seine Anspannung. Verzweifelt versuchte er seine Gefühle vor Chris zu verbergen, aber es gelang ihm nicht wirklich.
»Kennst du die Legende vom „Table Rock“, oder „McLeods Rock“, wie er auch genannt wird?«, wollte Chris auf einmal von ihm wissen. Es schien ihm, als spüre sein Begleiter das in ihm aufkeimende Gefühlschaos und wollte ihn nur ablenken, deshalb antwortete er ihm.
»Ich glaube schon.«
»Glaubst du, oder weißt du?« De Luca zuckte mit den Schultern. »Welche der beiden Geschichten, glaubst du denn, zu kennen?«
»Es gibt mehrere?« Chris nickte.
»Ja sicher! Zwei, um genau zu sein! Soll ich sie dir erzählen?«, diesmal nickte Simon. Eine willkommene Ablenkung!
»Also schön. Es geschah im frühen 16. Jahrhundert, zur Zeit König James V. Alasdair Crotach McLeod war zu diesem Zeitpunkt Clanchef der McLeods. Weißt du, was Crotach bedeutet?«, wieder nickte Simon.
»Der Bucklige, wenn ich mich nicht irre!«
»Richtig! Du verstehst also gälisch?«
»Nicht viel, um ehrlich zu sein. Aber auf Alasdair stößt man immer wieder, wenn man sich mit der Geschichte der „Isle of Skye“ befasst. Und da erfährt man zwangsläufig seinen Beinamen.«, nun nickte Chris.
»Stimmt! Er war ein berühmter Mann, nicht nur wegen seines Buckels. Immerhin war er es, der Duntulm Castle einnahm und den Rechtstitel auf Trotternisch erlangte. Ein großer Erfolg gegen die McDonalds of Sleat, die ebenfalls Anspruch auf den Titel erhoben. Aber weiter! Ab hier existieren jetzt zwei Versionen der Sage. Die eine besagt, dass die McLeods einen befreundeten Clan aus Edinburgh eingeladen und diese sich sehr belustigt darüber gezeigt hatten, wie einfach die Lebensweise ihrer Gastgeber auf der „Isle of Skye“ doch sei. Daraufhin ließ Alasdair Speisen und Getränke auf den Tafelberg bringen. Männer mit großen Fackeln säumten die Runde, als wären sie Kandelaber und über allem spannte sich das Sternenzelt, wie eine prächtige Kuppel. Der schlaue Alasdair genoss das Staunen seiner Gäste und nach dem Mahl stellte er ihnen dann die Frage, welche Tafelrunde wohl größer, wessen Beleuchtung wohl prachtvoller und welche Halle wohl höher wäre, die seiner Gäste aus Edinburgh oder seine unter dem Sternenzelt der „Isle of Skye“. Man sagt, es verschlug den Gästen förmlich die Sprache. Auf jeden Fall hat der Tafelberg seitdem seinen Namen: „McLeods Table“. Es muss faszinierend gewesen sein.« Simon de Luca nickte erneut. »Die andere Version der Geschichte besagt, Alasdair hätte mit James V. gewettet, dass er für ihn eine prächtigere Festtafel samt Kerzenhalter bereitstellen könnte, als der König sie bei Hofe jemals zuvor gesehen hätte. Natürlich glaubte ihm der König nicht ein Wort und ging auf die Wette ein. Als er dann zu besagtem Bankett nach Dunvegan Castle kam, war der Tisch nicht in der Halle gedeckt, sondern auf dem tafelförmigen Berg in der Nähe des Schlosses. Prächtig gewandete Clanmitglieder fungierten mit riesigen Fackeln als lebendige Kerzenständer und der König kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Alasdair gewann seine Wette und seither heißt der Berg „McLeods Table“. Ich weiß nicht, welche der beiden Geschichten mir besser gefällt. Jedenfalls sind beide gleicher Maßen Zeugen von Alasdairs Gerissenheit. Ich hätte diesen Mann gerne einmal kennengelernt.«
»Oft werden Männer der Geschichte viel zu sehr verklärt., erwiderte de Luca geistesabwesend. »Im Grunde genommen sind sie genau so Menschen, wie du und ich, das kannst du mir glauben. Auch sie hatten ihre Fehler und Schwächen.«
»Bei dir klingt das, als wüsstest du, wovon du sprichst. Ich meine, so als hättest du wirklich einige von ihnen gekannt. Kanntest du einige?«, während Chris über seinen vermeidlichen Scherz in Gelächter ausbrach, schwieg Simon. Da er aber dem Jungen nicht antwortete, beruhigte sich dieser und konzentrierte sich nun vollends auf die Fahrt.
Ihr eigentliches Ziel war schon in Sicht. Die Gebirgskette des „Storr“ lag genau vor ihnen und über ihnen thronte aufrecht, wie ein uralter, einsamer Hüter, drohend der „Old Man of Storr“, ein fünfzig Meter hoher Hinkelstein, der seit Menschengedenken das Gebirge bewachte. Unterhalb des riesigen Felsens erstreckte sich ein Dorf aus Wohnwagen und Zelten. Benedikts Reich! Die Ausgrabungsstätte! Simons Knie wurden weich. Hier also würde er seine Antwort bekommen. Nur würde es auch die Antwort sein, nach der er schon so lange suchte und von der er sich so viel erhoffte.
»Man wird sehen!«, murmelte er leise vor sich hin. »Man wird sehen!«
Benedikt Peters erwartete sie bereits auf dem kleinen Parkplatz, der etwas außerhalb der Zeltstadt eigens für die Fahrzeuge seiner Mitarbeiter angelegt worden war. Der Professor wirkte noch schrulliger als bei Simons letztem Treffen mit ihm. Nicht nur, dass sein fleckiges Hemd auf der rechten Seite über seinen Hosenbund gerutscht war und er zwei verschieden farbige Schuhe trug, er hüpfte zu allem Überfluss auch noch wie ein menschgewordenes Rumpelstilzchen zwischen den parkenden Autos hin und her, während er dabei wild mit seinen Armen herumfuchtelte. Bei diesem Anblick musste Simon unwillkürlich grinsen und er bemerkte erstaunt, dass seine innere Anspannung dadurch etwas von ihm abfiel.
»Da seid ihr ja endlich!«, Benedikt riss unwirsch die Beifahrertür des Minis auf. »Chris hast du im Institut mit jemandem über unseren Fund gesprochen?« McKinley stellte den Motor ab und starrte den Professor, der bereits mit seinem halben Oberkörper über Simon hing, irritiert an. Dann schüttelte er vehement seinen Kopf.
»Nein, Professor Peters, warum sollte ich?«
»Sag, Junge, ich mache dir ja auch keinen Vorwurf, aber hat dich jemand gesehen und dabei ausgefragt? Oder zufällig ...? Hast du zufällig, ohne Absicht ...?«
»Nein! Schon vergessen? Weihnachten steht vor der Tür, alle haben Urlaub außer uns natürlich! Das Institut war menschenleer ...«
»Benedikt, was ist los?«, meldete sich nun auch Simon zu Wort. »Und würdest du eventuell etwas von mir herunter gehen? Ich bekomme Platzangst, wenn du so über mir hängst!«
»Äh, …, ja! Entschuldigung, Simon, das wollte ich nicht und erst 'mal herzlich Willkommen in meinem Reich. Ich wollte nicht ...«, Peters zog sich etwas aus dem Wageninnern zurück, starrte aber dennoch McKinley weiterhin prüfend an.
»Schon gut! Jetzt schieß’ schon los. Was ist passiert?«
»Die Presse!«, presste der Professor zwischen seinen Zähnen hervor. »Den ganzen Tag schon! Wir werden geradezu belagert. Ich musste das Grab abriegeln und die Polizei rufen. Es war die Hölle! Habt ihr die ganzen Absperrungen nicht bemerkt?« Simon und Chris schüttelten gleichzeitig ihre Köpfe. »Ab heute stehen wir unter Polizeischutz. Etwas ist durchgesickert! Einer meiner Leute muss geredet haben und ...«
»Und da dachten Sie, ich sei derjenige gewesen? Besten Dank für Ihr Vertrauen, Professor!«, Chris war beleidigt. Das sah man ihm deutlich an.
»Du warst der Einzige, der in der Stadt war und außerdem warst du etwas verwirrt, als du aufgebrochen bist, da ...«
»Schon mal was von Telefonen gehört?«
»Hört auf damit!«, Simon wurde lauter als beabsichtigt und erschrak sich selbst über den Klang seiner Stimme. »Ihr benehmt euch wie Kindergartenkinder! Was geschehen ist, ist geschehen! Meint ihr, dadurch etwas zu ändern? Das Einzige, was wir tun können, ist den Schaden weitestgehend zu begrenzen und ich glaube kaum, dass eure Art mit der Sache umzugehen dabei hilft.« Die beiden Streithähne schwiegen. »Benedikt, ich würde jetzt gerne aussteigen und mich ein wenig frisch machen. Wenn du bitte so freundlich wärst und mich aussteigen ließest. Wir können nachher in meinem Zelt weiter reden und Chris, ich möchte dich dabei haben.«
Simon war ein wenig überrascht, als man ihm sein Quartier zeigte. Sein von ihm erwartetes Zelt entpuppte sich als ein äußerst komfortables, riesiges Wohnmobil, dass Professor Peters eigens für ihn hatte herbringen lassen. Von einem Plasma-Fernseher, über einen Blue-Ray Player bis hin zu einer gut sortierten Bar, gab es alles, was das Herz begehrte. Sogar ein komplett ausgestattetes Badezimmer war vorhanden. Ein dreifaches Hoch auf die moderne Technik! Eines musste man dem Professor lassen: was er machte, machte er richtig. Halbe Sachen kamen für ihn nicht in Frage, das wurde in diesem Augenblick wieder einmal allzu deutlich.
Simon warf sein Gepäck in eine Ecke, dann entkorkte er eine Flasche Whiskey aus der Bar. Seine Hände zitterten dermaßen, dass er sich noch nicht einmal die Mühe machte, ein Glas zu nehmen, sondern sie direkt an seine Lippen setzte und einen großen Schluck trank.
»Verdammt!«, entfuhr es ihm. Das mit der Presse hatte ihm gerade noch gefehlt. Zu Hause war er ihr wie durch ein Wunder entkommen, nur um hier erneut von irgendwelchen schlagzeilengeilen Wichtigtuern belagert zu werden. Kein Wunder, dass Benedikt ganz aus dem Häuschen war. Ihm selbst erging es ja nicht anders. Nur, im Gegensatz zu seinem Freund, der seine Gefühle, wie ein offenes Buch zur Schau stellte, hatte er in all den Jahren gelernt, sie hinter einer eisernen Maske, vor der Welt zu verbergen. Manchmal eine wirklich hervorragende Eigenschaft, besonders bei nervenaufreibenden Verhandlungen, aber sie ging auch an die Substanz, denn sie machte vor allen Dingen ... einsam! Wieder setze er die Flasche an seine Lippen, während er sich langsam in einen der breiten Ledersessel fallen ließ. Die goldgelbe Flüssigkeit brannte in seiner Kehle, doch die darauf folgende Wärme, die schließlich durch seinen Körper fuhr, ließ ihn ein wenig ruhiger werden.
Geistesabwesend kramte er sein Handy aus seiner Jackentasche und drückte die gespeicherte Nummer seines Glasgower Pressesprechers. Doch, noch bevor das erste Klingelzeichen ertönen konnte, schaltete er das Gerät ab und warf es lässig über seine Schulter auf das breite Bett. Der Anruf hatte Zeit bis morgen. John würde die Sache schon wieder ins Lot bringen und heute Abend waren noch genug andere, weitaus wichtigere Dinge zu erledigen, als seinen Pressesprecher bereits so kurz nach seiner Ankunft mit derlei Nichtigkeiten zu nerven.
Es klopfte zaghaft.
»Herein!« Chris McKinleys roter Schopf erschien in der Tür, dicht gefolgt von Benedikts hagerer Gestalt. »Habt ihr beiden euch etwas beruhigt oder muss ich Boxhandschuhe verteilen?«
»Nein, alles in Ordnung«, erwiderte Benedikt kleinlaut, während Chris zur Bestätigung nickte.
»Gut, dann wäre das also geklärt. Es gibt nämlich nichts, was nicht auch anders zu regeln wäre. Setzt euch!« Während Benedikt seiner Aufforderung sofort nachkam und sich auf dem zweiten Sessel niederließ, zögerte Chris ein wenig. Erst als er Simons drohenden Blick bemerkte, schaute er sich suchend um und nahm schließlich auf dem breiten Bett Platz. »Zunächst einmal, was war hier heute eigentlich genau los? Und wenn wir das erfahren haben, dann würde ich vorschlagen, dass wir über euer gemeinsames kleines Problem reden. Ich habe nämlich nicht die geringste Lust, meine äußerst knapp bemessene Zeit mit zwei Streithähnen wie euch zu verbringen. Also ich höre!«, zunächst schwiegen die Männer.
»Alles begann damit, dass ich Chris heute Morgen ins Institut geschickt habe, um einige meiner Unterlagen von dort zu holen«, begann der Professor schließlich zögernd. »Ich hatte eigentlich heute gar nicht mehr mit dir gerechnet. Das Unwetter über New York war Thema Nummer eins in allen Nachrichten, deshalb dachte ich, Chris könnte vorab schon einmal ein Paar Kleinigkeiten für mich erledigen. Dann jedoch überraschtest du mich mit deinem Anruf und ich war froh, dass sich Chris bereits in Glasgow befand. Zum Glück habe ich ihn auch direkt erreicht und er hat mir versichert, dich auf dem Rückweg mitzubringen.«
»Das ist ja alles schön und gut, aber was hat das mit der Presse zu tun?«
»Also, kaum hatte ich mein Telefonat mit Chris beendet, da stürzte auch schon diese Horde Reporter auf mich zu. Ich weiß gar nicht, wie sie so schnell Wind von der Sache bekommen und sich Zutritt zum Lager verschaffen konnten, aber auf jeden Fall waren sie plötzlich da und fielen, wie die Hyänen über mich her.« Das kam Simon bekannt vor, wenn in seinem Fall auch nur eine Hyäne von der Partie gewesen war. »Ich wusste mir keinen anderen Rat, als unverzüglich die Polizei zu rufen«, fuhr Benedikt unbeirrt fort, »und alles hier absperren zu lassen.«
»Das war richtig. Wir können hier keine wild gewordene Bande gebrauchen, die unsere Fundstelle verwüstet. Dennoch, ich bin mir fast sicher, dass sie morgen wieder hier auftauchen. Wir müssen also schnellstens etwas unternehmen, um noch ein wenig Zeit zu schinden. Schließlich möchte ich derjenige sein, der als Erster erfährt, was ihr eigentlich genau gefunden habt.« Er grinste vielsagend. »Wie dem auch sei, irgendwie wirkt das Ganze äußerst merkwürdig auf mich. Kann es nicht möglich sein, dass jemand dein Telefon abhört?«
»Mein Telefon? Du meinst Spionage? Wer aber sollte so dreist sein, mein Telefon abzuhören?«
»Benedikt, ich möchte ja nicht unken, aber ich befürchte, du hast eine Menge Neider. Seitdem ich deine Forschungen unterstütze, bist du der Professor mit dem größten Etat in deinem Institut und das, obwohl du damals auf dem Symposium alle schockiert hast. Kannst du dir nicht vorstellen, dass einige deiner Kollegen, dir deinen Erfolg nicht gönnen?«
»Schon möglich! Aber, wer? Ich hasse Spekulationen und noch mehr hasse ich Komplikationen und das hier ist wirklich eine echte Komplikation. Du musst wissen, dass ich mir nach dem damaligen Skandal geschworen habe, mich nie wieder der Presse auszuliefern. Es hat mir ein für alle Mal gereicht, dass sie mich damals fast in der Luft zerrissen haben. Noch einmal lasse ich mir das auf keinen Fall gefallen. Durch ihr Verschulden habe ich fast meine Dissertation verloren. Sie haben mich zu einem Witz degradiert. Ich war ...«, die letzten Worte schrie er fast.
»Beruhige dich, ich weiß, mein Freund.«
»Kannst du dich noch an unser Telefonat erinnern? Ich sagte dir, dass unser Fund eine Sensation wäre und das behaupte ich auch weiterhin. Aber, nach meinem anfänglichen Enthusiasmus bin ich mir nicht mehr so sicher, dass die breite Öffentlichkeit auch davon erfahren sollte. Die Entdeckung ist mehr als brisant und ich glaube kaum, dass man schon bereit dafür ist. Deshalb habe ich meine Mitarbeiter zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Bisher hat sich auch jeder daran gehalten. Bis auf heute Morgen! Eigentlich wollte ich das mit dir abklären, aber das können wir uns jetzt ja wohl schenken.«
»Warten wir es erst einmal ab.«
»Wieso, hast du eine Idee, wie wir diese Hammelhorde wieder loswerden können?«
»Ich rede morgen früh mit John. Wenn einer es schafft, die Meute im Zaum zu halten, dann er. Aber, wenn du mir noch eine Frage erlaubst, warum willst du unsere Entdeckung überhaupt geheim halten? Wenn sie wirklich so sensationell ist, wie du behauptet hast, müsste sie dir doch einen gewaltigen Imageschub bringen. Du könntest der ganzen Welt beweisen, dass du nicht der verrückte Professor bist, für den dich alle halten.«
»Ich muss niemandem etwas beweisen. Ich weiß, was ich kann und dass ich nicht im Geringsten verrückt bin. Und außerdem lag ich wirklich richtig!«
»Und, woher, bitte schön, wissen Sie das so genau? Ich glaube kaum, dass Ihre Vermutungen als Beweis ausreichen!«, mischte sich nun auch Chris in einem ziemlich rüden Ton in die Unterhaltung ein.
»Ich weiß es eben!«
»Sicher, nur dass Ihnen keiner glauben wird, wenn Sie nicht endlich richtige Beweise liefern!«, entgegnete Chris noch eine Spur aggressiver als bei seiner ersten Frage.
»Was soll das hier? Hört endlich mit den Kindereien auf«, Simon konnte sich kaum noch zurückhalten. Die Situation zwischen den Beiden drohte allmählich zu eskalieren. So konnte es auf keinen Fall weiter gehen. »Chris, ich habe dich für einen besonnenen jungen Mann gehalten, aber du benimmst dich hier wie ein … Egal! Was ist los? Was stört dich? Warum bist du so aggressiv?«
»So benimmt er sich schon seit Tagen. Ich weiß nicht, was ich dem Jungen getan haben könnte. Ich habe ...«
»Halt den Mund, Benedikt! Ich habe mit Chris geredet! Also, Junge, was ist los?«
»Sie haben mir nicht alles gesagt, Professor!«, begann Chris daraufhin zögernd. »Ich versteh das nicht. Irgendetwas Wichtiges verschweigen Sie mir und das, obwohl ich Sie immer unterstützt habe. Ich habe Sie immer verteidigt und jetzt spüre ich, dass Sie nicht ehrlich zu mir sind. Das ist verletzend! Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich mir gegenüber so verhalten könnten. Und außerdem habe ich keine Lust, alles als Letzter zu erfahren. Habe ich nicht ein Recht darauf, von Ihnen wie eine gleichberechtigte Person behandelt zu werden«, auf diese Eröffnung entstand erst einmal ein langes Schweigen. »Was ist? Sagen Sie mir nun, was wirklich Sache ist?«
»Es tut mir leid, Chris. Ich hatte keine Ahnung, dass dir mein Schweigen so nahe geht, aber ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich dir morgen alles erklären werde.«
»Warum erst morgen?«
»Vertraust du mir?«
»Sie wissen genau, dass ich Ihnen immer vertraut habe!«
»Dann sage ich dir, dass ich morgen alles, aber auch wirklich alles aufklären werde.«
»Und Sie versprechen mir, dass Sie nicht wieder zu irgendwelchen Halbwahrheiten greifen werden?«
»Ich verspreche dir, dass du, sobald Simon das Grab gesehen hat, die volle Wahrheit erfährst!«
»Gut, damit kann ich leben! Aber sollte ich bemerken, dass Sie mir auch nur die geringste Kleinigkeit verschweigen, dann kündige ich und wechsle die Uni!«
»Du hast mein Wort und ich glaube, das zählt noch etwas in gewissen Kreisen.« Chris McKinley nickte und Simon stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass der junge Mann wesentlich entspannter wirkte, als bei seiner Ankunft.
»Kann ich jetzt gehen? Es war ein langer Tag und ich möchte morgen ausgeruht sein. Außerdem glaube ich, dass ihr beiden noch einiges zu besprechen habt. Ihr erlaubt also, dass ich jetzt gehe?«
»Sicher, Chris. Wir sehen uns morgen.«
Kurz nach dem die Tür hinter Chris zugefallen war, richtete Simon das Wort an Benedikt.
»Du hast dem Jungen ganz schön vor den Kopf gestoßen. Musste das wirklich sein?«
»Ich war mir dessen nicht bewusst.«
»Du wirst Lachen, das glaube ich dir sogar. Aber, ich versteh auch Chris Standpunkt. Er ist ein bemerkenswerter junger Mann.«
»Ich weiß!«
»Und trotzdem verschweigst du ihm etwas?«
»Durchaus!«
»Weißt du, er gefällt mir!«
»Das habe ich mir gedacht! Er erinnert mich an einen äußerst wissbegierigen, aufgeweckten jungen Mann, den ich auf einem Symposium kennengelernt habe.« Simon grinste. »Simon, ich meine es wirklich ernst. Er hat deinen Biss, und wenn wir es richtig anstellen, dann können wir aus ihm eine echte Koryphäe machen.«
»Warum verschweigst du ihm dann, was du zu wissen glaubst?«
»Ich glaube nicht! Ich weiß! Aber du wirst mir nicht glauben, wenn ich dir sage, dass der Junge für die Wahrheit noch nicht reif war.«
»Und du glaubst, morgen wird er auf einmal reif dafür sein?«, Benedikt nickte zur Bestätigung.
»Auch das glaube ich nicht nur, sondern ich weiß es!«
»Du scheinst dir ziemlich sicher zu sein.«
»Mehr als das!« Benedikt erhob sich langsam aus seinem Sessel.
»Was ist los? Wohin willst du?«
»Ich gehe jetzt!«
»Das sehe ich, aber willst du nicht wenigstens mir verraten, was an unserem Fund ...?«
»Morgen, mein Freund! Simon du brauchst etwas Schlaf. Der Tag morgen wird für dich sehr anstrengend, nicht nur körperlich, das versichere ich dir.«
»Was meinst du damit?«
»Morgen, Junge! Morgen wirst du verstehen!«, flüsterte der Professor beim Hinausgehen. »Aber mach dir keine allzu großen Sorgen. Ich werde da sein, wenn du mich brauchst«, dann fiel die Tür ins Schloss. Simon wollte noch etwas erwidern. Er stürzte hinter ihm her, riss die Tür auf, doch von dem Professor war nichts mehr zu sehen. Das Lager hatte ihn förmlich verschluckt. Simon starrte noch eine Weile auf die nun menschenleer wirkende Zeltstadt, doch als er nach geraumer Zeit noch immer keine Spur von Benedikt sehen konnte, zog er sich erneut in sein Wohnmobil zurück. Benedikt hatte in Rätseln gesprochen und das jagte ihm eine Scheißangst ein. Was sollten all die Andeutungen? Welches Geheimnis verbarg sich in dem Grab und warum redete der ansonsten so redselige Benedikt nicht mit ihm darüber? Fragen über Fragen, die ihn noch mehr aus der Fassung brachten. Er ließ sich auf sein Bett fallen, nur um gleich darauf wieder aufzuspringen und nervös auf und ab zu laufen. An Schlaf war nicht zu denken! Nicht nach Benedikts Eröffnung! Zögernd griff er nach der Whiskeyflasche und starrte auf den Inhalt. Vielleicht war ja ein wenig Nebel in seinem Gehirn eine Möglichkeit doch noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Er setzte die Flache an den Mund und leerte die letzten Zweidrittel in einem Zug. »Verdammt!«, entfuhr es ihm, während er die Flasche wütend an die Wand warf. Doch auch der Whiskey half nicht wirklich. Als er endlich einschlief, dämmerte es bereits.
Der Nebel zog in dichten Schwaden durch das Lager, als Simon am Morgen vor die Tür seines Wohnmobils trat. Wider Erwarten hatte er doch noch ein paar Stunden tief und fest geschlafen, aber es waren trotzdem zu wenige. Doch, was sagte Mathilda, seine Haushälterin immer zu ihm, wenn er eine durchzechte Nacht hinter sich hatte? Es gab nichts, was man nicht mit einer kalten Dusche und einigen Tassen pechschwarzem Kaffee richten könnte. Heute Morgen hatte er ausnahmsweise einmal ihren Rat befolgt und nun fühlte er sich einigermaßen fit. Nach der kalten Dusche hatte er dann mit John gesprochen, damit dieser etwas gegen die Pressemeute unternehmen konnte. Was ihm anscheinend auch gelungen war, denn weit und breit war keine Presse zu sehen. Der Belagerungszustand des Lagers war aufgehoben, wenigstens soweit er es erkennen konnte. Er atmete tief durch und genoss die kalte Luft. Vor allem aber genoss er die herrschende Stille. Kein Autolärm, keine hektisch durcheinander rennenden Menschen! Dieses Fleckchen Land schien in einer Art Dornröschenschlaf zu liegen, so als warte es nur darauf, erlöst zu werden.
In diesem Moment schlenderte Chris auf ihn zu und begrüßte ihn mit den Worten:
»Na, endlich wach? Du siehst Scheiße aus!«
»Danke! Du auch!«
»Ich habe nicht gerade viel geschlafen!«
»Da haben wir etwas gemeinsam. Willst du noch einen Kaffee bei mir trinken?«
»Nein, ich hatte heute Morgen schon mehr als genug von dem Zeug und außerdem wartet der Professor auf uns. Er ist schon einmal vorgegangen und ich soll dich zu ihm bringen«, Chris deutete auf die sich aus dem Nebel dunkel hervorhebende Silhouette des „Old Man of Storr“. »Siehst du das?«, Simon nickte. »Da müssen wir hoch, also zieh deine Bergschuhe an und komm!« Während sie sich nun dem uralten riesigen Findling näherten, wurde Simon immer unruhiger. Seine Hände zitterten und ihm rann kalter Schweiß über den Rücken.
»Was ist los?«, Chris Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
»Nichts!«
»Ich sehe doch, dass mit dir etwas nicht stimmt. Manchmal hilft es, wenn man darüber redet! Willst du mit mir darüber reden?«
»Nein, aber danke für das Angebot.« Der Junge hatte ein gutes Gespür, das musste man ihm lassen.
»Du kannst jederzeit mit mir reden!«
»Ich weiß! Aber ...!«
»Schon gut!« Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her.
»Die ersten Ausgrabungen hier waren nicht gerade effektiv«, wechselte Chris das Thema. »Ein paar Tonscherben, mehr war nicht zu finden. Dann jedoch, …!« Sie standen nun direkt vor dem monumentalen Findling. Schon vom Lager aus hatte er gewaltig ausgesehen, doch hier, direkt neben ihm zu stehen, war faszinierend und geradezu erschlagend. »..., entdeckten wir eine Unebenheit im Bodenbereich seines Fußes. Siehst du?« Chris führte ihn um den Old Man herum. Unmittelbar hinter ihm klaffte ein etwa zwei Meter großes rechteckiges Loch im Boden, neben dem sich ein fast mannshoher, ebenfalls rechteckiger Steinquader auftürmte. »Etwas an dieser Unebenheit erschien uns merkwürdig. Sie war exakt rechteckig und an ihren Rändern konnte man deutlich Risse erkennen. Professor Peters kam auf die Idee, es könnte sich um eine Art verdeckten Eingang handeln. Er war fest davon überzeugt, dass der Steinquader eine Abdeckplatte wäre. Zunächst hielten wir alle ihn für ein klein wenig verwirrt, denn, soweit wir wussten, wurde hier in der Gegend noch nichts Ähnliches entdeckt. Gut, die Steinkreise zeugen davon, dass die Kelten oder ihre Vorfahren bereits Mittel und Wege kannten, derartig riesige Steinbrocken zu bewegen, aber dass sie irgendetwas damit abriegelten und noch dazu rechteckig behauen, wie die Ägypter? Der Professor blieb jedoch hartnäckig! Wir haben eine Woche gebraucht, um den riesigen Block aus seiner Verankerung zu hieven und ihn hier aufzubauen. Man war das eine Plackerei! Aber unsere Mühe hat sich, weiß Gott, gelohnt! Sieh her!« Chris deutete auf einige Risse in dem Quader, die sich, bei näherer Betrachtung, als in den Stein gehauene Symbole entpuppten. »Hier kannst du eine Eule erkennen. Sie ist das alte Symbol der Weisheit und hat eine starke Beschützerfunktion. Was also sollte beschützt werden? Direkt daneben kann man einen Adler erkennen. Ebenfalls ein Symbol für die Weisheit, aber er steht auch für Kraft und Königswürden. Beide Symbole werden von Schlangen umringt, den Symbolen für Wiedergeburt und Fruchtbarkeit. Sie wurden als Wächter für besondere kultische Plätze oder aber auch für wichtige heilige Stätten benutzt. Aber warum beschützen sie Adler und Eule? War das hier ein Eingang zu einer kultischen Stätte? Wir waren uns sicher, dass wir etwas sehr Bedeutendes gefunden haben mussten, aber was? Und dann entdeckten wir das hier!«
Chris deutete jetzt auf eine fast verwitterte Zeichnung. Simon trat noch etwas näher, um sie genauer in Augenschein zu nehmen, dabei setzte sein Herzschlag für einen Augenblick aus und sein Atem stockte.
»Ich kenne das Symbol! Ein Schwan!«, stieß er mühsam hervor.
»Genau! Das Symbol für Verwandlung, Reinheit und Anmut!« Simon fuhr zärtlich über die Linien des Schwanes. Reinheit, Anmut, die Eigenschaften der keltischen Hohepriesterinnen.
»Wie alt ist es?«
»Benedikt schätzt es auf circa 2000 Jahre.« Simon nickte.
»Das war auch meine Einschätzung.« Sein Puls raste und seine Knie waren so weich, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Die Symbole, der Steinquader, das Loch, irgendwie kam ihm das alles seltsam bekannt vor, so als hätte er schon einmal an eben dieser Stelle gestanden, um sie zu betrachten. Oder hatte er einfach nur zu viel über die Geschichte und Kultur dieses Landes gelesen, sodass er mittlerweile in fast jedem Gegenstand oder Stein etwas ihm Bekanntes und Vertrautes entdeckte? Er atmete langsam ein und aus, um sich zu beruhigen.
»Ist es nicht erstaunlich«, hörte er Chris Stimme, wie aus weiter Ferne zu ihm sagen, »was die Menschen der damaligen Zeit bereits leisten konnten und das einzig und allein durch ihre Körperkraft? Wenn du mich fragst, dann glaube ich, dass die Person, deren Grab wir hier entdeckt haben, etwas ganz Bemerkenswertes gewesen sein muss. Vielleicht eine Prinzessin oder eine Hohepriesterin, oder beides.«
»Es handelt sich also um eine Frau?«
»Ja, und um was für eine. Aber das wirst du ja gleich selbst sehen. Auf jeden Fall muss sie ihrem Volk besonders wichtig gewesen sein, denn sonst hätten sie sich wohl kaum die Mühe gemacht, ihr Grab dermaßen abzusichern und abzuriegeln.«
»Wenn Benedikt solch ein Geheimnis aus ihr macht, dann muss es wohl so sein.«
»Hat hier einer von mir gesprochen?« Benedikts Kopf erschien am oberen Rand des Loches. »Da seid ihr ja endlich! Ich dachte schon, ihr kommt heute überhaupt nicht mehr. Also trödelt nicht länger und Simon, ich habe dir nicht zu viel versprochen. Du wirst staunen, wenn du sie siehst!«, mit diesen Worten war er auch schon wieder in dem klaffenden Abgrund verschwunden.
Der düstere Abgrund führte sie in eine Art Tunnelsystem. Benedikt hatte hier unten äußerst gute Arbeit geleistet. An der Decke, die mit einer weißgrau schimmernden Kalkschicht überzogen war und von der es hin und wieder tropfte, waren unzählige Neonleuchten angebracht, die mit Hilfe eines Generators, der dröhnend direkt neben dem Eingang stand, die unterirdische Welt in taghelles Licht tauchten. Wenn er sich vorstellte, dass seit fast zweitausend Jahren kein Mensch diese Gänge betreten hatte, geschweige denn von ihrer Existenz etwas wusste, und nun das monotone Surren der Lampen und ihre, von den Wänden widerhallenden Schritte, die nahezu einzigen Geräusche waren, die die Jahrtausende alte Ruhe störten, dann stellten sich ihm bei diesem Gedanken die Nackenhaare hoch. Er fühlte sich, als täte er etwas Verbotenes! Etwas Blasphemisches! So als entweihe er etwas, was nicht entweiht werden durfte!
»Das Höhlensystem, in dem wir uns hier befinden, basiert auf einer nicht minderen Anzahl unterirdischer Flüsse, die sich ihren Weg seit Millionen von Jahren durch das schroffe Gestein gegraben haben«, unterbrach Benedikt wie ein professioneller Fremdenführer seinen Gedankengang. »Tiefer unten sind sie noch deutlich als Rinnsale vorhanden, während man hier oben nur noch den Verlauf ihrer ehemaligen Betten erkennen kann. Es existieren sogar einige Grotten, in denen sich das Wasser bis heute zu größeren Seen staut. Das Labyrinth hat Ausmaße, von denen ich niemals zu träumen gewagt hätte. Wenn du mich fragst, muss das ganze Gebirge durchlöchert sein wie ein Schweizer Käse und es ist eine wahre Fundgrube. Pass auf! Hier wird es etwas glitschig. Dort vorne siehst du eine Abzweigung. Sie führt in eine dieser größeren Grotten. Wir haben dort die Reste einer Ansiedlung gefunden. Kleine Tonscherben aus der Bronzezeit, aber auch Schmuckstücke aus späteren Epochen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ein Teil des Systems, bis ins erste oder zweite Jahrhundert unserer Zeitrechnung einem der hier ansässigen Stämme als Unterschlupf gedient haben muss. Entweder vor Unwettern, oder ...«
»... aber, vor den römischen Besatzern«, ergänzte er Benedikts Ausführungen. Simons Puls raste. Er fühlte sich merklich unwohl in seiner Haut. Je tiefer sie in das Labyrinth vordrangen, desto stärker wurde sein Gefühl, hier unten schon einmal gewesen zu sein. Aber das war unmöglich! Er musste sich irren!
»Zunächst hielten wir diese Höhlen wirklich nur für eine Art unterirdische Behausung. Doch, wieso sollte sich jemand die Mühe machen, sie derartig abzuriegeln? Wenn sie den Menschen der damaligen Zeit als Zuflucht dienten, dann macht das keinen Sinn. Wieso hätten sie sich selbst ihres grandiosen Unterschlupfs berauben sollen? Die Römer hätten sie hier doch niemals gefunden. Dann aber entdeckten wir das hier.« Der Gang endete plötzlich und sie standen vor einer massiven Felswand.
»Eine Wand? Ist das alles?«
»Mitnichten! Was soll an einer Wand denn auch schon so Besonderes sein? Es freut mich immer wieder, dich so ungeduldig zu sehen, mein junger Freund! So, und nun komm näher! Sieh sie dir genauer an! Fällt dir nichts an ihr auf?« Simon trat näher. Benedikt hatte recht. Irgendetwas stimmte nicht. »Und, was siehst du? Fällt es dir auf?« Das hier war eindeutig kein natürlicher Felsen! Das Gestein wirkte eher grob behauen, denn natürlich ausgespült. Bei näherer Betrachtung zeichneten sich auf ihm deutlich Risse ab, die künstlich entstanden sein mussten, denn sie bildeten ein immer wiederkehrendes Muster: Stilisierte Schlagen, die sich zu einem riesigen keltischen Knoten verbanden, der die Wand wie ein Netz überzog. Benedikt grinste, als er sah, dass die Neugier in den Augen seines Freundes immer mehr purem Erstaunen wich.
»Kannst du es erkennen?«, Simon nickte. »Ich wusste es, es haut dich förmlich vom Hocker! Tröste dich, mir erging es ähnlich. Aber das Beste kommt erst noch!« Benedikt fuhr jetzt mit seiner rechten Hand zur Mitte des Knotens, der von einem Schlangenhaupt mit zwei tiefschwarzen Augen gebildet wurde. Simon war überrascht, wie mühelos er jetzt, nachdem er einmal erkannt hatte, wie sich das Muster zusammensetzte, einzelne Details des Gebildes erfassen konnte. Während er gebannt auf Benedikt starrte, ließ dieser seine Daumen und Zeigefinger in die Augen des Tieres gleiten und drückte zu. Ein Klicken ertönte, gefolgt von einem leisen Schaben und schließlich schob sich die Wand unter lautem Dröhnen, wie eine überdimensionale Schiebetür zur Seite. Simon starrte mit offenem Mund auf das Geschehen.
»Na, habe ich dir zu viel versprochen? Genial! Einfach nur genial! Findest du nicht auch?« Simon war nicht in der Lage, ihm zu antworten. Er war zu gefangen von den Dingen, die vor seinen Augen geschahen und die eigentlich nicht geschehen konnten. »Hätte ich den Mechanismus nicht durch Zufall entdeckt, das eigentliche Geheimnis dieser Grotten wäre uns wohl auf ewig verborgen geblieben. Dennoch, auch ich hätte nie gedacht, dass so etwas hier in dieser Gegend anzutreffen wäre. In unseren Breitengraden weiß ich von keinen ähnlichen Konstruktionen aus dieser Zeit. Ich hätte nie gedacht, dass die Menschen auch hier dazu fähig waren. Aber vielleicht hatten sie ja auch Hilfe. Die alten Ägypter haben derlei Geheimkammern ja schon dreitausend Jahre früher benutzt, aber die Kelten? Womit wir wieder einmal bei meiner Theorie wären. Es muss einen Zusammenhang zwischen den Kelten, besonders den Scoten und den Ägyptern geben. Faszinierend! Anscheinend bin ich doch nicht so verrückt, wie alle glauben!«, er sah Simon erwartungsvoll an, während dieser noch immer vollkommen sprachlos auf den vor seinen Augen offen gelegten Durchgang starrte.
»Komm! Das hier ist bei Weitem nicht alles! Du wirst Augen machen!« Noch Größere?, schoss es Simon durch den Kopf, dabei beobachtete er seinen Freund, der jetzt grinsend vor der Öffnung hin und her hüpfte. Benedikt war schon ein komischer Kerl! Jetzt erinnerte er ihn an ein aufgeregtes, kleines Kind, das unbedingt irgendjemanden sofort sein neuestes Spielzeug zeigen musste.
»Hier, nimm das!«, noch bevor er seinen Gedanken zu Ende denken konnte, drückte Benedikt ihm eine Taschenlampe in die Hand. »Wir konnten in diesem Teil des Gewölbes keine Lampen anbringen, ohne dass wir die Tür hätten aufstehen lassen müssen. Aber genau das wollten wir vermeiden. Die Presse hängt uns auch so schon eng genug auf der Pelle und wenn sich einer von denen unbefugt Zutritt verschafft hätte ...! Nicht auszudenken! Meine verehrten«, er sprach das Wort verächtlich aus, »Kollegen würden in Scharen anrücken.« Simon nickte. »Und erst all die Möchtegern Wissenschaftler und Hobbyarchäologen! Ich darf gar nicht darüber nachdenken, was sie hier alles zerstören könnten«, wieder nickte Simon, dabei fiel sein Blick auf Chris. Der Junge lehnte stocksteif an einer Wand und beobachtete ihn, als wäre er eine Ratte in einem Versuchslabor. Was erwartete der Junge von ihm? Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass Chris während der ganzen Zeit, die sie nun schon in diesem unterirdischen Labyrinth waren, nicht ein Wort mit ihm gewechselt hatte. War etwas geschehen, das ihn zum Schweigen gebracht hatte? Oder wollte er dem Professor nur den Spaß lassen, persönlich über seine Erfolge zu berichten? Oder, ...! Vielleicht wartete er auch nur wieder auf einen geeigneten Zeitpunkt, um dann, genau wie auf der Autofahrt, plötzlich mit der Sprache herauszurücken.
Noch während er seinen Gedanken nachhing, verschwand Benedikt durch die Öffnung in den nächsten Gang. Chris und er folgten ihm. Das spärliche Licht der Taschenlampen erhellte nur einen winzigen Teil des Bereiches, in dem sie sich jetzt befanden. Der Gang, vormals eng und niedrig, wurde höher und breiter und mündete schließlich in einer Grotte. Auch ohne ihre genauen Ausmaße zu erkennen, konnte er dennoch die gewaltige Größe des Gewölbes geradezu spüren. Die Temperatur war hier um einige Grade gefallen. Er zog seine Jacke enger um seinen Körper und atmete tief durch, um das beklemmende Gefühl, das sich Zusehens in ihm ausbreitete, zu verdrängen. Dichte weiße Nebelschwaden waberten um ihre Füße, sodass es aussah, als versänken sie in einem undurchdringlichen weißen Teppich, der sich scheinbar ins Unendliche zog. Sein Atem, der jetzt stoßweise ging, bildete hauchfeine Wölkchen, die langsam aufstiegen und dann im Nirgendwo verpufften.
»Warte einen Augenblick!«, Benedikts Stimme hallte durch die Grotte, wie ein gespenstisches Donnergrollen. Obwohl er direkt neben Simon stand, schien es ihm, als kämen die Worte von überallher, nur nicht von dem Mann neben ihm, der sich nun etwas entfernte. Der Lichtstrahl seiner Lampe drang tiefer in die Grotte, während der Klang seiner Schritte unheimlich von den Wänden widerhallte. Dort, wo der Lichtstrahl den nackten Felsen traf, entstand ein eigenartiges Funkeln, das auch noch anhielt, als er sich in eine andere Richtung wandte.
»Jetzt, mein Junge, wirst du staunen!«, wieder hallte seine Stimme, verstärkt durch ein nicht enden wollendes Echo, das plötzlich von einem lauten Zischen unterbrochen wurde, durch das Gewölbe. In demselben Moment flammte ein riesiger Feuerkreis auf, in dem sein Freund wie gefangen schien. Simon kniff geblendet die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, warfen die züngelnden Flammen tanzende Schatten an die Wände, deren obere Enden sich zu einer gewaltigen Kuppel formten. Das gesamte Gestein war von seltsam anmutenden Kristallen durchzogen, die jetzt, im Schein der Flammen, die gesamte Grotte merkwürdig durchscheinend wirken ließen. Diese Wirkung wurde noch durch den weißen Nebelteppich und die prismenartige Lichtbrechung in den Kristallen verstärkt, die die Grotte gänzlich in alle Farben des Regenbogens tauchte.
»Na, habe ich dir zu viel versprochen? Man könnte meinen, man wäre in einer Glasmenagerie gefangen. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Fällt dir auf, dass man durch die Lichtbrechung jedwede Orientierung verliert? Es scheint, als sei die Grotte unendlich; ohne Zugänge, ohne Wände, wie ein endloser Kosmos, der unabsehbar weit ins Nirgendwo reicht.« Simons Knie zitterten. Er war gefangen von dem überwältigenden Anblick. Er ließ seinen Blick kreisen und verharrte schließlich auf Benedikts Gesicht, dessen Augen strahlten, wie bei einem Kind kurz vor der Weihnachtsbescherung.
Plötzlich jedoch erregte etwas direkt neben Benedikt seine Aufmerksamkeit. Eine Stelle unmittelbar neben dem Feuerkreis, der er durch das grandios inszenierte Feuerwerk seines Freundes zunächst keine Beachtung geschenkt hatte. Jetzt aber bemerkte er, dass sie ihn geradezu magisch anzog und seine Füße automatisch den Weg zu ihr einschlugen. Drei metallene Ständer, die vormals wohl als Befestigung für Fackeln gedient hatten, staken, wie die Klingen alter, verrosteter Schwerter aus den Nebelschwaden empor. Als er sie erreicht hatte, setzte sein Herzschlag für einen Moment aus und sein Atem ging stockend. Auf dem Boden vor ihm, inmitten der Halter und durch den Nebel kaum zu erkennen, lagen die Überreste von vermodertem Stroh. Man konnte noch deutlich erkennen, dass sie einmal als provisorisches Lager gedient haben mussten, denn die noch immer stinkenden Überreste hatten ungefähr die Länge und Breite einer Pritsche. Durch den Nebel wirkte diese Kulisse beinahe gespenstisch oder, genauer betrachtet, fast schon unheimlich und bedrohlich.
»Der Bereich, in dem wir uns hier befinden, war einmal eine Kultstätte«, hörte er Benedikts Stimme von Weitem auf sich zukommen. »Im hinteren Bereich steht ein alter steinerner Altar, auf dem noch immer einige Kultgegenstände liegen. Wir haben eine Sichel, mehrere Gefäße, verschiedene Kräuterreste und Dolche gefunden. Es ist erstaunlich, wie gut sich das alles hier unten gehalten hat. Nicht einmal Rost haben die metallischen Gegenstände angesetzt, und das, obwohl sie fast zwei Jahrtausende der Feuchtigkeit hier unten ausgesetzt waren. Es grenzt an ein physikalisches Wunder. Wenigsten von den organischen Materialien hätte ich angenommen, dass sie in diesem Klima über eine so lange Zeit vollständig verrotten würden, aber dem ist nicht so. Wenn du mich fragst, dann haben die Menschen damals diesen Ort geradezu fluchtartig verlassen, anders ist die Existenz dieser Dinge hier nicht zu erklären. Mich würde nur interessieren, was sie dazu veranlasst hat?« Eine Hand legte sich auf Simons Schulter und er zuckte unwillkürlich unter der Berührung zusammen. »Das, was du hier so eingehend betrachtest, war einmal eine Lagerstatt. Ich vermute, der Hohepriester hat die Höhle auch als Behausung genutzt.«
»Oder aber Gefangene hier untergebracht.« ergänzte Simon flüsternd.
»Was hast du gerade gesagt?«
»Nichts! Ich habe nur laut gedacht!«, seine Stimme klang rau, während er nun vorsichtig, so als könne er sich daran verbrennen, oder ungewollt etwas zerstören, mit der Hand über einen der Ständer fuhr. Mit einem Mal fühlte er sich von dem kühlen Metall wie elektrisiert. Der Nebel schien mit unsichtbaren Händen nach ihm zu greifen. Der Gestank, der plötzlich immer heftiger von dem alten Stroh ausging, wurde unerträglich. Er raubte ihm den Atem und vernebelte seine Sinne. Seine Knie gaben nach, und noch während er vorne über auf die vermoderten Überreste kippte, wurde ihm schwarz vor Augen und er verlor das Bewusstsein.
Als er wieder halbwegs zur Besinnung kam, starrten ihn zwei blutrot glühende Augen an. Etwas umklammerte mit eisernem Griff seinen Hals, sodass er kaum noch Luft bekam. Eine Stimme, eisigkalt, die das Blut in seinen Adern gefrieren ließ, redete unaufhaltsam auf ihn ein. Nein, so war das nicht ganz richtig! Sie redete nicht nur auf ihn ein, sie lullte ihn geradezu ein, was ihn jedwede Gegenwehr vergessen ließ.
»Ich bin noch lange nicht mit dir fertig!«, verkündete die Stimme, ohne einen Hauch von Emotion durchscheinen zu lassen. Es war eine Feststellung, die etwas Endgültiges, Zwingendes an sich hatte. »Wie lange, glaubst du, dauert die Ewigkeit? Wie groß, meinst du, ist ein Schmerz, der nie vergeht? Oh, junger Eroberer, bald wirst du es wissen! Sehr bald sogar! Du wolltest, was nicht für dich bestimmt war. Du nahmst, ohne zu fragen und es geschah, was niemals hätte geschehen dürfen. Dafür wirst du büßen!«
»Simon, Junge! Was ist los? Wach auf! Mein Gott, Junge, komm zu dir! Chris mach’ doch etwas! Komm her! Hilf mir! Simon kannst du mich hören?« Er konnte ihn hören, aber etwas hielt ihn fest, ließ ihn nicht antworten. Er wollte sich losreißen, wollte entfliehen, aber die Macht, die an ihm zog, war einfach stärker. Ein Seufzer entfuhr seiner Kehle.
»Winde dich nur wie ein Wurm, Menschlein!«, der Blick der roten Augen grub sich tief in seine. »Es wird dir nichts nutzen. Du wirst mir nicht entkommen! Niemals!« Er wusste, dass die Stimme die Wahrheit sprach und er keine Chance hatte. Er war bereit, zu erdulden, was nun kommen würde, denn seine Situation war so aussichtslos, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Es ging sogar so weit, dass er bereit war zu sterben, denn dieses Ding, als Menschen konnte man es wirklich nicht bezeichnen, wollte ihn wahrscheinlich töten und er war erstaunt, dass es ihn überhaupt nicht berührte, was mit ihm geschah. Er holte noch einmal mühsam Luft, dann wurde ihm schwarz vor Augen.
»Simon, Junge, das reicht jetzt! Komm zu dir! Wenn ich gewusst oder auch nur geahnt hätte, dass ...« In diesem Moment fuhr ein heftiges Zittern durch den leblos am Boden liegenden Körper und Simon de Luca schlug seine Augen auf, dabei sah er direkt in die vor Schreck erstarrten Gesichter seiner Begleiter.
»Mensch, Junge, du hast uns vielleicht einen Schrecken eingejagt. Mach das nie wieder! Deine Atmung ging so flach, dass ich schon befürchtete ... Zum Glück kennt sich Chris mit Erster Hilfe aus, sodass er ... Was war los? Wieso hast du ...? Dich haut doch sonst nichts um!«
»Benedikt hat recht, du hast uns einen gewaltigen Schrecken eingejagt, als du einfach so zusammengesackt bist, wie eine gefällte Eiche. Was ist passiert? Rede schon!«
Simon war noch immer zu benommen, um antworten zu können. Mühsam rappelte er sich auf. Er spürte jeden seiner Knochen und sein Hals schmerzte, von dem Würgegriff, aus dem er, vermutlich dank seiner Freunde, doch noch entkommen war. Aber war er wirklich entkommen? Und, wem oder was war er denn eigentlich entkommen? Einem Tagtraum? Dann aber einem ziemlich realen, der noch dazu in der Lage war, ihm körperliche Schmerzen zuzufügen. Was geschah mit ihm? War er dabei den Verstand zu verlieren? So kurz vor dem Ziel? Oder war das Ganze eine Warnung gewesen? Doch wovor? Das alles hatte ihm eine Heidenangst eingejagt. Echte Scheißangst! Und dieses Gefühl hatte er ein für alle Mal aus seinem Bewusstsein verbannt geglaubt. Wie hatte Benedikt doch gleich bemerkt: Normalerweise haute ihn nichts um, aber das hier ... Die Angst war so plötzlich über ihn hereingebrochen, wie ein Sommergewitter und sie war so weit gegangen, dass sie seinen Körper und seinen Geist gelähmt hatte. In was nur war er da wieder hineingeschlittert? Fing Fortuna nach all den Jahren erneut an, mit ihm ihr Spiel zu treiben? Er seufzte.
»Lasst uns von hier verschwinden!« brachte er schließlich heiser hervor. Als Benedikt nicht reagierte, sondern ihn nur weiterhin rätselhaft anstarrte, fügte er noch leise, »Bitte!«, hinzu. Er war so verwirrt, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Das Einzige, worin er sich noch ziemlich sicher war, war schnellstmöglich von diesem Ort verschwinden zu wollen. Immer noch warfen sich Chris und Benedikt schweigend Blicke zu, die dann wiederum fragend zu ihm wanderten. Endlich aber erhoben sich die beiden und auch er verließ die Lagerstatt, wenn auch auf wackligen Beinen.
»Dann komm, Junge!«, durchbrach Benedikt das Schweigen. »Ich zeige dir jetzt das Grab. Wenn du dann immer noch so schnell wie möglich von hier verschwinden willst, dann stehe ich dir nicht länger im Weg. Aber ich bezweifle doch sehr, dass es so weit kommen wird! Komm also, es ist nicht mehr weit.«
Ihr Weg führte sie vorbei an dem Altar zu einer weiteren Wand, deren Mechanismus ähnlich der Ersten funktionierte. Diesmal jedoch ersparte Benedikt ihm seine ausführlichen Erklärungen, wohl, weil er zu bemerken schien, dass ihm weder der Sinn nach archäologischen Exkursen, noch nach belangloser Konversation stand. Der Tür folgten einige Gänge, deren Felsstrukturen der der großen Grotte glichen. Auch sie waren von Kristallen durchzogen und auch sie wirkten merkwürdig durchscheinend. Nur im Vergleich zu der Grotte reizte ihn diese Umgebung keineswegs. Sie war ihm vollkommen gleichgültig. Wieder endete ihr Weg vor einer Wand. Doch im Gegensatz zu den vorherigen bildeten nicht Schlangen einen keltischen Knoten, sondern zwei Schwäne, deren Hälse ineinander verschlungen waren, formten sich zu zwei miteinander verwobenen Ringen. Als Benedikt seine Handflächen auf die Innenkreise der Ringe legte und leicht zudrückte, schwang die Wand wie eine Flügeltür nach innen auf und legte eine weitere Grotte frei. Diese war lange nicht so groß wie die Erste. Auch fehlte der wabernde Nebel auf dem Boden, dafür jedoch schimmerten ihre Wände rötlich und schienen von innen heraus zu glühen, sodass die gesamte Grotte in weiches, rosafarbenes Licht getaucht wurde. In ihrer Mitte befand sich ein über zwei Meter großer, prismenförmiger, weißlich schimmernder Kristall, der senkrecht auf einem Steinaltar thronte. Etwas war in ihm eingeschlossen. Doch noch standen sie zu weit davon entfernt, um genau zu erkennen, was es war.
»Das hier ist es! Siehst du sie? Ich weiß nicht, wie sie da hineingekommen ist, geschweige denn, wie die Menschen der damaligen Zeit es geschafft haben, sie dort einzuschließen, aber, dort in dem Kristall befindet sich das Grab. Es gibt keine Tür, keine Öffnung, keine Klappe, nichts, wodurch sie hineingelangt sein könnte. Es sieht fast so aus, als hätte sich der Kristall um sie herum gebildet. Doch, wie ist so etwas möglich? Durch natürliche Umstände jedenfalls nicht. Dennoch, da er existiert, muss es auch irgendwie möglich sein, und, so wie es aussieht, wird seine Entdeckung wahrscheinlich alles, bisher da gewesene, in den Schatten stellen.« Ehrfurcht schwang in Benedikts Stimme, während er Simon an der Schulter packte und ihn auf diese Weise langsam und sanft in Richtung Kristall schob. Jetzt, beim Näherkommen konnte er deutlich erkennen, dass sich wirklich etwas in dem Kristall befand. Allerdings etwas völlig anderes, als er erwartet hatte. Als Benedikt ihn vor einigen Tagen angerufen hatte, um ihm von seinem Fund zu erzählen, da hatte er mit einer Erdgrube voller verrotteter, alter Knochen gerechnet, oder mit einer in einer Grotte liegenden, ausgetrockneten Mumie. Nicht aber mit dem, was er jetzt sah.
Der in dem Kristall eingeschlossene Körper war vollkommen intakt. Keine Anzeichen von Verwesung. Nicht einmal das Gewand, das er trug, war auch nur ansatzweise verrottet. Er war makellos und unglaublich schön und schien dabei engelsgleich in seiner Hülle zu schweben. Die Haut, die sich deutlich unter einem durchscheinenden, weißen, wallenden Gewand abzeichnete, schimmerte rosig und ihr dunkles Haar fiel in sanften Kaskaden bis hinunter zu ihren Schenkeln. Es war ein atemberaubender Anblick.
In ihm keimte das unbeschreibliche Bedürfnis auf, diese samtene Haut und die Kaskaden weichen Haares zu berühren, um sich mit seinem Gesicht darin zu vergraben. Wahrscheinlich roch es genauso gut, wie es aussah. Sein Herz trommelte wild in seiner Brust, nur durch die bloße Vorstellung sie in seinen Armen halten zu können. Sie wirkte wie eine menschgewordene Göttin. Makellos und rein!
Göttin!, schoss es ihm durch den Kopf. Simons Puls raste. Sein Traum! In dem Flieger! Trug das Mädchen an dem See nicht eben dieses Gewand? Und ihre Haare? Fielen sie nicht auch, wie Kaskaden aus dunkler Seide über ihren Rücken? War das Zufall? Doch Zufälle existierten nicht. Nicht in seinem Leben! Nicht in seiner Welt! Nein, das konnte nicht sein! Das war schlichtweg unmöglich!
Sie umrundeten den Altar und er konnte zum ersten Mal in das bezaubernde Antlitz der unbekannten Schönen blicken. Das Mädchen hatte die Augen geschlossen, als würde es schlafen. Eine fast gespenstische Ruhe ging von den puppengleichen Gesichtszügen aus, doch auch ein Hauch von tiefer Trauer schien in ihnen zu liegen. Auf ihren Wangen konnte er einige Tränen erkennen, die wie festgefrorene Perlen, silbern auf ihrer noch immer rosigen Haut schimmerten. Ihr Anblick traf ihn bis tief in sein Innerstes. In ihm keimte das starke Verlangen auf, sie zu trösten! Ihr den Schmerz zu nehmen! Sie einfach nur in seinen Armen zu halten und zu beschützen! Obwohl, war das alles nicht blanker Unsinn, Nonsens, ein Hirngespinst? Das Mädchen war tot und das schon, seit nunmehr fast zweitausend Jahren. Es brauchte seinen Trost nicht mehr. Nicht einmal sein Mitgefühl. Ihre Handflächen stützten sich gegen die Innenseite des Kristalls, als hätte sie verzweifelt nach einem Ausweg gesucht. Sein Herz verkrampfte sich und er unterdrückte eine Träne, die ihm in die Augen trat. Wieso berührte sie ihn so? Wieso zog sie ihn dermaßen in ihren Bann? Bisher hatten ihn alle Frauen kalt gelassen und nun fühlte er sich offensichtlich zu einer zweitausend Jahre alten Toten hingezogen. Verlor er wirklich allmählich seinen Verstand?
Bei ihrem Anblick hatte er das Gefühl, sie schon ewig zu kennen und alles Unheil der Welt von ihr fernhalten zu müssen. Aber wieso? War sie wirklich diejenige aus seinem Traum? Eine andere Erklärung gab es nicht für seine Gefühle. Doch, wieso träumte er von ihr, ohne sie jemals zuvor gesehen zu haben? Wieso schien ihr Antlitz ihm so seltsam vertraut? Wer war sie?
»Ist sie nicht eine Schönheit? All die Jahrhunderte gefangen in Kristall, ohne zu altern, ohne zu verfallen, auszusehen, wie am ersten Tag? Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, dass sie der Ursprung einiger unserer bedeutendster Märchen ist. Wie war das noch gleich mit Dornröschen? Obwohl für hundert Jahre in Schlaf versetzt, schön wie am ersten Tag, erlöst durch den Kuss eines Prinzen! Oder denk an Schneewittchen! In einem Sarg aus Kristall liegend, darauf wartend, dass der Prinz sie durch einen Kuss erlöst. Eine schöne Vorstellung! Verzeih mir meine Schwärmerei, aber ich kann mich gar nicht satt an ihr sehen. Sie sieht aus, als schliefe sie. Faszinierend! Glaub mir, wenn ich nur einige Jahre jünger wäre und noch dazu zweitausend Jahre früher gelebt hätte, ich hätte alles versucht, um ihr zu helfen. Ich hätte sie vor diesem Schicksal bewahrt und wenn es mein Leben gekostet hätte.«
»Ich verstehe dich nur zu gut, alter Freund! Ich weiß, wie du dich fühlst!«, erwiderte Simon, ohne jedoch seinen Blick von ihr abzuwenden. Selbst wenn er es gewollt hätte, wäre er dazu nicht in der Lage gewesen, aber er wollte ja auch definitiv nicht.
»Wir haben bereits Wetten abgeschlossen, welcher meiner Assistenten ähnliche Gefühle für sie hegt, und du wirst sicher nicht erstaunt sein, dass es fast alle sind. Habe ich recht, Chris?« McKinley trat nun ebenfalls näher.
»Wundert dich das? Wer von uns hat schon die Möglichkeit von einer bildschönen zweitausend Jahre alten Frau zu träumen, deren Liebreiz und Anmut sämtliche Topmodels verblassen lässt. Meist findet man einen Schädel oder ein Gerippe, aber daran ist wenig attraktiv. Bei einigen Mumien oder Moorleichen lässt sich das ehemalige Aussehen vielleicht erahnen, aber hier haben wir sie vor uns, noch dazu so lebendig, als würde sie schlafen«, entgegnete dieser verträumt. »Aber Spaß beiseite, wissenschaftlich betrachtet ist sie ebenfalls eine kleine Sensation. Ihre Kleidung und ihr Schmuck sind eindeutig keltischen Ursprungs, was noch nicht so ungewöhnlich wäre. Doch, ich habe extra noch einmal meine Unterlagen durchforste und in einigen Büchern nachgeschlagen, die Symbole auf ihrem Diadem und auf ihren Armreifen deuten auf einen der Stämme, die weiter südlich, in der Nähe des Antoniuswalles angesiedelt waren, hin. Warum sie so weit entfernt, hier auf der „Isle of Skye“ begraben wurde, ist mir ein Rätsel. Eine derartige Vorgehensweise ist vollkommen unüblich.«
»Vielleicht wurde sie erst später, mit samt des Kristalles hierher geschafft? Oder sie war Teil eines Opferrituals, das ausschließlich auf den Inseln praktiziert wurde!«, warf Simon ein.
»Dann muss das aber ein ziemlich merkwürdiges Ritual gewesen sein, oder hast du jemals davon gehört, dass man Menschenopfer in Kristallen eingeschlossen hat?« Simon schüttelte vehement seinen Kopf.
»Das war auch nur eine hirnrissige Idee.«
»Trotzdem, ein Fünkchen Wahrheit könnte in deiner Vermutung liegen. Was wissen wir denn überhaupt schon? Nicht viel und das meiste davon basiert auf bloßen Vermutungen. Die Menschen früher waren nicht dümmer als wir. Sie hatten nur noch nicht unser technisches Know- How. Was, wenn die Legenden stimmen und Magie damals allgegenwärtig war? Was, wenn sie Techniken beherrschten, die uns im Laufe der Jahrhunderte abhandengekommen sind? Und was, wenn ihre Götter doch kein reiner Mythos waren und sie all die großen Bauwerke mit deren Hilfe erschaffen hätten? Wäre es dann nicht auch möglich, Menschen in Kristallen einzuschließen? Ich glaube allmählich, wir müssen uns endlich von dem Irrglauben befreien, dass unsere Vorfahren alle samt primitive, hirnlose Barbaren waren.«
»Gut gesprochen, Chris!«, meldete sich nun Benedikt zu Wort. »Die Zeit der alten Völker und ihrer Kultur birgt noch zu viele Geheimnisse, um sich in haltlosen Spekulationen zu verrennen. Zu viel, Wenn und Aber! Denkbar, dass es uns irgendwann gelingt, einen großen Teil ihrer Lebensweise zu ergründen und sie dadurch besser zu verstehen. Dann aber, das schwöre ich euch, werden einige unserer hoch gerühmten Wissenschaftler, an dem zweifeln, was sie bisher geglaubt haben und verblüfft ihre Köpfe in den Sand stecken. Ich freue mich auf den Tag, an dem das geschieht.«
Simon verfolgte die Unterhaltung der beiden gespannt. Letztendlich wanderte sein Blick jedoch wieder auf das Mädchen. Konnte er es wagen, noch näher an sie heranzutreten, ohne die Aufmerksamkeit seiner beiden Begleiter auf sich zu ziehen? Die Frage beantwortete sich von selbst, denn noch, während er überlegte, erkannte er, dass er bereits dabei war, auf den Altar zu klettern. Mit einem Mal war ihm egal, ob die beiden anderen es sahen. Sollten sie doch von ihm denken, was sie wollten, er musste ihr einfach noch näher sein. Als er jetzt so unmittelbar vor ihr stand, stellte er fest, dass sie ihm nur knapp bis zu seinen Schultern reichte, obwohl ihre Füße noch nicht einmal auf dem Boden des Kristalls standen. Er ließ sich auf seine Knie fallen, um zu ihr hochblicken zu können, fast so, wie er es in seiner Jugend in den Tempeln seiner Ahnen vor den Bildnissen der alten Götter getan hatte. Wie hypnotisiert ruhte sein Blick auf ihren Lippen, dabei hob er seinen Hände und drückte sie gegen den Kristall, der sich nun zwischen ihren und seinen Handflächen befand. In diesem Moment verschwand alles andere aus seinem Bewusstsein. Einzig und allein ihr Anblick war es, der noch für ihn zählte. Und das Unfassbare geschah! Die Gestalt in dem Kristall öffnete ihre Augen und sah auf ihn herab. Violett schimmernde Kreise umrahmten rehbraune Pupillen, die ihm bis in die Tiefen seiner Seele zu blicken schienen.
»Lucius?« Simon de Luca erstarrte.
»Lucius, oh, mein Lucius! Endlich bist du gekommen! Endlich bist du da! Warum hast du dein Versprechen gebrochen? Warum hast du mich verlassen?« Das war nicht möglich! Sie sprach zu ihm. Er träumte höchst wahrscheinlich. Oder glaubte er, nur zu träumen? Ich bin wirklich dem Wahnsinn verfallen! Ich gehöre in eine geschlossene Anstalt. Gleich morgen werde ich ...
»Du wolltest mich doch beschützen! Mich mit in deine Heimat nehmen, aber du hast mich verlassen, genau wie Gwydion es mir prophezeit hat. Ich war so töricht, so einfältig! Ich hätte ihm glauben sollen und nicht deinen betörenden Worten, aber ich habe dir vertraut. Ich habe dich geliebt, mehr als mein Leben, und wenn man wirklich und wahrhaftig liebt, vergisst man jedwede Vorsicht. Doch was hat diese verzehrende Liebe mir eingebracht, du hast mich verraten! Sag mir, Lucius, warum? Warum hast du dein Versprechen nicht gehalten und mich ihnen ausgeliefert?« Eine Träne löste sich von ihrer Wange, rann über ihren Hals, zog eine feuchte Spur über ihr Gewand und kullerte schließlich als weiße Perle aus dem Kristall heraus vor seine Knie.
»Wovon redest du? Ich verstehe das nicht! Wer bist du? Ich soll dich verraten haben, aber ich kenne dich doch gar nicht! Wie in drei Teufel Namen hätte ich dich jemals verraten können?« Er starrte sie fragend an.
»Oh, mein Lucius, ich sehe, in deinen Augen, dass du die Wahrheit sprichst! Du erkennst mich wirklich nicht! Dann ist alles verloren! Sie haben gesiegt! Sie haben erreicht, was sie erreichen wollten! Oh, Lucius, hätte ich es doch vorher gewusst, ich hätte geschwiegen und dich nicht verwirrt! Aber ich war des Wartens so müde und ich wollte die Hoffnung nicht begraben. Weißt du, die Hoffnung war alles, was mir noch geblieben war. All die Jahre half sie mir regungslos zu verharren, denn ich glaubte fest daran, dass du mich suchen und eines Tages finden würdest. Doch jetzt ... Jetzt weiß ich, dass meine Hoffnung auf Rettung vergebens war. Du verdammst mich zu einem Dasein, das schlimmer ist, als der Tod! Warum hast du nicht damals einen Dolch genommen und ihn in mein gebrochenes Herz gestoßen? Warum hast du stattdessen, ihnen die Fäden in die Hand gegeben? Was ist bloß aus uns geworden? Sieh uns doch an! Hatten wir uns nicht geschworen, gemeinsam allen Menschen, der ganzen Welt und falls nötig, sogar den Göttern zu trotzen, damit uns niemand entzweien kann? Siehst du, wohin uns unser Streben geführt hat? Kannst du es erkennen? Mein starker, tapferer Held besteht nur noch aus einer fast leeren Hülle! Wo sind deine Träume, deine Visionen und Gefühle geblieben, die dich einstmals ausmachten? Haben sie auch dir, alles genommen, oder warst du es, der sie aufgegeben hat? Wo ist deine unbezähmbare Wildheit geblieben, dein nicht zu brechender Wille, dein Wunsch zu überleben? Was ist aus deiner Liebe geworden? Lucius, du musst kämpfen! Du musst das verloren Geglaubte wieder finden, sonst wird unser Zustand auf ewig anhalten. Du musst stark sein, stark für uns beide! Reiß dich zusammen! Werde wieder zu dem, der du einst warst! Oder soll es wirklich auf diese Weise enden? Ich liebe dich und werde dich auf ewig lieben und bei allen Göttern, verdammt soll ich sein, aber ich vertraue dir noch immer, also enttäusche mich nicht ein weiteres Mal. Das habe ich nicht verdient! Tha gradh agam ort1!«
Sie ließ langsam ihre Lider sinken, dabei kullerte eine weitere Träne aus ihren Augen, die auf ihrer Wange zu Eis erstarrte.
Simon war nicht in der Lage den Blick von ihr abzuwenden. War das eben real? Ja, beantwortete er sich selbst seine Frage. So real, wie ich selbst! Gaius Lucius! Der Sohn des allseits gerühmten Gaius Lucius Maximus! Des großen Senators! Verdammt, wie zur Hölle hatte er das alles nur vergessen können? Er hatte geahnt, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Nein, er hatte es gewusst! So lange wie er, lebte kein normaler Mensch! Doch mit der Zeit hatte er sich damit abgefunden, einfach resigniert. Er war zu Simon de Luca geworden und hatte seine Vergangenheit vergessen und verdrängt. Wer war er jetzt? Ein Mann, der das Leben kaum noch ertrug und sich deshalb, wie ein Einsiedler in seine diversen Verstecke zurückzog. Ein Mann, der keinen Menschen an sich heran ließ, außer vielleicht Benedikt. Und was war der Grund dafür? Sie! Sie ganz allein! Caitlin! Ihr Name formte sich in seinem Gedächtnis aus einzelnen Fetzen, die wie Nebelschwaden plötzlich aus den hintersten Winkeln seiner Erinnerungen hervor krochen.
»Caitlin!«, erst ein leises Flüstern wiederholte er ihren Namen, bis er ihn förmlich schrie. »Caitlin, bei allen Göttern, komm zu mir zurück! Lass mich hier nicht alleine! Verdammt! Verdammt sollen diejenigen sein, die uns das angetan haben!« Er sackte vor dem Kristall zusammen, legte erneut seine Hände auf ihre, beschwor sie, bettelte, doch nichts geschah. Die im Kristall eingeschlossene Gestalt verharrte weiterhin in lebloser Starre. »Caitlin, du musst mir helfen! Ich erinnere mich jetzt! Ich weiß endlich, wer ich bin, wer du bist! Bitte! Ich schaffe das nicht alleine!« Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass Caitlin nicht zu ihm zurückkommen und auch nichts anderes geschehen würde. Resignierend schloss er seine Augen, dann sprang er auf und rannte, wie von Hunden gehetzt aus der Grotte. Was Chris oder Benedikt von seinem plötzlichen Ausbruch hielten, war ihm in diesem Moment vollkommen egal. Er wollte nur noch weg, weg von ihr, weg von seinen Erinnerungen, weg von allem, was geschehen war, vergessen, was er erlebt und gesehen hatte und ihm fiel nur noch eine Möglichkeit ein, die ihm sein Ziel näher brachte und genau dorthin wollte er jetzt.
Erklärung der gälischen und lateinischen Sätze
1. Tha gradh agam ort
Ich liebe dich.
2. Tha mi duilich.
Verzeih mir
3. Actio recta non erit, nisi recta fuerit voluntas.
Eine Handlung ist nicht richtig, wenn die Absicht nicht richtig gewesen ist.
4. Mo cridhe
Mein Herz
5. Mo bhean
Meine Frau
6. Tha uam thu bhi sona.
Ich möchte, dass du glücklich bist.
7. Tha thu uam
Ich brauche dich.
8. Tha thu bhaum
Du fehlst mir.
9. mo fhear
Mein Mann
10. Felix, qui potuit rerum cognoscere causas
Glücklich, wem es gelang, den Grund der Dinge zu erkennen.
11. Dh 'fhalbh na sùilean!
Augen zu und durch!
12. Te amo! Omnia vincit amor
Ich liebe dich! Liebe besiegt alles.
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Texte: Daniela Vogel
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Daniela Vogel
Satz: Daniela Vogel
Tag der Veröffentlichung: 11.08.2018
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch widme ich all meinen Freunden, die vorab schon einmal mit Simon und Caitlin gelitten haben.