Es war jetzt genau ein Jahr her.
Durch die ausgestorbene, vom Regen glänzende Dorfstraße fuhr ein grauer PKW. Es war ein altes Modell, doch die Scheibenwischer kehrten unermüdlich die neuen Regentropfen von der Scheibe. Es gewitterte zwar nicht, was es hier sehr oft tat, doch trotzdem trommelten dicke Tropfen gegen die blauen Fensterläden der alten Häuser, hier in Little Village. Der Wagen bog in die Straße ein, die aus dem Dorf herausführte. Wald erstreckte sich zu beiden Seiten der Landstraße und ließ nur noch wenig Regen durch das dichte Blätterdach fallen, das hoch über der Erde thronte. Nach fünf Minuten Fahrt bog das Auto in einen Waldweg ein, der bald an einer Schranke endete. Der Wagen hielt und eine Frau im schwarzen Mantel stieg aus. Der Mantel reichte ihr bis zu den Knöcheln und wirkte an ihrer zierlichen Gestalt groß und breit. Sie hatte blonde, gelockte Haare bis zu den Schultern und klare, blaue Augen.
Der Regen machte ihr nichts aus. Im Gegenteil, wenn sie seinen alten Mantel trug, der noch etwas nach ihm roch, fühlte sie sich absolut sicher. Ihre Füße trugen sie automatisch zur Beifahrertür und sie öffnete diese mit der rechten Hand.
Auf dem Beifahrersitz lag ein goldenes, bauchiges, mit eingelassenen Edelsteinen besetztes Gefäß. Sie griff danach und nahm es sicher in die rechte Hand, mit der linken schlug sie die Autotür wieder zu.
Sie drehte sich um und ging geradewegs in den Wald, in dem kein Regen mehr fiel. Pfade gab es keine, doch sie kannte den Weg auswendig. Ihre Beine bewegten sich wie von selbst, ohne, dass sie richtig darauf achtete, wohin sie lief. Sie wusste nicht, wie lange sie gelaufen war, doch dann lichteten sich die Bäume. Hier war es.
Hier, auf dieser Lichtung hatten sie sich zum ersten Mal geküsst… damals, vor einem Jahr und neun Monaten. Stumm liefen Tränen ihre zarten Wangen hinab, doch Weinen half auch nicht, so tief war die Wunde und auch die Schuldgefühle.
Wäre sie doch auch gestorben, dann müsste sich jetzt nicht so leiden.
Sie wünschte sich so sehr, nicht mehr in diesem eingeschränkten Körper gefangen zu sein, der sie so quälte und ihr jeden Morgen, wenn sie aufwachte, das Wissen bestätigte, dass sie alleine war.
Seit einem Jahr war sie nun allein.
Als sie in der Mitte der Lichtung angelangt war, hielt sie inne.
Sie weinte noch immer. Ohne einen Laut von sich zu geben, tropften die Tränen von ihren Wangen auf den Waldboden. Wenn sie jemand beobachtet hätte, könnte dieser nicht sagen, ob sie weinte oder nicht, so blass war sie und der Regen, der wieder auf der Lichtung herrschte, hatte ihr Gesicht sowieso befeuchtet.
Ihre zittrigen Finger umklammerten verkrampft das Gefäß; sie stand einfach nur da und weinte, reglos und stumm.
Auf einmal brach die Wolkendecke über ihr auf und blauer Himmel kam zum Vorschein. Zarte Sonnenstrahlen blinzelten über den Rand der Wolken hinweg und wärmten ihre Haut. Ein Rengenbogen glitzerte weit über ihr in allen Farben. Die Wolken waren nun blassrosa eingefärbt und ein Windstoß durchfuhr ihre blonden Haare. Sie stockte und die letzte Träne tropfte vom Kinn.
Auf diesen Moment hatte sie gewartet.
Ihre Finger schraubten das Gefäß auf. Sie hob den Deckel und schleuderte den Inhalt mit dem nächsten Windstoß von sich weg. Das feine Pulver vermischte sich mit der Luft, wurde nach oben gewirbelt und veschwand schließlich aus ihrer Sicht.
Sie atmete tief durch. Sie hatte es getan. Er war weg. Nicht nur seine Seele, nun hatte auch sein Körper sie verlassen. Doch den Zeitpunkt dafür hatte sie selbst bestimmt. Sie war bereit gewesen, loszulassen.
Jetzt konnte sie wieder nach vorn blicken. Ihre Augen waren trocken und langsam fing sie an, in dem Mantel zu schwitzen.
Es schien, als seien mit seiner Asche auch all ihre Schuldgefühle vom Wind davongetragen worden. Nun war sie frei.
Solche Wetterumschwünge gab es oft, hier in Little Village.
Texte: alle Rechte dieser Geschichte liegen bei mir allein
Tag der Veröffentlichung: 30.05.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für Sophia
erstmals verfasst im Sommer 2007