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Hallo zusammen!
Ganz zu Anfang möchte ich gleich eins anmerken: Ich bin kein Reiter.
Ich war in meinem ganzen Leben erst einmal auf einem Pferd gesessen, das Ponyreiten auf der Kirmes nicht mitgezählt, und doch sind diese großen Tiere, ein Teil meiner Geschichte.
Wie das, werdet ihr euch vermutlich fragen. Also werde ich da beginnen, wo die meisten Geschichten beginnen, am Anfang.
Ihr müsst wissen, ich habe eine fast drei Jahre jüngere Schwester. Optisch gesehen das genaue Gegenteil von mir: klein, blond, zierlich und ziemlich hübsch. Aber schon von Kindesbeinen an mit einer guten Portion Abenteuerlust und Eigensinn ausgestattet.
Bereits im Kindergarten hielt sie nichts davon, bei Bastelarbeiten mitzumachen oder an irgendwelchen Spielen teizunehmen, die sie als überflüssig empfand.
Nein, meine Schwester Cora, fand man schon im zarten Alter von drei Jahren mit plattgedrückter Nase am Zaun des Kindergartens stehen und die gegenüberliegende Weide beobachten. Und was fanden ihre Augen da so Spannendes? Ihre einzige und immerwährende Liebe – die Pferde.
Diese riesigen Tiere, die mir, wie ich offen zugeben muss, auch heute noch eine gehörige Portion Respekt einflößen, waren für meine Schwester von Anbeginn ihre engsten Freunde.
Ohne jede Scheu wurden von ihr unzählige Pferdemäuler mit selbstgerupftem Gras gefüttert. Was, so hoffe ich, alle ohne Koliken überlebt haben.


Im Grundschulalter waren dann die alljährlichen Reitturniere, das Highlight.
Meine Schwester verbrachte ihre gesamte Freizeit dort, und auch ich war dabei. Natürlich, um auf sie aufzupassen. Sie liebte diese Atmosphäre.
Unzählige Pferdetransporter, die aus allen Himmelsrichtungen kamen und nun auf dem Gelände parkten. Mit offenen Türen, aus denen, wenn man Glück hatte, die Vorderseite eines Pferdes herauslugte. Reiter in voller Montur, die noch eilig ihren Pflegern Anweisungen zuriefen. Das knautschende Geräusch der Ledersättel. Kleine Jack Russel Terrier, die über die staubigen Wege fetzten und das ein oder andere Pferd erschreckten. Der Stadionsprecher, der die nächsten Teilnehmer aufrief. Ja, es war ein Flair, dem auch ich mich nicht entziehen konnte, was so viel heißen soll wie, auch ich hatte Spaß.
Und dann war da ja noch der Krämerwagen mit dem Reiterzubehör.
Cora faszinierte dieser Wagen. Mit funkelnden Augen stand sie jedes Mal davor und konnte stundenlang die Auslage begutachten.
Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag, als sie ihr gesamtes Taschengeld zusammengekratzt hatte und sich ihren ersten Führstrick kaufte. Natürlich in blau, ihrer Lieblingsfarbe. Sie war so stolz darauf gewesen. Nun fühlte sie sich ein Stück weit zugehörig, dieser ihr noch verschlossenen Welt.
Doch ein Problem hatte sie. Ein Führstrick war dazu da, ein Pferd zu führen und genau das fehlte ihr. Wer nun aber glaubt, dass meine Schwester diese Tatsache einfach so hingenommen hätte, der täuscht sich gewaltig. Und so kam es zu einer Begebenheit, die mich noch heute schmunzeln lässt.

Natürlich hingen wir nicht die ganze Zeit wie die Kletten zusammen. Es kam auch vor, dass jeder für sich unterwegs war. An diesem Tag war genau das der Fall. Ich hatte sie längere Zeit nicht gesehen und begann mir langsam Sorgen zu machen, als zwei Klassenkameraden auf mich zukamen. Zwei, auf die meine Schwester ziemlich eifersüchtig war, da sie eigene Pferde besaßen. Die beiden informierten mich darüber, dass sie Cora auf einer der angrenzenden Weiden gesehen hätten, und dass ich lieber schnell zu ihr gehen sollte. Und die Art, wie sie das sagten, löste bei mir augenblicklich ein ungutes Gefühl aus. Als ich an besagter Weide ankam, stockte mir wirklich kurz der Atem.
Mein Schwesterherz hatte es doch tatsächlich fertiggebracht, auf die Weide zu stiefeln und ein für sie völlig fremdes Pferd am Halfter zu nehmen und daran ihren nigelnagelneuen Führstrick zu befestigen. Und als wäre das nicht schon gefährlich genug,führte sie es noch breit grinsend spazieren, so als hätte sie einen Hund an der Leine und nicht ein riesiges Pferd.
Zum Glück war sie augenscheinlich auf ein sehr sanftmütiges Tier gestoßen, nicht auszudenken, was hätte alles passieren können.
Die Standpauke von mir folgte dann auf dem Fuße, doch insgeheim bewunderte ich sie für ihren Schneid. Mich hätten da im wahrsten Sinne des Wortes keine zehn Pferde reinbekommen.
Auf eine Frage habe ich bis heute allerdings keine Antwort gefunden: Wie, um alles in der Welt, hatte diese kleine Person es geschafft, an den Pferdekopf heranzukommen?
Bei einem unserer nächsten Treffen muss ich sie unbedingt danach fragen.

Nachdem ihre Pferdevernarrtheit über Jahre anhielt, hatten meine Eltern endlich ein Einsehen und erfüllten meiner Schwester ihren sehnlichsten Wunsch: Reitunterricht.
Ich begleitet sie zu ihrer ersten Stunde. Der Stall erfüllte alle meine klischeehaften Vorstellungen. Wir liefen direkt auf die Stallgasse zu, in der gerade ein Mädchen dabei war, ihr Pferd zu striegeln. Rechts und links schauten zwei Pferdeköpfe aus den Außenboxen und beäugten uns neugierig. Der Duft von Stroh, Heu und natürlich Pferd lag in der Luft.
Wer sich Cora bei all den Eindrücken als einen nervösen, zappeligen, freudestrahlenden Flummiball vorstellt, der irrt sich.
Nachdem die Reitlehrerin sie begrüßt hatte, stand Cora mit ernstem und hochkonzentriertem Blick neben ihr und schien ihre Worte zu absorbieren. Sie wollte nicht das kleinste Detail verpassen. Den selben Ehrgeiz legte sie dann auch auf dem Pferderücken an den Tag, und das mit Erfolg. Ein Vierteljahr später nahm sie an ihrem ersten Turnier teil.
Manchmal war ich schon ein bisschen neidisch auf sie. Mein kleines Schwesterlein war nun eine von ihnen. Sie gehörte zu der großen Familie der Reiter und ich blieb außen vor. Es war ein Bereich, in den ich keinen Zutritt mehr hatte.
Es folgten Jahre, in denen ich Cora eigentlich nur noch in Reiterklamotten zu Gesicht bekam. Bei Wind und Wetter war sie im Reitstall, polierte Trensen und Sättel, mistete Boxen, putzte und fütterte Pferde. Und bei all dieser harten Knochenarbeit habe ich sie nie glücklicher gesehen.
Nun, das stimmt nicht ganz. Da gab es diesen einen Moment, der sie endgültig in den Zustand völligen Glücks katapultierte. Natürlich möchte ich euch den nicht vorenthalten. Also,es geschah folgendes:
Cora hatte ein Pflegepferd. Einen großen, tiefbraunen Wallach mit einem weißen Fleck auf der Blässe und mit einer Schwäche für Kräuterhustenbonbons.
Doch wie das Leben so spielt, sollte dieser verkauft werden.
Ich muss nicht erwähnen, in welche tiefe Verzweiflung das Cora stürzte. Jeder, der sie und das Pferd zusammen gesehen hatte, wusste, dass sie eine ganz besondere Beziehung zueinander hatten. Ihm erzählte sie ihre tiefsten Ängste und er spendete ihr Trost, wenn die Traurigkeit sie übermannte. Cora redete zeitweise mehr mit dem Wallach, als mit mir. Dass sie nun getrennt werden sollten, brach ihr das Herz. Unserem Vater ging der Schmerz seiner jüngeren Tochter sehr nah. Er litt mit Cora und konnte es nicht ertragen.
Also was geschah? Er kaufte ihr das Pferd.
Coras Freude darüber lässt sich nicht in Worte fassen. Jeder noch so kleine Versuch wäre schon zum Scheitern verurteilt. Für manche Gefühle reichen selbst die schönsten Worte nicht aus.


Das hört sich alles nach Friede, Freude, Eierkuchen an? Für diesen Augenblick ja, aber die harten Jahre sollten erst noch folgen.

Die Teenagerzeit, hier spreche ich wohl den meisten Eltern aus dem Herzen, ist ohnehin keine einfache Zeit für Familien. Doch mit Cora als Tochter, war es der reinste Kriegszustand. Ein sowieso schon rebellisches Kind, das ein echtes Problem mit der Schule hatte, zu einem Schulabschluss zu bringen, war eine fast nicht zu lösende Aufgabe. Cora ließ sich von niemandem mehr etwas sagen. Meine Eltern gestatteten ihr in ihrer Verzweiflung sogar, ein Schuljahr bei einer Freundin zu wohnen. 100 Kilometer weit weg. Geholfen hat es nichts, ganz im Gegenteil. Dass sie den Schulabschluss schaffte, war letztlich reine Glückssache.

Und das nächste Drama bahnte sich bereits an. Als meine Eltern ihr Pferd finanziell nicht mehr tragen konnten, musste es verkauft werden.
Dies war das erste wirklich einschneidende Erlebnis in Coras Leben, das bis heute Narben hinterlassen hat.
Und so kam es, wie es kommen musste. Cora kapselte sich immer weiter ab und zog früh von zu Hause aus. Sie hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, denn an einen Ausbildungsplatz, war wegen ihrer schlechten Abschlussnoten nicht zu denken. Ihre Liebe zu den Pferden wurde durch die Liebe zu den falschen Männern zurückgedrängt. Und so kam eine Zeit, in der es keine Pferde in ihrem Leben gab.
Bis folgendes passierte:
Cora hatte einen Job an einer Tankstelle ergattert. Eines Abends kam ein Kunde aufgeregt zu ihr an die Kasse geeilt und bat sie, die Polizei zu rufen. Cora fragte natürlich nach dem Grund. Er berichtete ihr von einem freilaufenden Pferd, das er auf dem brachliegenden Grundstück neben der Tankstelle gesehen hatte. Ohne zu zögern begleitete sie den Mann nach draußen und ließ sich das Pferd zeigen. Langsam näherte sie sich dem verschreckten Tier und bekam es am Halfter zu fassen. Unruhig blähte die Stute die Nüstern und tänzelte unruhig von einem Bein auf das andere. Doch Cora sprach sanft auf das Pferd ein und tätschelte seinen Hals. Worauf sich das Tier langsam beruhigte.
Fast zur selben Zeit traf der Bauer ein, dem das Pferd gehörte. Sein Hof lag etwa zwei Kilometer Luftlinie von der Tankstelle entfernt. Die Stute war ihm durch einen kaputten Koppelzaun ausgebüxt. Das Problem war nur, dass sein Pferdeanhänger einen kaputten Reifen hatte und er das Pferd nicht transportieren konnte. Ersatz zu beschaffen, hätte Stunden gedauern. Außerdem dämmerte es bereits. Wie sollte er nun das Tier nach Hause bringen?
Da hatte Cora eine Idee. Sie ging zu ihrem Auto, in dem sie fast all ihre Habseligkeiten gebunkert hatte, und holte aus dem hintersten Eck des Kofferraums ihr Reiterzeug hervor. Neben Putzkasten und Reiterkleidung befand sich auch ein Strick im Sortiment. Und so bot sie dem verblüfften Bauern an, das Pferd über die Felder nach Hause zu reiten. Ohne Sattel versteht sich. Und was soll ich sagen? Genau so war es dann auch. Cora schwang sich auf den Pferderücken und ritt die Stute, so als hätte sie nie etwas anderes getan, in den Stall zurück.

Von da an veränderte sich ihr Leben.
Denn kurz darauf zerbrach die Beziehung zu ihrem damaligen Freund und Cora brach auf zu neuen Ufern.
Sie nahm alte Kontakte wieder auf und bekam so einen Job als Pferdepflegerin vermittelt. Das entsprach schon eher ihrer Vorstellung von Arbeit. Leider erwies sich ihr Chef als echter Ausbeuter. Wenig Lohn für viel zu lange Arbeitstage. Doch die Reiter sind eine eingeschworene Gemeinschaft, die ihre Kontakte auf den zahlreichen Turnieren pflegen. Und so werden dort auch Arbeitsangebote ausgetauscht. Eine Chance die Cora ergriff. Und so verschlug es sie in den Norden Deutschlands. Dort machte sie ihre Sache gut.
Die Tierärztin, die den Stall betreute, in dem Cora arbeitete, erkannte ihr Talent. Sie schlug ihr vor, eine Ausbildung als Tierarzthelferin in der Pferdeklinik zu machen. Doch Cora wusste um ihre schlechten Abschlussnoten und rechnete sich keinerlei Chancen aus. Aber die Tierärztin drängte sie dazu, eine Bewerbung abzugeben.
Was sie letztlich auch tat. Eine Entscheidung, die sie nicht bereuen sollte. Die Tierärztin setzte sich für Cora ein. Und so erhielt sie zuerst einen Praktikumsplatz. Der wenig später in einen Ausbildungsplatz überging. Ihren Abschluss machte sie mit Bestnoten.

Damit begann die Veränderung in ihrem Leben. Durch die Sicherheit, die der Beruf ihr gab, kam Stabilität in Coras Leben. Und auf einem der Turniere lernte sie schließlich ihren heutigen Partner kennen. Natürlich einen Reiter.
Meine Schwester hatte gelernt, dass sie nur mit einem Mann, der die gleiche Leidenschaft teilte, ein glückliches Leben führen konnte. Ihr Herz würde sich nie wieder zwischen einem Mann oder den Pferden entscheiden können.
Heute leben sie zusammen auf einer Finca im Süden Spaniens und Cora betreut dort die Fohlen. Ein vorläufiges Happy End in ihrem turbulenten Leben.
Ich war über all die Jahre an ihrer Seite. Auch wenn wir oft räumlich voneinander getrennt waren, stehen wir uns auch heute immer noch sehr nahe.
Die Pferde begleiteten meine Schwester ihr ganzes Leben und somit auch meins. Wenn auch nur aus der zweiten Reihe.
Wie kann ich keine Zuneigung für diese prächtigen Tiere empfinden, die meiner Schwester so viel bedeuten? Die ihr geholfen haben, einen Platz im Leben zu finden?
Die Antwort ist: Es ist unmöglich.
Und die Geschichte geht weiter.
Aber leider ist an dieser Stelle für heute erst einmal Schluss, denn ich muss meine Tochter zum Reitunterricht fahren.



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Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2012

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