Jetzt stell dir vor du sitzt in der Bahn.
ICE, zweite Klasse, Fensterplatz.
Deine Sitznachbarin, eine drollige Omi mit graumelierten Löckchen, versucht dir die Bedeutung von Porta Westfalica näher zu bringen, während sie gerade den Hacken einer Socke strickt.
Doch auf dieses in deinen Augen völlig unsinnige Gewäsch kannst du dich um´s Verrecken nicht konzentrieren.
Warum nicht?
Weil dein Blut kocht, deine Gedärme blubbern und in deinem Kopf kleine Privatjets ihre Kreise drehen.
Kein Kater!
Keine Magen-Darm-Grippe!
Schlichtweg die Nervosität treibt dich fast in den Wahnsinn.
Du sitzt da, starrst angespannt aus dem Fenster. Die Landschaft rast an dir vorbei und du weißt, jeder Baum der vorüberzieht, jeder Strauch, jede Brücke, jeder Ort bringt dich näher zu ihm.
Zu dem Typen, den du bist dato nur aus dem Chat kennst und beim Gedanken an ihn flattern Herz und Magen um die Wette.
Wie hast du dich nur auf so etwas einlassen können?
„Das ist ´ne Drehstuhlromanze“, hat deine Freundin sich vor kurzem scherzhaft über die unrealistische Verbindung ausgelassen. „Das ist doch nicht einmal echt! Ihr sitzt da, glotzt euch in der Cam an und schreibt den ganzen Tag!“
Du bist dir nicht mehr sicher wer von euch auf die beknackte Idee gekommen ist, in die Welt des anderen eintauchen zu wollen. Doch das ist im Augenblick völlig egal! Die einzigen Gedanken die jetzt noch in deinem Kopf kreisen, lösen eine regelrechte Panikattacke in dir aus, wenn du dir vorstellst wie es ablaufen könnte:
Der Zug fährt in den Bahnhof. Alles drängt zur Tür, springt auf den Gehsteig. Du willst weder die Erste noch die Letzte sein, sondern lieber im Getümmel verschwinden, dir einen Platz sichern, von dem aus du alles perfekt beobachten kannst. Du willst ihn sehen, bevor er dich sieht. Nur für den Fall, dass du doch Bammel kriegst und die Flucht ergreifst. Und dann siehst du ihn … und ergreifst die Flucht. Oder aber er sieht dich eben doch zuerst und du bekommst mit wie er vor dir die Flucht ergreift! Was wesentlich schlimmer ist und deinem Selbstvertrauen nicht nur einen Stich versetzt, sondern deine Seele sprengt, den Herz zerquetscht und dir die Gedärme zerreißt.
Doch was gibt es Schlimmeres als eine solche Demütigung? Er sieht dich! Und er läuft nicht davon!
Dann stehst du da wie angewurzelt und überlegst fieberhaft wann du dir das letzte Mal die Zähne geputzt hast, ob dein Haar im Wind in fettigen Strähnen weht, ob dein Kayal verschmiert ist, du einen Popel in der Nase hast, Kräuter von dem Frischkäsebrötchen zwischen den Zähnen und vor lauter Panik weißt du nicht einmal mehr ob du am Morgen duschen warst oder dein Deo gerade versagt.
Deine Knie zittern, die Hände werden schweißnass und dein Herz rast wie ein japanischer Schnellzug.
Dann kommt er auf dich zu, grinsend, selbstsicher, nimmt dich in die Arme…
„Kindchen!“, drängt sich eine Stimme in deine Wahnvorstellungen und reißt dich zurück in die Realität. „Hamm!“
„Hammhamm?“, willst du wissen und siehst die Omi ein bisschen verplant an. Sie lächelt. Lachfalten bilden sich rund um ihre Augen und lassen sie ganze zwanzig Jahre jünger wirken. „Wir sind gleich in Hamm!“, verkündet sie gutgelaunt und du möchtest am liebsten sofort auf deine Schuhe kotzen. „Sie wollten doch in Hamm aussteigen?“, fragt sie nach und neigt zweifelnd den Kopf. „Oder?“
Du nickst nur, weil du weißt, dass du ihr auf den Schoß reierst, wenn du den Mund aufmachst.
Wie ein Roboter stehst du auf, nimmst die Jacke, ziehst sie über. Mit fahrigen Bewegungen und klitschnassen, zitternden Hände stopfst du das Buch in den Rucksack, die Wasserflasche und dein Handy.
Der Zug hält. Die Omi wünscht dir einen wundervollen Kurzurlaub. Du nimmst ihre Worte kaum mehr wahr. Wie in Trance quetschst du dich in den Gang, versuchst niemanden mit deinem Koffer zu erschlagen und lässt dich vorwärts schieben.
Der Ausgang kommt näher.
Du siehst Leute auf den Bahnsteig hüpfen und sich suchend umsehen. Kurz überlegst du wieder zurückzugehen und dich in der Zugtoilette einzuschließen. Die Nervosität wird mit jedem Schritt größer, zehrt an deinen Nerven. Jetzt streift dich ein kalter Windzug von draußen. Noch drei Schritte. Zwei. Einer. Du bist auf der kleinen Treppe. Drei Stufen. Zwei. Eine. Draußen!!!
Mit angehaltenem Atem starrst du auf deine Füße, aus Angst er könne dir direkt gegenüber stehen. Wie ein Soldat marschierst du schnurstracks geradeaus. Erst einmal hinter der neonfarbenen Abfahrtsanzeige verstecken und zu Atem kommen.
Jetzt zitterst du wie verrückt. Dein Atem geht stoßweise. Zu deinem Entsetzen leert sich der Bahnsteig schneller als erwartet und binnen weniger Augenblicke schlendern nur noch wenige Menschen vorüber.
„Blondes Haar!“, murmelst du vor dich her, quetschst dich tiefer in die Schatten der Werbeschilder und schielst nach allen Seiten. Ganz vorsichtig! Damit du ihn zuerst siehst … nur für den Fall!
Da kommt er! Oder? Nein! Fehlalarm! Zum Glück!
Du legst dir eine Begrüßung zurecht und fragst dich ob eine Umarmung und ein Kuss auf die Wange zu aufdringlich wären.
„Ach was!“, murmelst du und erwischst dich dabei, wie du den Nagel deines rechten Daumens mit den Zähnen malträtierst.
Du bist so sehr darauf versteift nicht als Erste gesehen zu werden, dass dir nicht auffällt wie schnell die Zeit vergeht.
Erst als sich der Bahnsteig erneut mit Menschen füllt, großen, kleinen, dicken, dünnen, rothaarigen, schwarzhaarigen, blonden. Doch keiner sieht aus wie er! Der Zug kommt an. Menschen strömen wie Wasser auf den Bahnsteig, pressen sich mit ihrem Gepäck durch jene hindurch, die einsteigen wollen. Gezeter wird laut, Kindergeschrei, der Schaffner pfeift, der Zug dröhnt. Irgendwo über dir weist jemand die Menschen darauf hin zurückzutreten. Dann ist der Zug verschwunden und Ruhe kehrt ein.
Du stehst immer noch da.
Wartest.
Erst eine Stunde.
Dann neunzig Minuten.
Hundert.
Zwei Stunden.
Eisige Kälte dringt in deine Klamotten. Den Daumennagel hast du mittlerweile blutig gekaut. Doch der metallische Geschmack dringt nicht zu dir vor.
Allmählich klingt die Nervosität ab. Du umklammerst dein Handy, auf das du mittlerweile schon fünfzig Mal gestarrt hast. Seins ist aus! Er starrt nicht wartend darauf.
Vielleicht ist der Akku leer. Er hat bestimmt den Tag verwechselt, beginnst du zu vermuten. Natürlich könntest du dir ein Taxi nehmen, ihn daheim überraschen. Er würde sich bestimmt riesig freuen.
Wenn du nur wüsstest wo er wohnt! Wieso hast du auch nicht nachgefragt?
„Er wollte mich doch abholen!“, ergreifst du murmelnd für ihn Partei während ein Teil deines Gehirns sich damit abzufinden versucht, dass er nicht auftauchen wird.
...
...
...
Drei Stunden und vierundzwanzig Minuten später.
Du wartest noch immer …
Texte: © Joey T. Lewis, 2011
Bildmaterialien: © Background: RoseSeishin (deviantart) / bearbeitet mit PhotoScape
Tag der Veröffentlichung: 15.12.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
An alle Freaks, die ihren Tag hauptsächlich im Internet verbringen, auf der Suche nach dem absoluten Hammer ^^