Cover

Ich sehe dich


Ich gehe den kahlen Gang mit den nackten Wänden entlang.
Mama stürzt auf mich zu. Schlingt ihre Arme so fest um mich, dass ich husten muss.
Ihre Augen sind gerötet, die Wangen ganz nass.
Mir dreht sich der Magen um und ich habe das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.
Wir umarmen uns, klammern uns aneinander, weil wir Angst haben loszulassen. Angst davor auch noch den letzten Hoffnungsschimmer zu verlieren.
Ich kann sehen wie der Arzt aus dem OP kommt, sich den Mundschutz runter zieht .
Ich sehe seinen Gesichtsausdruck und spüre, dass es sich in der Realität noch viel schlimmer anfühlt als es im Fernsehen aussieht.
Mama bricht zusammen. Schreiend, kreischend.
Meine Hände zittern. Ich halte mich irgendwo fest … alles dreht sich.
Meine Welt wird aus den Fugen gerissen.

Ich kann dich sehen, wie du da liegst und in die Sonne lachst.
Kann sehen wie die Sonnenstrahlen mit deiner blonden Mähne spielen.
Ich kann sehen wie wir zusammen auf unseren Fahrrädern durch die Stadt fahren oder wie du dich beim Baden erschöpft an mich klammerst und wir beide deswegen fast ertrinken.
Ich kann sehen wie wir die Mini Playback-Show nachspielen ... wie du anfängst dich zu schminken ... zu rauchen ... und mir schließlich über den Kopf wächst.

Und dann bist du da!
Sie schieben dich an uns vorbei. Ich will nach dem weißen Tuch greifen, es wegziehen, nur um dein strahlendes Lächeln noch einmal zu sehen. Um dich zu sehen, wie du uns auslachst und kichernd „Angeschmiert!“ rufst.
Aber ich kann mich nicht bewegen.
Sie gehen weiter, nehmen dich mit sich, bringen dich fort.
Ich schließe die Augen und weiß, für dich wird es kein „Morgen“ mehr geben.

Impressum

Texte: Titel, Text und Cover© J.T.L. - 2011
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2011

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