„Papaaaa!“
Der Schrei zerriss sein Herz – und verklang. Vidrio kämpfte sich vorwärts, doch der Boden schien seine Füße eingesogen zu haben. Keinen Millimeter kam er seiner Tochter näher. Die Welt bebte, der Horizont fuhr aus den Angeln. Die Hölle öffnete sich und kalte Asche entlud sich auf die Erde, Konturen erloschen. Vidrio streckte seine Arme nach dem Mädchen. Er blinzelte, versuchte seine Tochter nicht aus den Augen zu verlieren. Doch der Ascheregen wurde dichter, setzte sich höhnisch auf seine Augenlider, tanzte um die verschwommene Gestalt seiner Tochter und verschluckte so auch ihr letztes Bild. Wütend bäumte sich Vidrio gegen sein Schicksal, legte seine ganze Kraft in diesen einen Schritt, doch seine Glieder blieben starr. Vidrios Atem krazte, der Staub drang in seine Nase, quoll in seinen Hals – Rasseln. Schön wie Schneeflocken schwebte die Asche. Weiß und sanft, einschläfernd, betörend.
Nein! Dieses Mal würde er nicht aufgeben. Die Götter hatten ihr Leben verwirkt. Vidrio schrie, brüllte, presste mit aller Macht den letzten Atem aus seinen Lungen, und von seinen grauen Lippen echote es ohrenbetäubend durch die Welt:
TOD ALLEN GÖTTERN
Dann sog ihn der Regen auf.
Auf seiner Reise durch die gleißende Endlosigkeit öffneten sich seine Augen.
Er sah das Leben, das vor ihm gelegen hatte. Seine Frau, seine Tochter, fröhlich spielend im Garten. Er sah das Lächeln auf ihren Lippen, die Fältchen um ihre Augen, die Haarsträhne, die schalkhaft ihren Nacken ärgerte.
Dann sah er Gott. Er sah, wie Gott seine Hand ausstreckte und in ihr Schicksal griff. Er riss Eva aus der Zukunft. Er zerquetschte sie zwischen seinen gekrümmten Fingern, schaute mitleidig auf ihr ausdrucksloses Gesicht und warf sie in die Vergangenheit. Ein Stück Müll, eine Überproduktion, die ihm nicht gefiel, derer er sich zu entledigen hatte. Virdrios Hand spürte noch die Berührung ihrer zarten Haut. Sein Arm hing verloren in der Luft.
Dann sah er Gott und seine Hand ballte sich zur Faust. Rasend stürzte er sich auf seinen Schöpfer.
„Jeden Tag, JEDEN verdammten Tag!“
Doch seine Glieder blieben starr.
Gott lächelte, zuckte mit dem Finger, und die Welt bebte.
„Papaaaa!“
Nein, diesmal nicht. Diesmal nicht.
Der Horizont fuhr aus den Angeln. Die Hölle öffnete sich und kalte Asche entlud sich auf die Erde, Konturen erloschen. Und Gott lachte. Das Universum bebte unter seinem Gekreisch, die Luft schlug Wellen. Gott lachte und sein Schütteln entwurzelte Bäume. Der Boden tat sich auf. Die Welt brach entzwei. Gott lachte, und Vidrio war frei. Ruckartig wurde er nach vorne geschleudert.
Vidrio rannte, er rannte mit all der Kraft, die er Tag für Tag in jenen Schritt gelegt hatte, jedes Mal, vergeblich. Er rannte und aus der Konturlosigkeit der Hölle taumelte seine Tochter.
Er griff nach ihrer Hand, zerrte sie weiter. Er jagte das Glück, die Hoffnung, dieses eine Tor, den einen Versuch.
Er erkannte ihr Haus, ihren Garten, und seine Füße beschleunigten. Er fühlte, wie sich Zuversicht in ihm ausbreitete. Sie hatten eine Chance. Sie konnte fliehen. Sie hatten eine Zukunft. Der Alptraum würde enden.
„Papaaaa!“
Ihr panischer Aufschrei drang in seinen Kopf, als er brutal in ein Hindernis rannte. Er schlug auf den Boden, seine Körper knackte.
Dann bebte die Erde erneut. Vidrio wurde in die Luft geschleudert. Er sah seine Tochter hilflos an einen Baum geklammert. Er sah sein Haus im Schnee verschwinden.
Dann klatschte er gegen eine Wand aus Glas. Er blickte genau in die Augen seines Gottes.
Vidrio brüllte, warf sich gegen die Wand und schlug mit den Fäusten. Die Welt dröhnte unter seinen Hieben - sein verzweifelter Schrei verklang in der Leere.
Und Gott lachte und die Welt stand ruhig – für immer.
Tag der Veröffentlichung: 13.07.2010
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Widmung:
Wortspiel zum Thema: "Das Geheimnis in der Hemisphäre"