Er lag ausgestreckt auf dem Sofa, als Anna ins Wohnzimmer kam.
„Entschuldige, Niko.“ sagte sie, als sie sich neben ihn fallen ließ. „Ich konnte einfach nicht früher weg Heute. Hast du Hunger?“
Sie strich ihm sanft über den Kopf. Er lächelte innerlich. Anna war die einzige, die ihn Niko nannte. Niemand sonst wagte es, die Zusätze wegzulassen, die seine Abstammung ihm auferlegt hatte. Nikolas von Samthaching. Graf Nikolas. Anna war die einzige, die sich traute, ihm näherzukommen. Alle anderen hielten respektvollen Abstand – immer. Selbst sein Friseur schien ständig Angst zu haben, mit einem falschen Schnitt den geballten Zorn der Obrigkeit auf sich zu laden. Dabei gab der Graf selbst nie Grund zu dieser Distanz. Er hätte jeden Besucher freundlich begrüßt. Aber nein – bevor er auch nur in ihre Nähe kommen konnte, wichen sie ehrfurchtsvoll zurück. Bis er Anna begegnet war, hatte er in einem gläsernen Käfig gelebt.
Es war eine moderne Liebesgeschichte. Ein verkehrtes Märchen. Niko kehrte dem Luxus von Samtkissen und goldenen Tellern den Rücken und zog bei ihr ein. Ihr Sofa bestand geradezu aus abgenutzten Stellen. Das Wohnzimmer versank regelmäßig in einem Chaos aus Zeitungen und Kleidungsstücken. Aber das scherte ihn nicht. Nein, falsch. Er liebte das Chaos. Und er liebte Anna.
Sie legte eine Hand auf seinen Bauch.
„Ich mach uns schnell was zu essen.“ beschloss sie und tapste in die Küche.
*
Vollmond. Taghell ließ die Nacht ihn nicht schlafen. All die Geräusche, die Annas gleichmäßiger Atem nicht ausblenden konnte. Durch die geöffnete Terrassentür drang Blätterrascheln, Grillenzirpen, Mückensummen. Und dann – leise – Schritte. Er spitze die Ohren. Die Nacht rief ihn.
Die Nacht rief ihn? Was war das denn für ein absurder Gedanke? Er legte den Kopf in die Kissen und schloss die Augen. Doch etwas zog an ihm. Niko blickte zu Anna. Der Mond malte auf ihrem Gesicht. Mückensummen. Nikos Lieder flackerten. Eine Ader in seinem Nacken pulsierte. Leise erhob er sich und schlich auf den Flur. Er huschte Richtung Wohnzimmer, zögerte kurz und schlüpfte dann durch die angelehnte Tür nach draußen.
Eine Geräuschwelle schlug über ihm zusammen. Er fühlte sein Blut rauschen. Seine Nase zuckte - bloßer Instinkt. Sein Geruchssinn war verkümmert.
Instinkt? Was tat er hier? Draußen – mitten in der Nacht. Er gehört in die warmen Kissen an Annas Seite.
Niko machte kehrt, doch dann – leise – Schritte. Er schnellte herum. Dort hinten, auf der Straße am Ende des Gartens, verschwand etwas um eine Kurve. Er rannte.
Mit seinen Schritten trommelten seine Gedanken: Was dachte er sich? Was sollte das? Er…musste…zurück…
Doch sein Bewusstsein verblasste, wurde überschrieben von einer uralten Macht, die jahrelang in ihm geschlafen hatte. Er spürte seine Muskeln – stärker, als er je gedacht hätte. Seine Augen, jeder Umriss war gestochen scharf. Er rannte noch immer – lautlos. In seinen Ohren klang jeder ihrer Schritte wie ein Donner, nein, ein Lockruf. Komm, komm schon. Niko beschleunigte.
Und dann sah er sie. Sie stand mitten auf der Kreuzung, überdeutlich im Mondlicht. Sogar riechen konnte er sie jetzt. Ein schwacher Hauch nur – süßestes Leben. Nikos Sinne explodierten.
Es war ein Rausch. Er stürzte sich auf sie. Ihr Schrei durchschnitt das Silberlicht, doch sie waren allein. Es spürte, wie sie unter ihm zuckte, ihren warmen Körper, süßes Blut in feinen Adern. Niko bebte vor Erregung. Irgendwo, in den verborgenen Windungen seinen Seins, schrie seine Seele - und verklang in der Nacht, ungehört, als er seine Zähne in das warme Fleisch grub.
*
Niko erwachte auf dem Küchenboden. Das Sonnenlicht stieß Nadeln in seine Augen. Er blinzelte. Was machte er hier? Vorsichtig richtete er sich auf. Sein Körper schmerzte. Er wollt ins weiche Bett, zu Anna, tat zwei Schritte zur Tür – und erstarrte. Dort, auf der Schwelle, eine riesige Blutlache. Oh Gott! Die Erinnerung schlug über ihm zusammen. Was hatte er getan? Der Boden drehte sich.
„Niko?“
Verschlafen. Annas Schritte im Flur. Sein Herz setzte aus.
Panisch packte er den zerschundenen Körper, der im Blut schwamm. Zerrte. Bloß weg, weg aus diesem Haus, von Anna.
„Ni-“ ihre Stimme erstickte.
Stille. Er kauerte unter dem Küchentisch, vor ihm der zerfetzte Körper, kaum verborgen.
„Niko?“ Annas Stimme war schrill. „Was ist passiert? Wo bist du?“
Dann stand sie vor ihm. Ihre Augen weiteten sich.
„Was…?“
Er hielt es nicht aus – sprang zu ihr. Es war nicht seine Schuld.
„Niko…“
Sie hielt ihn fest. Er spürte ihre Wärme.
„Warst du das?“
Er blickte sie an – verwirrt. In ihrer Stimme klang…Stolz?
Anna lachte leise.
„Oh Niko“, murmelte sie. „Ich glaube, du bist der einzige Perserkater, der noch Mäuse fängt.“
Kopfschüttelnd kraulte sie ihn hinter dem linken Ohr. Niko schnurrte.
Wie sehr er sie liebte.
Tag der Veröffentlichung: 14.03.2010
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Widmung:
Wortspiel XVI: Der Schöne und das Biest