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Es ist Montag. Samira liegt in ihrem Bett. Es ist heiß. Sie öffnet die Augen. Draußen brennt die Sonne.

Schnell schließt sie ihre Augen wieder.

Samira könnte aufstehen und zu ihrer Statistikvorlesung gehen. Es scheint Leute zu geben, die Statistik mögen. Sie stellt sich vor sie wäre eine von ihnen.. Sie würde in die Uni fahren und dem Professor mit der Brille an den Lippen kleben. Sie würde vergessen ihren Kaffee zu trinken, weil sie vollends damit beschäftigt wäre so viel wie möglich mitzuschreiben. Sie würde sich nicht an den gelangweilt kritzelnden Ahnungslosen stören, oder an den unbequemen Klappstühlen. Sie würde nicht merken, dass draußen ein herrlicher Sommertag vorbeizöge, während sie im schweißigen Mief gedanklich abwesender Hundertschaften säße. Sie würde nicht daran denken, dass das wundervoll blau glitzernde Meer nur wenige Kilometer entfernt sanft an den weißen Strand rollte.

Samira lacht. Sie ist keine von ihnen. Sie mag Statistik nicht. Sie hasst Statistik.

Trotzdem steht sie auf. Das Bett quietscht als sie die Baumwolldecke zur Seite schiebt. Die stumpfen Holzdielen des Bodens knarren, während durch die Löcher in den Gardinen warme Sonnenstrahlen ins Zimmer fallen. Samira macht das Fenster weit auf und atmet tief die salzige Luft ein, die salzige Luft der Freiheit.

Dann fällt ihr Blick nach unten zur Straße. Dort vor dem Haus steht schon das kleine rote Auto. Ihr Herz hüpft freudig. Sie beeilt sich, kämmt ihre glänzenden schwarzen Haare, schlüpft in die engen schwarzen Hosen und rennt aus der Tür. Im Flur streift ihr Arm flüchtig die Wand, so dass der Putz bröckelt und zu Boden fällt. Die Tür quietscht und fällt dann ächzend ins Schloss. Die Absätze von Samiras schwarzen Guccis klopfen ein hämmerndes Stakkato auf die weißen Marmorstufen. Ihr Herz tanzt im Takt. Die letzten Meter bis zur Straße rennt Samira fast und landet schließlich, endlich in Matteos Armen. Er hebt sie hoch und dreht sich mir ihr im Kreis. Matteo lacht und Samiras Haar wirbelt durch die Luft.

„Bon giorno, Bella!“

Matteos rauhe Stimme jagt einen Schauer über Samiras Rücken.

Die Sonne strahlt, in der Ferne singen ein paar Vögel, und der Himmel spiegelt sich in Matteos dunkler Sonnenbrille. Samiras Herz tanzt.

Wen kümmert schon Statistik?

Samira sitzt neben Matteo in dem kleinen roten Auto, auf der Straße zum Meer. Sie hält ihre Hand in den Fahrtwind, ihre Haare flattern fröhlich, und ihr Herz tanzt.

Sie blickt Matteo an und lächelt.

„Weißt du, in meinem Land wärst du niemals gut genug gewesen für mich.“

Matteo grinst.

„Ah, Bella, aber wir sind in Italien. In Italien zählt nur die Liebe.“

„Dann darf ich niemals wieder fortgehen aus Italien“, lacht Samira.

Wenig später sitzt sie am Strand und sieht zu wie Matteo unter schaumgekrönten Wellen hindurchtaucht. Mit den nackten Zehen malt Samira gedankenverloren im weißen Sand. An ihrem Hals liegt warm ein glitzerndes goldenes Herz, Matteos Herz.

„Pass gut darauf auf, Bella. Wenn ich in den
tosenden Fluten ertrinke, bleibt dir wenigstens mein Herz.“ hatte er mit einem breiten Lachen gerufen und Samira die Kette in einer nachlässigen Bewegung zugeworfen, kurz bevor er ins Meer gesprungen war.


Samira lächelt, die Sonne strahlt, in der Ferne singen ein paar Vögel, und der Himmel spiegelt sich im Meer. Samiras Herz tanzt.

Plötzlich aber fällt ein Schatten auf Samira. Sie blickt verwundert auf, und erstarrt. Hinter ihr stehen zwei Fremde mit dunklen Brillen. Sie sehen aus wie Leibwachen: breit, mit harten Gesichtern, oder aber … wie Verbrecher. Samiras Herz setzt aus. Sofort blitzen in ihrem Kopf unzählige Bilder von Raubüberfällen auf, von Entführungen. Panik droht Samira zu übermannen. Sie zwingt sich zur Ruhe. Warum hat sie solche Angst? Das ist ein belebter Strand. Jeder würde ihren Schrei hören, und doch ist ihre Kehle wie zugeschnürt. Samira versucht sich zu beherrschen. Sie weiß nicht, was diese Männer wollen. Sie kennt sie nicht – oder doch? Etwas rührt sich in Samira.
Im nächsten Moment drückt einer der Männer ein Tuch auf Samiras Gesicht. Ihre Welt wird schwarz.


Samira erwacht langsam. Ihre Glieder schmerzen, ihre Zunge ist belegt. Nur langsam kehren ihre Sinne zurück, und mit ihnen die Erinnerung. Die Angst trifft sie wie ein Schlag in die Magengrube. Samira zittert, wagt nicht sich zu bewegen. Wo ist sie? Minuten vergehen ohne dass etwas geschieht. Sie wartet, wird ruhiger. Langsam wird sie sich ihrer Umgebung gewahr. Sie erkennt Fensterumrisse, seltsam geformt. Der Raum in dem sie sich befindet scheint groß. Sie liegt in einem Bett, einem Bett mit seidigen Laken. Verwundert befühlt Samira den kühlen Stoff. Dann steigt ihr ein vertrauter Duft in die Nase. Sie hält inne, blinzelt verwirrt.

Plötzlich ertönen hektische Schritte. Die Zimmertür wird aufgestoßen.

„Samira!“

Das helle Licht blendet Samira. Sie kneift die Augen zusammen.

Auf einmal findet sie sich in einer Umarmung wieder. Sie will sich wehren - und stockt. Dieser Geruch, ein Parfüm …

„Mama?! Was …?“

„Samira! Sie haben dich gefunden, ich bin so froh! So unendlich froh. Als sie dich herbrachten … du warst bewusstlos. Ich hatte Angst sie wären grob zu dir gewesen. Samira, es tut mir so leid. Wir hatten solche Angst. Samira, Samira.“

Ihre Mutter hält Samira in den Armen, wiegt sie wie ein kleines Kind.

Samira versucht zu verstehen. Sie blickt über die Schulter ihrer Mutter. Das Zimmer kommt ihr seltsam vertraut vor. In ihr wächst ein furchtbarer Verdacht.

„Mama! Mama, wo sind wir hier?“

„Aber Samira, wir sind zu Hause. Siehst du das nicht?“

Ihre Mutter steht auf und schiebt samtige Gardinen zur Seite.

Samira schaut aus dem Fensterund ihre Vermutung wird zur schrecklichen Gewissheit. Sie ist zu Hause - zu Hause im Iran.

„IHR habt mich entführen lassen? Warum, was soll das? Ihr habt mir versprochen, dass ich in Italien bleiben kann; studieren, mein Leben leben. Was soll das?“

Samira springt auf und rennt zur Tür. Sofort stellen sich ihr zwei Männer mit dunklen Brillen in den Weg, Leibwachen.

„Samira, weißt du denn gar nichts?“

Ihre Mutter blickt bekümmert zu Samira herüber, die noch immer an der Tür steht.

„Wir haben dir geschrieben. Hast du die Briefe nicht bekommen? Wir konnten dich nicht anrufen. Es gab einfach keine Verbindung. Wir dachte, du würdest nicht kommen. Wir dachten… Samira, es tut mir so Leid.“

„Ich … was für Briefe? Wovon redest du?“

Samira setzt sich unsicher auf das Bett. Ihr Kopf schmerzt.

Ihre Mutter blickt sie lange an, bevor sie schließlich erklärt:

„Der Schah ist geflohen, Samira. Die Amerikaner stützen ihn nicht mehr. Der Ajatollah ist zurück. Wir sind jetzt eine Republik, eine islamische Republik. Alle Mädchen müssen bei ihren Familien sein. Verstehst du? Dein Leben im Ausland … es hätte uns alle in den Untergang gestürzt.“

Schlagartig begreift Samira. Sie sinkt in sich zusammen. Sie weiß: sie wird niemals mehr aus dem Iran fortgehen.

Zeit vergeht.

Langsam verblassen Erinnerungen.

Samiras Hand tastet nach Matteos Herz. Es ist kalt.

Es ist Montag. Samira liegt in ihrem Bett, umgeben von kühler Seide. Sie öffnet die Augen. Draußen brennt die Sonne. Trotzdem steht Samira auf. Kalt spürt sie das kunstvolle Mosaik des Bodens unter ihren Füßen. Sonnenstrahlen fallen ins Zimmer. Die Luft ist stickig, in der Ferne singen ein paar Vögel, und der Himmel spiegelt sich in leeren Straßen. Samiras Herz steht still.

Langsam schließt sie ihre Augen wieder.

Sie stellt sich vor, sie würde zu ihrer Statistikvorlesung gehen.

Sie kann sich nichts Schöneres vorstellen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.10.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für die Zeit: das habt ihr jetzt davon!

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