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Der Mann im Mond saß auf seiner Terrasse und angelte. Gerade hatte ein besonders großer Stern angebissen, da fiel sein Blick auf einen Jungen, der in einem weißen Kleid auf dem Dach eines Hochhauses stand. Natürlich war das sehr weit weg, aber der Mann im Mond hatte außergewöhnlich gute Augen. Das lag auch daran, dass er sie jeden Tag beim Angeln trainierte. So ein einzelner Stern nämlich, ist gar nicht so einfach auszumachen in einem Meer, in dem solch ein Getümmel herrscht. So kam es also, dass er erkennen konnte, welch sonderbare Kleidung der Junge trug. Ein Kleid nämlich, und dazu noch ein weißes, war für Jungen sehr ungewöhnlich. Das wusste der Mann im Mond von früheren Beobachtungen. Meist trugen sie Hosen, kurze ab Mai, und davor lange. Genau wegen dieser Sonderlichkeit dann, beschloss der Mann im Mond auch, den Stern wieder von der Angel zu lassen und seine Aufmerksamkeit diesem kleinen Geschöpf im Kleid zu widmen.

Der Stern war enttäuscht. Gerne wäre er geangelt worden um im Mondgarten zu funkeln. Er verlor kurz ein wenig seines Strahlens. Schnell aber wurde er sich seiner wunderschönen Umgebung bewusst, all ihrer unendlichen Möglichkeiten, und der vielen Gefährten, die auf ihn warteten. So kehrte seine alte Fröhlichkeit zurück. Sein Leuchten gewann neue Kraft, und der Stern tollte sich unbeschwert von dannen.

Der Mann im Mond, der übrigens Herbert heißt, konnte es kaum erwarten mehr über diesen kuriosen Jungen zu erspähen, doch zuerst musste er seine Angelausrüstung einpacken. Sorgfältig schob er die lange Rute aus Birkenholz zusammen. Er hatte seine Angel selbst geschnitzt und deshalb lag sie ihm besonders am Herzen. Natürlich hatte er dabei nur Äste verwendet, die die Birken nicht mehr benötigten. Was die meisten Menschen nicht wissen ist, dass Birken ursprünglich vom Mond stammen. Deswegen sind auch ihre Stämme so weiß. Der Mann im Mond also verpackte seine Birkenholzangel in der Birkenholztransportkiste, die er sorgfältig verschloss, damit kein Mondstaub hineingeraten konnte. Dann rollte er noch sein Sternennetz zusammen und verknotete es mit einem Faden aus Flaggenstoff. Flaggenstoff war sehr selten, aber überaus beständig und widerstandsfähig, genau richtig um ein Sternennetz zu verschnüren.

Schlussletzlich hatte Herbert seine Ausrüstung verstaut. Gespannt setzte er sich auf seine liebste Aussichtsbirke, hielt Ausschau nach dem Jungen und fand ihn bald. Er stand noch immer auf dem Dach, und er trug noch immer das weiße Kleid. Doch noch etwas anderes erblickte Herbert dieses Mal, und seine Augen weiteten sich vor Erstaunen: Neben dem Jungen auf dem Hochausdach stand ein Goldfischglas. So klein war der einzelne Fisch, dass der Mann im Mond ihn fast übersehen hätte, doch dann spiegelte sich das suchende Mondlicht in einer Schuppe, und Herbert erkannte den Goldfisch ohne Zweifel.

„Kurios“, dachte er sich und lehnte sich neugierig weiter nach vorne.


Marvin machte sich große Sorgen. Dem Jungen in diesem Zimmer ging es nicht gut. Marvin hatte das Gespräch von zwei Schwestern gehört. Jonas habe starke Schmerzen, hatten sie gesagt, doch die Ärzte könnten sich noch immer nicht erklären warum. Und er sei so einsam, hatten sie hinzugefügt, auch in seinem Herzen. Er habe den Glauben verloren, den Glauben an sich, an das Gute, und an die Hoffnung. Ganz fürchterlich klang das, fand Marvin. Er musste dem Jungen helfen. Deshalb ließ er sich von den Schwestern zu Jonas bringen.

„Eigentlich sind Tiere auf der Station nicht gestattet“, sagten sie.

„Ich bin ja auch ein Fisch“, antwortete Marvin.

Jonas aber schien nicht zu bemerken, dass seit kurzem ein großes rundes Glas mit einem Goldfisch auf seinem Nachttisch stand. Er blickte unentwegt an die weiße Zimmerdecke und stellte sich vor sie wäre der Mond.

Marvin schwamm geduldig Runde um Runde in seinem Glas. Geduld war eine seiner Stärken. Er konnte lange einfach nur warten - bis seine Zeit gekommen war. Jonas aber nahm keinerlei Notiz von ihm. Seine einzigen Regungen waren vereinzelte schmerzerfüllte Zuckungen des Gesichts. Die Ärzte kamen und gingen, ohne Änderung zu bringen. Marvins Sorge wuchs, und so beschloss er eines Tages, dass es an der Zeit war, von selbst in Jonas Welt zu treten.

„Jonas.“

Der Junge zeigte keine Reaktion.

„Jonas.“

Er schloss die Augen.

„Jonas, hörst du mich?“

Er drehte langsam den Kopf.

So war der Goldfisch zu Jonas gekommen, und deshalb standen sie jetzt zusammen auf dem Dach.
Jonas Körper ging es besser. Noch immer verzog sich sein Gesicht in regelmäßigen Abständen vor Schmerzen, aber seine Seele war ein wenig leichter geworden, von Hoffnung beflügelt. So standen sie auf dem Hochausdach und blickten hinauf zum Birkenwald. In der Dunkelheit war Marvin fast nicht zu sehen, doch dann verfing sich silbernes Mondlicht in einer goldenen Schuppe. Jonas blickte hinüber zu seinem Gefährten und ein stilles Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. So nah war er dem Mond noch nie gewesen. Er bückte sich und griff nach einem der weißen Blätter, die er mitgebracht hatte.

„Schmerz“ stand auf ihm geschrieben.

Vorsichtig faltete Jonas das Blatt zu einem Gleiter. Unsicher suchten seine Augen Marvins Unterstützung.

„Nur zu.“

Eine zweite goldene Schuppe strahlte nun im Silberlicht.

Jonas schloss die Augen und warf den Segler hinaus in die Nacht. Das Papierflugzeug glitt lautlos davon, zielstrebig, bis es in der Dunkelheit verschwand.
Jonas lächelte. Er griff nach einem zweiten Blatt.

„Einsamkeit“ sagten die schwarzen Buchstaben.

Er faltete das Papier, schaute kurz zu Marvin, und warf den Flieger über den Hochhausrand. Auch dieser entschwand in die Nacht.

Jonas‘ Augen strahlten als er das letzte Blatt vom Boden hob. Und dieser Papierflieger, er flog, stieg höher, bis er im Mondlicht leuchtete wie Marvins Schuppen. Niemand hätte ihn nun mehr übersehen können. Jonas fühlte sich unendlich leicht. Seine Gesichtszüge waren glatt und unbekümmert. Der Mond passte in seine Hand.

„Danke, Marvin.“, flüsterte er.


Der Mann im Mond saß betrübt auf seiner Lieblingsbirke. Eine Träne tropfte auf eines der beiden weißen Blätter und ließ die schwarze Schrift verschwimmen. Wie passte so viel Schmerz nur in ein so kleines Herz? Herbert konnte das einfach nicht verstehen. Er war schwer vor Kummer. Die Birke bog sich unter ihrer Last.

„Zumindest“, dachte er „zumindest ist Marvin jetzt bei ihm.“

Dann landete ein drittes Flugzeug vor Herberts Füßen. Dieser rieb sich die Augen und entfaltete das Blatt.

„Hoffnung“ las er verwundert.

Dann breitete sich ein Leuchten auf seinem Gesicht aus.

„Hoffnung. Natürlich!“

Erleichtert sprang der Mann im Mond von seiner Birke und öffnete eilig seine Transportbox. Mit fliegenden Händen zog er die Angelrute auseinander und ließ die Schnur hinab. Sie fiel genau in Jonas Hände.

Vorsichtig holte Herbert die Angelschnur ein. Er wollte diesen strahlenden Stern nicht verlieren. Immer weiter zog er ihn nach oben, bis er ihm fast bis zu sich hinauf geholfen hatte. Dann nahm Herbert das Sternennetz aus Flaggenstoff und geleitete damit den Stern die letzten Meter. Als er ihn endlich dann neben sich auf dem Mond begrüßen konnte, strahlte und funkelte er aus voller Kraft, als wollte er den gesamten Himmel erhellen. Er würde der schönste Stern im Mondgarten werden. Herbert lächelte zufrieden.


Auf der Erde hob Marvin seine Flosse zum Gruß, und schwamm davon.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.08.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Jacobus natürlich, dem wir diese Geschichte zu verdanken haben. Auch wenn ich mich selbst irregeleitet habe, und anfangs dachte es ginge um das Papierflugzeug, den Vogel und den Mond, habe ich die Kurve doch noch gekriegt;) Danke für ein wundervolles Wortspielthema, das mich mal wieder dazu gebracht hat, eine Geschichte zu schreiben, die so gar nicht zu mir passt.

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