Drrrrrrräää
äääääääh! Drrrrrääääääääääääääääääääääh! Drrrrrrrrrrrrääääääääääääääääääääääääääääääääh!
Ein schrilles Klingeln durchdringt messerscharf meinen Traumnebel. Was zum Kuckuck? Reflexartig springt mein Arm dem vermeintlichen Wecker entgegen – und ich krache nach einer halb geschraubten Längspirouette mit dem Gesicht zuerst auf den Boden.
„Leider nur 10 Punkte für diesen Sprung!“
Oaah, meine Nase! Verwirrt stelle ich fest, meine Nase reibend, dass ich auf einem stinkenden PVC Belag liege. Meine Hand hat den Wecker glatt verfehlt – weil gar kein Wecker da ist!
Kurz spiele ich mit dem Gedanken, auf dem sicherlich nicht zu verachtenden Boden einfach weiterzuschlafen. Leider kann ich mich davon nicht überzeugen.
Wo zum Henker bin ich?
Noch immer schlaftrunken robbe ich in vorsichtiger man-weiß-ja-nie-Haltung einhändig (die andere Hand sucht noch immer nach hervorstehenden Nasenknorpelsplittern) in Richtung eines Lichtscheins, hinter dem ich ein Fenster ahne. Mit eingezogenem Kopf ziehe ich mich am Schreibtisch in eine weniger horizontale Lage. Moment – seit wann habe ich denn einen Schreibtisch am Fenster?
Die Scheibe ist beschlagen. Ich wische mit meine Arm darüber (Oaah, kalt!) und werde buchstäblich erschlagen von einer nächtlichen Lichterflut.
Vor meinem Fenster erstreckt sich ein wahres Bilderbuch-Großstadtpanorama mit Hochhäusern und riesigen Reklamepostern. Was zum…? Ich kneife fest die Augen zusammen, atme einmal tief durch – nichts… also…alles! Die großstädtische von-wegen-leichte-Schläge-auf-den-Hinterkopf-erhöhen-das-Denkvermögen Halluzination meines überforderten Gehirns strahlt mir noch immer entgegen. Plötzlich aber regt sich irgendwo in mir etwas. Das Hochausleuchten scheint sich zu verformen und in riesigen Buchstaben einen Schriftzug zu bilden: „Toronto“.
Natürlich! Himmel noch mal, wie kann man eigentlich so doof sein? Ich bin in Kanada; im wilden, unzivilisierten Norden. Naja…fast. Eigentlich ist Toronto so ziemlich auf dem gleichen Breitengrad wie Norddeutschland, und sicherlich besser ausgestattet infrastrukturtechnisch. Unfassbar, jetzt bin ich seit einer Woche hier und begreife es noch immer nicht richtig.
Plötzlich aber werden meine Gedanken abrupt durch ein frenetisches Hämmern an der Zimmertür unterbrochen.
„Tinkaaaaaaa!“ brüllt eine panische Stimme von draußen.
Plötzlich ist auch der ringende Heullärm wieder da.
„Dräääääääääääääääääääääääääh!“
Wie habe ich denn den so lange ausgeblendet gerade? Verdammt, nie merke ich mir die wirklich wichtigen Sachen. Das ist ja nicht zum Aushalten!
Während ich mit einer Hand versuche mir beide Ohren gleichzeitig zuzuhalten (das funktioniert übrigens richtig gut, nämlich gar nicht!), schließe ich mit der anderen die Tür auf.
Vor mir steht, in Schlafanzug und mit gehetztem Blick, Gobi, eine meiner beiden Heimatuni-flüchtigen Mitstudentinnen.
„Tinka, nun komm schon!“
„Hä, was? Wohin? Wieso? Was ist denn überhaupt los?“ frage ich den spärlich beleuchteten Flur, denn Gobi hämmert derweilen bereits mit beiden Fäusten and Marias Tür.
Ihre blonden Locken stehen wirr von ihrem leicht geröteten Kopf ab und hüpfen wild hin und her.
„Moment.“ muffelt es leicht genervt aus Marias Zimmer.
Unfassbar, die hat tatsächlich durch diesen ganzen Lärm hindurchgeschlafen. Beneidenswert. Ich muss sie dringend mal nach ihrer Ohropaxmarke fragen.
„Spinnt ihr eigentlich? Es ist mitten in der Nacht!“
Maria steckt den total zerzausten Kopf durch einen Türspalt der eindeutigen Größe „wagt es ja nicht hier reinzukommen“.
Jetzt verliert Gobi völlig die Beherrschung.
„Seid ihr bescheuert? Das ist der Feueralarm! Wir müssen raus hier.“
Entgeistert gucke ich meine Mitbewohnerin an.
„Hä?“
Zugegeben, ich habe schon geistreicher kommentiert.
„DER FEUERALARM!“ brüllt Gobi mich an, die sich keine Spur für meine Muttersprachenschändung interessiert. „Wir müssen sofort raus hier!“
Na gut, Feueralarm macht wenigstens Sinn. Für einen Wecker wäre das Plärren doch tatsächlich ein wenig zu aufdringlich, zumal es aus dem riesigen Lautsprecher auf dem Wohnungsflur kommt. So erklärt sich auch endlich dessen mysteriöser Verwendungszweck. Wir hatten schon alles von neuartigen Überwachungstaktiken zu gehirnwaschenden Ultraschallwellen vermutet, uns aber nie darum gekümmert. So macht man das in Kanada; einfach mal abwarten, das klärt sich schon irgendwann von selber: Belagerungsmentalität.
„Moment mal! Heißt das, es brennt!? Oh Shit!“
Gobi schaut mich an als hätten die Gehirnwaschwellen nun doch ihre ersten Erfolge erzielt. Sie beschließt mich meinem Schicksal zu überlassen und zerrt Maria auf den Flur um sie Richtung Tür zu schieben.
Fast will ich den Beiden hinterherlaufen, entscheide mich dann aber doch dafür mir erstmal eine Hose anzuziehen. Immerhin sind wir hier im 18ten Stock, das dauert sicher seine Weile bis so ein Feuer hier hoch kommt! In vollendeter Kanadischer Ruhe suche ich auch gleich noch meinen Pass und mein Portemonnaie. Ich habe schließlich keine Lust hier zur Botschaft zu rennen und mir neue Reisedokumente besorgen zu müssen.
Schließlich habe ich alles beisammen, klemme meinen Teddy sicher unter den Arm und trabe den Mädels hinterher.
Meinen Teddy? Ja, natürlich. Den kann ich doch nicht einfach verbrennen lassen! Nur über meine Leiche. Das wäre ja noch schöner.
Ich springe die ersten drei Treppen hinunter, bis ich Gobi und Maria eingeholt habe.
„Wartet doch mal!“
Maria ist eindeutig sauer darüber, dass sie jetzt auch noch 18 Stockwerke zu Fuß laufen muss, mitten in der Nacht, und tritt deswegen bei jedem sehr langsamen Schritt besonders fest auf. Das wiederum bringt Gobi fast um den Verstand. Sie kann sich kaum noch zusammenreißen und würde am liebsten bis ins Erdgeschoss das Treppengeländer runterrutschen. Na, das wäre sicherlich sehenswert. Hatte ich erwähnt, dass wir im 18ten Stock wohnen?
In der Zwischenzeit sind auch andere in Frottee gehüllte Stundenten zu uns gestoßen. Gemeinsam folgen wir im hypnotischen Wandelmarsch der monotonen Treppenlinksdrehung. 18 Stockwerke, da treibt einen schon das otto-normale Treppenlaufen zu intensivem Pfeifatmen, dazu aber sind es so weit oben in unserem nicht klimatisierten Hochhaus mindestens 30° C. Von wegen man muss sich warm anziehen in Kanada!
Der Anblick der langen Reihe Flüchtiger aber nagt dann doch ein wenig an meiner neuerworbenen Ahornblatt-Gelassenheit. Feuer. Was passiert, wenn jetzt das Wohnheim abbrennt? Wir kennen hier kaum jemanden! Meine gesamte Habe ist dort oben in einem Koffer. Scheiße. Auf meiner Haut klebt Staub und mein Kopf ist plötzlich ausgefüllt von einem schmerzenden Brummen. Fest drücke ich meinen Bären an mich. Der Alarm vibriert durch das Treppenhaus.
Dann endlich schlägt uns ein Schwall kühlerer Luft entgegen. Wir treten ins Freie. Uff! Draußen stehen unzählige kleine Grüppchen von Behausschuhten. Ein paar wirken besorgt, die Meisten eher genervt. Trotzdem sind es bei Weiten nicht so viele, wie ich erwartet hätte. Wo stecken die bloß alle? Zwei sind offensichtlich gerade nach Hause gekommen und nutzen die Gelegenheit für einen Absacker auf der Straße. Wahnsinn, das ist nun wirklich die Verkörperung der Unbekümmertheit. Belagerungsmentalität, immer frei nach dem Motto: mach dir bloß nicht zu viele Sorgen. Wir können eh nichts daran ändern, also machen wir das Beste daraus.
Die gleiche Philosophie allerdings, scheint auch die angerückte Feuerwehr zu vertreten. Ihr Einsatzwagen parkt vor dem Eingang. Ja, genau … er parkt. Das Blaulicht ist aus, die Sirenen geben keinen Pieps von sich. Ich sehe weder Schläuche noch Leitern, noch Feuerwehrmänner. Wollen die uns hier abfackeln lassen oder was?
Dann kann aber ich doch einen der tapferen Männer erspähen. Mein Unterkiefer klappt unkontrolliert nach Unten und kommt nur knapp vor dem warmen Asphalt zum Halten: der gute Mann posiert gerade vor dem blankgeputzten Kühlergrill seines Gefährts für ein Foto, links und recht je eine japanische Studentin. Eine dritte schießt ein Foto nach dem anderen. Das ist ja wohl ein schlechter Scherz! Gobi steht kur vor einem Nervenzusammenbruch.
Maria kümmert das Ganze eher weniger, denn sie hat gerade festgestellt dass sie barfuß auf der dreckigen Hauptstraßen einer 4-Millionen-Metropole steht. Entsetzt versucht sie zurück ins Gebäude zu sprinten, wird aber von den starken Armen eines lachenden Feuerwehrmannes aufgehalten.
„Immer mit der Ruhe, Lady. Nur weil das mal wieder ein Fehlalarm war, dürfen wir euch nicht so einfach wieder rein lassen. Wir müssen erst ganz sicher sein. Die Fahrstühle funktionieren eh noch nicht wieder.“
Mit mindestens Frisbeescheiben-großen Augen schauen wir den uniformierten Scherzkeks an. Das war es nämlich ganz sicher, ein Scherz. Fehlalarm?!
Er aber scheint es wirklich ernst zu meinen.
Ich bin die erste, die sich ein leises Prusten nicht verkneifen kann.
„Wie lange dauert es denn bis wir wieder rein können?“ frage ich kichernd.
„Naja, so 10 Minuten schon noch.“ lautet die freundliche Antwort.
Na, das ist ja fast noch zu ertragen.
„Die Fahrstühle sind aber erst so in einer halben Stunde wieder da.“
Innerlich breche ich sehr theatralisch zusammen. Eine halbe Stunde? Wenigstens habe ich meine Hose an.
Ich seufze, setze mich auf die Eingangstreppe und blicke unsere Straße hinunter. Die gesamte Umgebung wirkt ruhig und friedlich. Vereinzelt wehen noch die Düfte der vielen verschiedenen Viertel dieser Multikulti-Stadt zu mir hinüber; die scharfe Salami des benachbarten Polnischen Bezirks und die Kohltöpfe aus Chinatown. In der Ferne kann ich die Kreuzung mit der Yonge Street erkennen, in deren Umgebung sich Bratt Pitt und George Clooney gerne zum Shoppen treffen. Na hoffentlich nicht heute, dann wären mir mein Winnie Pooh T-Shirt doch peinlich.
Weiter Richtung Süden strahlen die Lichter des CN-Towers. Was für eine wunderschöne Nacht. Ich fühle mich gleichzeitig ganz klein und riesengroß, voller Entdeckungsdrang.
Warum nicht das Beste daraus machen?
Gobi starrt mich an als hätte ich Tollwutschaum vor dem Mund.
„Du willst WAS? Wir sind gerade dem sicheren Tod von der Klinge gesprungen und du willst einkaufen gehen?“
„Na so hätten wir immerhin Morgen früh was zum Frühstücken.“ entgegne ich fast ein wenig beleidigt.
Gobi beschließt daraufhin mich fortan einfach zu ignorieren, und hält Maria mit einem eisernen wage-es-ja-nicht-mit-dieser-Irren-mitzugehen-Blick am Arm fest. Würde Maria eh nicht macht, so ohne Schuhe. Ich zucke mit den Schulten und ziehe alleine mit meinem Teddy los in Richtung Supermarkt. Meine Biolatschen schlappen rhythmisch durch die Nacht.
Belagerungsmentalität - ich glaube, das liegt mir.
Einige Minuten später betrete ich von begeisterter 24-Stunden-Öffnungzeiten-Euphorie beschwingten Schrittes den Supermarkt – und erstarre. Vor meinen Augen erstreckt sich gähnende Leere. Im Obstregal halten sich tapfer einige Einzelkämpfer-Bananen, flankiert von den letzten überlebenden Tomaten der Gemüseabteilung. Das Brot wurde bereits komplett zu Staub zermahlen und im Milchwarenbereich erblicke ich einen einzigen Eimer Joghurt. So übersteht man aber keine Belagerung!
Kurz will sich mein gut trainiertes deutsches Mecker-Gen melden, doch ich spüle es entschlossen mit süßem Ahornsirup hinfort. So ein unbedeutender Nahrungsmittelnotstand würde keinen echten Kanadiern auch nur ansatzweise aus der Ruhe bringen, das wäre ja noch schöner. Früher hatte man schließlich auch keine Supermärkte. Ich schreite also pfeifend durch die leeren Reihen und greife mir die verschmähten Früchte, den Joghurt und eine vereinsamte Flasche Mineralwasser, die ich in einer Ecke entdecke. Ein wahres morgendliches Festmahl, die anderen werden Augen machen!
Leider sieht Gobi das alles geringfügig anders.
„Du kannst doch nicht einfach mit dem Schlüssel abhauen und uns hier stehen lassen!“ fährt sie mich bei meiner Rückkehr an.
Himmel! Sie hat sich gerade sehr erfolgreich bei mir für einen Späherposten in feindlichem Gebiet beworben, sollte das Land tatsächlich jemals unter Beschuss stehen. Ich ziehe es allerdings vor, nur weiterhin fröhlich vor mich hin zu pfeifen und die Eingangstür aufzuschließen.
Maria ist inzwischen in eine Art Wachschlaf gefallen und trottet Gobi wortlos hinterher. Ich grinse, als ich mir vorstelle, dass sie gleich im Fahrstuhl anfinge zu schnarchen.
Mein Teddy, der Joghurt, die Bananen, das Wasser und ich folgen den beiden Mädels gut gelaunt in den Aufzug.
Zurück in unserer Wohnung treffen wir auf Kathy, unsere Kanadische Mitbewohnerin. Huppsala, die hatten wir ja völlig vergessen. Sie lehnt jedoch, ganz die gelassene Nordländerin, lässig am Küchenschrank und isst Tofuwürfel aus einer Tupperdose.
„Ihr seid doch nicht echt nach unten gelaufen wegen des Alarms?!“ sie grinst uns an. „Man seid ihr süß. Das passiert hier ständig. Gewöhnt euch lieber schnell daran.“
Gobi blickt die Kanadierin entsetzt an. Ich breche in Lachen aus.
„Das heißt, du bist gar nicht erst aufgestanden?“
„Ach quatsch, das mache ich schon lange nicht mehr!“
Ich hab’s ja gleich gewusst, einfach nicht so viele Sorgen machen!
„Und wenn es wirklich mal brennt?“
„Ach, das merke ich schon irgendwie.“
Belagerungsmentalität - ich glaube, das liegt mir.
Texte: Foto von Jan Hendrik Hahn, 2008
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
To T. in O. "The True North Strong And Free"
To Gobi and Maria, and their real MEs.