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Herr Oman fühlte wie es in ihm brodelte.

„Hallo, Welt!“ rief jede seiner Fasern.

Endlich, endlich sah er wieder Licht, endlich strich wieder ein sanfter Luftzug über seinen Rücken, nachdem er so lange in jenem dunklen Verlies eingesperrt gewesen war.

Nunja, das verspielte Kitzeln der Luft zwar, war tatsächlich nicht abzustreiten, der wahre Lichtblick aber wurde ihm noch immer verwehrt. Eingereiht mit unzähligen Leidensgenossen war er eingepfercht in diesem neuen Haus, ohne Freiraum, dicht gedrängt Seite an Seite. Selbst ihre bescheidenen Versuche der Kommunikation erstickten stets in einigen gemuffelten Silben. Keiner von ihnen konnte sich in dieser Enge wirklich entfalten.

Diese Banausen aber, die dort aufgebahrt, ja aufgethront waren. Arrrr, wie er sie hasste. Einen flüchtigen Blick nur hatte er auf sie werfen können, bei seinem Einzug. Dieser kurze Moment aber war genug um eine Woge aus Abscheu in Herrn Oman aufzuwerfen. Luftikusse, die sich auf nichtssagende Redewendungen und Bauernweisheiten stützen, das waren sie. Oft genug bedienten sie sich abscheulicher Sprache, schlimmer noch, feierten selbst ihre eigene Meisterlichkeit, ohne je etwas vollbracht zu haben. Aber nein, das sah keiner außer Herrn Oman. Alle anderen hielten diese Heuchler für die wahren Helden, die großartigsten Schöpfungen des Hauses, ja, des Landes, vielleicht sogar der Welt. Von allen Seiten wurden ihnen nur Bewunderung entgegengebracht, ungeteilte Aufmerksamkeit, unfassbar! Dabei war er das wahre Meisterwerk; großartige Schöpfung genialer Geister.

Vielleicht war er verwirrt, vielleicht naiv, aber Herrn Oman war entschlossen: er musste etwas unternehmen.

*



„Robin! Verdammt noch mal, ich habe dir extra gesagt, dass du die Regale ordentlich einräumen solltest!“

Ein blasses Mädchen kam um die Ecke gestolpert. Erschrocken sah sie, wie ihre Chefin mit rotem Kopf und rauchenden Ohren vor dem Literaturregal stand und ein Buch in der Hand hielt. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

„Der Kurzgeschichtenband ist rausgefallen. Hier! Zwei dicke Eselsohren. Wer kauft den denn in diesem Zustand?“

„Ich bin mir sicher, dass ich ihn gestern ordentlich einsortiert habe, Chefin.“ stotterte Robin.

Die Chefin wollte gerade zu einer lauten Schimpftirade ansetzen, da kamen zwei Kunden in den Laden und die gesammelte Luft entwich ihr in einem Seufzer:

„Ach Robin.“ murmelte sie. „Hier, nimm den hier mit und geh für heute nach Hause. Ich kann im Moment mit keinem von euch etwas anfangen.“

Robin starrte fassungslos auf das Buch in ihrer Hand, dann der Chefin hinterher.

„Eigentlich sollte mich das freuen.“ dachte sie mit hängenden Schultern.

Genervt ließ Robin wenig später ihre Wohnungstür Tür ins Schloss fallen. Sie war durchnässt bis auf die Knochen und fror wie ein geschorener Eisbär. Mit klammen Fingern zerrte sie sich Jacke und Schuhe vom Körper und tapste ins Wohnzimmer. Das unsägliche Buch landete mit einem lauten Knall in einer Ecke neben der Heizung. Aus seinen Seiten quoll der außenweltliche Regen, doch Robin kümmerte das nicht. Sie ließ sich in ihren Sessel fallen und schloss die Augen. Was für ein Tag!

*



Herr Oman erwachte stöhnend. Sein ganzer Leib schmerzte. Er fühlte sich verquollen und knittrig. Vorsichtig öffnete er seine Augen, doch dunkle Flecke tanzten wie verschwommene Buchstaben und er vermochte nichts zu erkennen. Was war geschehen?

Schließlich dann klärte sich seine Sicht und Herr Oman konnte mit Mühe einen Dielenboden und in einiger Entfernung etwas Schwarzes ausmachen, was, so glaubte er, Teppich genannt wurde. Wo befand er sich bloß?

Verwirrt horchte Herr Oman in sich hinein, und fand aufatmend die gleiche brodelnde Energie seiner letzten Erinnerung, wenn auch tief im Verborgenen ummantelt. Noch immer taten sich unzählige Möglichkeiten in den Tiefen seiner Seele auf, verhießen Reisen in die magischen Gedankenwelten ausharrender Nordmänner. Es stand also nicht allzu schlimm um ihn. Seine Seite schmerzte fürchterlich, seine Haut fühlte sich wellig und porös an, doch sein Innerstes war unversehrt – welch Erleichterung.

Herr Oman besann sich auf seinen letzten bewussten Augenblick zurück. Er war im Inbegriff die Unterdrückung der Oligarchie umzustürzen – und dann? Schwärze. Hatten sie ihn aufgespürt und gefoltert? War er gescheitert? War einer von ihnen hier? Langsam drehte sich Herr Oman um die eigene Achse. Nichts.

Erleichtert konzentrierte er seine Geisteskraft auf eine genaue Situationsanalyse. Er konnte augenblicklich weder erfahren, wo er war, noch wie er an diesen Ort gekommen war. Dies hieß jedoch nicht, dass er in unmittelbarer Gefahr schwebte. Vielleicht verhieß dieser Verlauf eine Verbesserung seiner allgemeinen Situation. Es schien am sinnigsten, einige Momente auszuharren und zu beobachten.

Das Licht in dem warmen Raum änderte sich mehrmals, wurde zweimal in gänzliche Schwärze getaucht, bevor Herr Oman einen Entschluss fasste. Mehrmals war Jemand erschienen, von dem er sich Erklärungen erhofft hatte, doch Herr Oman wurde mir vernichtender Nichtachtung gestraft - empörend! Er mühte sich, sandte all seine Energie aus, ohne Erfolg. War er nicht eigentlicher König seiner Art, größtes Geschenk, geballtes Feuerwerk schöpferischer Größe? Wie konnte dieser ignorante, nichtsnutzige Seitenumblätterer ihn so demütigen, missachten, ja erniedrigen!

Jetzt jedoch war Herrn Omans Haut erneut gestrafft, die Schmerzen nur noch eine erschütternde Erinnerung. Er war bereit.

Oh Söhne fahnenschwingender Franzosen, ich kämpfte, ich fiel, doch ich bin nicht besiegt. Gebt Acht Loyalisten der Unterdrückung!

Und dann, unter Aufbietung seiner tiefsten Kraftreserven, überwand Herr R. Oman die unüberwindbar scheinende Distanz zu dem Ort, an der er Gewissheit finden würde.

*



„Mach hinne, Sisterchen. Ich hab’ nicht ewig Zeit.“

Robin antwortete mit einem genervten Brummen aus dem Badezimmer. Lernte sie denn gar nichts dazu? Jedes Mal nahm sie sich bergkettenfest vor ihren Bruder nie wieder mitzunehmen. Nur wegen ihm sollte sie auf einmal mit dem Auto zur Arbeit fahren? Dazu legte er immer wieder aufs Neue eine dermaßen ätzende Art an den Tag, dass sie schon vor den Predigten ihrer Chefin absolut unterirdische Laune hatte. Robin schrie vor dem Spiegelbild in ihr Handtuch.

Matthias blätterte gelangweilt durch eine Zeitschrift auf Robins Wohnzimmertisch. Immer das Gleiche mit diesen blöden Weibern, die ewig brauchten um morgens aus dem Bad zu kommen.

Plötzlich aber zuckte ein schmerzhafter Blitz durch Matthias’ Kopf. Sein Blick verschwamm und das Rauschen von Robins Föhn verstummte. Matthias schluckte, sein Herz schlug schneller. Er versuchte aufzustehen. Seine Beine waren wie Gummi. Dann erkannte er etwas. Seine Augen fokussierten ein Buch, das auf einmal auf dem Tisch lag. Wie in Trance streckte sich Matthias’ Arm dem unscheinbaren okkafarbenen Band entgegen.

„Was ist mit dir denn los?“

Robin war in die Tür getreten.

Schlagartig sah Matthias wieder klar. Er schüttelte kurz den Kopf.

„Na endlich, chica! Steh halt mal ’ne Stunde früher auf. Das geht ja mal gar nicht klar hier.“

Robin verdrehte die Augen, drehte sich um, und schlug die Haustür hinter sich zu.

„Komm mal klar!“ brüllte Matthias sie an, als er ihr hinterher stürmte.

Das Buch in seiner Tasche hatte er vergessen.


*



Herr Omans Inneres war in Aufruhr. In ihm tobte ein emotionaler Wirbelsturm.

Begeistert jubelte er über seine Leistung. Er hatte es vollbracht, wundervoll, großartig! Er hatte immer gewusst, wie viel Potential sich in der Vielschichtigkeit seiner verschiedenen Seiten verbarg.

Entsetzt jedoch erkannte er, welch Randbekritzeler Schwamm seiner Energie geworden war. Das durfte nicht sein! Götter der Revolution, Schutzheilige des Geistes, errettet mich. Zentnerschwer fühlte er die gedruckte Last auf seiner feinen Haut. Eingeschnürt in Pappe spürte er, wie sich der Kleber seine Seele löste und zu zerfallen drohte.

Dann gab sich Herr Oman der Schwärze seiner Umgebung hin, erneut blinder Reisender, der Ungewissheit entgegen.


*



„Mann Matze, was geht’n bei dir ab? Kanadische Kurzgeschichten? Heißte jetzt Einstein oder was?“

„Boah Alter, laber nicht. Einstein war ’n Geologe oder so was. Weiß auch nicht wo das dumme Buch herkommt. Wetten, dass das von meiner dämlichen Sis ist?“

„Na vercheck’s halt bei ebay oder amazon.“

*



Herr Oman war außer sich. Ihm, einem noblen, beherrschten, weisen Charakter, rollte sich die Haut unter schwärzendem, beißendem, qualmendem Ärger. Unerhört! So etwas war ihm noch nicht zu Ohren gekommen. Nie hätte er sich solch bodenlose Frechheit nur vorzustellen gewagt. Gesprochene Worte, sonst rauschten sie wie gut geübte Schreibmaschinenanschläge an ihm vorbei. Dieses Mal aber, wurde sein Sein gefangen genommen von diesen Ausdrücken abgrundtiefer Verachtung. Welch Lautspiel unglaublicher Verpönung! „Dumm?“ Herrn Oman waren viele Verwünschungen bekannt, die seiner Art gegenüber geäußert wurden: trocken, langweilig, elitär, dröge, aber „dumm“!? Bei was für einer Ausgeburt von Bücherverbrennern war er nun bloß gestrandet?

Mit diesem Gedanken dann, wurde Herr Oman plötzlich von eisiger, wogenglättender Kälte erfasst. Sein rasender Zorn schlug in wortloses Entsetzen um. Bedeutete dies nun das Ende? Sollte das aller Einfluss gewesen sein, den er in seinem Leben ausüben durfte? Das konnte nicht sein, durfte nicht sein. Er, geschundener Denker, vernachlässigter, gepeinigter Poet, am Abgrund in die Schwärze ohne je den liebkosenden Strich blätternder Daumen erfahren zu haben? Verglühen, ohne nur einmal das sanfte Kitzeln anstreichender Schreibwerkzeuge spüren zu können?

Herr Oman fiel ins Bodenlose und um ihn herum wurde es dunkel.


*



Alex kletterte atemlos die Treppen zu seinem Zimmer hinauf. Nicht, dass er sich über ein wenig Bewegung beklagen würde, aber das hier war einfach zuviel. Seit Wochen nun schon war der Aufzug kaputt, aber an diese Kletterpartie hatte er sich noch immer nicht gewöhnt. Warum noch gleich wollte er im 18ten Stock wohnen?

Der Riemen seiner Umhängetasche war kurz davor von Alex’ Schulter zu rutschen, der Reißverschluss seiner offenen Jacke schlug mit jedem Schritt metallisch gegen das Geländer, Grundrhythmus zu Alex’ stillen Verwünschungen.

Nur noch eine Biegung, dann hatte er es geschafft. Erleichtert lehnte er sich mit dem Kopf gegen die kühle Haustür und wartete darauf, dass er wieder regelmäßig Luft holen konnte. Endlich dann strich er sich die Haare aus dem Gesicht und wollte gerade über die Schwelle in Richtung seiner 18 Stockwerke lang ersehnten Dusche schreiten, als sein Fuß unerwartet gegen ein Paket stieß. Kurz verwundert blickend, leuchteten Alex’ Augen auf sobald er den Absender auf der braunen Pappe las.

„Endlich!“ rief er enthusiastisch und hatte sofort alle vorangegangenen Strapazen vergessen.

Vorsichtig Tasche und Paket balancierend ging Alex in sein Zimmer, stellte seine Fracht behutsam ab und warf seine Jacke gekonnt an die Garderobe. Erwartungsvoll riss er das Klebeband von seinem Paket und nahm ein schäbiges, okkafarbenes Taschenbuch heraus. Sofort flutete die Enttäuschung durch seine ganze Haltung.

„Wie neu?“ brummte er wütend. „Das hab’ ich mir aber anders vorgestellt.“

Ärgerlich wollte er das verknickte und befleckte Buch beiseite legen, da zögerte er. Plötzlich fühlte er sich magisch angezogen von dem heruntergekommen Papier. Seine Hand schien wie von selbst eine Seite aufzuschlagen, gebannt fanden seine Augen eine Stelle und begannen zu lesen. Ohne in die Wirklichkeit zurückzukehren sank Alex tief versunken auf seinen Schreibtischstuhl, während sein Daumen eine neue Seite aufblätterte.
Irgendwann ging vor dem Fenster der Mond auf.

*



Zögerlich nur glitt Herr Oman aus der allumfassenden Schwärze. In seinem Kopf hallte noch das Pochen einer langen Reise nach. Auf seiner Seele lastete die Erdrückung eines engen Gefängnisses. Erneut war ihm die Welt verschlossen gewesen, das Licht genommen, doch im sanften Taumel seiner Ohnmacht hatte er diese Qualen durch das tröstliche Dämpfen weißer Watte wahrgenommen.

Am Rande seines Bewusstseins erreichte ihn schließlich ein schwacher Schein, ein kleines Licht in seiner Finsternis, das ihn zurückbefahl in die Welt außerhalb seiner gebeutelten Haut. Diesem Licht folgend also, verließ Herr Oman den Schutz seines Inneren und sandte seinen Geist aus, ein wenig hoffnungsfroh gar, endlich seinem Elend entkommen zu sein.

Diese sanften Energieschwingungen dann, trafen sofort auf einen pulsierenden Lebensquell. Euphorie überschwemmte Herrn Oman. Endlich, endlich! Gesegnet seiest du Schicksal, dass du auch mir schlussendlich wohlgestimmt warst. Die Welten seiner Seele gerieten in Aufruhr, ihre Bewohner jauchzten und fielen sich in die Arme. Sein Körper, seine Haut, alles glänzte in neuem, glatten Schein.

Und dann war es Herrn Oman, als hätten sich die Himmel geöffnet und ihn mit all ihren Schätzen übergossen. Über seine Seiten fuhr die raue Haut einer Fingerkuppe, ein leichter Wind durchwehte seinen Geist, entfacht vom Blättern eines erfahrenen Daumens. Ahhh, plötzlich spürte er das sanfte Kribbeln brennender Augen, das Streifen forschender, grübelnder Gedanken. Er vernahm, wie seine Worte immer und immer wieder geformt wurden, bis sie eins wurden mit dieser anderen Energie. Jede Silbe wurde gehuldigt, verinnerlicht, wiedergeboren in neuen, träumerischen Sätzen.

Und dann, dann wurde alles erfüllt vom wohligen, unvergleichlichen Kribbeln eines leuchtenden Stiftes.


Impressum

Texte: Bookrix Schreibspiel III
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die das Träumen noch immer nicht verlernt haben.

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