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Tinka

Hallo. Ich bin Dennis. Bis vor kurzen lebte ich in einer –hm- sagen wir multikulturellen Wohngemeinschaft. Wir waren ein lustiger Haufen, alle zusammengewürfelt in einer großen Halle, Loft heißt das heutzutage sagte man mir. Da waren die die etwas bequemeren gut Gepolsterten; die dünnen Klappgestelle, die aussahen wie Holzgerippe; die Wankelmütigen, immer zwischen zwei Möglichkeiten hin- und herschwankend; und da gab es jene wie mich: die modernen Gutaussehenden, die durch das kleine bisschen extra Design aus der Menge hervorstachen. Manche mögen es metrosexuell nennen.

So kam es dann auch, dass ich einer der Ersten war, der ausgewählt wurde unser buntes Heim zu verlassen und auf eine Privatmission geschickt wurde. Mein Einsatzort ist ein weißes Haus in einer sehr schönen, ruhigen Gegend. Die meisten Grundstücke hier sind von einem kleinen Garten umgeben. An der Straße stehen alte Eichen, ein paar Birken. Mein Haus passt wunderbar zu mir; eine perfekte Einrichtung, weiße Möbel und Teppiche, vereinzelt einige genau platzierte Gemälde in grellen Farben. Sie bilden einen einzigartigen Kontrast, der keinen Raum lässt für Kiefernholz oder Ikea-Plastik.

„Besser hättest du es nicht treffen können.“ dachte ich mir, als ich in dieses Schmuckstück einzog. Naiv, würde ich das heute nennen. Was wirklich zählt nämlich, so weiß ich inzwischen, sind nicht die Bedingungen oder die Umgebung, nein, es ist der Arbeitgeber.

Mein Arbeitgeber ist, gelinde gesagt, übergewichtig. Etwas gröber formuliert: er ist eine platzende Made, die sich faul durch den verrottenden Apfel ihres Wohlstandes frisst – Ekel erregend. Das Schlimmste von allem dabei aber, ist sein Gewicht. Wie kann ein einzelner Mensch soviel wiegen? Allein beim Gedanken daran krampft sich in mir alles zusammen; solche Schmerzen.

Oh nein! Hören Sie dieses Schnaufen? Da kommt er schon.


Fabiana

Dieses ekelerregende Rasseln, wenn sich sein Atem in die Lungen kämpft um hastig wieder zu entweichen? Ja, Sie hören.

Und Sie WISSEN. Wissen um meinen Ekel ... vor ihm und vor mir selbst. Nun ist er hier, kommt auf mich zu, nein ... wälzt sich in meine Richtung. Verschwimmend seine Konturen, als will die Hülle nicht mehr halten, was in ihr ist. Es scheint, als suche seine Gier den Weg nach draußen ... sehen Sie seine Augen? Oh diese Verdorbenheit. Ich sollte gehen ... fliehen, und stehe wie erstarrt. Was sagen Sie? Stolz und Ehrgefühl? Die muss ich wohl verloren haben, verloren im Büro des Monsters dort, als ich versprach, zu kommen. Als ich, in Hinsicht auf den Lohn, gelächelt habe und ... sehen Sie ihn an, diese Lüsternheit im Blick, die sah ich gestern schon, und dennoch bin ich hier.


Jacob

Es war mir sofort klar. Der alte Bock war auf meine Sellerie scharf. Also bin ich - zumm zumm zumm - um ihn herum, und - tirili tirilür - ab durch die Tür.

Es war ein hochschwangerer Sommermontagnachmittag. Die Wolken hingen da oben dick und rund, als ob sich bald ihr Inneres über mich ausschütten würde. Ich nahm meinen Lieblingsschnuller in den Mund und machte mich auf in die U-Bahn, wo es eigentlich nicht regnen sollte. In meinen Gedanken war ich noch bei meinem Arbeitgeber. Warum dieser lüsterne Blick? Ich war nicht hässlich. Jedenfalls mit einem wirklich hässlich Menschen verglichen, war ich nicht hässlich. Aber nach meiner zehnten Unterkieferoperation war ich auch nicht wirklich schön. Wie sollte ich auch, wenn ich ohne Kinn geboren werde.

Meine Mutter, die holde Ivonne, die jeder in unserer Straße liebte - auch des Nachts - hatte mir immer gesagt, dass ich das fehlende Kinn nicht von meinem Vater geerbt hätte. Gemäß ihrer Aussage hätte ich nur ein fehlendes Rückgrat von ihm erben können. Also entgegnete ich ihr, dass ich dann das fehlende Kinn von ihr geerbt haben müsste. Sie schaute aus dem Fenster und sagte mir, dass es in der Nachbarstraße den kinnlosen Georg geben würde. Der wäre zwar im Gesicht nicht vorteilhaft ausgestattet, hätte aber doch noch weitere Vorzüge gehabt.

Dies war der Tag, an dem ich mehr über meine Mutter Ivonne erfahren sollte. Und über mich natürlich. Da ich auch nur ein Ohr hatte und sechs Finger an jeder Hand, konnte ich nun auch der Sohn vom tauben Heinrich und vom Klavierspieler Philip sein. Mit einem Hauch von Sentimentalität in ihrer Stimme gedachte sie an jenen Abend zu viert nach dem Konzert.

Dennis, das genetische Frankenstein, war aber immer noch attraktiv genug für seinen Arbeitgeber. Oder jedenfalls nahm ich dies an. Ich verließ die U-Bahn und ging hinauf, wo der strömende Regen bereits auf mich wartete. - Ich nuckelte andächtig und ging klitsche-klatsche nass, aber wie frischgeboren, nach Haus.


Chili

Ein steifer Wind blies mir entgegen und ließ meine Kleidung trocknen.
Nach den ersten 500 Metern drehte ich mich also um und lief rückwärts, damit auch die Rückseite sich nicht mehr anfühlte wie ein verrutschter Wadenwickel. Einige Beulen und Laternenpfähle später knallte ich endlich an den Erker vor unserem Wohnzimmer.
Mutter empfing mich mit den schönsten Worten der Welt: "Das Essen ist fertig".
Noch leicht feucht hinter den Schulterblättern, setzte ich mich dankbar an den Tisch und wurde sofort desillusioniert.
"Ich hab dir das schönste Stück gedämpften Schellfisch aufgehoben. WIE SIEHST DU ÜBERHAUPT AUS?"
Den Rest der Rede erspare ich uns allen.
Kann man von einer Mutter nicht etwas Verständnis erwarten? Den ganzen Tag arbeite ich mit diesen Monstern zusammen, da möchte man daheim ein wenig Gemütlichkeit, ein wenig Wärme - aber nein, selbst der Schellfisch war kalt und zerfallen.
Irgendwann in naher Zukunft werde ich zu drastischen Maßnahmen greifen müssen.
Jawohl, das werde ich.
Als erstes verlange ich ein eigenes Bett. Sie schnarcht. Und sie strampelt. Es wird mir schwer fallen, aber es muss sein.
Dann kann sie mich auch nicht mehr ständig wecken und fragen, was ich grade träume. Ein Mann wird doch wohl noch vor sich hin grinsen dürfen im Schlaf! Vom Arbeitgeber zum Beispiel - ach ja.
OhWonne.
Nicht Ivonne.
Er findet mich attraktiv . . . Wie das wohl gemeint war?
Im Traum werde ich es ergründen.

Jacob

Der Schellfisch war gut. So gut, dass ich noch am Esstisch auf dem Teller einschlief. Tief und fest träumte ich meine Erinnerungen der letzten Stunden hoch runter. Der Schellfisch blubberte so vor sich hin. Aus seinem Mund hing Sellerie. Was ist nur die Bedeutung von dem blöden Sellerie? - Meine Mutter. Meine Väter. Mein Arbeitgeber. Warum fühlte ich nur diese besondere Beziehung zu meinem Arbeitgeber?

Der Sellerie.

Jetzt hatte ich es. Zumindest im Traum hatte ich es. Der Sellerie war ein Grundinstinkt. Er stand für die niedrigste Stufe der Maslowschen Pyramide. Er stand für Essen. Für Schlafen. Und für Sex. Der Sellerie bedeutete in meinem Traum gleichsam Überlebenstrieb und Fortpflanzungstrieb in mir. Aber ich wollte doch gar nichts von meinem Arbeitgeber. Er war es doch, der mir hinterherstieg.

Ich drehte mein Gesicht auf meinem Teller um. Die Gabel stach mir in den linken Nasenflügel.

Der Arbeitgeber. Meine Mutter. Meine Väter. - Bingo. Der Arbeitgeber war einer meiner Väter. Er war bei meiner Zeugung dabeigewesen. Jetzt musste ich nur noch erfahren, was ich von ihm geerbt hatte. Schlechtestenfalls seinen Mundgeruch. Bestenfalls seine Firma.

Ich hörte mich scharchen. Dann wachte ich auf, sah in das verwunderte Gesicht meiner Mutter Ivonne und zog mir die Karotte aus dem Ohr. - Es war Zeit, zurück in die Firma zu fahren und alles zu klären.

Fabiana

Am Tor der Firma angekommen, blieb ich kurz stehen
Verdammt. Ich konnte es nicht fassen. Vor kurzem hatte ich einen ganz normalen Arbeitgeber, dann glaubte ich, einem perversen Lustmolch zum Opfer fallen zu müssen und nun hatte ich einen Arbeitgeber, der doch kein Perverser war, dafür aber mein neuer Vater ... na ja und eine Möhre, die mir die wilde Ivonne als Nervenstärkung mit auf den Weg gegeben hatte.
Tiefes Luftholen, bis Drei zählen und ab durch die Tür.
Kaum drin, brüllte jemand, "Dennis zum Chef, aber SOFORT!"
Na Klasse, ich hatte noch nicht mal Zeit, mir ein Paar Worte zurechtzulegen. Ein plötzlicher Druck in der Blasengegend zwang mich, einen Umweg über die Herrentoilette zu machen. Nachdem ich den Druck abgelassen hatte, warf ich einen Blick in den Spiegel. Nee, also wirklich nicht. Fettwanst-Gene konnte mir nun wirklich keiner unterjubeln ... obwohl, wenn man reich ist, dann wachsen die ja vielleicht in dem Maß nach, wie das Konto anschwillt. Hmm ... gegen Mundgeruch gabs Fisherman's, gegen Schwabbelbäuche Fitnessgeräte und gegen Reichtum ... am besten NICHTS!
Ich fühlte mich besser und gleich darauf stand ich vor der Tür meines Chefs, ... äh Vaters, mit dem Vorsatz bewaffnet, mit dem Fleischklops todesmutig Klartext zu reden.

Heffalump

„Hör mal zu, du Sack“, würde ich sagen – oder war „Sack“ in dem Fall zu anzüglich?
Vielleicht lieber so: Reingehen, stehenbleiben, Arme ausbreiten und rufen: „Vater! Sieh mich an! Ecce filius, wie der Lateiner sagt! Aber ich verzeihe dir!“

Nee, ging auch nicht, seit wann konnte ich Latein? Also, wie sollte ich’s aufziehen? Ich beschloss, nicht nur ihn, sondern auch mich selbst zu überraschen, und klopfte.

„Ja!“

Man sagt „Ja bitte“ oder „Herein“. Ich würde ihm wohl noch Manieren beibringen müssen, meinem Alten. Lässig öffnete ich die Tür.
(Okay, „lässig“ ist gelogen – ich war bis zum Adernplatzen angespannt.)

Er saß hinter seinem Schreibtisch und fixierte mich über seine Brille hinweg wie ein Waran einen wirbellosen Gliederfüßer. Bevor ich ein Wort herausbrachte, ächzte er mit seiner heiseren, asthmatischen Stimme, die mir jedesmal einen Schauer über den Rücken jagte:
„Damit das klar ist zwischen uns – ich bin zeugungsunfähig.“

In mir brach eine Welt zusammen!

Chili

Lügen, nichts als Lügen!
Und wieder wurde ich zurückgestoßen in die grausame Welt der Unsicherheit.
Wer war denn nun mein Vater?
War Mutter meine Mutter?
War ich überhaupt ein Sohn?
Ich zog mein Strumpfhosen gerade und dachte nach. Hätte ich doch nur ein Stück Salami parat, ich würde diesem Treiben ein Ende bereiten, meinem unwürdigen Dasein einen würdigen Abgang verschaffen. Sollte ich mich jetzt auf die Suche nach meinem richtigen Erzeuger machen?
Und dann - mir stockte der Atem - die Erkenntnis, die wie ein Blitz mein armes Gehirn erhellte:
Ich hatte keinen! Keinen menschlichen jedenfalls.
Meine Mutter konnte unmöglich eine solche - das Wort will mir nicht über die Lippen - nein, niemals!
Meine Mutter war die Reinheit selbst, also konnte nur der Eine mein Vater sein.
Logisch, ne?
Im immer noch grellen Lichte dieser Erkenntnis lag mein weiterer Weg klar vor mir: Ich werde in die Welt hinausziehen und den Erdenwürmern Liebe, Vergebung und Schellfisch predigen!

Die Firma erbe ich ja sowieso nicht mehr. Das Asthma zum Glück auch nicht.

Impressum

Texte: Ein großes Danke an Ai Hua für das wundervolle Umschlagbild :)
Tag der Veröffentlichung: 25.01.2009

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