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Herr Shepard schwelgte zufrieden in all diesen wunderbaren Gefühlen: Wellen des Glücks, funkensprühende Hoffnung. Hier und da trübten einzelne dunkle Trauerschatten das Bild, welches seinen Geist ausfüllte, doch diese wurden sogleich von dem glockenhellen Gesang der Chöre hinfortgetragen. Er fühlte sich leicht und unbeschwert, er wusste: so sollte es immer sein. Plötzlich jedoch erinnerte er sich an etwas. Erschrocken zog er seinen Geist zurück, ließ ihn schrumpfen und schrumpfen, bis er sich, konzentriert auf einen Bruchteil seiner Selbst, in einer einzelnen Gestalt sammelte.

Herr Shepard schlug die Augen in einer anderen Umgebung auf. Er stand inmitten eines schillernden Blumenmeeres am Fuße eines Berges, der bis in die höchsten Wolken reichte. Dort, auf ungefähr halbem Wege zum Gipfel, konnte er eine kleine Gestalt ausmachen, die auf einem Plateau umhereilte. Herr Shepard streckte seinen Geist und fand sich auf ebendiesem Plateau ein.

„Hallo Ed.“

Die kleine Gestalt hielt abrupt inne. Eine feine Staubwolke, aufgetrieben durch die stetige Bewegung magerer Beine, legte sich wieder auf den grauen Fels.

Ed rannte. Er liebte Geschwindigkeit. Er lachte. Freude, Spaß, Übermut. Sonne, Mond, Sterne, Planet, Sterne, Mond, Sonne, eine langezogene Gerade, ein Sternengürtel. Fast war er da. Sonst kehrte er nie so oft zu einem Planeten zurück. Dieser hier war besonders. Ed sah eine Sonne, Wolken, Berge. Er bremste scharf. Er lachte. Mit einem Knall landete er auf dem Berg. Sofort durchquerte er einmal die ganze Umgebung. Berg, Blumen, Blumen, Berg, Nichts. Er lachte nicht. Er war wütend. Er musste rennen. Ed hasste es wütend zu sein. Dann hörte er etwas:

„Hallo Ed.“

„Du bist zu spät!“

Ed starrte Herrn Shepard wütend an. Seine dunklen Augen funkelten zornig, bildeten einen starken Kontrast zu seiner grünlich schimmernden, fast transparent scheinenden Haut.

„Ich hätte so viel erleben können. So eine Verschwendung!“

Herr Shepard seufzte, während er mit fahrigen Bewegungen ein wenig Staub von seinem schwarzen Zylinder wischte.

„Ja, das weiß ich Ed. Es tut mit wirklich sehr Leid. Ich danke dir dafür, dass du trotzdem hier ausgeharrt hast.“

„Ist gut.“

Ed hatte sich an den Rand des Vorsprungs gesetzt und ließ seine nackten Füße über dem Abgrund schwingen.

„Warst du wieder bei einer dieser hirnrissigen Huldigungen?“

Eds Augen funkelten seinen nobel gekleideten Gesprächspartner warnend an. Herr Shepard setzte sich vorsichtig, mit wohlüberlegten Bewegungen neben seinen Freund. Er strich sich den Frack glatt und ließ die reine, kalte Bergluft durch seinen Geist strömen. Er spürte die pulsierende Energie des anderen überdeutlich, voller zuckender Lichtblitze, niemals stillstehend. Schlussendlich fasste Herr Shepard sich ein Herz. Seine müden Augen suchten seinen kleinen Freund, der jedoch längst aufgesprungen war und nun zu Herrn Shepards andere Seite im Sitzen hin und her wippte.

„Da du es unbedingt aus meinem höchsteigenen Mund zu vernehmen scheinen musst: Ja Ed, ich war bei einer Messe. Es ist so wunderschön all die Hoffnung aufnehmen zu können. Ich wünschet, dass du es mir nur einmal nachempfinden könntest.“

Ed schnaubte abfällig.

„Träumer. Du bestätigst ihre Lüge.“

Er breitete die Arme aus.

„Oh großer Schöpfer!“

Jetzt lachte er wieder. Witze, Spott, Abenteuer. Ed sprang aufgeregt von links nach rechts. Viel zu lernen.

Herr Shepard unterbrach Eds Gedanken mit leisen Worten:

„Willst du nicht verstehen, dass sie glücklich damit sind in dieser, ihrer Welt? Sie brauchen nicht ohne Unterlass durch das ganze Universum zu jagen, auf der ewigen, pausenlosen Suche nach Zerstreuung, Abwechselung.“

Er klang erschöpft und traurig, doch einige wenige Nuancen seiner vollen Stimme vibrierten zornig. Ed rutschte ungeduldig hin und her. Er warf einen Stein.

„Es gäbe soviel zu sehen, soviel zu erleben. Willst du ihnen das alle wegnehmen? Du bist die ganze Unendlichkeit? Lüge!“

Herr Shepards melancholischer Blick folgte Ed, der nun in den umliegenden Blumenfeldern wild hin und her rannte.

„Wann wirst du das endlich verstehen?“ fragte er sanft, doch mit einer Kraft, die seine Stimme mühelos bis zu Eds Ohren durchdringen ließ „Die ganze Unendlichkeit, die sie brauchen liegt in ihrem Inneren. Sie fühlen in sich die unvorstellbaren Weiten der Welten. Sie erkennen das unbegreifliche Mysterium ihres Lebens. Sie fühlen vollkommene Liebe. Verstehen jedoch können sie das alles nicht. Darum brauchen sie eine Erklärung, einen Schöpfer, einen Zauberer, der all das in ihre Seele gelegt hat, und der diese großartigen, unbeschreiblichen Gefühle mit in die Unendlichkeit nimmt.“

„Blödsinn!“

Binnen eins Augenblicks stand Ed wieder neben seinem Freund.

„Denkst du das, Ed?“ fragte Herr Shepard.

Seine Stirn runzelte sich sorgenvoll, während seine fast gequält scheinenden Augen von der Hutkrempe in Dunkelheit getaucht wurden.

„Es gibt schon so viele, die einfach so in den Tag hineintollen; die sich nicht an einigen großen Gedanken aufhalten wollen, sondern erleben, bis es ihnen zu den Ohren wieder herausquillt. Sie kümmern sich weder um Moral noch Anstand, noch nehmen sie die unzähligen Wunder wahr, an denen ihr Weg sie in jedem einzelnen Augenblick vorbeiführt.“

„Ist das schlecht? Erleben, erfahren, erkunden!“

„Vormals hätten zahlreiche Münder solch Leben als teuflisch verschrien.“

Ed lachte. „Toll!“ rief er fröhlich.

Der Schmerz in Herrn Shepards Zügen brannte sich noch tiefer in dessen zerfurchtes Gesicht.

„Bemerkst du nicht, dass denjenigen das gleiche Schicksal droht, welches auch dich umtreibt: ständig ruhelos von Ort zu Ort jagen, ohne die wirkliche Schönheit jemals zu finden? Genauso wenig wie du, sehen sie die Einzigartigkeit dieser wundervollen, ihrer Welt. Betrachte nur jene Blumenwiesen; welch Wunder der Schöpfung. Solch zarte, zerbrechliche Blütenblätter voller schillernder Farben. Zusammen dann, ergeben sie ein wogendes Meer strahlend schöner Kraft.“

Es war, als sei Herr Shepard ein wenig gewachsen. Seine Stimme klang jetzt zuversichtlich, voller noch als vor wenigen Augenblicken.

„Oder nimm den Winter. Es scheint, als hielte die Welt den Atem an. Die Sonne verbirgt sich hinter aufziehenden Nebelschwaden, lässt dem Wind nur ein Flüstern. Eine jungfräuliche Schneedecke verhüllt die Wirklichkeit und der Horizont fließt im Weiß auseinander. Kaum wahrnehmbar malt sich ein gefrorener Fluss durch die Unendlichkeit; eine stockende Lebensader, genährt von Tränen, vergossen über solch unantastbare Schönheit. Glitzernde Diamanten vergehen unpoliert, vergessen. Dort, wo einst das Wasser über den Rand der Welt strömte, mahnen nun schwarze Kontraste die Erinnerung an grüne Blattmeere an, vergeblich. Die Stille spielt eine lautlose Melodie im sehnenden Herzen der Zeit. Gefühllose Kälte klammert sich wärmend an vorbeiziehende Seelen und lädt sie ein zu verweilen; Träumende des schwebenden Tanzens von weinendem Glück und hoffender Verzweiflung. Die Welt wächst und wächst, schwer vor monumentaler Leichtigkeit.“

Herr Shepards Stimme bebte.

„Plötzlich dann, stimmt die Sonne ein in das Lied und tanzt die grauen Schleier hinfort. Dort hinten, im Nichts, wird ein Glitzern geboren, leise in die Wirklichkeit getragen. Goldene Strahlen fallen in Strömen auf die Unendlichkeit, zaubern funkelndes Prahlen. Der Himmel explodiert in gleißendem Blau und füllt das stumme schlagen der Zeit an zu einer allumfassenden Ode an die Freude. Weiße Baumkronen strahlen aus voller Pracht, zelebrieren ihren märchenhaften Schlaf und rahmen die vollkommene Anmut des Winters. Du atmest aus, und die Welt dreht sich weiter.“

Herrn Shepards Augen strahlten.

Ed hing kopfüber von einem Vorsprung oberhalb des Plateaus hinab und kaute auf einer Blume.

„Du wirst sentimental. Du hast bloß Angst, dass sich bald keiner mehr an dich erinnert.“

Herr Shepard sackte wieder in sich zusammen.

„Religion.“ spuckte Ed verächtlich vor dessen Füße. Langsam, Buchstabe für Buchstabe fügte er hinzu: „R-ü-c-k-b-i-n-d-u-n-g. Ja, genau. Rückbindung. An wen wohl? An dich natürlich. Es geht dir um das Wohl anderer? Du brauchst die Selbstbestätigung! Die Welt hält den Atem an, also wirklich!“

Ed lief wütend umher.

„Wenn sogar du schon so denkst, mein Freund, wie soll das alles bloß enden? Glaubst du ich möchte Heerscharen von gutgläubigen Schafen an mich binden, sie mit Fesseln dazu zwingen sich gedankenlos von in Gold gewandten machtsüchtigen Geiern ins Verderben führen zu lassen; Blinde, die glauben dass Glück und Erlösung in der unhinterfragten Befolgung verstaubter Traditionen lägen? Ich will doch nur, dass sie die Wunder in ihrer Welt und die ganze Größe ihrer Herzen erfahren. Ist das zuviel verlangt?“

„Und warum immer Kirchen?“

„Ach Ed, wenn du doch nur diese beeindruckenden Bauwerke sehen könntest. Natürlich scheint es dir Verschwendung. Ja, ich gebe zu, dass es ein schier unfassbar hohes Maß an Kraft gekostet zu haben scheint, diese Tempel zu errichten. Doch könntest du nur sehen zu welchen Leistungen der Glaube die Menschen eins angetrieben hat, dann würdest du vielleicht auch einmal so ein mächtiges Gefühl wie Ehrfurcht verspüren. Diese Kraft nun, liegt fest verwurzelt in den alten Gemäuern, und denen, die zweifeln, denen geben sie diese Kraft zurück. Zuflucht, Hoffnung, Trost, das ist es, woraus diese Mauern bestehen.“

Ed schüttelte widerwillig den Kopf.

„Glück in muffigen Steinschiffen?“

„Ach nein Ed.“ Herr Shepard seufzte. „Wer braucht Kirchen, wenn er die rauschenden Wellen des Meeres hören kann? Einige jedoch, brauchen diese Kraft, den Halt, den die Kirche ihnen gibt.“

„Und die ist teuer.“

Ed stand nun auf seinen Händen und wedelte mit seinen Füßen aufgebracht in der Luft umher.

„Was sagst du da bloß? Ich wünschte, ich könnte gegen diese Untaten einschreiten. Ich habe mancher Tage das Gefühl, dass mir alles aus den Händen gleitet. Gold und Juwelen finden sich im Überdruss in den Kirchen, während die Menschen kaum überleben können.“

Ed ließ sich neben Herrn Shepard sinken und murmelte: „Hungertod für ewiges Glück!“

„Wie konnte es nur so weit kommen?“

In Herrn Shepards Stimme klang Entsetzen.

„Welcher dieser wahren Gläubigen blickt denn noch bewundernd auf die aufgehende Sonne, oder auf die Baumriesen des Urwalds, die Kronen ihrer Welt?“

Eine tiefe Falte war unter Herrn Shepards Hutkrempe erschienen, sein Rücken bog sich kraftlos unter dem Gewicht der Jahrhunderte.

„Ich habe lieber Spaß!“ rief Ed fröhlich aus. „Sterne, Sterne, Sterne, Rennen, so viele Welten! Komm doch mit!“

Herr Shepard blickte ein wenig überrascht zu der kleinen Gestalt. Ed schien begeistert von dieser Idee, seine Augen leuchteten und seine Füße traten in freudiger Erwartung ungeduldig in die Luft.

„Ed, du weißt genau, dass ich das nicht will, das nicht verantworten kann. Ich muss dafür sorgen, dass wenigstens ein paar Menschen glücklich werden. Ich bin ihre einzige Hoffnung, ihre letzte Zuflucht.“

Nun ließ zur Abwechslung einmal Ed die Schultern hängen.

„Und du? Wirst du jemals glücklich?“


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Tag der Veröffentlichung: 09.01.2009

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