Auf der soeben beendeten Pressekonferenz des leitenden Polizeikommissariats haben sich die schlimmsten Befürchtungen der Raroner bestätigt: der gestern als vermisst gemeldete Victor Melhaur wurde das letzte Mal in der selben Region gesehen, in der schon seit einigen Wochen immer wieder Spaziergänger am helllichten Tage spurlos verschwunden sind. Bis jetzt gibt es noch kein Lebenszeichen des Vermissten. Die Polizei tappt völlig im Dunkeln was die möglichen Hintergründe seines Verschwindens angeht. Bis heute haben sich weder terroristische Gruppierungen zu möglichen Geiselnahmen bekannt, noch sind Lösegeldforderungen eingegangen. Die Polizei rät dringend sich vom Wendur Wald und der näheren Umgebung fernzuhalten.“
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Er rennt auf und ab, auf und ab, ohne Unterlass, immer wieder, gefangen, gejagt, gehetzt im Kreis, im Strudel, im Taumel; angetrieben von schäumendem, überquellendem, brodelndem Hass. Er hat nie zuvor solch abgründige Abscheu empfunden, wie in diesem Augenblick. Seine Hände ekeln ihn an; diese verräterischen, heimtückischen, besessenen Hände. Wie er sein Gesicht hasst; seine groteske Nase, wie ein Höllenfurunkel inmitten seiner widerlich verzerrten, entstellten Visage; seinen sabbernden, gierigen, alles verschlingenden Mund; die abstoßenden, verlogenen, heuchlerischen Lippen. Oh, seine Lippen hasst er am Meisten von allen. „Du brauchst das nicht.“ säuseln sie mit süßer Stimme. „Du bist stark, dies ist das allerletzte Mal. Du kannst ihnen entkommen.“ Mit Gewalt gräbt er seine Zähne tief in das verräterische Fleisch, schmeckt sein Blut. Ah, für einen Moment fühlte er sich mächtig. Der Schmerz gewährt ihm die Herrschaft über seinen Körper; welch ein majestätisches Gefühl. Er spannt seine Muskeln und schreitet erhobenen Hauptes durch den dunklen Raum. Plötzlich aber öffnete sich eine Tür und seine Welt zerbirst. Seine aufgeblähten Nasenflügel saugen gierig den hereinwabernden Duft ein, öffnen diesem die Tore bis in die tiefsten Fasern seines Selbst. Allumfassendes, zerreißendes Verlangen ergreift Besitzt von seinem ganzen Sein. Jeder Strang seines Körpers verzehrt sich nach diesem Geruch, dem nachfolgendem Geschmack, dem Gefühl auf seiner Zunge, dem Brennen in seiner Speiseröhre. Endlich, endlich, können seine geliebten Finger wieder diese einzigartige erste Berührung erfahren. Oh, welch Wonne, als sich seine lächelnden Lippen gefühlvoll schließen, um in seinem Mund den Geschmack explodieren zu lassen. Zufrieden lässt er sich auf den Boden sinken um in dem kribbelnden Schmerz der Befreiung in seinem Rachen zu baden, bis Dunkelheit seinen Geist einhüllt.
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Sie saß in dem alten Ohrensessel ihres Mannes und starrte hinaus in den Regen. Die Schwärze der Welt war undurchdringlich. Das Wasser strömte in reißenden Bächen aus den Himmelsschleusen. Sie wünschte, sie könnte weinen. Sie wünschte, sie würde Verzweiflung spüren, Angst, Wut. Sie spürte nichts. Die Schwärze in ihr vernichtete jedes Gefühl. Hinter ihre Fensterscheibe tat sich der Abgrund zur Hölle auf. Die Welt versank in der Apokalypse. Dann ging die Sonne auf. Menschen liefen an Veras Fenster vorbei. Vielleicht würde sie einfach irgendwann sterben.
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Bericht an B.: Test 4 erfolgreich, Abhängigkeit etabliert. Wirkung wird verfeinert. Marktfähig: max. 14 Tage. Versuchsobjekt beseitigt.
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„Hast du schon gehört? Die haben den Melhaur gefunden. Halbtot bei einem der alten Chalets im Wald.“ „Sag bloß. Und die Vera?“ „Die ist natürlich gleich ins Spital.“
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„Frau Melhaur, wir haben Ihren Mann in ein künstliches Koma versetzt. Das war leider unsere einzige Möglichkeit ihm seine Schmerzen zu ersparen. Sein Rachenraum weist schlimmste Verätzungen auf. Es ist fraglich ob er jemals wieder wird sprechen können. Es tut mir leid. Bitte lassen Sie mich wissen, wenn ich etwas für Sie tun kann.
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„Seid ihr von Sinnen!? Wer hat überprüft ob das Versuchsobjekt unschädlich war? Wollt ihr uns ruinieren? Wenn das an die Öffentlichkeit kommt…“ „Wir werden uns darum kümmern.“ „Das ist ja wohl das Mindeste! Ich schwöre euch, noch ein Fehler und ihr alle werdet in diesem Bunker begraben.“
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„Diese Verbindung erfordert eine sehr fortgeschrittene Form der Meditation. Bitte versprechen Sie sich nicht zuviel davon.“ Vera schloss die Augen und atmete tief. Sie konzentrierte sich auf die Stimme ihres Lehrers. Seine leisen Worte waren wie ein wiegender Strom, der sie umhüllte. Sie trieb auf dessen lauen Wellen, weiter, immer weiter davon. Plötzlich fühlte sie etwas, eine andere Präsenz. Dann, ohne Vorwarnung, schlugen die Höllenflammen über ihr zusammen. Sie krümmte sich vor Schmerzen. Flüssiges Feuer rannte durch ihren Körper. Bilder stürzten auf sei ein. Eine Zelle. Eine Wanne mit gelben Ovalen. Männer in weißen Kitteln. Vera rang nach Atem. Grenzenloses Verlangen zerriss ihren Körper. Sie wollte fliehen. Sie wollte mehr. Sie schrie. „Vera? Vera! Kommen Sie zurück. Vera! Folgen Sie meiner Stimme.“ Vera fiel von ihrem Stuhl. Eine Schwester fing sie auf.
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Veras Knöchel waren weiß, ihre Lippen blutleer. Sie hatte geweint. Sie hatte sogar Erleichterung gespürt, irgendwo hinter dem schweren Schleier ihrer Tränen. Nun war sie entsetzt, fassungslos, wütend. Mit jeder Sekunde steigerte sich ihr Zorn. Sie wussten gar nichts. Keine Täter, keine Spuren, kein Motiv. Sie wussten, wo Victor verschwunden war, das wusste sie auch. Sie war dabei gewesen. Diese nichtsnutzigen Idioten. Sie wagte es nicht, sich erneut mit ihm in Verbindung zu setzen. Ihr Leben war zerstört. Nichts blieb mehr. Alles war schwarz. Sie hatte gefühlt, wie er gequält worden war, gefoltert, benutzt, und was taten sie? Hier saßen sie in ihren Uniformen, tranken Kaffee, lasen Berichte. Trottel, Dummköpfe, MÖRDER! Vera sprang auf und rannte aus dem Gebäude. Ihr Stuhl kippte krachend auf den Boden. Ihre Schritte hallten über die Flure. Sie kannte nur noch ein Ziel: Rache. Ihre Jagd hatte begonnen.
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„Hören Sie zu. Geben Sie mir diese verdammte Kamera. Die Risiken sind mir egal. Machen Sie schon. Es ist ihre verfluchte Pflicht mir zu helfen. Wollen Sie, dass noch weitere Unschuldige verschwinden? Die einzige Möglichkeit diesen Irrsinn zu stoppen ist ihn an die Öffentlichkeit zu bringen.“ „Nagut. Aber ich warne Sie. Das hier ist kein Agentenfilm. Ich kann für nichts garantieren. Ich sende live, und sobald das Bild abbricht verständige ich die Polizei. Das könnte zu spät sein.“ „Nun geben Sie schon her.“
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Ein Raubtier hetzt durch den Wald, rasend vor Schmerz, und Zorn, wildem, unzähmbaren Zorn. Blut rinnt aus einer klaffenden Wunde. Seine Peiniger werden büßen. Jeder einzelne wird in der stinkenden Lache seiner eigenen Angst verenden, weinend, bettelnd. Der Jäger hält inne, nimmt Witterung auf. Hier muss ihr Versteck sein. Hektisch streift er durch das Unterholz. Dort! Doch das Lager ist verwaist. Sein markerschütterndes Gebrüll schneidet die Luft. Vögel fliegen auf. In seiner Kehle grollt der Donner. Er ist zu spät. Rasende Wut vernebelt seine Sinne. Kopflos stürmt er los - und tritt ins Nichts. Schlagartig ist sein Verstand klar. Geschmeidig landet er auf den Füßen. Sofort registriert er seine Umgebung. Ein Labor. Dann ein Geruch. Drei! Der Jäger springt. Seine Zähne graben sich knirschen in das Gesicht seines ersten Opfers. Ohne zu zögern wirft er sich auf den nächsten Gegner. Plötzlich aber bricht ein Bein unter ihm ein. Er hat den Schlag nicht gespürt. Panik überrollt ihn. Verzweiflung schlägt über ihm zusammen. Er muss sie töten, alle. Mit einem gellenden Schrei wirft er sich herum, zieht seinen Angreifer mit sich zu Boden. Süßer Triumph durchströmt seinen Körper, dann ist es still.
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„Ich bin so froh, dass du doch noch Zeit gefunden hast.“ „Ach Vera, was würde ich ohne dich machen. Danke, dass du mich immer rechtzeitig aus meinem Büro rettest.“ Vera lächelte. Sie atmete tief ein. Die angenehm klare Waldluft schien ihre Lungen zu reinigen, und ihren Geist. Die alten Laubbäume strahlten in herbstlichem Glanz. Die Abendsonne spiegelte sich in tausenden Tautropfen. Plötzlich entdeckte sie etwas Weißes zwischen den Stämmen „Was ist das denn? Steht da ein Haus?“ „Vielleicht ist das einer der alten Bunker. Angeblich wurden die oft als Chalets getarnt. Lass uns mal nachschauen!“ „Victor, nicht! Wer weiß wie verfallen das alles ist. Nachher stürzt noch etwas ein.“ „Victor? Victor! VICTOR!“ Vera rannte in die Richtung, in die Victor verschwunden war. Sie stolperte keuchend durch den zerfallenen Türrahmen. Das Haus war leer.
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„Erneut wird das kleine Dorf Raron von schrecklichen Meldungen erschüttert. Am späten Abend sendete ein kleiner Lokalsender eine erschütternde Liveübertragung. Die Bilder zeigen ein Labor der bisher unbekannten Firma A.D.D.I.C.T., in dem offensichtlich Tests mit den bekannten Kräuterbonbons der Firma Rocila durchgeführt wurden. Kurz bevor die Übertragung abbrach, wurde der bisher unbekannte Kameramann scheinbar in einen Kampf verwickelt. Eine sofort benachrichtigte Sondereinheit der Polizei erreichte den Schauplatz kurze Zeit später. Sie konnte das Labor durch einen bisher unentdeckten Eingang einer stillgelegten Bunkeranlage erreichen. Die Polizei traf weder A.D.D.I.C.T. Mitarbeiter noch den Kameramann an.
Wenig später wurde die Leiche von Vera Melhaur unweit der Bunkeranlage gefunden. Die Polizei verweigerte jeden Kommentar.
Noch in der Nacht erklärte Nationalrat Blechor, dass eine Verwicklung von Rocila in die Vorfälle auszuschließen sei. Er erklärte, die Firma A.D.D.I.C.T. existiere nicht. Es handele sich um einen - Zitat: „üblen Scherz“ einer studentischen Protestbewegung um dem Ansehen des Traditionsunternehmens Rocila, und damit der gesamten Schweiz, zu schaden.
Auch einen Zusammenhang mit dem Verschwinden der nunmehr 4 Ortsansässigen bestreiten die Behörden.
Der einzige Verschwundene, der nach einigen Tagen unweit der Bunkeranlage gefunden worden war, Victor Melhaur, erlag heute unerwarteter Weise seinen Verletzungen.
Somit fehlt weiterhin jede Spur zur Aufklärung dieses Falles.“
Tag der Veröffentlichung: 16.12.2008
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