1. Szene
„Wer bist du?“, fragte David und inspizierte die Frau in dem grünen Kleid aus Seide, die ihm gegenüber stand.
Sie hatte braunes, langes, welliges Haar und ein spitzes Gesicht. Ihre Augen leuchteten honigfarben und wurden von dunklen Wimpern eingerahmt. Ihre Nase war klein und rund und ihre Lippen füllig. Sie hatte ein wenig Rouge auf ihre Wangen aufgetragen und ihre Lippen waren wirklich verführerisch rot. Das Kleid reichte bis zum Boden, es war smaragdgrün und rückenfrei. Das Dekolleté war tief ausgeschnitten und betonte ihren üppigen Busen. Die Kurven dieser Frau waren einfach atemberaubend und machten jeden Mann verrückt.
Die Frau lächelte David geheimnisvoll an. „Das wirst du schon noch erfahren“, sagte sie und ihre Stimme klang wie eine Melodie. Sie lachte ein helles windspielähnliches Lachen und entblößte eine Reihe weißer, perfekter Zähne.
„Ich kenn dich“, sagte David und lockerte seine dunkelblaue Krawatte.
„Ehrlich?“, fragte die Frau und ihr bezauberndes Lächeln verwandelte sich in ein belustigtes Grinsen.
„Naja“, begann David und setzte sich auf einen der bordeauxroten Sessel, die in einer Ecke des großen Wohnzimmers standen.
Das Zimmer wurde von einem hellen Kronleuchter erleuchtet, welcher über und über mit gläsernen Kugeln behängt war. Der Boden war aus Marmor und wurde nur in der Sesselecke von einem Perserteppich bedeckt. Die Sessel waren zu einem Kamin hin gedreht, in welchem ein angenehmes Feuer brannte und knisterte.
David deutete auf den Sessel ihm gegenüber und die Frau nahm elegant Platz. Er griff nach einer Cognacflasche auf einem kleinen Tisch neben ihm und schenkte sich etwas in ein Glas ein.
„Sie auch?“, fragte er mit einer angenehmen Stimme und sah sie mit seinen blauen Augen an.
„Nein, danke“, antwortete die Frau und legte ihre Beine übereinander. „Also“, fuhr sie verführerisch fort. „An wen erinnere ich sie?“
„Erinnern?“, fragte David leicht verwirrt und trank einen Schluck.
„Nun ja. Sie meinten doch, dass sie mich kennen. Aber das ist unmöglich.“
David nickte nur und trank noch einen Schluck. Seine blauen Augen wurden feucht und starrten ins Leere. Dann wandte er sich wieder an diese außergewöhnliche Frau.
„Ich kannte einmal eine Frau, die war wie sie. Wunderschön!“
Die Frau lächelte. „Dankeschön. Was ist mit dieser Frau passiert?“
David zuckte bloß mit den Schultern. „Sie ist weg“, sagte er nur und verbannte die Gedanken an diese Frau, die er einst geliebt hatte aus seinen Gedanken.
Im Moment saß eine andere, bezaubernde Frau in diesem Zimmer mit ihm. Und sie war umwerfend, wenn auch geheimnisvoll. Aber genau das schätzte David so sehr an Frauen.
„Wissen sie“, sagte die Frau mit ihrer verführerischen Stimme und sah David tief in die Augen. „Vielleicht könnte ich dafür sorgen, dass sie die eine Frau einfach vergessen.“
Die Frau erhob sich aus ihrem Sessel und kam langsam auf David zu. Er sah sie dabei einfach nur die ganze Zeit an. Sie stellte sich direkt vor seinen Sessel und beugte sich zu ihm herunter. David konnte direkt in ihr fülliges Dekolleté schauen, doch sie streckte ihre zarte Hand nach seinem Gesicht aus und hob sein Kinn leicht nach oben, so dass er ihr direkt in ihre wunderschönen, strahlenden Augen sah.
„Kiss Me!“, formten ihre roten Lippen stumm.
David beugte sich leicht vor und drückte seinem Mund sanft auf den ihren. Ihre Lippen schmeckten süßlich und ihr Atem war frisch. Aus dem leichten Kuss wurde ein Wilder und nach einer Weile saß die Frau auf seinem Schoß, während sie sich immer noch küssten.
Doch plötzlich hörte die Frau auf. Sie stand auf und sah David hasserfüllt an. David war verwirrt und wollte aufstehen, doch da bemerkte er, dass es ihm schwer viel, sich zu bewegen. Auch das Sprechen viel ihm schwer.
„Was?“, brachte er mühevoll hervor und presste die Lippen dann fest aufeinander.
Die Frau lachte ihr helles Windspiellachen und fasste sich mit ihren zarten Händen an die blutroten Lippen. Ganz langsam zog sie eine Art durchsichtigen Überzug ab und sah dann David triumphierend an.
„Weißt du, was das war?“, fragte sie ihn und beugte sich erneut zu ihm herunter.
David konnte seinen Kopf kaum noch bewegen, aber er schaffte es, ihn leicht zu drehen.
„Schlangengift!“, rief die Frau und schüttelte ihre braunen Haare. „Erkennst du mich denn nicht wieder? Der Sommer vor elf Jahren?!“
David riss die Augen weit auf. Natürlich erinnerte er sich.
„Keine Sorge“, meinte die Frau und lief hinüber zu ihrem alten Platz. Abschätzig sah sie David an und nahm Platz. „Ich bin nicht Svenja. Aber ich bin ihre Tochter!“
Davids Augen wurden noch größer. Er wollte nach Luft schnappen, doch auch dies funktionierte nicht mehr ganz so, wie es eigentlich sollte.
„Ich heiße Emily. Und das, was sich bis eben noch auf meinen Lippen befand, war ein hauchdünner Überzug mit Schlangengift bestrichen. Es bringt nichts, dir zu sagen, was für ein Gift es war. Diese Schlangenart ist ziemlich unbekannt. Aber ihr Gift ist wirksam. Ein Nervengift, welches gut dosiert sogar noch zu einem wehleidigen, langen Tod führen kann. Und genau das will ich! Ich will, dass du unter Schmerzen stirbst du widerlicher Drecksack. Ich will dich leiden sehen, wie du meiner Mutter beim leiden zugesehen hast.“
Emily stand auf und lief um David herum zu dem kleinen Tischchen mit der Cognacflasche und den Gläsern. Sie nahm sich eines und schenkte sich etwas ein. Dann setzte sie sich wieder hin und überschlug ihre Beine.
„Ich bin mir sicher, du hast noch einige Fragen. Deshalb bin ich auch so gütig und werde dir in deinen letzten verbleibenden Minuten noch erzählen, wie es zu dieser Situation kommen konnte.“
Emily trank einen Schluck und grinste David an.
„Auf diesen Moment habe ich schon ewig gewartet“, flüsterte sie und lachte.
2. Szene
Im Schrank war es ziemlich stickig und Emily bekam kaum Luft. Sie wollte nur noch hier weg, doch ihre Mutter hatte ihr gesagt, sie solle sich im Schrank verstecken, keinen Ton von sich geben und bloß nicht wieder herauskommen. Kurz darauf hatte es an der Tür geklopft.
Das Haus, in dem Emily mit ihrer Mutter wohnte, bestand aus dem Wohnzimmer mit eingebauter Küche, dem Schlafzimmer (nur durch einen Vorhang abgetrennt) und dem kleinen Bad. Es gab keine Klimaanlage und es war immer ziemlich warm. Vor allem im Sommer.
„Schön dich zu sehen!“, hörte Emily eine männliche Stimme. Sie konnte den Mann nicht sehen.
„Kann ich nur erwidern“, sagte ihre Mutter in einem Tonfall, der genau das Gegenteil meinte.
„Willst du mich nicht zu einem Drink ins Haus einladen?“
Emilys Mutter trat bei Seite und Emily hörte den Mann eintreten. Vorsichtig spinxte sie durch einen langen Riss im Holz des Schrankes. Der Mann war jung. Sehr jung sogar. Eindeutig jünger als ihre Mutter. Der Mann setzte sich auf einen Stuhl in der Nähe des Fensters und Emilys Mutter ging in die Küche Getränke und Gläser zu holen. Der Mann lächelte und Emily wäre so gerne aus dem Schrank gekommen. Sie wollte wissen, wer das war. Er sah so nett aus.
„Und, wie geht es d-“
„Sparen wir uns das. Ich weiß genau warum du hier bist“, sagte Emilys Mutter forsch.
„Du hast dich nicht verändert. Bist noch wie früher.“ Der Mann lachte. „Ich habe es geliebt, wie du immer rote Wangen bekommen hast, wenn du dich aufgeregt hast oder dir Sorgen gemacht hast. Genauso wie jetzt.“
Emilys Mutter trank einen Schluck aus dem Glas und der Mann tat es dir nach. Dann setzte sie sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches, an dem der Mann auch saß.
„David Greely...“, murmelte sie und sah den Mann verzweifelt an. „Ich flehe dich an, es nicht zu tun!“
„Du kennst die Regeln!“
„Ich hatte meine Gründe zu gehen. Und ich habe nie etwas erzählt. Niemandem. Bitte David, tu es nicht“, flehte sie leise.
David lachte. „Nenn mir einen Grund.“
Emilys Mutter öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch dann schloss sie ihn wieder.
„Ich kann es dir nicht sagen.“
David sprang auf. „Du kannst es mir nicht sagen?“, schrie er fassungslos. „Was - Bitte, was kann dir lieber sein, als dein Leben? Wie kannst du auf deine Chance verzichten, zu überleben?“
Emily bekam Angst. Sie war zehn Jahre alt und mittlerweile nicht mehr klein. Und das, was der nette Man da eben gesagt hatte klang ganz nach einer Drohung. Emilys Herz verkrampfte sich und am liebsten hätte sie geweint. Aber sie musste doch still sein. Angestrengt starrte sie weiter durch den Riss.
„Kannst du mir wenigstens erklären, warum du gegangen bist? Warum du mich verlassen hast?“
Emilys Mutter schüttelte den Kopf und Tränen rannen ihr über die glühenden Wangen. „Es ist derselbe Grund. Und ich kann es dir einfach nicht sagen!“
Davids nette Züge verhärteten sich und er schritt auf Emilys Mutter zu und dann schlug er sie!
Emily schrie auf, ihre Mutter ebenfalls. Sie landete hart auf dem Boden und David beugte sich über sie.
„Na, willst du es mir jetzt sagen?“
„Niemals!“, schrie Emilys Mutter und spuckte ihm ins Gesicht.
„Du hast es so gewollt!“
David packte sie bei ihren Armen und holte ein Plastikband für Verpackungen hervor. Emilys Mutter wehrte sich und trat ihm hart zwischen die Beine. Mit ein paar geschickten Handgriffen hatte sie ihn überwältigt und nun saß sie auf seinem Rücken.
„Verzieh dich!“, raunte sie ihm ins Ohr. „Und komm nie wieder zurück!“
„Vergiss es!“, rief David und befreite eine Hand. Blitzschnell entwand er sich ihrem Griff ganz und nach kurzer Zeit lag sie erneut unter ihm. Sie hatte Schrammen im Gesicht und ihre Lippe blutete. David selbst hatte ein blaues Auge und sein rotes Shirt sah ziemlich mitgenommen aus.
„Du hast es nicht anders gewollt“, sagte er und verband ihre Arme fest mit dem Plastikband. Es schnitt Emilys Mutter tief ins Fleisch und sie begann zu bluten. Tränen rannen über ihr Gesicht.
„Bitte nicht!“, flüsterte sie. „Ich flehe dich an, David. Ich gebe dir alles, was du willst, aber bitte, bitte, lass mich am Leben!“
Emily begann lautlos zu weinen. Würde ihre Mutter jetzt wirklich sterben? Nein, das durfte sie nicht. Wer würde sich denn um sie kümmern. Wer würde sie so lieben und wen würde sie selbst noch einmal so lieben wie ihre Mutter? Ihre Mutter durfte nicht sterben! Nein!
David fesselte Emilys Mutter mit einem weiteren Plastikband an Schrank, in dem sich Emily befand und Emily drückte sich fest an die Hinterwand und hinter ein paar Kleider, allerdings konnte sie trotzdem noch sehen, was draußen geschah.
Und dann beugte sich David über ihre Mutter und riss ihr das Kleid vom Leib. Es war das Lieblingskleid ihrer Mutter gewesen. Rot mit blauen, gelben und grünen Tupfen drauf. Ein richtiges Sommerkleid. Doch nun lag es zerrissen in der Ecke.
Emily schloss die Augen und drückte sich noch fester gegen die Wand. Als sie auch noch die Schreie ihrer Mutter hörte, hielt sie sich die Ohren zu. Sie schaffte es einfach nicht. Die Angst saß tief in ihr und die Verzweiflung hatte schon längst ihr kleines Herz ergriffen. Emily konnte nur noch daran denken, von hier zu verschwinden. Raus aus dem stickigen Schrank, weg von dem bösen Mann und einfach nur mit ihrer Mutter im Sand am Meer spielen, so, wie sie es früher auch gemacht hatten. Sie hatten gemeinsam nach Muscheln gesucht und Sandburgen gebaut.
Irgendwann nahm Emily ganz vorsichtig ihre Hände von den Ohren und traute sich, als sie keine Schreie mehr hörte, die Augen zu öffnen und wieder durch den Riss zu spinxen. Ihre Mutter lag immer noch am Boden, doch der Mann war aufgestanden und hielt nun eine kleine Spritze in der Hand.
„Weißt du?“, sagte er. „Ich hatte dich wirklich vermisst. Und es hat mir wehgetan, dass du gegangen bist und mich verlassen hast. Ich war am Boden zerstört, ich war ein Nichts. Doch ich hab mich wieder aufgerappelt! Und nun, tja, nun werde ich dir mal Schmerzen zufügen. Mal schauen, ob du dich auch wieder aufrappeln kannst.“
David beugte sich zu Emilys Mutter herunter, nahm ihren Arm und injizierte ihr die klare Flüssigkeit in der Spritze.
„Das ist Schlangengift. Ich muss dir wohl nicht den Namen der Schlange erzählen, du kennst sie ja sowieso nicht. Es ist eine ziemlich unbekannte Schlangenart, aber das Gift ist wirksam und gut dosiert kann es sogar dafür sorgen, dass das Opfer noch ein paar letzte Minuten zu leiden hat, bevor der erlösende Tod eintritt.“
David erhob sich und setzte sich wieder an den kleinen Tisch von dem aus er Emilys Mutter genau beobachtete.
„Schön hier“, sagte er. „Nur etwas heiß. Keine Klimaanlage?“
Emilys Mutter stöhnte und sie bewegte ihren Kopf schwerfällig in Richtung Schrank. Sie sah Emily durch den Riss an.
„Diese Limonade, oder was das auch ist, ist übrigens sehr lecker und erfrischend. Und du wohnst hier allein? Hmm. Ist das nicht langweilig? Was hast du eigentlich die letzten zehn Jahre auf der Flucht so gemacht? Wie oft bist du umgezogen?“ David lachte. „Was frag ich dich eigentlich die ganze Zeit solche Sachen. Du kannst ja sowieso nicht antworten!“ David zuckte mit den Schultern und schaute auf seine Armbanduhr. Eine Rolex. „So, nach meiner kleinen Berechnung hast du noch ca. zehn Sekunden ab...Jetzt. Willst du noch etwas sagen?“
Emilys Mutter sah sie traurig an und begann vorsichtig ihre Lippen zu bewegen. Ganz langsam und mit großer Anstrengung.
„I...Ich...lieb...dich!“, brachte sie noch hervor. Dann röchelte sie kurz und ihre Augen wurden glasig.
Emily schaffte es nur mit allergrößter Kraft, nicht zu schluchzen, aber die Tränen konnte sie nicht aufhalten.
„Mama, ich lieb dich auch!“, dachte sie ganz fest und immer wieder.
David sah ziemlich verwirrt zu Emilys Mutter herunter. Dann verwandelte sich sein Blick in tiefste Trauer und Verzweiflung. Er nahm noch einen Schluck und schaute aus dem Fenster. Als er sein Gesicht wieder zu Emilys Mutter wandte, war es neutral, kalt und einfach nur desinteressiert. Schließlich stand er auf und lief zu der gelben Handtasche aus Leder, welche auf der Küchentheke stand. Er öffnete den Reißverschluss und begann, darin herum zu suchen. Letztlich fand er, was er gesucht hatte. Triumphierend hielt er es in die Höhe. Es war der Reisepass von Emilys Mutter! Er öffnete das kleine Büchlein und sah sich das Foto auf der ersten Seite an.
„Sehr hübsch!“, murmelte er und sah kurz zu der Leiche herüber. „Madison Bridged. Was für ein Name.“ David lehnte sich an die Theke und betrachtete Emilys Mutter. „Das auf dem Foto bist ja du... Aber was für einen Namen hast du dir nur ausgesucht? Madison Bridged! Weißt du, deinen richtigen Namen fand ich schon immer am schönsten.“ Er seufzte. „Es tut mir Leid, Svenja Cellay! Es tut mir Leid.“
Mit diesen Worten holte er sich seine Jacke, welche er über die Stuhllehne gelegt hatte. Er wollte eben aus der Tür treten, als er sich noch einmal umdrehte.
„Ich habe dich wirklich geliebt damals. Vor zehn Jahren. Wir waren so glücklich! Was ist nur passiert?“
Dann verschwand er.
Emily blieb noch eine ganze Weile im Schrank sitzen, vor lauter Angst, dieser Mann würde noch einmal zurückkommen. Doch das tat er nicht. Und als sie sich endlich etwas sicher fühlte, öffnete sie die Schranktür und lief zu ihrer Mutter hin. Sie kniete sich neben sie und hielt ihre Hand. Sie war ganz kalt. Tränen liefen Emily über die Wangen und tropften auf das leblose Gesicht ihrer Mutter.
3. Szene
„Du hast damals meine Mutter getötet! Ich war zehn als ich es gesehen hab. Zehn als ich meine Mutter verlor. Und du wagst es noch, weiter zu leben? Zu meinen, du hättest das Recht zu leben?“
David röchelte und Emily warf einen Blick auf die kleine Uhr auf dem Kaminsims.
„Jetzt tu nicht so als ob du stirbst, du hast noch fünf Minuten!“
Emily stand auf und schenkte sich noch ein wenig Cognac ein.
„Damals dachte ich, ich hieße Emily Bridged und meine Mutter hieße Madison Bridged. Doch von dem Tag an wusste ich, meine Mutter hieß Svenja Cellay. Und ich...“ Emily sah David triumphierend an. „Ich heiße Emily Cellay Greely!“
David riss die Augen auf.
„Jawohl, so ist es. Ich war der Grund, weshalb Svenja damals abgehauen ist. Ich war der Grund, den sie dir nicht nennen konnte! Ich bin deine Tochter!“ Emily lachte auf. „Familienmorde liegen wohl in den Genen. Ach ja, und weißt du? Dieses Kleid hier, war eines der wenigen Sachen, die ich damals ins Kinderheim mitnehmen durfte. Dieses Kleid hier“, Emily stand erneut aus und drehte sich einmal um ihre Achse und präsentierte das Kleid stolz, „war das Kleid meiner Mutter. Du kennst es, nicht war? Sie hat es mir so oft erzählt.“ Emily lächelte David sanft an, als sie in Erinnerungen schwelgte.
„Emily, weißt du, was das ist?“, fragte Svenja und sah ihre Tochter mit glänzenden Augen an.
Emily schüttelte den Kopf. „Das ist ein Kleid. Ein grünes Kleid, Mama“, antwortete sie.
„Ganz richtig, sagte Svenja und fuhr ihrer kleinen Tochter durch die Haare. „Aber was für eins!“
„Was denn für eins?“ Neugierig sah Emily immer wieder von ihrer Mutter zum Kleid und zurück.
„Dieses Kleid hier“, begann ihre Mutter, „habe ich getragen, als ich mich das erste Mal mit dem Mann meiner Träume getroffen habe. Es war einer der schönsten Tage meines Lebens. Erst führte er mich in ein schönes Restaurant aus und dann tanzten wir die ganze Nacht. Und das ist das Kleid, dass ich damals an hatte.“ Svenja drückte die Seide an ihre Brust und roch daran. „Hmm... Er war so hinreißend!“
„Mama, was ist denn mit ihm passiert?“
„Tja“, sagte Svenja und sah ihre Tochter traurig an. „Manchmal verschwinden solche Personen einfach aus dem Leben. Manchmal ist es sogar sehr wichtig, dass sie es tun. Ich bin damals einfach aus seinem Leben verschwunden...“
„Aber wieso?“, drängte Emily ihre Mutter weiter.
„Weil ich mich entscheiden musste, mein Schatz.“
Emily wollte gerade weiter fragen, da hielt ihr ihre Mutter den Finger an den Mund.
„Ich erzähle es dir, wenn du etwas älter bist, einverstanden? Vielleicht verstehst du es dann ja.“
Emily nickte.
„Gut. Wollen wir dann eine Sandburg bauen? Es ist herrliches Wetter und am Strand ist es immer so schön. Ich kauf dir auch ein Eis.“
„Oh, ja!“, rief Emily und sprang auf.
„Nun, das ist schon elf Jahre her. Elf Jahre, in denen ich mir Rache geschworen und dich gesucht habe. Und nun hab ich dich gefunden! Und es fühlt sich gut an. Du sollst selber spüren, was meine Mutter spüren musste. Sollst selbst so leiden, wie sie.“
David schluckte trocken. Emily lief langsam auf ihn zu und beugte sich zu seinem Ohr.
„Papa, ich hoffe, du schmorst ewig in der Hölle!“, flüsterte sie.
Er röchelte ein letztes Mal, dann wurden seine Augen glasig und er starrte ins Leere.
Emily gab ihm einen Kuss auf die Wange und drückte kurz seine Hand. Dann verschwand sie mit feuchten Augen und einem glücklichen Lächeln auf den Lippen aus dem Zimmer.
Tag der Veröffentlichung: 09.07.2011
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