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Die Lehrerin ließ ihren Blick durch die Klasse schweifen auf der Suche nach jemandem, der ihre Frage beantworten konnte. Zwar wusste ich die Antwort, doch ich traute mich nicht, mich zu melden. Denn reden war nicht gerade meine Stärke. Ich starrte weiter auf das Blatt vor mir, tat so, als würde ich die Antwort darauf suchen.
„Melanie.“
Nein, bitte nicht. Es gab so viele in meiner Klasse, die ebenso ruhig waren, wie ich es war. Warum also ausgerechnet ich? Als ich von meinem Blatt aufsah, ruhte der Blick meiner Lehrerin auf mir. Ich hielt den Blickkontakt nur für eine Sekunde, ehe ich an ihr vorbeisah und schließlich meine Antwort sagte, die mir auf der Zunge lag: „Mit der Effektivverzinsung berechnet man die tatsächliche Verzinsung, bezogen auf ein Jahr.“
In meinem Augenwinkel nahm ich wahr, dass sie kurz nickte. „Und was bringt uns das? Wozu können wir das gebrauchen?“, fragte sie weiter, ganz offensichtlich, dass sie auch diese Antwort von mir haben wollte.
„Um verschie---dene Kredite mitei---nander vergl-gl-gl…“ Mein Herz schlug schneller. Wieso konnten die Wörter nicht einfach so über meine Lippen gehen, wie sie in meinen Gedanken bereitlagen? Leicht und flüssig. Köpfe wandten sich zu mir um, sodass ich noch nervöser wurde. Sie alle warteten darauf, dass ich meinen Satz zu Ende sprach.
„Ähm … d … damit man vergl-gl-eichen kann, die Kredite.“ Der Satz war nicht gerade toll formuliert, doch das war mir egal. Ich hatte ihn gesagt und war jetzt hoffentlich erlöst.

In der Tat sprach die Lehrerin weiter, stimmte auch meiner Aussage zu. Dennoch waren manche Köpfe noch immer mir zugewandt. Vermutlich viel kürzer, als es mir vorkam. Dennoch wollte ich am liebsten im Erdboden versinken. Schnell senkte ich meinen Kopf und tat so, als ob ich ganz eilig etwas aufschreiben musste. Ich wollte die Blicke und die darin liegenden Fragen wie ‚Kann die nicht normal reden‘ nicht sehen, kannte ich sie doch schon.

Mich quälten die Gedanken, was andere von mir denken könnten. Dabei zählte einzig und alleine, dass ich es versucht hatte, obgleich ich nicht davon hatte ausgehen können, dass es fehlerlos sein würde. Ich sollte stolz auf mich sein. Stolz darauf, dass Schweigen für mich nicht Gold war. Denn bei mir ging es nicht darum, unangebrachte Gedanken für mich zu behalten. Vielmehr darum, mich zu drücken. Gold läge eine Schutzhülle um mich. Würde mich davor bewahren, aufzufallen. Doch das war der falsche Weg.

Wenn ich alleine war und etwas aufsagte, kam jeder Buchstabe schön raus, so wie es sein sollte. Ebenso beim Singen. So komisch es sich anhören mochte, doch es war wahr. Beim Singen stottert man nicht. Aber ich konnte ja nicht mein ganzes Leben singen oder mich gar daheim verkriechen, um mit niemandem reden zu müssen. Und dennoch gab es Momente und Tage da wünschte ich mir, ich könnte genau das tun. Momente, in denen die Buchstaben nicht über meine Lippen wollten. Sich weigerten, von mir gesprochen zu werden.

Sprechen war für mich eher wie Bronze. Sie war nicht die erste Wahl, wie mein Schweigen oder Gold, und doch musste ich mit dem Ergebnis leben. Vielleicht hätte ich es besser gekonnt, doch für diesen Moment habe ich meine Chance vertan.

Es ist nicht so, dass es nur ein paar oder immer wieder die gleichen Buchstaben wären. Nein. Es sind die, die ich gerade brauchte. Ich hätte also auch nicht die Möglichkeit, Worte mit gewissen Buchstaben zu vermeiden. Es kam unerwartet und doch immer in gleichen Situationen. Die Buchstaben ließen mich im Stich. Fast könnte man meinen, sie bestraften mich, weil ich ihnen etwas getan hatte. Und meistens dauerte es viel zu lange, bis ich die aufgetane Blockade überwinden konnte.

Dabei wollte ich doch auch nur, wie die meisten anderen Menschen auch, normal sprechen können. Ohne den ständigen Hintergedanken: Wenn du jetzt etwas sagst, könntest du stottern. Immerhin würde ich nicht jedes Mal so tun können, als müsste ich plötzlich überlegen, was ich gerade sagen wollte. Als wäre es mir einfach entfallen.

Es gab nur eine Möglichkeit: Ich musste mich damit abfinden und es akzeptieren. Musste mich Aufgaben stellen, bei denen ich um das Reden nicht herumkam. Es war nun mal ein Teil von mir, das Stottern. Zumindest so lange, wie ich es zuließ, Angst davor zu haben. Vielleicht ließen die Buchstaben mich eines Tages zufrieden, wenn sie merkten, dass ich keine Angst mehr vor ihnen hatte. Wenn ich sie wahrhaftig akzeptiert hatte.

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Tag der Veröffentlichung: 16.12.2012

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