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Prolog

 


Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Es fällt mir schwer, doch ich versuche tapfer zu sein. Meinen Blick stets auf den Kiesboden gerichtet, lausche ich dem Lied, welches die Anwesenden singen. Ein Lied, in dem es heißt, dass die Hoffnung nie aufgegeben werden darf. Doch ich glaube, trotz meines jungen Alters, sagen zu können, dass jedem hier die Hoffnung entronnen ist.
Schweigend laufe ich dem Sarg hinterher, der von den Angestellten des Friedhofs getragen wird. Zu oft schon habe ich heute auf ihn gesehen und jedes Mal ein schlimmes Bild vor Augen gehabt. Dabei war er schön verziert. Die silbernen Muster auf dem schwarzen Material sehen elegant aus. Elegant und schön. Wie sie es war. Bilder drängen sich in meinen Kopf, Erinnerungen an sie und mit ihr. Und jetzt soll sie fort sein. Für immer. Eine Träne rollt mir über die Wange, doch ich schniefe nur leise und sehe zum ersten Mal richtig vom Boden auf. Graue Wolken haben sich dem heutigen Tag angepasst. Sie hängen am Himmel und verbieten der Sonne, sich zu zeigen. Gerade wenn man denkt, sie schafft es, wird der helle Lichtstrahl wieder verdrängt. Dabei würde ihre Anwesenheit die Lage etwas erträglicher machen.
Sie streiten sich, wer den heutigen Tag beherrschen darf, schießt es mir durch den Kopf. Und wer wird unter uns den Streit gewinnen?
Ich schüttle den Kopf und versuche die Gedanken beiseitezuschieben. Je mehr ich über die Zukunft nachdenke, umso mehr drängen sich schreckliche Tatsachen in den Vordergrund. Dinge, die ich mir nicht vorzustellen vermag.
Neben mir geht mein Vater. Wegen meiner dunklen Gedanken habe ich Angst bekommen und suche seine Hand. Sofort nimmt er meine und ich fühle mich ein bisschen sicherer. Er drückt mich kurz an sich, ehe er wieder nur meine Hand hält. Auch wenn ich mir sicher bin, dass er es nicht bemerken wird, traue ich mich nicht, aufzusehen. Ich kann seinen Blick nicht ertragen. Er war zu traurig in den letzten beiden Tagen. Also gehe ich schweigend neben ihm her.
Die Musik ist verklungen, die Anwesenden laufen wie in Trance hinter dem Sarg her, als wäre niemand fähig, irgendetwas anderes zu tun.
Ich spüre, wie mein Vater mich hinter sich herführt, um das offengelegte Grab herum. Es ist gerade so groß, dass der Sarg ohne Probleme hinabgelassen werden kann.
Der Anblick versetzt mir einen Stich im Magen und ich schließe kurz die Augen. Als ich sie wieder öffne, wird der Sarg zu dem Loch getragen. Ich lasse mich gegen meinen Vater fallen, der mich fest an sich drückt. Am liebsten würde ich weinen, doch ich reiße mich zusammen.
Vorsichtig stellen sie den Sarg ab und treten zur Seite. Weiße Lilien und Callas schmücken den Deckel des Sarges und geben einen schönen Kontrast zum Schwarz. Vereinzelt findet sich ein blaues Vergissmeinnicht dazwischen. Weiß-goldene Bänder waren an dem Kranz angebracht worden. Mein Vater hatte sich für diese Blumen entschieden, da ihm die Bedeutungen Reinheit und Unendlichkeit wichtig waren. Rein war sie selbst und unendlich viel länger sollte sie leben.
Die Predigt des Priesters führt mich in einen leichten Dämmerzustand und ohne Vorwarnung erscheinen vor meinem inneren Auge Bilder.
Mit zittrigen Händen fasse ich an den Türgriff, drücke ihn nach unten und öffne die Tür. Leichte Bedenken machen sich breit. Dennoch trete ich über die Schwelle und schließe die Türe lautlos hinter mir. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass die Vorhänge zugezogen sind. Deshalb auch das dämmrige Licht. Mein Blick wandert zu ihr. Geschwächt liegt sie in ihrem Bett, ihr Brustkorb hebt und senkt sich. Vorsichtig lasse ich mich auf der Bettkante nieder, lege meine Hand auf ihre. Einmal wollte ich noch bei ihr sein. Alleine. Bevor sie von uns geht.
Eine Berührung zerrt mich aus meinen Gedanken. Mein Vater hat sich zu mir gebeugt und sieht mich unsicher an. Ich lächle tapfer und tue, als würde ich von dem ganzen Geschehen nichts verstehen. Er hebt mich hoch und hält mich fest. Vorsichtig lege ich meine Arme um seinen Hals und meinen Kopf an seinen. Mein Blick wandert unwillkürlich zum Sarg, der langsam hinabgelassen wird. Ich schließe die Augen und verdränge alle ankommenden Gedanken. Die Helfer ziehen sich zurück, der Priester bleibt zwei Meter neben dem Grab stehen. Mein Vater lässt mich wieder runter und geht auf das Loch zu. Mit gekrümmten Rücken steht er davor und starrt auf den Sarg hinab. Leicht schiebt mich jemand dorthin und ich präge mir dieses Bild ein. Den Sarg, und wie sie darin schläft.

 

1. Kapitel




Dakota schüttelte den Kopf, als ihre Schwester keine Anstalten machte, aufzustehen. Der Wecker hatte bereits vor zehn Minuten geklingelt und wenn sie nicht langsam frühstücken würden, würden sie zu spät zur Schule kommen.
„Was ist los mit dir?“ Dakota ging zum Bett ihrer Schwester und zog die Decke weg. „Jeden Freitag, wenn wir um acht Uhr aufstehen, kommst du nicht aus den Federn. Wenn wir den Rest der Woche um halb sieben aufstehen, bist zu hellwach.“ Sie wartete auf eine Reaktion ihrer Schwester, vergeblich. „Bitte, wenn du zu spät zur Schule kommen willst.“ Damit gab Dakota auf und verließ das Zimmer, dass sie sich mit ihrer Schwester teilte.
Sie ging in die Küche und nachdem sie sich eine Milch warm gemacht hatte, setzte sie sich an den Tisch, den ihre Mutter nicht abgeräumt hatte. Gerade als sie Butter auf ihr Brötchen schmieren wollte, kam ihre Schwester die Treppe hinuntergestürzt. Verwundert sah Dakota ihr nach, wie sie in die Küche rannte. Kurz darauf hörte sie die Kühlschranktüre auf- und wieder zuschlagen, gefolgt von dem Piepen der Mikrowelle.
Mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Grinsen schmierte sie ihr Brötchen weiter. Kurz darauf saß Chiara ihr gegenüber. Wortlos griff sie sich ein Brötchen und schnitt es auf. Dakota beobachtete sie gespannt. Als Chiara die Hälfte des Brötchens hinuntergeschlungen hatte, wurden ihre Bewegungen langsamer.
„Was ist los mit dir?“, versuchte Dakota es erneut: „Kein ‚Guten Morgen‘ oder ‚Wie hast du geschlafen?‘“
„Ich hatte einen Traum“, antwortete Chiara kurz angebunden und widmete sich sogleich wieder ihrem Brötchen.
„Ich auch“, entgegnete Dakota und verdrehte die Augen.
„Denselben wie ich?“, fragte Chiara erstaunt und sah zu ihrer Schwester auf.
„Woher soll ich das wissen? Du redest nicht mit mir.“
„Ich rede doch mit dir.“
„Ja, in Rätseln.“ Dakota sah sie lange an. Ihre Schwester war von Natur aus ruhig und redete wenig. Zumindest im Vergleich zu Dakota. Schließlich hatte sie Chiara solange niedergestarrt, dass diese zu erzählen begann.
„Ich hatte den Traum nicht zum ersten Mal. Doch er kommt immer nur freitags. Heute wollte ich ihn endlich einmal zu Ende träumen.“
Dakota sah ihre Schwester eindringlich an. „Wenn der Traum noch zwei Stunden gedauert hätte, hättest du heute die Schule geschwänzt, oder wie?“
„Nein, natürlich nicht. Ich musste aber wissen, was am Ende passiert.“
Dakota sah sie mit schiefem Kopf an und wartete ungeduldig. „Hat sich die Hektik denn gelohnt?“ Chiara nickte nur mit dem Kopf. „Erzählst du mir auch, um was es in deinem mysteriösen Traum geht?“
Als hätte sie Dakota die letzten Minuten nicht auf die Folter gespannt, begann sie zu erzählen: „Auf mich wirkt der Traum sehr real, als hätte ich eine ähnliche Situation schon einmal erlebt. Außerdem gibt er mir das Gefühl, wahr zu werden.“
„Geht dann die Welt unter?“ Dakota klang wenig beeindruckt.
„Nein, es betrifft nur uns zwei, mehr oder weniger zumindest.
„Ich komme also auch vor in deinem Traum?“ Dakota schien die Sache immer suspekter zu werden.
Chiara zuckte unbeholfen mit der Schulter. „Genaueres kann ich dir nicht sagen, weil ich da selbst noch nicht so ganz durchblicke.“
„Na gut, sobald du schlauer bist, klärst du mich auf, einverstanden?“
„Dann musst du mir einen Gefallen tun.“
„Und der wäre?“ Dakota machte sich auf alles gefasst.
„Es wäre nett, wenn du nächste Woche eine Milch für mich warm machen würdest und mein Brot schmierst. Dann habe ich fünf Minuten länger, in denen ich den Traum verstehen kann.“
„Hast du ihn denn nicht zu Ende geträumt?“
„Ja.“
„Dann weißt du doch, wie er ausgeht.“ Dakota verstand den Aufwand nicht.
„Wenn ich ihn noch einmal sehen kann, kann ich dir vielleicht auch genaueres sagen.“ Chiara merkte, dass Dakota nicht richtig überzeugt war. „Also was ist jetzt?“
Dakota schaute sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Wenn es sonst nichts ist, Zwilling.“
„Schön.“ Mit einem Lächeln als Chiara weiter.


„Was die Lehrer wohl heute mit uns vorhaben?“, scherzte Dakota und schnürte sich ihre Schuhe zu.
„Ist doch klar: Uns mit ihren langweiligen Geschichten der Vergangenheit überhäufen und die Bedeutung der Zahlen verständlich machen.“
„Du hast noch eine Sache vergessen: Töten. Diese Langeweile kann auf Dauer keiner überleben“, fügte Dakota an.
Fertig angezogen ging Dakota nach draußen und wartete auf Chiara. „Wo bist du heute mit deinen Gedanken?“
Verdutzt schaute Chiara sie an. „Wieso?“
„Wieso? Soweit ich mich erinnern kann, hat unser Haus, wie alle anderen, eine Türe.“
Chiara warf einen Blick nach hinten. „Wohl nicht in der Gegenwart“, beantwortete Chiara die Frage und zog die Türe zu: „Eher noch in meinem Traum.“
„Daher weht der Wind.“
Chiara zuckte mit der Schulter.
„Vielleicht solltest du von deinen Gedanken Abstand nehmen.“
„Vielleicht. Allerdings lässt mich dieser Traum nicht mehr los. Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr entweicht er mir.“
„Denk zwischendurch an etwas anderes“, schlug Dakota vor: „Soll helfen.“
„Vielleicht hast du recht“, meinte Chiara und hackte sich bei ihrer Schwester ein. Gemütlich schlenderten sie durch die neu gebaute Siedlung. Die Sonne bahnte sich einen Weg durch die Wolken und konnte ein paar Strahlen auf den trägen Frühlingsmorgen werfen.
„Womöglich hilft es aber, mit jemandem darüber zu reden“, fing Chiara das Thema erneut auf und Dakota willigte mit einem Seufzer ein.
„Also gut. Lass mich an deinen Gedanken teilhaben. Vielleicht kann ich dir auf die Sprünge helfen.“
„Ich habe diesen Traum schon einmal gehabt.“
„Das hattest du bereits erwähnt und es soll vorkommen, dass man einen Traum mehrmals hat.“ Dakota versuchte geduldig zu klingen, doch es fiel ihr schwer.
Chiara ignorierte den Unterton in der Stimme ihrer Schwester. „Ich meine aber nicht die letzten Wochen.“
Verwirrt schaute Dakota sie an. „Das sagtest du vorhin aber.“
Chiara seufzte. „Ich weiß und erkläre mich für verrückt. Aber ich bin mir sicher, ihn von damals zu kennen. Als ich noch ein kleines Kind von circa drei Jahren war.“
„Du kannst dich an deine Träume aus deiner Kindheit erinnern?“ Dakota schüttelte den Kopf und bei dem Versuch, sich an ihre Kindheitsträume zu erinnern, scheiterte sie kläglich.
„Eigentlich nicht. Aber dieser Traum - ich weiß auch nicht. Er kommt mir so vertraut vor.“ Chiara klang nachdenklich.
„Okay“, sagte Dakota langsam und versuchte eine hilfreiche Frage zu stellen: „Ist es genau der gleiche?“
Chiara nickte, während Dakota nur den Kopf schüttelte. Die Sache wurde immer rätselhafter.
„Was willst du jetzt tun?“
„Wenn ich das wüsste.“
„Du hast heute das Ende des Traums geträumt. War da nicht was hilfreiches dabei?“, fragte Dakota.
„Eben nicht. Deswegen möchte ich ihn nächste Woche noch einmal träumen.“
„Bist du sicher, dass du ihn nächste Woche wieder haben wirst?“
„Den letzten drei Wochen nach zu urteilen, ja. Auf der anderen Seite, wie heißt es so schön: Alle guten Dinge sind drei.“
„Du kannst dein Leben doch nicht nach diesem Satz richten!“ Dakota war ungewollt lauter geworden.
„Tue ich gar nicht“, verteidigte Chiara sich.
„Darüber kann man streiten.“
„Mag sein. Aber wenn es nach diesem Satz geht – ich muss vermutlich zwischen den Zeilen lesen. Im übertragenen Sinne natürlich“, fügte Chiara an, ehe Dakota ihr wieder mit einer Verbesserung kam.
„Okay, jetzt wird es unheimlich“, sagte Dakota und versuchte tiefere Gedanken zu vermeiden. „Hast du noch irgendetwas Sinnvolles oder einen Hinweis, der uns weiter helfen könnte?“
Chiara grübelte. „Zwei Sachen. Erstens ist die Natur in dieser Gegend extrem gut erhalten worden.“
„Inwiefern?“
„Große Wälder und unendliche Wiesen, so gut wie keine Industrie. Das andere, was uns helfen könnte, beziehungsweise dir: Du hattest diese Träume damals auch.“
„Bist du dir sicher?“ Dakota klang, als würde sie ihre Schwester für verrückt erklären. Sie hatte gerade darüber nachgedacht, was sie damals für Träume hatte und konnte sich nicht erinnern.
„Ganz sicher. Wir haben immer darüber geredet, und als der Traum gar nicht mehr kam, waren wir sehr enttäuscht. Mit den Jahren haben wir ihn vergessen.“
„Da könnte etwas dran sein. Lass mich kurz überlegen.“ Dakota war nun doch skeptisch geworden.
Chiara wartete geduldig, während Dakota überlegte und sie in die Straße einbogen, in welcher ihre Schule war.
„Bilder“, nuschelte Dakota nachdenklich.
„Was?“, fragte Chiara und blieb stehen.
„Morgen ihr beiden“, wurden sie von einem Mädchen mit langen schwarzen Haaren begrüßt.
Chiara wandte sich irritiert dem Mädchen zu. „Morgen Bianca.“
„Alles Okay? Ihr seht schockiert aus.“
„Alles gut“, meinte Dakota und begrüßte sie mit einer kurzen Umarmung.
Zusammen gingen sie über den Schulhof auf die Türe zu.
„Wo ist Lorena?“, fragte Dakota an Bianca gewandt und versuchte das Thema ‚Traum‘ hinten anzustellen. Ihr war gerade ganz komisch zumute. Warum hatte sie sich von Chiara zu diesem Thema lenken lassen?
„Die ist schon rein. Wollte sich noch mal Erdkunde anschauen, da sie die letzte Probe nicht mitgeschrieben hat.“


„Einen wunderschönen Guten Morgen“, rief ihnen ein Mädchen aus der vorletzten Reihe zu, als sie das Klassenzimmer betraten.
„Guten Morgen. Hast du einen Clown gefrühstückt?“, fragte Dakota und setzte sich neben Lorena.
„Nein, ich bin einfach gut drauf.“
„Das merkt man. Gibt es dafür einen Anlass?“, fragte Chiara, doch Lorena schüttelte den Kopf.
„Sie war schon so aufgedreht, als sie zur Haustüre rausgekommen ist“, meinte Bianca, die sich neben Chiara setzte.
„Kannst du wenigstens Erdkunde?“, fragte Dakota ihre Freundin, deren Heft nicht einmal auf dem Tisch lag, wobei sie hatte lernen wollen.
„Jap.“
Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und holte ihre Unterlagen für die erste Stunde raus. Als die Türe wenig später ins Schloss fiel, stand die Klasse auf und begrüßte ihren Lehrer. Als alle saßen, ging er wie immer durch die Reihen und setzte seine Unterschrift unter die Hausaufgaben, ehe er einzelne Schüler aufrief, die die Ergebnisse für die Aufgaben sagen sollten. Wenn Herr Bennet nickte, lächelten die Schüler und falls er sie irritiert ansah, gaben sie die Aufgaben nochmals in den Taschenrechner ein.
„Das war sein neuer Rekord, oder?“, fragte Bianca kopfschüttelnd. „Hat jemand mitgezählt?“
„Nach vier Seiten habe ich aufgehört“, meinte Chiara und setzte sich auf die Bank im Pausenhof.
„Ich wette, er hat das in Kurzform aus dem Internet gezogen und sich extra für uns hingesetzt und aus zwei Seiten mal fünf gemacht“, scherzte Dakota und setzte sich ebenfalls.
„Zutrauen würde ich es ihm“, meinte Lorena und genoss die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Der restliche Vormittag verging nur träge. Die Worte der Lehrer gingen größtenteils an ihnen vorbei und so waren sie froh, dass sie nicht aufgerufen wurden.
„Schönes Wochenende“, verabschiedete sich Lorena, als sie um 12 Uhr das Schulgebäude verließen.
„Dann bis Montag“, meinte Bianca und ging zusammen mit Lorena nach Hause.
„Bis dann“, rief Dakota ihnen hinterher und ehe sie sich versah, wurde sie von Chiara mitgezogen.
„Was hast du heute Morgen genuschelt?“, fragte Chiara ohne Vorwarnung. Sie quälte sich bereits den ganzen Morgen mit der möglichen Antwort auf ihre Frage ab. Dass Dakota sie parat haben könnte, hatte sie schier verzweifeln lassen. Umso schlimmer war es, dass sich die Stunden wie Jahre angefühlt haben.
„Kannst du dich daran erinnern, dass wir damals Bilder gemalt haben? Von unseren Träumen?“ Dakota versuchte selbst einen tiefere Verbindung aufzubauen, scheiterte aber.
Chiaras Augen dagegen leuchteten auf und sie fiel ihrer Schwester um den Hals. „Du bist genial.“
„Ich tue was ich kann, auch wenn ich noch gar nicht fertig war. Bestimmt bewahrt Mum unsere Kindergartensachen irgendwo auf.“
„Wir fragen sie gleich beim Mittagessen. Die Bilder kamen in meinem Traum nämlich auch vor. Ich habe sie immer noch vor Augen.“
Dakota sah sie zufrieden und zugleich zerknirscht an.
„Aus diesem Grund wollte ich den Traum noch mal träumen. Ich wusste, dass mir einfach ein wichtiges Detail entgangen war.“
„Das ist alles schön und gut. Wir wussten aber damals schon nicht, woher wir die Träume hatten. Ich meine, von irgendetwas müssen sie kommen, so ausgeprägt wie sie waren. Außerdem finde ich es immer noch komisch, dass wir den Traum von dem einen auf den anderen Tag gar nicht mehr hatten. Als hätte jemand den Ausknopf gedrückt“, erklärte Dakota.
„Als hätte jemand den Schalter umgelegt. Und jetzt wieder. Soweit ich weiß, haben wir damals gesagt, dass wir die Bilder malen, in der Hoffnung, wenn wir groß sind, eine Antwort auf das alles zu finden. Und jetzt ist die Zeit gekommen.“
„Chiara, wir waren Kinder! Keine Ahnung was wir uns da alles vorgestellt haben.“ Zu viele Sachen passten nicht zusammen, doch ihrer Schwester zuliebe, blockte sie das Thema nicht ab. „Welche Erinnerungen hast du an die Träume, die uns helfen könnten? Ich habe so gut wie keine. Und genau das hat uns damals so verwundert: keine Erinnerung mehr. Als wollte jemand, dass wir die Vergangenheit vergessen. Über die Jahre haben wir die Tiefe der Träume nicht halten können.“
„Mag sein, aber jetzt wollen sie, dass wir uns erinnern, damit beschäftigen. Herausfinden, wovon diese Träume ausgehen. Was damals passiert ist und was wir erlebt haben. Oder warum sonst habe ich plötzlich wieder diese Träume?“
Dakota schien noch immer nicht richtig überzeugt zu sein, dennoch entschloss sie sich, ihrer Schwester zu helfen. „Dann lass uns herausfinden, was damals passiert ist. Auch wenn ich der Meinung bin, dass es seinen Grund gehabt hat, dass wir uns nicht mehr erinnern können.“
„Na also, dann lass uns den herausfinden.“
Dakota schüttelte den Kopf. „So habe ich das nicht gemeint. Ich wollte nur …“ Sie wusste nicht, wie sie ihrer Schwester ihren Standpunkt begreiflich machen sollte. „Glaub nicht, dass ich von der ganzen Sache überzeugt bin.“ Dakota sah ihre Schwester an, in der Hoffnung, sie würde ihre Auffassung realisieren.
„Wir fragen Mum gleich beim Mittagessen, wo sie unsere Kindergartensachen aufbewahrt.“
Auf dem restlichen Heimweg blieb das Thema zu Dakotas Dank im Hintergrund. Stattdessen lenkte sie das Thema auf die Schule.
„Wieso müssen Lehrer so gemein sein? Es ist Freitag“, sagte Dakota, schloss die Haustüre auf und ging auf die Treppe zu. Als Chiara bei ihr war, ging sie nach oben fuhr fort: „Ich gebe zu, dass Hausaufgaben wichtig sind, aber nicht so lebensnotwendig, um uns damit den ganzen Nachmittag zu beschäftigen.“ Sie warf ihren Rucksack auf ihr Bett und setzte sich dann selbst darauf: „Es gibt auch noch so etwas, wie ein Privatleben.“
„Vermutlich haben sie Angst, dass wir uns mit unnützen oder gehirnzellenvernichtenden Dingen beschäftigen.“
Dakota schaute ihre Schwester mit großen Augen an. „Gehirnzellenvernichtenden Dingen?“
„Du weißt, was ich meine.“
„Schon, ich bin mir aber nicht sicher, ob es dieses Wort gibt.“
„Jetzt schon. Ich habe Hunger. Lass uns runter gehen“, schlug Chiara vor.
Zusammen gingen sie nach unten ins Esszimmer, wo das Essen schon auf dem Tisch stand.
„Wir dürfen unsere Aufgabe nicht vergessen“, erinnerte Chiara ihre Schwester im Flüsterton.
„Aufgabe?“, fragte Dakota, schüttelte jedoch nur den Kopf, da ihre Schwester weitergegangen war. Sie hatte zugestimmt, dass sie dieser Sache nachgehen würden, doch die Intensivität, mit der Chiara sich mit diesem Thema befasste, machte ihr Angst.
„Hallo Mum“, begrüßten die beiden ihre Mutter und ließen sich auf ihre Stühle nieder.
„Hallo Mädchen. Wie war die Schule?“, fragte ihre Mutter, als sie mit einem weiteren Topf aus der Küche kam.
„Öde wie eh und je. Und der Nachmittag geht damit weiter“, sagte Dakota bei dem Gedanken an den Stapel Hausaufgaben, der oben auf sie wartete.
„Unsere Lehrer glauben uns den ganzen Tag beschäftigen zu müssen, auch dann, wenn wir nicht unter ihrer Aufsicht stehen“, fügte Chiara an.
„Schaden kann es nicht“, meinte ihre Mutter und ging noch einmal in die Küche.
„Guten Appetit meine Lieben“, begrüßte ihr Vater sie, als er das Esszimmer betrat. „Was riecht hier denn so gut?“ Er setzte sich ebenfalls und zusammen warteten sie, bis ihre Mutter Platz genommen hatte.
„Lasst es euch schmecken.“
„Dad, findest du nicht auch, dass Hausaufgaben überbewertet werden?“, versuchte Chiara ihren Vater auf ihre Seite zu ziehen.
„Schatz, auch auf die Gefahr hin, dass du mir das nicht glauben wirst, doch ich habe Hausaufgaben schon immer geliebt.“
„Na toll“, nuschelten die Zwillinge. Wenigstens in dieser Sache waren sie sich einig.
„Hättest du nicht Lust, welche für uns zu übernehmen?“, fragte Chiara mit wenig Hoffnung.
Ihr Vater lächelte leicht, sagte jedoch nichts dazu. Deshalb ging Chiara zu einem anderen Thema über. „Mum, hast du eigentlich unsere Kindergartensachen noch?“
Ihre Mutter hob den Kopf und sah sie überrascht an. „Ich habe alle eure Sachen oben im Zimmer verstaut. Warum fragst du?“
„Wir hatten vorhin Lust bekommen, uns die wieder mal anzusehen.“ Sie versuchte normal zu klingen, doch es klappte nicht so recht.
„Ich weiß zwar nicht, woher der Wind weht“, meinte ihre Mutter vorsichtig, „aber ihr könnt oben im Zimmer schauen. In irgendeinem Karton werdet ihr sie schon finden. Aber dass mir da keine Unordnung gemacht wird.“
„Versprochen“, meinte Dakota und aß weiter, als wäre nichts gewesen.
„Vergesst dadurch bitte nicht die Tatsache, dass ihr heute Training habt“, ermahnte sie ihr Vater.
„Werden wir schon nicht“, und als sie fertig gegessen hatten, räumten sie ihr Geschirr in die Spülmaschine und gingen nach oben auf ihr Zimmer.
„Was machen wir als Erstes?“, fragt Chiara, schloss die Türe hinter sich und setzte sich auf ihr Bett.
„Wenn wir jetzt die Sachen raussuchen, vergessen wir das Training wirklich“, meinte Dakota und ging ebenfalls zu ihrem Bett. Gerade als sie ihre Tasche nehmen wollte, fiel ihr Blick auf einen weißen Umschlag, der neben ihrer Tasche lag.
„Hast du den dort hingelegt?“, fragte sie Chiara und sah den Brief schief an.
„Wen oder was habe ich wohin gelegt?“, fragte Chiara und drehte sich zu Dakota um.
„Der Brief. Ist der von dir?“
„Soll das ein Witz sein? Ich schreibe doch keine Briefe.“
„Na gut, und wer hat ihn dann dort hingelegt?“
„Woher soll ich das wissen. Vermutlich ist es ein Liebesbrief von Marcel. Als du vorhin deine Tasche aufs Bett geschmissen hast, ist er herausgefallen.“ Chiara sah ihre Schwester an, in der Hoffnung, sie würde ihn aufmachen.
Dakota schaute ihre Schwester entgeistert an. „Ein Liebesbrief? Von Marcel? Du spinnst doch.“
„Dann mach ihn auf.“
„Ich denke gar nicht daran.“
„Du hast nur Angst vor der Wahrheit“, meinte Chiara neckisch, nahm ihre Schulbücher und setzte sich an ihren Schreibtisch.
„Habe ich nicht“, verteidigte Dakota sich, schmiss den Brief auf die Couch und ließ sich ebenfalls an ihrem Schreibtisch nieder, um die vielen Hausaufgaben zu erledigen. Erst wenn sie das hinter sich hatte, konnte sie sich aufs Wochenende freuen.

2. Kapitel




„Pünktlich wie immer“, lobte sie ihr Trainer. „Wenn ihr zusammen kommt.“
Dakota zog eine Grimasse und ging in die Umkleidekabine. Ihre Schwester folgte ihr.
„Muss er immer darauf herumhacken?“
„Es ist eine Tatsache, an der nur du etwas ändern kannst“, erklärte Chiara und zog ihre Ballerinas aus.
„Wenn ich pünktlich komme, kann er sich seine Bemerkungen aber auch nicht verkneifen“, versuchte Dakota sich weiter zu beschweren.
„Da gibt es zwei Möglichkeiten: ignoriere ihn oder überlege dir schlagfertige Sprüche.“
Dakota schaute ihre Schwester mit großen Augen an. „Ignorieren wird auf Dauer schwer, das musst du zugeben. Und die Sprüche werden mir früher oder später ausgehen.“
„Dann nutze die Zeit, pünktlich zu kommen. Irgendwann wird er schon damit aufhören.“
Dakota dachte darüber nach. Doch so wirklich zufrieden schien sie mit der Idee nicht. „Ich bin nicht hier um mich ständig zu rechtfertigen, sondern zum Tennis spielen.“
„Wenn das der einzige Grund ist“, meinte Chiara leise und schüttelte den Kopf. Ihre dunkelbraunen, glatten Haare band sie zu einem Pferdeschwanz, ihre schlanken Beine und Arme überzog sie mit Sonnencreme, ebenso ihre weichen Gesichtszüge.
Dakota ignorierte den Kommentar ihrer Schwester, nahm ihren Tennisschläger, stand auf und verließ die Umkleide. Draußen schien die Sonne und am Himmel war keine Wolke zu sehen. Dakota schaute auf dem Schwarzen Brett, das neben der Tür hing, welchen Platz sie heute hatten. Anschließend überflog sie die Anlage und kämmte ihre groben Wellen mit ihren Fingern zu einem Zopf zusammen.
„Wo spielen wir heute?“, fragte Chiara, die auch fertig war und sich neben Dakota gestellt hatte.
„Platz sieben. Und was wird das?“
„Das nennt man Capi und setzt man auf, damit man keinen Sonnenstich bekommt“, sagte Chiara, die gerade dabei war, ihrer Schwester eine aufzusetzen.
Dakota stöhnte, lies ihre Schwester aber machen. An ihren letzten Sonnenstich wollte sie gar nicht denken.
Gemeinsam gingen sie durch das Tor, welches die Felder separat einzäunte, und direkt zu Platz sieben. Als jede auf einer Seite stand, schmiss Chiara den Ball nach oben und schmetterte ihn auf Dakotas Seite. Diese traf den Ball mit Leichtigkeit und er flog zurück.
„Das sieht gar nicht mal so schlecht aus“, sagte ihr Trainer, der sie offenbar beobachtet hatte. „Auch wenn es für die Wimbledonspiele noch nicht reicht.“
„Wer sagt, dass wir dort überhaupt hin wollen?“, fragte Dakota und fuhr fort: „Wir machen das in erster Linie, weil es uns Spaß macht und nicht, damit wir irgendwelche Spiele gewinnen.“
„Das weiß ich“, sagte er grinsend. „Ich wollte euch nur daran erinnern, dass ihr da so schnell nicht hinkommt.“
„Jetzt übertreibst du. So schlecht sind wir nun auch wieder nicht“, verteidigte sich Chiara.
„Ansichtssache. Und jetzt spielt weiter.“
Die Zwillinge schauten ihn fassungslos an.
„Danke David, für diese aufmunternden Worte“, war das letzte, was Dakota sagte, bevor sie den Ball in die Luft warf und ihn mit Kraft und Schwung ins andere Feld bretterte. Am liebsten hätte sie den gelben Ball nach ihrem Trainer geschmissen, doch dann hätte er eine Angriffsfläche mehr, als nur ihre Unpünktlichkeit.
Nach dem Training ließen sie ihre Tenniskleidung an und zogen nur eine Jacke darüber.
„Bis Sonntag dann“, rief Dakota ihrem Trainer zu und Chiara winkte zum Abschied.
Als sie die Tennisanlage verlassen hatten, schlenderten sie die Straße entlang.
„Willst du eigentlich wirklich nicht an den Wimbledonspielen teilnehmen?“, fragte Chiara ihre Schwester.
„Momentan habe ich keine Lust daran oder an irgendeinem anderen Wettkampf teilzunehmen. Ausschließen möchte ich es aber nicht. Außerdem habe ich das vorhin nur gesagt, weil du meintest, ich soll mich gegen seine Angriffe wehren.“
„Das war doch kein Angriff.“
„Ach nein. Ich habe mich aber angegriffen gefühlt“, sagte Dakota, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen.
„Schon klar. Die Folge ist, dass er uns wie völlige Anfänger hingestellt hat, und er nun wirklich glaubt, dass wir keine Wettkämpfe mehr spielen wollen“, sagte Chiara und sah leicht gekränkt aus.
Dakota schaute ihre Schwester an. „Glaubst du, er hat mir das abgekauft?“
Chiara zuckte mit der Schulter und sie wechselten kein Wort mehr, bis sie zu Hause waren.
„Wir sind wieder da“, rief Dakota durchs Haus und ging nach oben. Gefolgt von Chiara legten sie ihre Tennisausrüstung ins Zimmer und verschwanden anschließend im Abstellzimmer, in welchem ihre Mutter unter anderem ihre Kindergartensachen aufbewahrte.
„Ach her je, hier ist auch seit Jahrzehnten nichts mehr passiert“, meinte Dakota, als sie das Licht anschaltete.
„Das kann man wohl sagen.“
Das Zimmer stand voll mit Kartons, auf denen die unterschiedlichsten Dinge standen. Auf den Kisten hatte sich eine dicke Schicht Staub abgelagert. Das Fenster war zugestellt und an jeder anderen Wand stapelten sich die Kartons bis an die Decke. Sonderlich ordentlich sah es auch nicht aus, sodass sie sich keine Sorgen machen mussten, ihre Mutter würde darüber meckern, wie sie das Zimmer hinterließen.
„Was ist da alles drinnen?“, fragte Chiara verwundert und überflog die Namen der Kartons.
„Auf jeden Fall eine Menge Spielzeug von uns. Möbelüberreste, Weihnachtssachen und Geschirr“, konnte Dakota auf den Kisten entziffern. „Aber das, wonach wir suchen, habe ich noch nicht gefunden.“
„Dann lass uns das Zimmer umkrempeln. Irgendwo müssen die Sachen schließlich sein“, meinte Chiara voller Eifer und fing an, sich durch das Zimmer zu arbeiten.
„Ich habe was gefunden. Da steht Dakota und Chiara 6-10 drauf. Könnten die Jahre mit gemeint sein“, meinte Chiara nach zehn Minuten.
Dakota bahnte sich einen Weg zu ihr. Chiara hatte bereits die Kartons darüber auf den Boden gestellt und den Deckel geöffnet.
„Und? Kannst du schon etwas sehen?“
„Nein, sieht nicht aus, als wäre hier etwas Brauchbares drinnen. Ich stelle ihn sicherheitshalber trotzdem zur Tür. Falls wir sonst nichts mehr finden, müssen wir uns die Sachen genauer anschauen.“
Dakota nickte zustimmend und ging wieder dorthin, wo sie gesucht hatte. Die Zeit verstrich und ihre Hoffnung sank.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir noch etwas finden“, meinte Dakota.
„Es muss aber doch noch etwas geben. Zum Beispiel aus der Kindergartenzeit.“ Chiara klang, als würde sie nicht aufgeben, bis sie fündig geworden ist. Und wenn sie dafür in jeden Karton einzeln schauen müsste. „Ich schau mir den Karton von vorhin noch mal genauer an.“
„Ist gut, ich mach hier noch weiter“, sagte Dakota und verschwand wieder zwischen den Kartons.
Während Chiara vorsichtig das Zeitungspapier entfernte und die im Karton verstauten Dinge der Reihe nach ansah, hatte Dakota Mühe, die schwarze Schrift auf den Kartons im hintersten Eck noch zu erkennen. Ständig wirbelte sie Staubflocken auf, die sie wegpustete.
„Mädchen, es gibt Abendessen“, drang die Stimme ihrer Mutter zu ihnen.
Chiara seufzte. „Wir kommen gleich“, rief sie ihrer Mutter zu und ging zu Dakota. „Wie sieht es aus?“
Dakota antwortete nicht gleich. Doch kurz darauf rief sie: „Ich hab ihn.“
„Was?“, fragte Chiara überrascht. „Kannst du ihn rausziehen?“
„Ich versuche es.“
Langsam zog Dakota an dem Karton. Je stärker sie zog, umso mehr lief sie Gefahr, dass der restliche Stapel Kartons in sich zusammenfiel. Nach einigem weiteren herum rucken hatte sie ihn vorne und die beiden schauten auf die Aufschrift: Dakota und Chiara – Kleinkindersachen.
„Wenn da nichts dabei ist, dreh ich durch“, meinte Chiara und riss den Deckel auf. Sie nahm das Zeitungspapier heraus und zum Vorschein kamen Wassermalfarben und Mappen. Die Zwei mussten lächeln, als sie die Mappen sahen, an die sie sich noch genau erinnern konnten: Kindergarten.
„Ich würde sagen, wir haben sie gefunden“, meinte Dakota und ließ sich von ihrer Schwester hochziehen.
„Gute Arbeit Schwester. Nur müssen wir jetzt zum Abendessen.“
Sie klopften die Staubflocken von ihrer Kleidung, schalteten das Licht aus und zogen die Türe hinter sich zu. Dakota besah die immer bessere Laune ihrer Schwester mit Argwohn. Ihrer Meinung nach steigerte sich Chiara viel zu sehr in diese Sache hinein. Und sollte der Karton nicht das zutage bringen, was sie vermutet, würde ihr das sehr zusetzen.
„Nach dem Essen nehmen wir die Mappen mit aufs Zimmer und den Karton verstauen wir wieder in der Ecke“, sagte Dakota.
„Was mich wundert: Warum steht der Karton, ausgerechnet der, den wir suchen, im hintersten Eck? Meinst du Mum oder Dad wissen irgendetwas von meinen Träumen?“
„Kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Sonst wäre Mum heute beim Mittagessen nicht so ruhig geblieben und hätte weiter nachgefragt.“
„Stimmt auch wieder.“
„Außerdem sind die Sachen alt und wurden lange nicht mehr gebraucht“, suchte Dakota nach weiteren Gründen, um Chiara von ihren fantasievollen Vorstellungen wegzutreiben.
„Das wird es sein.“
Sie setzten sich an den Tisch und aßen die doppelte Menge wie gewöhnlich.
„Geht es euch nicht gut?“, fragte ihre Mutter schließlich, als sie die beiden beim Essen beobachtete.
„Nein, warum?“, fragte Dakota.
„Ihr esst doch sonst nicht so viel.“
Dakota schaute zu Chiara, meinte aber: „Tennisspielen ist anstrengend. Da bekommt man Hunger.“
„Und von Hausaufgaben auch“, fügte Chiara an.
Ihre Mutter lächelte und gab sich mit der Begründung zufrieden.


„Steht alles wieder an seinem Platz?“, fragte Chiara, als Dakota zu ihr kam.
„Ich denke schon. Und wenn nicht, ist das auch nicht schlimm. Mum weiß schließlich, dass wir nach unseren Kindergartensachen schauen wollten.“
Chiara nickte. „Trotzdem habe ich ein komisches Gefühl bei der Sache.“
Mit den Mappen in der Hand gingen sie in ihr Zimmer. Sie setzten sich auf den Boden und öffneten sie. Langsam zogen sie die verschiedengroßen bunten Bilder heraus und breiteten sie auf dem Teppich aus. Chiara nickte bei vielen Bildern, als würde sie sich genau erinnern, wie sie sie damals gemalt hatte.
Dakota schaute sich einige Zeichnungen genauer an und versuchte eine Verbindung zwischen den einzelnen Bildern herzustellen. Sie überlegte lange, bevor sie sprach.
„Je länger ich mir die Bilder ansehe, umso mehr kann ich mich erinnern. Aber verstehen tue ich trotzdem nicht mehr.“
„Unsere Erinnerungen kommen zurück. Das heißt, wir müssen dran bleiben.“
Dakota nahm sich drei Bilder und setzte sich damit auf die Couch. Etwas unter ihr raschelte und sie zog es hervor. Der Brief. Dakota seufzte.
„Was ist los?“, fragte Chiara und warf über die Schulter einen Blick zu ihrer Schwester.
Dakota hielt den weißen Umschlag hoch und meinte: „Ich mache ihn auf.“
„Gut so. Sei mutig.“ Chiara musste grinsen, wandte sich aber sogleich wieder den Bildern zu.
Dakota riss den Umschlag auf und zog ein DIN-A6 großes, pergamentenes Papier heraus.
„Pergament“, nuschelte Dakota kopfschüttelnd und entfaltete den Brief. Sie fing an zu lesen, wobei ihre Augen immer größer wurden. „Chiara, komm her.“
„Hat dich seine Liebeserklärung jetzt total vom Hocker gehauen?“, fragte Chiara und konnte sich das Lachen kaum verkneifen. Sie setzte sich neben ihre Schwester, die ihr den Brief in die Hand drückte. Nachdem sie die Anrede und den ersten Satz überflogen hatte, las sie den Brief laut vor:


Liebe Chiara, liebe Dakota,
dass ich euch so überrumpel, tut mir leid, doch eine andere Möglichkeit habe ich nicht gesehen, um mit euch in Kontakt zu treten. Doch ich muss mit euch reden. Es geht um eure Zukunft und um die vieler anderer. Ihr seid nicht die, für die ihr euch haltet. Meine Bitte an euch: Vertraut mir! Wie? Das kann ich euch nicht verraten, leider. Aber ich bitte euch inständig, zu kommen. Alleine. Morgen gegen zwölf Uhr am Waldrand bei euch um die Ecke. Ich weiß, wie viel ich euch abverlange, doch bitte vertraut mir. Ich freue mich auf euch.
Herzliche Grüße, eine Verwandte




Chiara starrte noch immer auf das Geschriebene. Langsam schüttelte sie den Kopf.
„Hattest du eine Vorahnung, dass das kommen würde?“, fragte Dakota aufgebracht.
„Nein, hatte ich nicht. Aber langsam wird mir das alles ziemlich unheimlich. Erst dieser Traum, dann die Erinnerung an die Bilder und jetzt dieser Brief. Ich weiß zwar noch nicht wie, aber die Teile hängen alle zusammen.“
„Ich glaube auch, dass eine Verbindung besteht, besonders zu deinem Traum: Es geht nur uns beide etwas an. Allerdings weiß ich nicht, ob ich der Bitte nachkommen kann“, meinte Dakota.
„Du bist doch sonst so abenteuerlustig. Aber ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, ob ich das kann. Wir sollten über diese Entscheidung eine Nacht schlafen und morgen früh entscheiden.“
Chiara stand auf und setzte sich wieder über die Bilder. Doch sie konnte sich nicht darauf konzentrieren.
„Aber wer könnte es sein? Glaubst du, wir kennen sie?“
„Du meinst aus unserem Umfeld? Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Aber unterzeichnet ist es mit ‚Eine Verwandte‘“, meinte Chiara nachdenklich.
„Das schon. Aber sag mir wer? Und mal ganz nebenbei: Das hätte jeder schreiben können.“
Chiara schaute ernst zu ihrer Schwester. „Ich hätte noch eine Idee, auch wenn sie mehr als verrückt ist.“
Dakota sah von ihren Bildern auf und blickte erwartungsvoll zu Chiara.
„Es gibt eine Person, die wir nicht kennen und sie uns nicht. Zumindest denke ich das.“
„Komm bitte auf den Punkt“, Dakota war nicht für Spielchen aufgelegt.
„Sie ist mit uns verwandt, mehr als verwandt.“ Chiara machte eine kurze Pause. „Unsere Schwester.“
Dakota klappte der Kiefer nach unten. „Das ist wirklich sehr weit hergeholt.“
„Ich weiß. Aber ich möchte es nicht ausschließen.“
„Willst du Mum oder Dad darauf ansprechen?“, fragte Dakota.
„Nein. Wir sollten das erst einmal alleine durchziehen.“
„Wie du meinst. Aber sag mir einen Grund, weshalb sie ihren Tod nur vorgetäuscht haben sollten.“
„Darauf kann ich dir keine Antwort geben und wie gesagt: Es war nur ein fixer Gedanke.“ Doch Chiara klang nachdenklich, als würde sie es in Betracht ziehen, dass ihre Vermutung der Wahrheit entsprechen könnte.
„Kannst du dich daran erinnern, wie sie hätte heißen sollen?“
Chiara schüttelte den Kopf.
„Lass uns ins Bett gehen. Ich jedenfalls bekomme heute nichts mehr zustande.“
Chiara nickte zustimmend. Müde und mit Tausenden Gedanken machten sie sich fertig und gingen schlafen.


„Bist du wach?“, fragte Chiara am nächsten Morgen an Dakota gewandt.
„Jap. Schon eine ganze Weile. Ich konnte nicht mehr einschlafen.“
„Über was denkst du nach?“
„Ob wir zu diesem Treffen gehen sollen oder nicht.“
„Ich habe auch darüber nachgedacht“, gestand Chiara und setzte sich ins Bett. „Wir sollten hingehen.“
Dakota drehte ihren Kopf, bis sie ihre Schwester sah. „Bist du dir sicher?“
„Ja, und hör auf zu fragen, bevor ich es mir anders überlegen kann.“
„Also schön, gehen wir hin. Aber ich bin dafür, dass wir Mum und Dad Bescheid geben …“
„Bist du verrückt?“, fiel Chiara ihr ins Wort.
„Doch nicht die Wahrheit! Wir sagen, wir machen einen Spaziergang durch den Wald und sind bis zum Mittagessen zurück.“
„Ich dachte schon“, sagte Chiara erleichtert.
„Ich bin doch nicht verrückt!“, sagte Dakota übertrieben und musste lachen. Chiara warf ein Kissen nach ihr und stand auf.
Kurz nach viertel zwölf machten sie sich auf den Weg zum Wald. Sie liefen die Straße entlang und bogen am Ende auf den Weg, der in den Wald führte, ab. Je näher sie der Waldung kamen, desto langsamer wurden sie.
„Ich habe Angst“, sagte Chiara und blieb stehen.
„Wer war heute Morgen denn voller Überzeugung, zu diesem Treffen zu gehen?“, fragte Dakota. „Außerdem weiß Mum, wo wir sind.“
„Super. Das bringt uns nicht viel, wenn sie uns gleich angreift.“
„Jetzt komm mal wieder runter. Mir wird auch ein wenig mulmig bei dem Gedanken, aber ich mache keinen Rückzieher.“ Dakota wandte sich Chiara zu und fügte schnell an: „Du auch nicht. Jetzt komm.“
Dakota zog Chiara am Arm mit sich. Chiara stolperte ihr hinterher. Ihre Füße machten nicht so richtig, was sie sollten.
„Können wir nicht doch einen Rückzieher machen?“, fragte Chiara, als sie dem Waldrand näher kamen.
Kopfschüttelnd schaute Dakota sie an. „Nein.“
„Ich bin nicht so abenteuerlustig wie du. Keine Ahnung, was mich heute Morgen zu dieser überzeugenden Antwort getrieben hat. Aber manchmal sollte man auf seinen Verstand hören.“
„Ich kann verstehen, dass du Angst hast. Aber du bist nicht alleine. Wir stehen das zusammen durch. Wenn sie lebt, will ich sie sehen. Das hast du dir selbst eingebrockt.“
„Mag sein“, meinte Chiara bedrückt. „Was machen wir, wenn das alles ein schlechter Scherz war oder wir uns zu stark hineingesteigert haben?“
Dakota war stehen geblieben und sah ihre Schwester prüfend an. Sollte sich alles, was sie sich zusammengereimt hat, als falsch herausstellen, würde Chiara daran zerbrechen. Sie hatte bereits einen großen Rückschlag einstecken müssen im Leben. Ein weiterer würde ihr nicht gut bekommen.
„Dann wird das eine große Enttäuschung. Ich würde mich schon freuen, wenn sie lebt“, meinte Dakota und fuhr etwas ernster fort: „Ich kann mir aber auch vorstellen, dass ihr Tod ein schlechter Scherz war.“
Chiara schien darüber nachzudenken. „Glaubst du, Mum und Dad haben uns all die Jahre angelogen und sie lebt?“
„Könnte sein. Vielleicht ist bei der Geburt gar nichts schief gelaufen.“
„Dass unsere Eltern einfach nur zwei Kinder wollten? Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Chiara entsetzt. Sie hatte eine schwere Kindheit hinter sich und würde ihren Eltern eine solche Tat nie zutrauen.
„Ich habe langsam noch einen anderen Verdacht.“ Zögernd ging Dakota weiter.
Chiara schaute sie fragend an. „Was meinst du?“
„Es wäre doch möglich, dass unsere Eltern keine eigenen Kinder wollten“, Dakota sah sie kurz an, ehe sie weitersprach, „oder keine bekommen konnten.“
„Ich komme gerade nicht ganz mit.“ Chiara holte zu ihrer Schwester auf und sah sie auffordernd an.
„Ich glaube, wir …“, sagte Dakota, doch ein Geraschel aus dem Gebüsch lies sie innehalten.
Das Knistern wurde lauter. Jemand bahnte sich offensichtlich einen Weg durch das Gestrüpp.
„Da kommt jemand“, hauchte Chiara.
Unentschlossen, was sie tun sollten, schauten sie sich angespannt an. Ihre Augen sprachen Rennen, aber ihre Beine bewegten sich keinen Millimeter. Sie standen wir festgefroren da. Als sie es endlich geschafft hatten, sich umzudrehen, hörten sie eine Stimme hinter sich.
„Wartet.“

3. Kapitel



Wie vom Schlag getroffen, blieben sie stehen. Ein eisiger Schauer lief ihnen den Rücken hinab und das Atmen fiel ihnen schwer. Nachdem die Schritte hinter ihnen gestoppt hatten, vernahmen sie nur noch das bedrohliche Rascheln der Bäume im Wind.
„Ich bin erleichtert, dass ihr gekommen seid“, sagte eine freundlich klingende Mädchenstimme und da Dakota und Chiara keine Regung zeigten, fügte sie an: „Ihr braucht keine Angst zu haben. Der Grund meines Besuches entstammt guter Absicht.“
Dakota entfuhr ein lautes ein- und ausatmen, in dem man ihr Zittern bemerkte. Kurz darauf hob sie ihren rechten Fuß und machte den ersten Schritt zur Drehung. Ihr Kopf war dem Boden zugewandt, und als sie dem Mädchen gegenüberstand, sah sie auf. Der Anblick stockte ihr den Atem und sie war unfähig, etwas zu tun.
Chiara rang sichtlich mit sich, ob sie Dakotas Handlung folgen sollte. Wenn auch widerwillig, drehte sie sich schließlich um. Langsamer noch als ihre Schwester, den Kopf gerade, dafür die Augen geschlossen. Als sie sie öffnete, blieb ihr die Stimme weg.
Das Mädchen ihnen gegenüber glich ihrem Spiegelbild: Die gleichen, zarten Gesichtszüge, schokobraune, achsellange Haare, die glatt über ihrer Schulter lagen. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, eine schwarze Jacke und Stiefel. Auch wenn sie nicht sonderlich aufgestylt war, sah sie doch elegant aus. Ihre Lippen brachten ein schwaches und unsicheres Lächeln hervor.
„Ich bin Tamina Stelara, eure Schwester“, stellte sie sich ein wenig unbeholfen vor.
„Tot“, nuschelte Chiara, sah ihr in die Augen und fügte deutlicher hinzu: „Nach unserem Wissen bist du Tot.“
„Ich weiß, was ihr als Wahrheit zu wissen glaubt. Zugleich ist mir eure Existenz erst seit wenigen Tagen bekannt.“ Sie klang noch immer freundlich und ihr Auftreten beruhigte sie, wenn auch ihre Wortwahl sie irritierte.
„Wo warst du all die Jahre?“, fragte Dakota, die sich langsam beruhigte.
„Zuhause.“ Sie bemerkte das Zögern der beiden. „Gerne würde ich euch mehr über den Grund meines Besuches erzählen.“ Als die beiden noch immer keine Regung zeigten, fügte sie an: „Ein Stück in den Wald hinein konnte ich eine Bank ausmachen. Wir könnten dort Platz nehmen und uns in Ruhe unterhalten. Was haltet ihr davon?“
Dakota zuckte mit der Schulter und sah zu Chiara. Die war mit der Situation überfordert und so entschied Dakota alleine.
„Meinetwegen. Du hast eine Stunde Zeit“, stellte sie die Bedingung.
„Das sollte uns genügen.“
Tamina wandte sich um und ging langsam auf den Wald zu. Dakota nahm die Hand ihrer Schwester, zog sie vorsichtig mit sich und ließ sich, zwischen Tamina und Chiara, auf der Bank nieder.
„Dann schieß mal los“, forderte Dakota, um das Schweigen zu brechen, wenn sie selbst auch nicht weiter wusste.
Tamina atmete tief durch. „Du hast mich soeben gefragt, wo ich die letzten Jahre gelebt habe. Die Antwort ist für euch nicht so einfach, wie ihr sie euch vorstellt. Mein Zuhause befindet sich nicht auf der Erde. Ich residiere in Jaineba, dem Kaisersitz von Levona.“
„Le … was?“, fragte Dakota sichtlich irritiert.
Tamina lächelte. „Levona ist ein Planet im Andromedanebel, der nächstgrößten Galaxie der Milchstraße.“
„Wenn ich ehrlich bin, habe ich noch nie davon gehört, mit Ausnahme des Andromedanebels.“
„Das ist nicht verwunderlich. Keiner der hier Lebenden hat je von ihr gehört.“
„Warum lebst du in einer für uns nicht existierenden Welt und wir hier, wenn wir doch Schwestern sind?“, fragte Dakota.
„Es gibt eine relativ leichte Erklärung, wenn für euch auch nicht gleich begreifbar. Wir drei sind vor 16 ½ Jahren in Jaineba geboren. Unsere Eltern haben euch weggegeben, als ihr gerade einen Monat alt wart. Ihr dürft das nicht falsch auffassen. Bei diesem ‚weggeben‘ geht es nicht darum, dass man seine Kinder nicht mehr sein Eigen nennen möchte. Dies geht einer langen Tradition zum Schutz des Volkes nach.“ Tamina hielt kurz inne, damit die Zwei verstehen konnten. „Sie gaben euch in ein Waisenheim, von wo euch eure jetzigen Eltern adoptiert haben.“
„Also doch“, murmelte Dakota gedankenverloren.
„Was meinst du damit?“, fragte Chiara leise, die dem Gespräch, ohne ein Wort ihrerseits, gefolgt ist.
„Ich war vorhin dabei gewesen, etwas auszusprechen, bin aber nicht mehr dazu gekommen.“
Chiara sah Dakota eindringlich an, schwieg aber weiter. Ein flaues Gefühl machte sich in ihr breit.
„Sie sind nicht unsere Eltern?“, fragte Chiara erschüttert und legte ihren Kopf an Dakotas Schulter.
Dakota stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte den Kopf.
„Ihr wart nicht darüber informiert, dass ihr adoptiert seid? Eure Eltern haben bis zum jetzigen Zeitpunkt kein Wort darüber verloren?“ Tamina klang erschüttert.
„Sie haben nicht einmal eine Andeutung gemacht“, sagte Chiara kalt.
„Das tut mir leid. Ich war wirklich der Meinung, ihr wüsstet Bescheid.“ Sie sah die beiden nacheinander an. „Dass ihr nicht von dieser Welt seid, das hätten sie euch nie sagen können. Ihr hättet von ihnen nie die ganze Wahrheit in Erfahrung bringen können. Nur das bisschen Wahrheit, das sie selbst kannten.“
„Unser ganzes Leben ist eine reine Lüge“, sagte Dakota niedergeschlagen.
„In diesem Umfang würde ich dies nicht kundtun. Ihr, euer Wesen, ist keine Lüge“, versuchte Tamina die Situation zu retten.
„Woher wussten Mum und Dad aber, dass wir Drillinge waren?“, fragte Chiara. „Von deinen Leuten wird wohl kaum einer gesagt haben: Hey, das sind eigentlich Drillinge, aber was solls.“
Dakota warf ihr einen erschrockenen Blick zu. So zerschlagen hatte sie ihre Schwester noch nie erlebt.
„Zu dieser Frage weiß ich leider keinen Rat. Ungeachtet dessen ich euch recht geben muss. Vielleicht kann ich unseren Vater danach fragen.“ Nach längerem Zögern nahm sie das Gespräch wieder auf. „Dieses ‚weggeben‘ basiert auf einer Tradition. Vor langer Zeit gab es einen Bürger, der mit der Regierungsform nicht glücklich war. Sein Name war Cantarus. Er versuchte andere Bürger von seinem Befinden zu überzeugen. Obwohl im nur wenige folgten, stellte er sein Glück auf die Probe und trat vor den damaligen Kaiser. Machte ihm ein Angebot für eine bessere Regierung. Doch der Kaiser lehnte ab. So geschah es, dass er seine Idee mit den wenigen Verbündeten, die ihm blieben, umsetzte und hatte Erfolg. Seither beherrscht er die kleinere der beiden Inseln, heute Cantara. Noch heute werden unzählige Kämpfe ausgefochten, welche etliche Tote fordern. Fünf Jahre ist es nun zurückliegend, als unsere Mutter unter ihnen war. Dieses Schicksal hat Levona sehr mitgenommen und eine große Wunde in ihrer Hoffnung hinterlassen. Obgleich er seither keinen Angriff mehr gestartet hat, rechnen wir Tag für Tag damit.“
„Wieso hat ausgerechnet der Tod unserer Mutter solche Wunden hinterlassen, wo doch unzählige Menschen gestorben sind?“, fragte Dakota.
„Unsere Mutter war und ist, trotz ihres Ablebens, bis heute Kaiserin Helena von Levona. Wir als ihre Kinder die rechtmäßigen Erben auf den Thron.“
Die letzten Worte ließen Chiara aus ihrer Trance erwachen. Je länger sie darüber nachdachten, umso mehr verstanden sie.
„Das ist der Grund, weshalb du hier bist?“, fragte Chiara.
„So ist es. Seit ihrem Tod regiert unser Vater das Land alleine. Doch es fällt ihm schwer, auch wenn er es nicht zugeben würde. Was uns anbelangt, so sind wir Prinzessinnen. An unserem 17. Geburtstag werden wir zu Königinnen gekrönt. Fortan regieren wir Levona gemeinsam, bis eine von uns, wenige Jahre später, zur Kaiserin, und alleinigen Herrscherin, gewählt wird.“
„Weißt du, wie sich das anhört?“, fragte Chiara an Tamina gewandt. „Wie ein Märchen. Du schläfst ein, bist plötzlich Prinzessin und hast eine Bestimmung und musst ein Volk retten.“
„Wissen kann ich es nicht. Doch glaube ich mir vorstellen zu können, wie es in euren Ohren klingen mag.“
Die Mädchen schwiegen eine ganze Weile, lauschten den Vögeln und folgten den weichen, zarten Wolken am strahlendblauen Himmel. In der Tat wirkte es für sie wie ein Traum.
„Wie soll das funktionieren? Wir können nicht aus heiterem Himmel ab Morgen ein Land regieren“, äußerte Chiara ihre Bedenken.
„Das sollt ihr auch nicht. Ein halbes Jahr werdet ihr nach strengem Plan in den wichtigsten Grundlagen ausgebildet. Erst dann, an unserem Geburtstag, beginnt der wirklich neue Lebensabschnitt“, versuchte Tamina die Wucht der aufeinanderfolgenden Ereignisse zu dämpfen.
Dakota schüttelte den Kopf. „Ich bin ja wirklich abenteuerlustig, aber das ist zu viel. Ein Land regieren – ich kann das nicht.“
„Ich möchte euch in diesem Moment zu nichts überreden. Doch wäre ich euch sehr verbunden, wenn ihr mich mehr von meinem Land erzählen lasst und was auf euch zukommt.“
Dakota zuckte mit der Schulter. „Meinetwegen.“
„Warum wurden wir weggegeben? Du hast etwas von einem Land erzählt, aber in welchem Zusammenhang stehen das?“, fragte Chiara, um die Hintergründe kennenzulernen.
„Durch den Verzicht auf seine Kinder für ihre erste Lebenshälfte kann Cantara, unserem Feind, unterschlagen werden, wie viele ebenbürtige Gegner er in der nächsten Generation haben wird. Denn es wurde herausgefunden, dass Tarus, der jetzige König, seine Kriegszüge über Monate, wenn nicht Jahre, hinweg plant. Bezogen auf seine, ihm bekannten, Gegner.“
„In den letzten Jahren hat er euch aber in Frieden gelassen, sagtest du“, versuchte Dakota eine Logik zu erkennen.
Tamina nickte und seufzte. „Wir sind uns sicher, dass er gegen ein ohnehin unterlegenes Land nicht kämpfen möchte.“
„Also wird er uns angreifen, sobald wir die Krone tragen“, meinte Dakota und sah mit skeptischem Blick zu Chiara, die unbeholfen den Kopf schüttelte.
„Nenn mir einen Grund, weshalb wir unser Leben riskieren sollen, wenn wir als Gegenleistung auch ein völlig unbeschwertes haben können?“, fragte Chiara. „Ein Leben, das wir kennen und lieben.“
„Ihr wäret bei eurer Familie, dort wo ihr geboren seid. Könntet …“, begann Tamina, brach aber ab.
„Was?“, fragte Dakota.
Tamina schüttelte leicht den Kopf.
„Das mögen Gründe sein“, stimmte Chiara zu. „Und ich muss zugeben, dass du mich ein wenig neugierig gemacht hast. Ob ich allerdings mein bisheriges Leben einfach abbrechen kann, weiß ich nicht. Für mich klingt es noch immer wie in einem Traum und ich warte darauf, dass ich aufwache.“
„So absurd es sich für euch anhören mag, es ist die Wahrheit“, versicherte Tamina.
„Haben wir überhaupt eine Möglichkeit, zu wählen?“, fragte Dakota.
„Natürlich. Die Tradition bringt die Gefahr mit sich, dass sich die weggegebenen Kinder nicht aus ihrer Welt reisen lassen wollen. Das müssen wir akzeptieren. Dennoch solltet ihr das Thema nicht leichtfertig handhaben. Für einige Menschen steht eine Menge auf dem Spiel.“ Tamina klang ernster als zuvor.
„Was passiert, wenn wir uns gegen Levona entscheiden, du alleine zurückgehst und auch die alleinige Herrschaft übernimmst?“, fragte Dakota, die voran kommen wollte.
„Zunächst müssten wir dies zeitnah den Bürgern mitteilen, anschließend folgt ein Bürgerentscheid. Entweder stimmen sie einer alleinigen Herrschaftsnachfolge zu oder sie wählen uns ab. Dann wird logischerweise eine neue Familie gewählt. Für Dad und mich würde dies bedeuten, dass wir ein Haus in vermutlich einer anderen Stadt bekommen würden und dort den Rest unseres Lebens verbringen.“
„Es hat aber keine schlimmen Folgen für euch wie etwa die Todesstrafe?“, wollte Dakota sichergehen.
„Eine Todesstrafe wurde bisher nicht verhängt. Nicht einmal an den damaligen Kaiser, in dessen Regierungszeit Cantarus Land gewonnen hat.“
„Was ist mit der Alternative, dass ihr die Tatsache, dass es uns zwei gibt, verheimlicht?“, wollte Chiara einen Ausweg finden. „Offensichtlich habt ihr das bisher ja auch geschafft.“
Tamina lachte kurz auf, ehe sie wieder ernst wurde. „Bisher hat es keiner gewagt. Doch das Gesetz schreibt einen Gefängnisaufenthalt wegen Betrugs vor und fordert den Entzug einer wichtigen Eigenschaft dieser Personen. Meist bedeuten einem diese Eigenschaften mehr als das eigene Leben.“
„Das wäre ja eine tolle Karriere. Erst Königin und dann Häftling“, meinte Chiara leise.
„Deshalb weiß ich nicht, ob die Todesstrafe schlimmer ist, als ein Gefängnisaufenthalt.“
„Was wäre ein Beispiel für das, was sie euch nehmen?“, fragte Dakota.
Tamina sah zwischen den beiden hin und her, scheinbar um abzuwägen, wie viel sie ihnen im Voraus sagen sollte.
„Mir würden sie die Magie nehmen.“
Dakota war sich nicht sicher, ob sie Tamina richtig verstanden hatte. „Magie? Inwiefern?“
„Ich kann zaubern. Bis zur Krönung nur bedingt, aber ich vermag mir ein Leben ohne Magie nicht mehr vorstellen.“
„Erzähl mehr darüber“, forderte Chiara, doch Tamina schüttelte den Kopf.
„Ich möchte nicht, dass ihr eure Entscheidung davon abhängig macht. Soviel mir diese Fähigkeit auch bedeutet, heißt es nicht, dass es einfach ist, mit ihr zu leben. Im Gegenteil. Erst durch die Magie hast du überhaupt die Möglichkeit, Kaiserin zu werden. In dieser Stellung, aber auch schon in der der Königin, sind wir verpflichtet, gegen den Feind zu kämpfen. An erster Stelle. Wir sind es, die das Volk verteidigt.“
„Das heißt, wir können auch zaubern?“, fragte Dakota mit ein wenig Hoffnung.
„So ist es. Mehr dazu erst, wenn ihr euch entschieden habt.“
„Ist vermutlich besser“, gestand Dakota und warf einen Blick auf ihre Uhr. „Wir sollten uns ein wenig beeilen.“
„Von meiner Seite aus gibt es noch einen wichtigen Punkt, den ihr kennen solltet“, sagte Tamina. „Eure erste Reise nach Levona könnt ihr ohne Bedenken antreten. In den ersten 28 Stunden vergeht hier auf der Erde keine Sekunde.“
„Soll heißen, wir können uns das alles anschauen und später genau hier weiter machen?“, fragte Dakota und Tamina nickte.
„Sollten wir über diesen Zauber noch mehr wissen?“
„Fürs Erste genügen das. Entscheidet ihr euch für die Reise, werden wir all diese Themen mit unserem Vater detaillierter durchgehen.“ Tamina sah die beiden vorsichtig an. „Da ich mir nicht sicher bin, dass ihr diese Tatsache richtig aufgefasst habt, möchte ich sie deutlich aussprechen: Entscheidet ihr euch für Levona gibt es kein Zurück. Ihr lebt dann für immer in Levona. Ein Besuch auf der Erde wird es vermutlich nicht geben.“
„Keine Chance?“ Dakota sah ihre todgedachte Schwester an, als hätte diese den Verstand verloren.
„Wenn wir unsere Eltern nicht mehr sehen dürfen, was passiert dann mit ihnen? Ich meine, sie werden sich Sorgen machen.“ Chiara rechnete mit dem schlimmsten und doch würde sie mit der Antwort hart zu kämpfen haben.
Tamina sah sie entschuldigend an. „Ein Vergessenszauber wird alle Erinnerungen an euch vernichten. Für sie wird es so sein, als hätte es euch nie gegeben. Eure Zimmer werden einem anderen Zweck nach eingerichtet. Nichts wird daran erinnern, dass ihr jemals hier gelebt habt. Dasselbe gilt für eure Freunde.“
Chiara und Dakota schluckten, bei der Vorstellung, alles, was sie kennen, loszulassen. Nie mehr wieder mit ihren Freunden reden zu können. An ihnen vorbeizugehen und unerkannt zu bleiben.
„Entscheidet ihr euch gegen Levona, so werdet auch ihr alles über dieses Leben vergessen, einschließlich der Tatsache, dass ihr adoptiert seid.“ Tamina sah sie beiden abwechselnd an. „Denkt in Ruhe darüber nach. Eure erste Entscheidung ist keine unumstößliche. Doch die Nächste müsst ihr innerhalb von 28 Stunden treffen.“
„Wie lange gibst du uns?“, fragte Dakota.
„Ich würde euch gerne mehr Zeit geben, aber es wäre gut, wenn wir uns morgen wieder sehen.“
„Morgen?“, rief Chiara überrascht aus.
„Wie soll man sich da etwas ruhig durch den Kopf gehen lassen?“, fragte Dakota.
„Ich gehe lediglich meiner Verantwortung nach.“ Nach einem prüfenden Blick zu den beiden fügte sie an: „Ich bin froh, dass ich diese Entscheidung nicht treffen muss und dennoch hoffe ich, dass ihr die richtige trefft.“
„Wie du meinst“, sagte Dakota und stand auf. „Dann bis morgen.“
Tamina nickte leicht und sah den beiden nach, bis sie aus ihrem Blick verschwunden waren.


Leise schlossen sie die Türe hinter sich. Unter keinen Umständen wollten sie jetzt ihren Eltern in die Arme laufen. Zu viel hatten sie erfahren und sie mussten sich erst davon erholen. Sie konnten hören, wie ihre Mutter in der Küche mit Töpfen hantierte, und nutzten die Chance, unauffällig in ihr Zimmer zu schleichen. Dort lagen auf dem Boden noch immer ihre Bilder aus Kindertagen. Kaum dass sie sich von Tamina verabschiedet hatten, kamen die Erinnerungen zurück und ergaben mit den gerade erfahrenen Geheimnissen ein eindeutiges Bild. Obgleich sie nur den ersten Monat ihres Lebens in Levona verbracht hatten, trafen die gemalten Bilder alles so genau, dass sie das Gefühl hatten, von der Flut der Gedanken überrollt zu werden.
Erschöpft ließen sie sich auf ihre Betten fallen und schlossen die Augen. Die Wecker auf ihren Nachtschränken tickten so gleichmäßig, dass sie aufpassen mussten, nicht einzuschlafen.
Auf der einen Seite wollten sie ihre Gedanken austauschen, auf der anderen am liebsten alles verdrängen. Also schwiegen sie, bis ihre Mutter sie zum Mittagessen rief. Mühsam rafften sie sich auf und versuchten sich so normal es ging zu verhalten. Dennoch konnten sie nicht verdrängen, dass sie in all den Jahren von ihren Eltern belogen worden waren. Sie gar nicht ihre Eltern waren. Deshalb entschloss jede für sie, den direkten Augenkontakt zu vermeiden.
„Wie war euer Spaziergang?“, wurden sie von ihrer Mutter gefragt, als diese sich zu ihnen und ihrem Vater an den Tisch setzte.
„Die frische Luft und die Bewegung haben gut getan“, sagte Dakota monoton und kurz angebunden. Um sich abzulenken machte sie sich über das Essen her, doch schon nach der zweiten Gabel hatte sie den Appetit verloren. Unauffällig warf sie einen Blick zu Chiara, der es ähnlich zu ergehen schien.
„Sicher, dass es euch gut geht?“, fragte ihr Vater, der den mangelnden Hunger der beiden erkannt hatte.
Verglichen mit der Nahrungsaufnahme beim gestrigen Abendessen musste ihr Verhalten auf andere komisch wirken. Doch die beiden nickten mit einem aufgesetzten Lächeln und schoben sich noch ein paar Gabeln unter der Nase rein.
Die Wahrheit hatte sie mehr runtergezogen, als sie geglaubt hatten. Sobald sie ihre Eltern ansahen, überkam sie eine Art Übelkeit, die sie nicht mehr verdrängen konnten. Ihr ganzes Leben über hatten ihre Eltern sie belogen, sie für etwas ausgegeben, dass sie nicht waren.
Dakota trank nach jedem Bissen, um das Essen hinunter zu bekommen. Chiara dagegen hatte es aufgegeben, sich das Essen runter zu zwängen. Sie saß schweigend am Tisch und starrte auf einen Punkt zwischen ihren Eltern.
Als endlich alle fertig gegessen hatten, standen sie auf. Sie räumten ihre Teller in die Spülmaschine und verschwanden durch die andere Seite aus der Küche. So schnell sie konnten, gingen sie auf ihr Zimmer. Dort legten sie sich in ihre Betten und versuchten zu schlafen. Zu tief saß der Schock, als dass sie fähig wären, irgendetwas Sinnvolles zu tun.
Als Dakota gegen halb zehn am Abend aufwachte, waren die Jalousien geschlossen und sie selbst zugedeckt, obwohl sie genau wusste, dass sie sich auf die Decke gelegt hatte. Ihre Eltern waren wohl hier gewesen, hatten sie aber schlafen lassen.
„Zum Glück“, murmelte Dakota und schaltete das kleine Licht neben ihrem Bett an. Chiara schlummerte tief und fest und sie hatte nicht die Kraft, sie aufzuwecken. Deshalb entschloss sie, ebenfalls wieder die Augen zu zu machen. Alles andere wäre sinnlos.


Mit der Morgendämmerung wachte Chiara langsam auf. Jeder Versuch, wieder einzuschlafen, scheiterte und so schob sie die Decke mit ihren Füßen bis ans Bettende und setzte sich auf. Auf der anderen Zimmerseite schlief Dakota. Deshalb tapste sie bis zur Couch und schaltete dort das kleine Licht ein. Gerade als sie sich auf der Couch niederlassen wollte, sah sie die Bilder auf dem Boden. Sie sammelte sie ein und ging zur Couch zurück. Jedes einzelne Bild betrachtete sie lange und noch mehr Erinnerungen als am gestrigen Abend drangen in ihr Bewusstsein. Wälder, Wiesen, lila Himmel, Sonne, Schloss und Tiere, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie betrachtete die Bilder genauer und versuchte die Tiere zu identifizieren. Doch sie brachte es nicht zustande.
Sie war so sehr in Gedanken gewesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, dass Dakota aufgewacht war und zu ihr kam. Lustlos ließ sie sich neben Chiara auf die Couch sinken und starrte auf das Bild, das Chiara in den Händen hielt. Lange schwiegen sie, starrten Löcher in die Luft und hingen ihren Gedanken nach. Mittlerweile schien die Sonne ins Zimmer. Doch sie verhielten sich ruhig. Bevor sie zum Frühstück gingen, mussten sie reden. Es führte kein Weg daran vorbei.
„Was sollen wir nur machen?“, fragte Dakota so leise, dass die Worte kaum von ihren Lippen kamen. Chiara reagierte kaum, nur ein angedeutetes Schulterzucken konnte Dakota erkennen. Dakota seufzte und sprach: „Ich bin heute Nacht aufgewacht und konnte lange nicht mehr einschlafen. Deshalb habe ich mir Gedanken gemacht und bin zu einem Entschluss gekommen.“ Chiara sah sie zweifelnd an, wartete aber, bis ihre Schwester weitersprach. „Ich kann dieses Leben nicht mehr leben.“
„Wenn wir hierblieben, würden wir auch von der Adoption nichts wissen“, meinte Chiara. „Tamina wird uns alles vergessen lassen.“
„Das weiß ich. Aber allein der Gedanke, dass wir ahnungslos so weiterleben, wie bisher, ertrage ich nicht.“
„Es war doch alles super, bis wir die Wahrheit erfahren haben.“
„Das war es. Aber jetzt, wo ich die Wahrheit kenne, will ich dieser auch nachgehen.“
Chiara schluckte und legte ihren Kopf an Dakotas Schulter.
„Wollen wir sie darauf ansprechen?“, fragte Chiara.
Dakota schüttelte den Kopf. „Nein. Außer du willst es.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Egal wie wir uns entscheiden, wir bleiben zusammen, versprochen?“, fragte Dakota, die Angst hatte, Chiara zu verlieren.
„Alleine werde ich sicher nicht hier bleiben oder nach Levona reisen“, versprach Chiara. „Ich weiß aber nicht, was ich will. Auf der einen Seite stimme ich dir zu. Die ganze Lüge zieht mir den Boden unter den Füßen weg und ich will Mum und Dad nicht mehr unter die Augen treten. Gestern Abend musste ich mich echt beherrschen, sie nicht anzuschreien oder sie zur Rede zu stellen. Andererseits finde ich die Vorstellung, alles, was wir kennen, aufzugeben, nie wieder hier her zurückzukommen, grauenvoll.“
Dakota suchte die nächsten Wörter, ehe sie sprach. „Vielleicht sollten wir Taminas Angebot annehmen.“
Chiara reagierte nicht. Doch Dakota wollte sie nicht drängen und so schwieg sie.
Es dauerte, bis Chiara schließlich sprach: „Wenn wir das ganze andersherum betrachten, müssen wir unseren richtigen Eltern die Schuld geben. Hätten sie uns nicht weggegeben, säßen wir jetzt nicht mit einem solchen Hass hier.“
„Tamina hat uns erklärt, warum wir hier gelandet sind. Sie hatten praktisch keine andere Wahl.“
„Ich weiß“, sagte Chiara leise. „Ich versuche bloß jemanden zu finden, dem ich die Schuld an der Situation geben kann.“
Dakota dachte kurz nach. „Dann wendest du dich am besten an den Gründer von Cantara.“
„Na super.“ Chiara seufzte.
„Bist du bereit, nach Levona zu reisen?“, fragte Dakota und sah Chiara mit ernster Miene an. „Ich will dich zu nichts zwingen, es liegt an dir.“
Chiara warf einen Blick auf die Bilder und nickte langsam. „Schaden kann es ja nicht.“ Dakota sah sie skeptisch an. „Wir sollten uns unsere Heimat wenigstens ansehen.“
„Gut“, sagte Dakota und war froh, dass Chiara einigermaßen überzeugend klang.
Chiara atmete kurz laut ein, ehe sie sprach: „Kannst du dir erklären, wieso wir, oder zumindest ich, all diese Kleinigkeiten noch wissen? Ich war gerade einen Monat alt und doch kommt es mir vor, als …“ Chiara fand keine Worte.
„Als hättest du schon immer dort gelebt?“, fragte Dakota.
„Ja, zumindest länger, als es in Wirklichkeit war.“
Dakota zuckte unbeholfen mit der Schulter und Chiara legte die Bilder beiseite. Das Frühstück verlief besser, als das gestrige Mittagessen. Beide aßen normale Portionen und wechselten das eine oder andere Wort mit ihren Eltern. Sie wollten sich so normal wie möglich verhalten. Vielleicht war dies das letzte gemeinsame Essen. Anschließend überlegten sie, ob sie das Tennistraining heute ausfallen lassen sollten, um noch etwas mit Lorena und Bianca machen zu können. Doch sie wussten so schon nicht, wo ihnen der Kopf stand. Lieber verfehlten sie alle Bälle und ließen sich von ihrem Trainer kritisieren, als dass sie Lorena und Bianca mit einer Handvoll Lügen gegenübertraten. So kam es, dass sie zwei Stunden später aus der Umkleide in die Sonne traten. Ihr Trainer hatte sie gebeten, bereits ohne ihn anzufangen und so liefen sie über die Anlage bis zu Feld Nummer acht.
Wie sie es vorhergesehen hatten, konnten sie kaum den Schläger halten, sodass der Ball nicht einmal den Weg über das Netz schaffte.
„Ist das die Revanche für meinen Spruch am Freitag?“, fragte ihr Trainer, der sich angeschlichen hatte.
„Wieso?“, fragte Dakota irritiert.
„Weil ihr mit der Leistung nicht bei der nächsten Stadtmeisterschaft antreten braucht.“ Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
„Da sind wir wahrscheinlich ohnehin nicht mehr da“, nuschelte Dakota, schüttelte den Kopf und sagte an ihren Trainer gewandt: „Deine Bemerkung am Freitag war so deprimierend, dass wir den Ball jetzt gar nicht mehr übers Netz bekommen.“
„Geb doch nicht mir die Schuld.“
„Wem sonst?“ Dakota musste lachen. Obwohl sie ihn dafür hasste, dass er sie wegen ihrer Unpünktlichkeit aufzog, hatten sie immer wieder Spaß zusammen. Kleine Scherze oder ironische Gespräche lockerten die Situation meistens auf.
„Und was ist mir dir?“, fragte er an Chiara gewandt, die mit ihren Gedanken wieder weit weg war.
„Ach nichts“, sagte sie leise und fügte lauter an: „Ich habe an die leider ohne uns stattfindende Stadtmeisterschaft gedacht.“
Er schüttelte den Kopf. „Genug jetzt. Spielt so, wie ich es von euch kenne und ich nehme meine Neckerei von Freitag zurück.“
„Das will ich sehen“, sagte Dakota herausfordernd. „Was hältst du davon, am Ende noch gegen uns zu spielen und dann deine ehrliche Meinung zu äußern?“
Chiara sah sie kopfschüttelnd an. Ihr war nicht nach Scherzen zumute.
„Wenn ihr jetzt ein schönes Spiel macht, gerne.“ Damit verschwand er vom Feld und ging Richtung Umkleide, wo auch sein Trainerzimmer war. Von dort aus beobachtete er sie häufig.
„Wieso hast du das gesagt?“, wollte Chiara wissen und klang gar nicht begeistert.
„Ein letztes Mal Spaß haben“, sagte Dakota mit einem Schulterzucken. „Außerdem will ich wissen, wie er uns wirklich einschätzt.“
„Es steht doch noch gar nicht fest, dass wir in Levona bleiben.“
„Wenn wir uns aber dafür entscheiden, werden dies die letzten Stunden hier gewesen sein.“
Sie versuchten das Thema für den Rest des Trainings auszublenden und gaben ihr Bestes, sodass der Ball dann doch wieder übers Netz flog. Die Sonne erleichterte ihnen die Sache nicht wirklich, doch sie hatten Spaß und vergaßen ihr Drama tatsächlich. Als sie eine halbe Stunde später völlig fertig eine kleine Pause machten, stand ihr Trainer auf dem anliegenden Feld.
„Ich möchte, dass ihr immer so spielt“, sagte er, während die beiden ihre Wasserflaschen zur Hälfte leerten. Die beiden nickten zustimmend.
„Also, wer von euch möchte anfangen?“, fragte er und hob seinen Schläger vom Boden auf.
„Ich fang an“, sagte Dakota entschlossen, um Chiara noch eine kleine Verschnaufpause zu gönnen, wenn sie sie schon genötigt hatte, gegen ihren Trainer zu spielen.
„Ein Satz von sechs Spielen“, forderte ihr Trainer.
„Alles klar, dann leg mal los.“
Dakota war voll in ihrem Element und gewann tatsächlich mit 6:4. Bei Chiara reichte es nur für ein 6:5 für ihren Trainer. Dakota sah ihn voller Erwartung an.
„Ihr wollt eine ehrliche Einschätzung? Nun gut. Ich bin der Meinung, dass ihr es weit bringen könnt. Wenn ihr wollt, trainiere ich euch dafür. Anfangen werden wir mit Stadtmeisterschaften und steigen auf in höhere Ligen. Bis ihr irgendwann bei den Grand-Slam-Turnieren seid.“
Dakota sah ihn lange an und drohte mit ihren Gedanken abzuschweifen, konnte sich aber noch beherrschen. „Ich werde darüber nachdenken.“
Als er zu Chiara sah, stimmte die ihrer Schwester zu. Sie verabschiedeten sich schließlich mit einer kurzen Umarmung von ihm und gingen, mit einem Blick zurück über die Felder, vom Gelände.
„Wieso wolltest du das noch wissen?“, fragte Chiara, als sie fast zuhause waren.
„Ich wollte eine ehrliche Meinung.“
„Wird sie etwas mit deiner Entscheidung zu tun haben?“
„Wohl eher nicht. Ich wollte nur die Wahrheit wissen. Nach all den Neckereien war er mir das schuldig.“
„Haben wir nicht erst einmal genug Wahrheit erfahren?“, fragte Chiara mit einem leichten Lächeln.
„Das schon. Aber wenn ich gehe, möchte ich die Menschen in guter Erinnerung behalten.“
Ein kurzer Gedanke ging an ihre Eltern, doch sie verbannten ihn sogleich wieder. Wenn sie sich jetzt zu Hause umziehen würden, sind sie nicht da und gehen ohne eine Verabschiedung. Irgendwann später würden sie es bereuen, da waren sie sich sicher, doch sie hatten im Augenblick nicht die Kraft, ihnen Lebewohl zu sagen.


4. Kapitel


Dakota trieb ein flaues Gefühl, als sie den Weg zum Wald liefen. Chiara hatte den ganzen Morgen nicht richtig gezogen, nach Levona zu reisen. Keinesfalls wollte sie sie zu etwas überreden, womit sie den Rest ihres Lebens nicht mehr fertig werden würde.
„Bist du dir wirklich sicher, dass du die Reise machen möchtest?“
„Sicher bin ich mir momentan gar nicht mehr. Aber ich will unsere Heimat kennenlernen. Irgendwie fühle ich mich auch dazu verpflichtet, da ich die Träume hatte.“
Dakota sah sie skeptisch an, begnügte sich aber mit der Begründung und hoffte, dass sie nicht selbst die falsche Entscheidung getroffen hatte. Als sie am Waldrand ankamen, wartete Tamina bereits auf sie.
„Hallo ihr beiden“, sagte sie freundlich und zog sich ein Stück in den Wald zurück. „Seid ihr zu einer Entscheidung gekommen?“
Dakota und Chiara schwiegen einen Moment, bis Chiara schließlich das Wort ergriff. „Es fällt uns nicht leicht, aber wir kommen mit dir. Zumindest für die Zeit, in der wir hier her zurückkommen können.“
Tamina lächelte. „Das reicht für den Anfang.“
„Wir wollen uns dein Land erst einmal anschauen und dann entscheiden“, sagte Dakota, da sie Angst hatte, Tamina würde sie falsch verstehen.
„Das geht in Ordnung.“ Sie wartete kurz, ob noch Fragen offen standen. Doch die beiden schienen eher darauf zu warten, dass sie den nächsten Schritt machte. Deshalb ging sie in das Gestrüpp. Blätter knirschten unter ihren Füßen und Äste mussten sie zur Seite schieben.
„Wie kommen wir eigentlich nach Levona?“, fragte Chiara, der bei der ganzen Sache trotz allem nicht wohl war. Zudem konnte sie sich nicht erinnern, bisher etwas über die Art und Weise der Reise erfahren zu haben. Mit gewöhnlichen Mittel würde dies allerdings schwierig werden. Schließlich handelte es sich um einen anderen Planeten in einer anderen Galaxie.
„Die Umstände hatte ich euch bisher verschwiegen. Es gibt mehrere Wege, doch nicht immer funktionieren alle. Mit Ausnahme meiner Fähigkeit, dem apparieren.“
„Apparieren?“, fragte Chiara mit großen Augen und blieb neben Tamina stehen.
„Was ihr zu beachten habt, ist eine gerade Haltung. Andernfalls landet ihr unsanft auf eurem Rücken. Zudem dürft ihr nicht loslassen.“
„Und wenn doch?“
„Dann treibt ihr zwischen den Welten. Euch zwischen Raum und Zeit aufzuspüren, ist kompliziert.“
„Genug davon“, sagte Chiara ernst. „Mach einfach, sonst dreh ich noch durch.“
„Nehmt meine Hand“, forderte Tamina und streckte ihre aus. Als sie beide fest an der Hand hatte, sah sie ihnen noch einmal kurz in die Augen, ehe sie ihre schloss. Im nächsten Moment verloren sie den Halt und alles um sie herum wurde schwarz. Taminas Hinweis, in aufrechter Position zu bleiben, war nicht einfach zu befolgen. Ständig gelangten sie in Querlage und sie hatten es Taminas Erfahrung zu verdanken, dass sie zumindest zwischendurch mit dem Kopf nach oben schwebten. Auch wenn sie in der Schwärze, die sie umgab, nichts sehen konnten. Eine gefühlte Ewigkeit später fielen Dakota und Chiara auf den Boden. Zwischen ihnen landete Tamina auf den Füßen und schaute zu den beiden hinab.
„Ich poche auf Besserung.“
„Das will ich hoffen“, meinte Chiara leicht gereizt und versuchte auf die Beine zu kommen.
„Du hast gesagt, dass wir nicht loslassen sollen, dabei aber vergessen zu erwähnen, dass einem schlecht wird“, beschwerte sich Dakota und schwankte leicht. Tamina antwortete nicht auf die Beschwerden, sondern wartete, bis sie sich beruhigt hatten.
Als sie ihren Blick über die Landschaft schweifen ließen, erkannten sie es als ihre Kinderträume. Riesige Wälder, bunte Felder, ein großer, plätschernder Fluss, saubere, unverbrauchte Luft. So plötzlich, wie sie hier waren, so änderte sich ihre Stimmung. Mit einem Mal fühlten sie sich wohl und vergaßen ihre Zweifel. Sie waren zu Hause.
„Fehlt nur noch das Schloss“, nuschelte Dakota und schaute zum Himmel, der klar war, ohne jede Wolke. Doch sie stutzte.
„Ist der immer so?“, frage sie verwundert und deutete mit dem Finger zum Himmel.
Tamina lächelte. „Ja, unser Himmel weist immer einen Lilaton auf.“
Ungläubig starrten sie Tamina an. „Und welche Farbe hat er in der Nacht?“
„In der Nacht ist er Dunkellila bis Schwarz.“
„Gewöhnungsbedürftig“, meinte Chiara und ging ein paar Schritte.
„Ihr werdet euch mit etlichem vertraut machen müssen.“
„Zum Beispiel?“, fragte Chiara.
„Von zu Hause aus sehen wir Katira.“
„Wen?“
„Katira ist ein Planet und viel größer als Levona. Anfangs wurde sie immer näher an Levona herangezogen, doch seit gut 20.000 Jahren kreist sie auf ihrem Platz.“ Chiara blieb der Mund offen stehen. „Im Grunde ist sie nicht anders, als euer Mond. Mit der Ausnahme, dass ihr den Mond nur nachts seht und er wesentlich kleiner ist, als die Erde.“ Tamina musste lächeln, als sie die Gesichter von Dakota und Chiara sah. „Ich zeige sie euch bei Gelegenheit.“
„Gut. Themawechsel.“, meinte Chiara und verdrängte die ankommenden Gedanken.
„Ich will nichts sagen, aber so wie es hier aussieht, seid ihr mit der Industrialisierung ziemlich zurückgeblieben“, sagte Dakota. Links und rechts von ihr waren kleine Dörfer, die Häuser bestanden zum Teil aus Holz und Stroh.
„Deiner Aussage kann man so nicht zustimmen. Wir lassen dem Planeten lediglich Luft zum atmen und gedeihen. Wir sind nicht in allen Lebenslagen so fortgeschritten wie ihr, da gebe ich euch recht. Dafür ist bei uns die Natur erhalten geblieben, wodurch der Planet viel mehr Luft zum atmen und gedeihen hat. Außerdem haben die Menschen nicht ausreichend Geld, um in die großen Städte umzusiedeln.“
„Was verstehst du unter großen Städten? So groß wie Hobart?“, fragte Chiara.
„Impulsiv nehme ich an, wie ein Stadtteil von Hobart. Doch ihr gewöhnt euch daran. Ebenso an die Tatsache, dass wir hier weder Autos, Züge noch Flugzeuge haben.“
„Wie legt ihr weitere Strecken zurück?“, fragte Chiara, die sich bei dem Gedanken, an ein Leben ohne öffentliche Verkehrsmittel, aufgeschmissen fühlte.
„Durchschnittliche Bürger bedienen sich der Fahrräder.“
Chiara riss ihre Augen auf. „Sie fahren mit dem Fahrrad in den Urlaub?“
„Den gibt es hier nicht in der Ausführung, wie ihr ihn vermutlich kennt.“
„Das soll ein Witz sein, oder? 365 Tage im Jahr durcharbeiten? Wie hoch ist eure Stundenwoche?“
„Unsere Stundenwoche liegt bei 45 Stunden. Ausgenommen sind die, die für Ordnung sorgen müssen, euch bekannt als Polizei und Feuerwehr. Diese müssen 38 Stunden arbeiten.“
„Wollt ihr den Planeten ausrotten?“, fragte Dakota leicht ironisch.
„Natürlich nicht. Außerdem müsst ihr die Stunden auf einen 28-Stunden-Tag beziehen.“
„Wieso das?“
„Wir weisen 28 Stunden je Tag auf, kein 24.“
„Ist Levona so groß?“
„Nein, ihr Umfang beläuft sich lediglich auf rund 15.000 km. Weitaus kleiner als die Erde. Doch sie dreht sich wesentlich langsamer.“
„Ich dachte eigentlich, dass sich die Erde und Levona relativ ähnlich sind“, meinte Dakota, wusste aber selbst nicht so recht, wie sie zu dieser Annahme kam. Vermutlich hatte sie es einfach gehofft.
„Das sind sie in gewisser Hinsicht auch“, verwischte Tamina die Zweifel. „Dennoch gibt es Kleinigkeiten, die euch wie enorm große vorkommen, die ungewöhnlich sind. Doch alles zu seiner Zeit. Jetzt wollen wir erst einmal nach Hause gehen.“
Dakota und Chiara waren einverstanden. Die Daten, die Tamina ihnen gerade dargelegt hatte, waren genug für heute. Jedoch es dauerte nicht lange, bis sie das Nächste gefunden hatten, wonach sie fragen wollten. Tamina erklärte ihnen beim Anblick des Dorfes zu ihrer Linken: „Die Menschen, welche in den Dörfern beheimatet sind, sind arm und haben nichts. Ihren Lebensunterhalt betreiben sie durch geringe Einnahmen aus dem Getreideverkauf. Leider laufen die Geschäfte nicht entsprechend und sie müssen jeden Tag ums Überleben kämpfen.“
„Lasst sie doch in den Städten arbeiten“, schlug Dakota vor.
„Gerne würden wir ihnen auf diese Weise beistehen. Doch vielen mangelt es am nötigen Wissen.“
„Dann bietet Ausbildungen an, in denen sie die Chance haben, das Wichtigste zu lernen.“
Tamina nickte. „Unsere Mutter hatte tolle Ideen, wie wir die Armut mindern können. Leider hatte sie keine Gelegenheit, diese umzusetzen.“
„Sie fehlt dir sehr, nicht wahr?“, fragte Dakota vorsichtig.
„Der Schmerz geht vorüber. Die Armut dagegen bleibt.“
Geschockt über die Worte, warf Dakota Chiara einen Blick zu, die direkt neben ihr ging.
„Wie meinst du das?“, fragte Dakota.
„Täglich erfahre ich, in welcher Not die Mehrheit der Bürger lebt. Meine Freundin wohnt in Naima, nicht sonderlich weit weg. Dennoch abgeschieden, sodass sie keine Möglichkeit hat, eine Schule zu besuchen. Ihre Eltern leben am Minimum. Als ich sie vor acht Jahren kennengelernt habe, war sie glücklich. Sehe ich sie heute an, so mache ich ein krankes Mädchen aus, welches oftmals drei Tage lang keine zureichende Mahlzeit zu sich nehmen kann. Hinzu kommt die schwere Arbeit, die sie verrichtet.“
„Das ist ja schrecklich“, bemerkte Chiara.
„Mein Wunsch ist es, diese Lebenslage verabschieden zu können. Denn es darf nicht sein, dass ich unbeschwert leben kann, während andere bis auf die Knochen abgemagert sind.“
Tamina ließ keine Zweifel an ihrer Aussage offen und so wagten sie es nicht, etwas darauf zu erwidern. Schweigend liefen sie durch den Wald. Die Bäume waren hochgewachsen und vereinzelt schon sehr alt. In den Kronen zwitscherten Vögel, im Dickicht vernahm man vereinzelt eine scheue Bewegung.
„Wie heißt unseres Familie eigentlich?“, fragte Dakota, der immer wieder neue Fragen einfielen.
„Die Kaiserfamilie trägt seit über 200 Jahren den Namen Stelara, ebenso wir.“
Die beiden dachten über den Namen nach und schienen Gefallen an ihm zu finden. Vage konnten sie sich daran erinnern, dass Tamina ihn bei ihrem ersten Besuch in Hobart erwähnte, doch sie hätten sich anders nicht mehr daran erinnern können.
Nach einigen Minuten Fußmarsch erkannten sie eine Lichtung vor ihnen. Bei genauerem Betrachten nahmen sie leichte Umrisse eines Gebäudes wahr.
Auf der von ihnen erkannten Lichtung endete der Wald und sie folgten dem abfallenden Weg nach rechts. Zu ihrer Linken ragten dichte Tannenbäume empor und verhinderten den Blick auf das Grundstück. Neugierig besahen sie die Reihe und suchten nach einem Abschnitt, der nicht bewachsen war und somit als Zugang zum Gelände diente. Doch Tamina riss sie aus ihren Gedanken.
„Ich kann mir vorstellen, dass euch der Anblick in Staunen versetzt wird. Dennoch bitte ich euch, die Bewunderung hinten anzustellen. Nachdem wir mit unserem Vater geredet haben, steht euch genügend Zeit zur Verfügung.“
Dakota und Chiara reagierten kaum und nickten abwesend. Tamina besah sie mit einem Lächeln und sie bogen in einen breiteren Pfad ein. Am Ende des Weges versperrte ein eisernes Tor den Weg. Dennoch sahen sie das Schloss in seiner ganzen Pracht.
„Wow“, staunte Chiara und konnte sich nicht von dem Anblick reisen.
„Ich hatte meine Vorstellung von dem Schloss. Aber die Realität ist einiges besser“, staunte auch Dakota.
„Jetzt verstehe ich deine Ansicht wirklich“, gab Chiara zu. „Ich könnte hier nicht tatenlos leben, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.“
„Es freut mich, wenn wir einer Meinung sind“, sagte Tamina dankbar und blieb vor dem Tor stehen. „Willkommen zu Hause.“
Zwei Wachen öffneten die hohe Pforte und sie traten auf das Grundstück. Zu beiden Seiten erstreckte sich ein ebenmäßiges Bild einer Grasanlage, geschmückt von Blumen und anderen Pflanzen. Kleine, verschlungene Pfade zogen ihren Weg durch die Parkanlage. Steine am Rand der Grünflächen bildeten eine Grenze zwischen Rasen und Kiesweg. Das Gemäuer zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der Sockel war mit glatten, grauen Schieferplatten gestaltet, während der Rest des Gebäudes aus großen, cremefarbenen Steinen bestand. Große Fenster, die Andeutung von Türmen und eine Treppe zierten die Frontansicht. Auf dem Dach konnten sie eine Glaskuppel erkennen, an der sich die Sonnenstrahlen brachen. Zu ihrer Rechten gab es ein weiteres, längliches Gebäude und hatte die gleiche Verkleidung wie das Schloss, dennoch war es nicht ganz so ansehnlich, wie das Schloss.
„Hier sieht es aus, wie im Paradies“, gestand Chiara und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Das sieht alles so unreal aus. So perfekt, dass es nicht wahr sein kann“, meinte Dakota nachdenklich.
„Besonders verglichen mit dem, was wir vorhin gesehen haben.“
„Dies hier entspricht nicht der Normalität. Doch es zeigt den deutlichen Kontrast“, gab Tamina zu. „Und ihr habt euch doch vom Anblick fesseln lassen, sodass wir nun wirklich weiter müssen.“
Die Grünfläche wich schließlich zu beiden Seiten, sodass sich ein großer Kreis bildete. Noch immer die Umgebung beobachtend, gingen sie hinter Tamina her auf die Treppe zu. Zwei Wachen öffneten die Eingangstüre, als sie die Treppe oben waren. Eine angenehme Kühle umhüllte sie, als sie eintraten. Als die Tür ins Schloss gefallen war, hallte der dumpfe Schlag durch die große Halle. Zu beiden Seiten befanden sich etliche Türen und vor ihnen erstreckte sich ein langer Gang. Rechts und links davon führte eine Treppe hinauf in den ersten Stock, in welchen man von der Eingangshalle hinaufsehen und Türen hinter dem Geländer entdecken konnte. Die Decke war in nicht abschätzbarer Höhe und wurde von einem wunderschönen, verschnörkelten cremegoldfarbenen Muster geziert.
„Bei Gelegenheit führe ich euch gerne ein wenig herum. Doch zunächst müssen wir dem Teil nachgehen, weshalb ihr hier seid“, erinnerte Tamina die beiden und wartete am Fuß der Treppe auf sie. Die Stufen waren mit rotem Stoff überzogen, im ersten Stock hielt Tamina sich rechts und lief in einen Gang auf der rechten Seite. Der Teppich dämpfte ihre Schritte, an den Wänden hingen unzählige Bilder. Doch Tamina schritt zu zügig, als dass sie ein genaueres Auge auf diese werfen konnten.
„Hinter dieser Tür liegt das Arbeitszimmer unseres Vaters“, erklärte Tamina mit einer kleinen Handbewegung. „Seid ihr bereit?“
„Das werde ich wohl nie sein“, bemerkte Dakota. „Deshalb lass es uns hinter uns bringen.“ Sie merkte, dass sie mit einem abschätzenden Blick bedacht wurde, und fügte ein kleines Lächeln an, um zu verhindern, dass sie falsch verstanden wurde.
Tamina klopfte, öffnete jedoch ohne eine Antwort abzuwarten und verschwand hinter der Türe. Leise konnten sie Stimmen hören, ehe Tamina wieder auftauchte. Sie bat sie, einzutreten und so spähten die Zwei vorsichtig hinein. Als sie zwei Schritte in den Raum gemacht hatten, blieben sie stehen und Tamina schloss die Türe. Braune Schränke lehnten an den Wänden und Pflanzen vermittelten das Gefühl von Freiheit. Zu ihrer Rechten stand ein aufgeräumter Holzschreibtisch mit einigen Bilderrahmen vor einer Fensterfront, die als Lichtzufuhr diente. Hinter dem Tisch saß ein Mann vor einigen Stapel Papier, legte aber den Stift beiseite und kam um den Tisch herum auf sie zu.
„Hallo“, war alles, was die beiden mit abgebrochener Stimme herausbrachten. Unsicher sahen sie den Mann an, der ihr Vater war.
„Hallo ihr zwei“, begrüßte er sie mit freundlicher, warmer Stimme und einem ehrlichen Lächeln, welches von seinen blauen Augen unterstrichen wurde. Er war ein Stück größer wie die beiden und hatte blond-braunes Haar, das er kurz trug. Mit einer Handbewegung zur beigefarbenen Couch auf der linken Seite bat er sie, Platz zu nehmen.
„Vielleicht sollte ich mich zunächst vorstellen. Mein Name ist Raphael und ich bin, wie ihr sicherlich schon ahnt, euer Vater.“ Er sprach langsam und sah ebenso unbeholfen aus, wie Tamina, als sie sie das erste Mal gesehen hatten. „Es bedeutet mir wirklich sehr viel, dass ihr gekommen seid. Zumal es mit Sicherheit keine leichte Entscheidung war.“ Chiara nickte leicht und sah ihren Vater kurz an. „Ich hoffe, ihr hattet eine gute Anreise.“
„Mehr oder weniger“, sagte Dakota leise.
„Lediglich Anfangsschwierigkeiten beim apparieren. Kein Grund zur Sorge“, beteuerte Tamina ihrem Vater.
„Das freut mich zu hören.“ Er klang sichtlich erleichtert. „Ich möchte euch nicht länger auf die Folter spannen. Ihr wisst wieso ihr hier seid und deshalb möchte ich mit unserem Gespräch beginnen.“ Er wartete auf eine Zustimmung der beiden und setzte sodann an: „Angesichts eures Gespräches mit Tamina, sind euch Einzelheiten über Levona bereits bekannt. Dennoch würde ich alles ausführlich und in Ruhe mit euch besprechen. Levona formte sich vor gut 1 Million Jahren durch den Zusammenstoß von Jasira und Sayaka. Dadurch, so vermutet man, ist Magie auf unseren Planeten gelangt und wird seither an wenige Menschen weitergegeben. Nach unseren Kenntnissen dient sie uns, um unser Land verteidigen zu können. Leider müssen wir sie tatsächlich für diesen Zweck einsetzen, zum Schutz des Volkes und in der Hoffnung auf baldigen Frieden. Denn vor etwa 100.000 Jahren versuchte ein Mann mit dem Namen Cantarus seine Meinung für eine bessere Regierung beim damaligen Kaiser durchzusetzen. Obwohl er kläglich gescheitert war, besetzt er heute die kleinere der beiden Inseln. Er nannte sie Cantara und sein heutiger König ist Tarus. Der Grund, weshalb wir euch weggegeben haben, ist der, dass Tarus nicht weiß, wie viele Nachfolger Helena haben wird. Somit sind wir ihm einen Schritt voraus und haben eine größere Chance auf den Sieg.“
„Wieso seid ihr euch da so sicher? Kam es noch nie vor, dass einige der Weggegebenen nicht hier her zurück wollten?“, fragte Chiara und klang trotziger als sie wollte.
„So überraschend dies für euch klingen mag: Nur fünf dieser, die nicht hier aufgewachsen sind, haben sich für ihr normales Leben entschieden.“
„Wir könnten Nummer sechs werden“, meinte Dakota.
Raphael nickte und warf Tamina einen besorgten Blick zu. Die starke Abneigung schien ihn sehr zu treffen. „Als wir euch auf die Erde gegeben haben, sahen wir keine andere Möglichkeit, als das Waisenheim. Wir waren sehr froh, als ihr adoptiert worden seid und von nun an in einer normalen Familie aufwachsen würdet. Das hat uns die Angst ein wenig genommen und wir konnten uns mehr darauf konzentrieren, Pläne gegen Tarus zu schmieden. Vor fünf Jahren jedoch hat Tarus eure Mutter so schwer verletzt, dass selbst Magie sie nicht hat retten können. Es waren schwere Tage und oft habe ich mir gewünscht, dass ihr wenigstens die Chance gehabt hättet, sie kennenzulernen.“ Raphael hielt kurz inne und schluckte schwer. „Nichtsdestotrotz mussten wir weiterleben und in die Zukunft schauen. Jede Unachtsamkeit hätte uns zu einer leichten Beute gemacht. Doch aus irgendeinem Grund hat Tarus uns verschont und kein Wort gegen uns erhoben. Fast hätte man meinen können, der Krieg sei vorüber.“
„Wieso lässt er euch, wenn ihr ihm deutlich unterlegen seid, in Ruhe?“, fragte Dakota. „Das ergibt doch keinen Sinn.“
„Vielleicht verstehen wir es eines Tages“, meinte Raphael, der für diese Handlung ebenso keine Erklärung zu haben schien. „Für heute soll dies aber nicht euer Problem sein. An erster Stelle steht für uns alle, dass ihr eine Entscheidung trefft. Ihr habt die Wahl zwischen Levona und der Erde. Niemand zwingt euch, hier zu bleiben, obgleich ich mich sehr freuen würde.“
Dakota und Chiara lächelten leicht. Sie verstanden nur zu gut, weshalb er es wollte. Er war ihr Vater, sie seine Töchter. Und er hat sie nur weggeben, weil es die Tradition so verlangte. Zudem hatte er als Kaiser eine Verantwortung gegenüber dem Volk.
„Solltet ihr euch für Levona entscheiden, so werdet ihr alsbald nach strengem Plan in den wichtigsten Grundlagen ausgebildet. Vorher habt ihr die Möglichkeit, ein letztes Mal nach Hobart zurückzukehren, um persönliche Sachen an euch zu nehmen. Alles, was ihr anschließend zurücklasst, wird für immer vernichtet. Gleichermaßen werden wir dafür sorgen, dass ihr für alle Menschen, die ihr kanntet, nie existiert habt.“ Er sah die beiden entschuldigend an. „Eine andere Lösung gibt es nicht, zumal ich sie nicht die schlechteste finde. Lieber keine Erinnerungen an euch, als mit dem Gedanken leben zu müssen, ihr wäret gestorben.“
„Da ist was dran“, stimmte Dakota zu und erkannte, dass er eine ähnliche Erfahrung gemacht hatte. Für ihn war es nie sicher gewesen, dass er seine beiden Töchter jemals wieder sehen würde. Zwar saßen sie ihm jetzt gegenüber, doch für wie lange sie hier bleiben würden, stand offen.
„Entscheidet ihr euch dahingegen gegen Levona, so wird Tamina euch morgen auf dem gleichen Wege, wie ihr hierher gelangt seid, zurück nach Hobart bringen. Alles, was ihr seit dem Brief von Tamina erfahren und erlebt habt, wird euch entzogen. So habt ihr die Möglichkeit, ohne schlechtes Gewissen, euer Leben weiterzuleben.“
„Und was ist mit den Träumen?“, fragte Chiara. Raphael schien nicht zu verstehen, worauf sie hinaus wollte, also fügte sie an: „Ich habe seit vier Wochen einen Traum. Immer an einem Freitag und erst vergangenen habe ich den Traum zu Ende geträumt. Er hat mich von Anfang an misstrauisch gemacht, denn ich kannte ihn. Da war ich mir sicher. Und es hat sich bestätigt.“
„Du meinst, es war, als wollte jemand, dass du dich erinnerst?“, fragte Tamina irritiert.
„So könnte man es sagen.“
„Ich bin in der Tat überrascht, dass du scheinbar eine solche Tiefe zu Levona in dir halten konntest. Aber von uns ging dies nicht aus.“ Raphaels Blick wurde ängstlich, doch er mied es, das Thema tiefer anzuschneiden. „Wenn du möchtest, können wir dies rückgängig machen.“ Raphael warf einen fragenden Blick zu Tamina, die nicht reagierte.
„Ich denke darüber nach“, sagte Chiara. „Wenn wir uns für Levona entscheiden, wird es ohnehin hinfällig werden.“
„Welche Folgen hätte es für euch, wenn wir die Nachfolge nicht antreten und Tamina alleine Königin wird?“, fragte Dakota.
„Unsere Zukunft liegt sodann in den Händen des Volkes. Nachdem wir euren Verzicht auf Levona dem Volk mitgeteilt haben, gibt es einen Bürgerentscheid. Unter anderem spielen Dinge in die Entscheidung mit ein, wie wir in der Vergangenheit zu ihren Gunsten gehandelt und welche Maßnahmen wir ergriffen haben. Natürlich ist es nicht unwesentlich, ob ihnen eine Königin reicht. Je mehr Königinnen, desto größerer Schutz bedeutet dies für das Volk.“
„Wenn es nur ein Kind wäre, das als Nachfolge infrage käme, kann das Volk auch nichts dagegen tun, oder?“, fragte Dakota.
„In diesem Fall nicht. Da ihr aber zu dritt seid, gilt dieses Gesetz. Eine richtige Neuwahl würde ausbleiben, wenn sich jemand melden würde, der die Magie beherrscht. So hätte derjenige an erster Stelle das Recht, die Nachfolge anzutreten. Egal welcher Schicht sie angehören.“
„Okay, langsam. Wer kann eigentlich alles zaubern?“, fragte Dakota, der das Ganze ein wenig zu schnell ging.
„Zaubern können in der Regel alle Kaisernachkommen und wenigstens ein Elternteil. Dass sowohl Vater und Mutter zaubern können, ist ungewöhnlich. Daneben sollte es immer jemanden geben, der dem Nachwuchs diese Magie aneignet. So und nicht mehr ist die Magieverteilung vorgesehen. Wie ihr euch denken könnt, gibt es Ausnahmen. Es kommt vor, dass gewöhnliche Bürger ebenfalls zaubern können. Wenn dem so ist, sollten sie dies dem Staat melden. Dennoch bleibt diese Meldung häufig aus.“ Raphael sah kurz zu Tamina, ehe er weitersprach. „Vor ein paar Jahren hat ein Mann es geschafft und mit Magie Land gewonnen. In seiner Familie wird die Magie ebenso an die Nachkommen weitervererbt, wie in der unserer.“
„Tarus kann also auch zaubern“, bemerkte Dakota mit gemischten Gefühlen.
„So ist es. Obgleich es auch hier wieder Vorkehrungen und Ausnahmen gibt. Doch bevor das alles zu kompliziert wird, lassen wir dieses Thema vorerst gut sein. Alles, was diese Angelegenheit anbelangt, erfahrt ihr ausführlich von Marvin, eurem Zaubermeister. Es kommen genug neue Erkenntnisse auf euch zu, sodass ihr hierzu mehr erfahrt, wenn es an der Zeit ist.“
„Na schön“, gab sich Dakota geschlagen. „Wir werden also Königinnen. Und wer entscheidet, wer von uns Kaiserin wird?“
„Kaiserin wird, wer zuerst ein Kind hat und verheiratet ist. Wünschenswert wäre dies vor eurem 25. Geburtstag. Nicht, dass wir euch drängen wollen, es geht auch hierbei um den Schutz des Volkes. Je später ihr Kinder bekommt umso länger müsst ihr regieren. Dabei ist es angedacht, dass eine Kaiserin an die 20 Jahre regiert. Je nach eurer Verfassung oder ob ihr vorzeitig sterbt, wie eure Mutter, wird eure Regierungszeit gekürzt. Darauf folgt eine eurer Schwestern, bis das Kind oder die Kinder der ersten Kaiserin alt genug sind, das Volk zu leiten.“
„Möglicherweise auch nur für ein halbes Jahr“, schlussfolgerte Dakota.
„Richtig. Im Grunde macht es keinen Unterschied, ob ihr Kaiserin oder Königin seid. Es gilt nur die Regel, dass die Kaiserin über alle Entscheidungen das letzte Wort hat. Zudem muss die Kaiserin im Schloss wohnen, wohingegen die Königinnen in eine andere Stadt ziehen dürfen.“
„Was sind generell unsere Aufgaben?“
„Eure Pflichten als Königinnen sind all die jene, die dem Volk nutzen. An erster Stelle, für das Volk da sein. Bei Fragen Antworten geben und bei Bitten einen Weg finden, diese zu erfüllen. Eine der wichtigsten Aufgabe ist es, kontinuierlich Kontakt mit unseren stationierten Männern an der Grenze zu Cantara zu habt. Sie sind die Ersten, die es mitbekommen, wenn Tarus eine Armee auf Levona losschickt. Daneben gibt es viel Papierkram zu erledigen, hin und wieder stehen Besuche in anderen Städten an. Besonders dann, wenn Fragen aufgekommen sind oder Unruhe herrschen. Diese gilt es sofort zu schlichten, bevor es im Lande zu Krieg führt. Nicht zu vergessen, dass ihr bei einem Krieg an der Spitze geht. Eine Armee wird euch folgen, doch seit ihr es, die der Magie verbunden seid und das Volk zu schützen hat.“
Dakota und Chiara sahen sich misstrauisch an und wieder stellten sie sich die Frage, warum ihre Leben riskieren, wenn sie auch unverändert weiterleben konnten.
„So viel Verantwortung ihr mit der Gabe der Magie auch auf euch tragt, so ist sie euch in Kriegen eine große Hilfe, wenn ihr wisst, wie ihr sie einzusetzen habt“, sagte Tamina, um den beiden das Gefühl zu geben, dass sie nicht schutzlos in einen erfahrenen Tyrannen rennen.
„Wenn wir bis zum ersten Angriff nicht gut genug sind, können wir mit Pfeil und Bogen antreten, oder wie?“, fragte Chiara, die sich nicht sicher war, die Magie in so kurzer Zeit beherrschen zu können.
Tamina schmunzelte. „Das Training verlangt viel ab. Doch gebt euch Zeit und es wird eines Tages wie von selbst gehen. Dann gilt es nur noch, die Sprüche auswendig zu lernen.“
„Leichter gesagt als getan“, meinte Dakota. „Auswendig lernen war noch nie meine Stärke.“
„Was steht neben der Zauberei noch auf dem Stundenplan?“, fragte Chiara, in der Hoffnung, auf machbare Dinge.
„Zaubern und apparieren steht an erster Stelle. Ohne sie seid ihr im Krieg ausgeliefert. In den nächsten Tagen werdet ihr ein paar Stunden das Bogenschießen lernen, daneben Selbstverteidigung und Täuschmanöver. Darüber hinaus ist es wichtig, dass ihr unsere Geschichte kennt, wichtige Orte und Tiere.“
„Geschichte?“, fragte Dakota. „Ich hatte gehofft, dieses Fach ein für alle Mal vergessen zu können, wenn ich hier bleibe.“
„Dem ist nicht so“, meinte Tamina. „Doch ich kann dir versprechen, dass unsere Geschichte interessanter ist. Allein der Magie wegen.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte Chiara. „Du kennst unsere Geschichte nicht.“
„Ich kenne eure sehr wohl“, meinte Tamina.
„Tamina liest sehr viel. Wenn sie so weiter macht, hat sie unsere Bibliothek bis zu ihrem Tod durchgelesen“, sagte Raphael.
„Da gibt es wohl kaum ein Buch über unseren Planeten“, warf Dakota ein.
„Vor und nach meinem ersten Besuch bei euch habe ich mich auf der Erde umgesehen und mich in Bibliotheken schlaugemacht“, reagierte Tamina auf den Vorwurf ihrer Schwester.
„Wenn das so ist“, sagte Dakota kleinlaut.
Raphael räusperte sich und fuhr fort: „Des Weiteren müsst ihr einige Stunden in Sachen ‚Benehmen einer Kaisern‘ absitzen. Nicht, dass ihr schlechte Manieren hättet, doch es gibt sicherlich einiges, das euch fremd ist, sich für ein Kaiserhaus aber gehört.“
„Das ist nicht so schlimm, wie es sich anhört“, versprach Tamina, als sie die zerknirschten Gesichter der beiden sah. „Doch es ist nötig. Das Volk verlangt uns einiges ab, obgleich sie selbst keine solche Manieren vorweisen können.“
„Tamina wird allen Unterrichtsstunden beiwohnen, auch wenn sie den ganzen Stoff bereits beherrscht oder beherrschen sollte. Doch ich denke, es wird euch auf diese Weise leichter fallen, euch einzugewöhnen. So, und jetzt bin ich mir nicht sicher, ob ich euch von dem letzten Fach in Kenntnis setzen soll.“
„Bitte“, meinte Dakota. „Ich will so viel wie möglich wissen, bevor ich mich auf dieses Land und meine Aufgabe einlasse.“
„Wir sollten es ihnen sagen“, meinte Tamina, lächelte dennoch ein wenig unentschlossen.
„Wie du meinst. Ihr müsst lernen, einen Greif zu fliegen“, sagte Raphael schließlich ohne Umschweife.
„Das ist ein Fabelwesen. Das gibt es nicht“, sagte Dakota entschlossen und wartete, dass dem Scherz die Wahrheit folgte. Doch weder Raphael noch Tamina sagten etwas zu ihrer Verteidigung.
„Ist das das Tier, halb Löwe, halb Adler?“, fragte Chiara vorsichtig.
Tamina nickte. „Ihr braucht keine Angst vor ihnen zu haben. Sie tun einem nichts. Vorausgesetzt natürlich, ihr tut ihnen nichts.“
„Wäre es möglich, diese Tiere zu sehen?“, fragte Chiara.
„Natürlich“, meinte Raphael, bevor Tamina antworten konnte. „Wenn wir hier fertig sind, wird Tamina sie euch zeigen.“ Raphael dachte nach. „Von meiner Seite gibt es noch ein Thema, das ich euch, ebenso wie Tamina es bereits getan hat, ans Herz legen möchte. Und zwar betrifft dies unseren Bann, welcher zwischen Levona und der Erde herrscht. Wie ihr bereits wisst, könnt ihr ohne Bedenken, 28 Stunden hier bleiben. Sodann würde ich euch bitten, diese Chance zu nutzen, heute Nacht hier zu verbringen und bis morgen früh zu entscheiden. Denn eure Entscheidung ist keine leichte.“
„Ich denke, wir werden diese Zeit auf jeden Fall nutzen“, sagte Dakota zuversichtlich und auch Chiara schien damit einverstanden. Was sollten sie schon verlieren?
„Wieso gilt dieser Bann nur für die erste Reise?“, fragte Chiara.
„Das ‚wieso‘ kann dir niemand beantworten. Es gibt Richtwerte, aber keine Gewissheiten. Mit Ausnahme der ersten Reise. In künftigen Reisen nimmt die Zeitspanne, in der die Zeit stehen bleibt, ungleichmäßig ab. Nach spätestens einem Jahr oder zehn Wechseln verschwindet der Bann vollends.“
Die beiden dachten über die Worte nach, wurden von Raphael aber wieder in die Realität zurückgeholt. Oder zumindest dorthin, was zwar Realität war, sich aber wie ein Traum anfühlte.
„Habt ihr noch Fragen?“
„Keine Konkreten. Gibt es etwas, das wir noch wissen sollten?“
„Da du, Dakota, sagtest, dass du so viel wissen möchtest, wie möglich, solltet ihr Dies noch erfahren. Auch wenn sie eurer positiven Entscheidung für Levona im Wege stehen können.“ Raphael dachte kurz nach, ehe er weitersprach. „Neben der ‚normalen‘ Magie besitzt jede von euch eine weitere, in jeder Generation nur einmal vorkommende, Fähigkeit. Bei Tamina ist es das apparieren. Zwar werdet auch ihr das apparieren lernen, jedoch nicht auf diesen leichten Weg. Was eure Fähigkeiten sind, kann ich euch nicht sagen, darüber müsst ihr mit Marvin sprechen.“
„Weiß er sie schon?“, fragte Chiara.
„Dem bin ich mir nicht sicher. Doch es gibt nur eine gewisse Anzahl der möglichen Fähigkeiten. Über die Jahre kommt die eine oder andere dazu, ist aber eher selten. Dazu soll Marvin euch mehr erzählen. Ich, als Nichtmagier, tue mir dabei schwer. Dabei kann ich mir vorstellen, dass er seit eurer Geburt weiß, welche Fähigkeit euch angeboren ist. Doch nun dazu, was ich euch eigentlich sagen wollte. Ebenso wie ihr, hat auch Tarus eine Fähigkeit, die er ohne Zögern einsetzt.“
„Und die wäre?“, fragte Dakota, sah Tamina aber an, dass es eine sehr schlimme sein musste.
„Er kann alles, sei es lebendig oder eine Sache, mit bloßem Blicke versteinern.“
„Wir können einen Schutzschild um uns legen, zum Teil auch über unsere Armee. Dies schützt uns vor seinen Angriffen“, fügte Tamina schnell an, da sie sah, wie ihre Schwestern diese Nachricht mit Wucht traf.
„Gibt es ein Gegenmittel?“, fragte Chiara, doch die Hoffnung hatte sie schon bei der Frage verloren.
„Wir konnten bis heute kein brauchbares Gegenmittel finden. Doch wir arbeiten weiter daran“, versicherte Raphael. „Das ist auch ein Grund, weshalb wir nie angreifen, wenn es nicht sein muss. Das fordert unnötige Menschenleben und das Volk würde uns nicht mehr trauen. Die Kaiserfamilie ist schließlich dazu da, das Volk zu schützen, und nicht, es ins Verderben zu stürzen.“
Dakota und Chiara hatte diese Tatsache in Schrecken versetzt und womöglich würde es ein Grund für ihre Entscheidung gegen Levona sein.
„Derzeit liegt ein Schutzzauber über Levona. Dieser verbietet Tarus, hierher zu kommen. Sowohl in seiner wahren als auch einer verwandelten Gestalt“, fügte Tamina an.
„Bedeutet, wir sind momentan sicher vor ihm?“, fragte Dakota.
„Sicher sind wir nie. Tarus beherrscht die Magie perfekt und kennt einige Tricks. Dennoch verlassen wir uns auf diesen Schutz“, erklärte Raphael.
Nach einem kleinen Moment des Schweigens, fragte Tamina: „Seid ihr bereit, die Greife kennenzulernen?“
Die beiden nickten zustimmend und standen auf.
„Ich wünsche euch viel Erfolg, und dass ihr euch nicht all zu schwer tut mit der Entscheidung“, sagte Raphael, der ebenfalls aufgestanden war und sie zur Türe begleitete. „Wir sehen uns beim Abendessen.“
„Bis dann“, sagte Chiara und trat in den Flur, gefolgt von Dakota.
Schweigend folgten sie Tamina den Gang entlang und gingen schließlich nach rechts. Ein Geländer schützte sie vor einem Sturz in die Tiefe, wo sich eine helle Halle befand. Tamina ging auf eine Treppe zu, welche in das untere Stockwerk führte.
„Wozu müssen wir eigentlich einen Greif fliegen können?“, fragte Chiara und schaute sich währenddessen die Decke und den darunter befindlichen Saal an.
„Ich hatte vorhin erwähnt, dass die normalen Menschen mit dem Fahrrad unterwegs sind. So lustig das für euch auch klingen mag. Zwar können auch wir dieses Fortbewegungsmittel nutzen, haben aber auch andere Möglichkeiten, wie den Greif. Wobei wir ihn gewöhnlich nicht dafür benutzen, um schnell in die nächste Stadt zu gelangen. Eher für weite Strecken, zum Beispiel an die Grenze von Cantara.“
„Er ist also ein Armeemitglied“, meinte Chiara, musste aber selbst lachen.
„Unter anderem, ja“, meinte Tamina lächelnd.
Sie ging nach draußen, wo die Luft von der Sonne aufgeheizt war, kleine Luftzüge machten die Hitze erträglicher. Sie liefen auf dem Kiesweg entlang, weg vom Schloss. Dakota und Chiara sind vom Beobachten wieder nach hinten abgefallen, weshalb Tamina schließlich wartete.
„Hey, ihr zwei. Ihr habt später noch genug Zeit, euch umzusehen.“
„Entschuldigung“, rief Dakota und sie eilten zu Tamina.
„Bei diesem Anblick muss man sich umschauen, das geht nicht anders“, redete Chiara sich raus.
„Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich kann euch verstehen. Allerdings sind wir knapp dran. Die Greife werden bald ihre Runde drehen“, sagte Tamina und deutete auf einen abgesperrten Käfig.
„Also doch gefährlich“, nuschelte Chiara.
„Sie sind nicht gefährlich, auch wenn du dir das einzureden versuchst. Aber sie wollen auch ihre Ruhe haben. Genau wie wir Menschen. Sie sind deshalb nicht immer da, sondern genießen ihre Freiheit. Denn auch wenn sie uns gehören, sind es freie Tiere geblieben. Dieser Käfig ist nur ein Unterschlupf, kein Gefängnis, dem sie nicht entkommen können.“
Chiara gab sich geschlagen. Tamina schob den Riegel beiseite und öffnete die Türe. Als sie drinnen waren, schloss sie die Türe wieder und ging voraus. Am Ende des Gangs fiel von rechts ein Lichtkegel hinein. Tamina schaute kurz durch die Türe und verschwand im angrenzenden Raum.
„Ihr könnt rein kommen“, rief sie und die Zwei sahen vorsichtig durch die Öffnung.
Chiara biss sie sich auf die Zunge, um nicht laut loszuschreien. Dakota starrte das Tier einfach nur an.
„Darf ich vorstellen, das ist Rena. Meine Greifin.“
Vorsichtig trat Dakota näher an das Tier heran. Rena schaute sie mit ihren großen gelben Augen interessiert an. Ihr Kopf glich dem eines Adlers. Die Vorderfüße hatten Klauen, der Rest gehörte mehr einem Löwen. Kräftige Tatzen und ein Schwanz. Große, prachtvolle Flügel lagen am Bauch.
Dakota ging langsam um das Tier herum. „Wie groß werden Greife?“
„Sie werden bis zu zwei Meter groß und drei Meter lang. Wenn sie gesund sind, können sie 120 Jahre oder älter werden.“
„Die Tiere sind wirklich schön“, meinte Dakota und streichelte Rena vorsichtig über die Federn.
„Werden sie nicht der Grund sein, warum ihr nicht hier bleibt?“, fragte Tamina hoffnungsvoll.
„Von meiner Seite aus nicht. Ich finde sie toll“, meinte Dakota und sah zu dem großen Kopf auf.
„Ich werde mich schon an sie gewöhnen. Ich brauche bei so etwas immer länger“, erklärte Chiara.
„Das ist kein Problem. Wir haben Zeit“, sagte Tamina. „Dann bringe ich euch zurück, damit ihr mit eurer Diskussion beginnen könnt.“
„Ich kann verstehen, warum ihr sie nicht gefangen haltet“, meinte Dakota, als sie den Weg zurückliefen. „Sie würden wahrscheinlich vollkommen das Vertrauen in die Menschen verlieren, genauso wie ihren Jagdinstinkt und ihre Freiheit.“
„Vermutlich würde sie das alles verlieren. Aber das wollen wir natürlich nicht riskieren“, meinte Tamina und lief langsamer. „Möchtet ihr in der Natur bleiben oder euch in ein Zimmer setzen?“
„Ich würde gerne draußen bleiben“, meinte Chiara, und nachdem Dakota zugestimmt hatte, schlug Tamina einen Weg nach links ein. Vor ihnen tauchte eine große Terrasse auf. Mitten auf dem Rasen stand sie in ihrer vollen Pracht. Vier Bambussäulen stützten das Dach, welches aus einem weißen Laken bestand und mit Seilen an den Säulen festgebunden war. An den Seiten waren Blumenbeete in Dreierreihen angelegt, die durch Steine voneinander abgegrenzt wurden und so die Erhöhung der Terrasse anschaulicher machten. Eine kleine Treppe führte hinauf. Der Boden war mir Bambusdielen ausgelegt, zwei Seile, auf Taillen- und Kniehöhe, umzäunten die Terrasse. Im Schatten standen vier Stühle und ein ovaler Tisch aus Holz. Tamina begleitet sie dort hin und bat sie, Platz zu nehmen.
„Das sieht richtig toll aus“, schwärmte Chiara und ließ sich auf einem der Stühle nieder.
Tamina lächelte zufrieden. „In Levona wirken viele Plätze schön. Man muss sie nur ausfindig machen.“ Nach einer kleinen Pause fügte sie an: „Ich bereise diese gerne, wenn ich vergessen habe, was es bedeutet, an einem schönen Ort zu leben. Mir verleiht es das Gefühl, alles bewältigen zu können.“
Dakota lächelte bei der Vorstellung.
„Es ist 19 Uhr. Zu Abend werden wir um 22 Uhr im kleinen Saal speisen.“
„So spät?“, rief Dakota überrascht aus und ließ sich neben Chiara auf einen Stuhl sinken.
„Vergiss nicht, dass wir 28 Stunden am Tag aufweisen.“
„Bis dahin bin ich verhungert.“
„Übertreib nicht“, versuchte Chiara ihre Schwester zu sänftigen.
„Ihr werdet es überstehen. Geht dort hinein, wo wir vorhin nach draußen getreten sind. Sodann im Korridor die zweite Türe zu eurer Rechten. Solltet ihr Lust verspüren, dürft ihr euch gerne noch ein wenig umsehen.“ Tamina drehte sich um und lief zurück zum Schloss.
Die beiden ließen das Bild, welches sich ihnen bot, auf sich wirken, ehe sie begannen, sich über ihre Zukunft zu unterhalten. Sie wussten ohnehin nicht, wo sie ansetzen sollten. Durch Tamina hatten sie bereits einiges über Levona erfahren. Doch das Gespräch mit ihrem Vater hatte ihnen einen noch größeren Einblick gegeben. Sowohl auf Vorteile als auch auf Nachteile. Doch welche würden sie mehr überzeugen? Und konnten sie mit dem Leben, das ihnen in Levona geboten wird, je glücklich werden? Ständig würden sie daran erinnert werden, dass ihre Eltern und Freunde nun ohne sie leben und nach deren Kenntnis es schon immer taten? Dass nur sie sich an die letzten 16 Jahre erinnern können, während Bianca und Lorena sie nicht wiedererkennen würden, wenn sie sich gegenübertreten würden?
„Mit gefällt es hier echt gut und ich möchte nicht mehr zurück. Wenn ich tiefer darüber nachdenke, kommen alle Gefahren auf einmal, aber selbst die schrecken mich nicht ab“, erklärte Chiara vorsichtig, doch Dakota schien die Worte gar nicht richtig verstanden zu haben.
„Ich finde es hier auch toll. Dennoch stellt sich für mich die Frage, welche Entscheidung ich in ein paar Tagen oder Wochen mehr bereuen würde.“
„Wir werden es bereuen, egal wie wir uns entscheiden“, äußerte Chiara. „Zumindest am Anfang. Auf lange Dauer gesehen, können wir es nur bereuen, wenn wir hier bleiben.“
Dakota sah sie an, als hätte sie etwas verpasst. „So anwesend, wie du vorhin warst, dachte ich, dass du später, also jetzt, keine Ahnung von dem Gesprochenen haben wirst.“
„Da hast du dich wohl getäuscht.“ Chiara besah ihre Schwester mit einem flauen Gefühl.
„Offensichtlich“, seufzte Dakota und ließ sich in die Lehne fallen. „Ich stelle mir immerzu die gleiche Frage. Wozu mein Leben riskieren, wenn ich ein unbeschwertes haben kann.“
„Die Antwort hat uns Tamina bereits gegeben“, äußerte Chiara und dachte darüber nach.
„Ich weiß aber nicht, ob mir die Tatsache, mich endlich daheim und bei meiner Familie zu wissen, stärker ist, als ohne Todesängste leben zu müssen.“
Chiara schüttelte den Kopf. „Wieso kommt es mir so vor, dass sich unsere Einstellung Levona gegenüber geändert hat, seit wir hier sind? Du hast Zweifel ohne Ende, wogegen ich mich daran gewöhnen könnte, hier zu leben.“
Dakota sah sie nachdenklich an. „Weil es womöglich so ist. Vielleicht war die ganze Wahrheit über unser tatsächliches Leben mehr, als ich erwartet habe.“
„Das hat vorhin nicht so gewirkt“, äußerte Chiara.
„Da hatte ich noch keine Möglichkeit, darüber nachzudenken.“
„Ich finde all diese Tatsachen auch nicht ohne. Besonders die mit der Versteinerung“, Chiara wurde beim letzten Wort leiser, fügte aber deutlich an: „Dennoch ist es für mich kein Grund, gegen Levona zu entscheiden. Auch wenn mir noch so viele Dinge durch den Kopf jagen und schreien, ich soll hier weg.“
„Was sind denn Gründe, die in deinen Augen gegen Levona sprechen?“, fragte Dakota leicht aufgebracht.
Chiara zuckte mit der Schulter, sagte dennoch: „Dass wir Mum und Dad nie wieder sehen oder Bianca …“
Dakota nickte. „Dir geht es also darum, was du aus der alten Welt vermissen würdest. Nicht um die Gefahr, die hier auf uns wartet.“
Chiara nickte. „Ich kann mir sehr gut vorstellen, hier zu leben. So absurd es sich für dich nach meinem Verhalten in den letzten zwei Tagen anhören mag. Aber ich habe das Gefühl, dass die Träume der Auslöser waren und ich nur den richtigen Schubs gebraucht habe, welchen ich hier bekommen habe.“
Dakota seufzt und wandte sich ein wenig ab. Dass Chiara sich insgeheim schon so sicher war, ließ sie schier verzweifeln. Die ganze Zeit über hatte sie sich Vorwürfe gemacht, dass sie Chiara unrecht tat und jetzt musste sie einsehen, dass es ein Gefallen war. Obgleich sie sich sicher war, dass Chiara mit ihr zurückgehen würde, so viel hatten sie sich versprochen. Doch nach der schweren Kindheit konnte sie Chiaras Reaktion verstehen. Dass sie sie hinter sich lassen wollten, auch wenn sie es nicht zugeben mag.
Chiara wagte nicht, etwas zu sagen. Sie hatte Dakota gerade vor den Kopf gestoßen, wogegen sie ihr immer den Rücken gestärkt hat. Und dafür hasste sie sich. Dakota war noch in sich gekehrt, versuchte eine Lösung zu finden. Einen Weg, mit dem sie hier zurechtkommen würde. Eine ganze Weile noch herrschte Schweigen. Schließlich brach Chiara die Stille, auch auf die Gefahr hin, mit ihren Worten einen ernsthaften Streit anzuzetteln: „Wie vorhin schon erwähnt, werden wir unsere Entscheidung bereuen. Aber die Zeit wird vergehen und wir werden unser altes Leben nicht mehr missen.“
Dakota sah sie entgeistert an. „Woher willst du dir da so sicher sein? Du hast keinen Schimmer davon, was hier auf uns zukommt! Außerdem will ich mein Leben nicht vergessen.“
Chiara schluckte: „Ich wollte damit nicht sagen, dass ich es vergessen möchte. Im Gegenteil. Ich war mehr als zufrieden …“
„… bist es aber nicht mehr, wenn du weißt, was du hier haben kannst“, beendete Dakota den Satz und schüttelte den Kopf.
„Natürlich ist es ungewiss, was uns die Zukunft bringt. Ich streite auch nicht ab, dass wir hier etlichen Gefahren ausgesetzt sind. Aber ich weiß, dass du mich verstehst und meine Gründe kennst. Auch wenn du gerade stur gegen mich redest.“
Dakota sah sie traurig an und schloss die Augen. Sie konnte sie zu gut verstehen, wenn auch sie etwas anderes empfand. Doch sie konnte ihr keine Vorwürfe machen. Es ist ihre Chance, ihren Wunsch, umzusetzen. Eine weitere Gelegenheit wird sie nicht bekommen.
Als sie ihre Augen öffnete, sah Chiara sie entschuldigend an. „Tut mir leid, dass ich nur an mich denke.“
„Das tust du nicht, und das weißt du.“ Dakota klang ruhig. „Du hast mich mit deiner Entscheidung einfach überrumpelt. Außerdem bin ich selbst schuld. Schließlich habe ich dich überredet, mit nach Levona zu kommen. Nur meines Willens wegen sind wir doch hier.“
„Ich habe die Entscheidung selbst getroffen.“
„Aber nicht ganz und ich bezweifle, dass du dich ohne mein Zutun auch so entschieden hättest.“
„Vermutlich hast du recht“, stimmte Chiara zu. „Wenn du dich gegen Levona entscheidest, komme ich natürlich mit zurück.“
„Wenn wir es doch in Betracht ziehen, getrennt weiter zu leben?“, schlug Dakota vor, sah aber nicht begeistert aus.
„Niemals“, beteuerte Chiara. „Für dich wird es nicht so schlimm. Du hättest keine Erinnerungen an mich. Aber ich kann nicht hier bleiben und wissen, dass du dein altes Leben weiterführst.“
„Ich habe aber Bedenken, dass ich hier glücklich werde. Gleichzeitig möchte ich dir die Chance nicht nehmen, von vorne zu beginnen.“
Chiara sah sie kopfschüttelnd an. „Diese Entscheidung wird uns nicht trennen. Lieber komme ich mit zurück.“
„Du bist dir sicher, dass du hier leben möchtest?“, fragte Dakota ernst und Chiara nickte. „Gut, dann weiß ich Bescheid und werde heute Nacht darüber schlafen.“
„Sag mir deine Entscheidung, bevor wir zum Frühstück gehen, versprochen?“, forderte Chiara.
„Versprochen.“
Lange saßen sie schweigend nebeneinander, jede in ihre Gedanken vertieft. Die Sonne neigte sich langsam dem Untergang, ein frischer Wind umhüllte sie.
„Was hältst du davon, noch ein wenig im Schloss herumzulaufen?“, fragte Chiara, die etwas zu tun haben wollte. All die Gedanken, dir ihr im Kopf herumschwirrten, ließen sie verrückt werden.
„Meinetwegen“, stimmte Dakota zu.
Chiara stand auf und streckte ihrer Schwester die Hand hin. Leicht zögernd nahm Dakota an und sie liefen gemütlich zurück zum Schloss. Sie Sonne spiegelte sich in der hohen Glaswand, die zwei Stockwerke emporragt. Ein dicker Querbalken trennt den zweiten und dritten Stock äußerlich voneinander, darüber gab es große Fensterfronten. Eine weiße Doppeltüre war dem Glas angepasst worden. Daneben wuchsen Efeusträucher an dem Glas entlang nach oben und verliehen dem Ganzen einen mystischen Anblick. Die Halle hielt sich ebenfalls in weiß, nur die Pflanzen verwandelten das Foyer in eine Art Wintergarten. Der Gang, den sie vorhin von der anderen Seite gesehen hatten, wirkte in diesem Gegensatz dunkel. So wählten sie die Treppe zu ihrer rechten, die an der Wand entlang nach oben führte.
Die Wände im ersten Stock waren in einem rot-goldbeigen Ton gehalten, doch Chiara steuerte gleich auf eine Wand mit etlichen Bildern zu. Alte und Junge Menschen beider Geschlechter waren dort abgebildet und lächelten ihr entgegen. Vereinzelt trugen die Personen eine Krone, andere sahen nicht aus, als stammen sie aus der Kaiserfamilie. Sie versuchte sich so viele Einzelheiten wie möglich einzuprägen, wurde aber bald von einem Läuten aus den Gedanken gerissen. Erschrocken fuhr sie zu Dakota um und hörte auf die Anzahl der Schläge. 3 – 4 – 5 – sie hatte den Anschein, dass es überhaupt nicht mehr aufhören würde. 18 – 19 – 20.
„Ich schätze, wir sollten zum Abendessen“, meinte Chiara ohne den 22ten Schlag abzuwarten und so liefen sie eilig nach unten. Vor der Tür, die Tamina ihnen als die zum Speisesaal erklärt hatte, blieben sie stehen.
„Auf zum ersten königlichen Essen“, meinte Dakota.
„Kaiserlich trifft es eher“, meinte Chiara und klopfte an die Türe.

 

5. Kapitel

„Sind wir zu spät?“, fragte Dakota entschuldigend.

„Ihr seid genau richtig“, sagte Raphael und deutete auf zwei leere Stühle.

Erleichtert ließen sie sich auf einen Stuhl sinken, der, wie sie bemerkten, aus dickem, hellen Holz und dunkelrotem Samt gefertigt war. Angestellte schoben ihnen die Stühle hin, wie sie es aus alten Filmen kannten. Das Zimmer war hell und gemütlich, so ganz anders, als sie es erwartet hatten. Die Wände wurden von einem zarten weiß-goldenen Muster geziert, ein großer, aber dezent gehaltener, Kronleuchter hing über dem langen Tisch.

„Wie waren die letzten Stunden?“, fragte Raphael interessiert.

„Angenehm, aber auch nervenaufreibend“, sagte Chiara und überlegte, ob sie noch etwas anfügen sollte. „Es ist viel auf einmal und das zu realisieren, braucht Zeit.“ Dakota sah sie misstrauisch an.

„Das dürfte normal sein. Ihr werdet in ein Leben geworfen, von dem ihr nichts kennt und auf Menschen vertrauen müsst, die euch fremd sind. Da hätte jeder Angst, falsch zu entscheiden“, versuchte Tamina sie mit ruhiger Stimme zu beruhigen.

„Wie ihr selbst gesagt habt, braucht es seine Zeit. Nehmt sie euch und ihr werdet es bald als normal betrachten“, sagte Raphael. „Auch wenn ich weiß, dass es leichter gesagt, als getan ist.“

„Wer sind eigentlich die Personen auf den Bildern im ersten Stock?“, fragte Chiara, um ein bisschen vom Thema abzulenken.

„Bei den Personen handelt es sich um ehemalige Kaiser und Kaiserinnen, ebenso Familienangehörige“, erklärte Raphael. „Die meisten von ihnen sind bereits verstorben.“

Zwischenzeitlich war der erste Gang, eine Suppe, serviert worden. Hungrig löffelten sie sie und waren alsbald fertig. Anschließend gab es Gemüse und Obst.

„Was ist das alles?“, fragte Chiara leise, aber laut genug, sodass Tamina und Raphael es hören konnten.

„Vieles werdet ihr nicht kennen. Probiert es einfach einmal“, meinte Raphael.

Genüsslich pickten sie die ihnen bekannten Dinge heraus und stocherten im Rest herum, auf der Suche, nach dem bestaussehenden Unbekannten. Raphael beäugte sie mit einem skeptischen Blick, verlor aber kein Wort.

„Der Hauptgang“, ertönte die Stimme eines Kellners und die Platten wurden auf den Tisch gestellt. Unter dem Deckel lagen Fleisch, Kraut und Reis mit Soße überzogen.

„Guten Appetit“, kam es vom Personal, das sich sodann zurückzog.

Zu Beginn kauten sie langsam auf einem Stück Fleisch herum, da sie Angst hatten, dass sie es am liebsten wieder ausspucken würden. Doch es schmeckte toll.

„Ihr könnt das alles ohne Sorge essen. Wir tun es seit Jahren und leben noch“, sagte Tamina leicht sarkastisch.

„Es könnte aber sein, dass es uns nicht schmeckt. Deshalb gehe ich da lieber langsam ran“, meinte Dakota, legte aber schließlich einen Gang zu. Zu Hause hätten sie bereits vor über zwei Stunden gegessen.

„Darf ich annehmen, dass es euch recht gut hier gefällt?“, fragte Raphael seine Töchter, als er mit dem Hauptgang fertig war.

„Vom Optischen auf jeden Fall. Alles andere ist gewöhnungsbedürftig, aber nicht so, dass ich sage, es ist schrecklich und ich will wieder heim“, sagte Chiara ehrlich.

Raphael bemerkte augenblicklich eine Unstimmigkeit. „Wie sieht es bei dir aus, Dakota?“

Dakota verschluckte sich fast an ihrem Trinken, als ihr Vater sie ansprach. „Ich zweifel noch, ob ich hier glücklich werden kann. Deshalb fällt meine Entscheidung erst morgen früh.“

Die beiden bemerkten den Umschwung von Tamina und Raphael und mieden deshalb weiteren Blickkontakt.

„Deinen Worten nach entnehme ich, dass ihr heute Nacht hier bleibt, wie wir es besprochen haben“, sagte Raphael vorsichtig, um Missverständnisse zu vermeiden.

Dakota und Chiara nickten und Raphael lächelte zufrieden, wenn auch gezwungen. Die Teller wurden abgeräumt und für einen Moment dachten sie, sie hätten es geschafft. Doch ein leises Klingeln ertönte und erneut kamen vier Männer aus durch eine Türe, die wahrscheinlich in die Küche führte.

„Wie viel gibt es noch?“, fragte Chiara, die eigentlich schon satt war.

„Wenn ihr keinen Hunger mehr habt, müsst ihr dies natürlich nicht mehr essen“, sagte Raphael schnell, ehe den beiden schlecht wurde.

„Okay, dann“, begann Chiara, doch als sie die Eiscreme sah, verstummte sie und nahm den Löffel in die Hand. Beide verschlangen sie das Eis, obwohl sie schon satt waren. Aber es schmeckt so gut, sodass sie weit vor Raphael und Tamina fertig waren. Es brachte ihnen wieder einen skeptischen Blick von ihrem Vater, Tamina schüttelte nur den Kopf, doch die beiden ignorierten dies und warteten geduldig, dass ihre Schwester und ihr Vater fertig würden.

„Können wir zwischendurch nach Hobart zurück?“, fragte Dakota plötzlich und sah in die Runde.

„Um zu sehen, wie es euren Eltern und Freunden geht?“, fragte Raphael und Dakota nickte. „Theoretisch ja. Jedoch rate ich davon ab. Auch wenn ihr eure Freunde vermisst und wissen möchtet, wie es ihnen geht, wird es euch nicht gut tun. Ihr werdet jedes Mal von vorne anfangen müssen, Abschied zu nehmen. Dies ist nicht einfach, das kann ich euch versprechen. Früher oder später würdet ihr vermutlich daran zerbrechen.“

„Da hast du wahrscheinlich recht“, gab Dakota zu und dachte über die Erklärung nach.

„Möchtet ihr nach dem Essen noch etwas machen oder auf euer Zimmer gebracht werden?“, fragte Raphael, um weitere unangenehme Situationen für heute aus dem Weg zu gehen.

„Ich bin ziemlich müde“, gestand Dakota.

„Dann geleite ich euch zu den Gästezimmern“, sagte Tamina höflich und stand auf. Dakota und Chiara taten es ihr gleich.

 

Der nächste Tag begann mit denselben warmen Sonnenstrahlen, mit denen der vergangene Tag geendet hatte. Die Wärme schlich langsam durch das Zimmer, draußen zwitscherten die Vögel und die Kirchenglocke schlug halb acht. Mit dem Gongschlag öffneten Dakota und Chiara langsam die Augen und kuschelten sich tiefer unter die Bettdecke. Nur langsam begriffen sie, dass sie nicht zu Hause waren, sondern in Levona. Ein kurzer Schwall Unsicherheit überkam sie, doch sogleich freuten sie sich auf den Tag. Wenige Sekunden später klopfte es. Doch dieser jemand hatte nicht die Absicht eine Antwort abzuwarten, da sich die Türe quasi gleichzeitig mit dem Klopfen öffnete. Kurz darauf flog sie zu, ohne auch nur einen Schall von sich zu geben, was bei dieser Wucht eigentlich unmöglich war.

„Guten Morgen“, sagte Tamina fröhlich und stellte sich an die Bettenden. „Bereit für den zweiten Tag?“

Die beiden sahen ihre Schwester mit einem leichten Lächeln an.

„Jap.“ Dakota setzte sich ins Bett und nach einem kurzen Blick in den Rest des Zimmers, sah sie wieder ihre Schwester an.

„Was ist?“ Tamina verstand nicht, warum Dakota sie so anstarrte.

„Nichts. Wie lange haben wir bis zum Frühstück?“ Dakota klang zufrieden und ausgeglichen.

„In etwa eine halbe Stunde.“ Tamina warf einen kurzen Blick zu Chiara. „Wir sehen uns dort.“ Damit wandte sie sich um und ließ die beiden zurück.

„Du bist wie ausgewechselt“, bemerkte Chiara, die sich ihrer Schwester gegenübergesetzt hatte.

Dakota sah sie lange an, ohne ein Wort zu sagen. „Ich lag gestern Abend noch lange wach und habe nachgedacht.“

„Hast du deshalb Tamina so angestarrt?“

Dakota lächelte. „So könnte man es sagen.“

Chiara verstand nicht ganz, beließ es aber dabei und ging ins Badezimmer. Sie wuschen ihr Gesicht, kämmten sich die Haare und putzten Zähne. Anschließend zogen sie die Sachen von gestern wieder an, zogen die Vorhänge beiseite und öffneten die Fenster. Ein kleiner Windzug erreichte sie und hieß sie willkommen für den neuen Tag.

„Ich habe mich entschieden“, sagte Dakota unerwartet und Chiara hielt in ihrer Bewegung inne.

 

„Guten Morgen“, begrüßt Raphael sie, als sie das Esszimmer betraten.

Sie setzten sich auf die gleichen Plätze wie am Abend zuvor. Das Zimmer kam ihnen heute größer vor und trotzdem fühlten sie sich eingeengt. Sie hofften, dass Tamina oder Raphael etwas sagen würden. Aber das taten sie nicht. Stattdessen betraten die Kellner den Raum und servierten das Frühstück. Dakota und Chiara warteten ungeduldig, bis die Deckel abgehoben wurden und das Essen zum Vorschein kam. Spiegelei mit zwei Scheiben Toast. Der Hauptgang bestand aus Brötchen und einer reichlichen Auswahl an Belägen, daneben gab es Gebäck, Tee, Milch und Früchte. Erstaunt sahen die beiden auf die große Auswahl. Zu Hause war eine Sache auf den Tisch gekommen und die wurde gegessen. Aber sie mussten sich wohl daran gewöhnen, dass hier alles größer ausfiel. Das kleine niedliche Leben war vorbei. Als Dakota das Buffet betrachtet hatte, viel ihr ein, dass sie eine Entscheidung mitzuteilen hatte. Doch sie hatte keinen Schimmer, wie sie anfangen sollte und auch Chiara schien ratlos. Insgeheim hatte sie gehofft, Raphael würde sie darauf ansprechen.

Vermutlich möchte er sich zurücknehmen, um ihnen den nötigen Freiraum zu lassen. Um sich zu beruhigen, nahm Dakota erst einmal ein Brötchen, schmierte Marmelade darauf und schenkte sich Milch ein. Nach einem großen Schluck setzte sie sich aufrecht hin, schloss kurz die Augen und suchte nach den richtigen Worten. Obwohl sie ihr nicht einfielen, redete sie los.

„Chiara hatte gestern schon eine Entscheidung getroffen, ich habe länger gebraucht, um zu wissen, was ich will“, Dakota hatte sofort die volle Aufmerksamkeit ihrer Schwestern und ihres Vaters. „Ich habe gestern Abend noch lange nachgedacht und bin zu einer Entscheidung gekommen.“ Dakota hielt kurz inne und warf einen letzten Blick zu Chiara, die ihr zu nickte: „Wir kommen nach Levona.“

Dakota atmete aus, sichtlich erleichtert und ließ sich in ihren Stuhl sinken. Chiara klopfte ihr unter dem Tisch aufs Bein. Ihr Vater und Tamina lächelten und nickten kurz.

„Das freut mich natürlich sehr zu hören“, sagte Raphael und man sah ihm an, dass auch er eine Last weniger zu tragen hatte. Doch sein Ausdruck wurde umgehend ernst. „Ist euch bewusst, dass ihr eure Eltern und Freunde nie wieder sehen werdet?“

Dakota sah ihn gekränkt an. Wieso tat er das?

„Du stellst unsere Entscheidung wie eine Brutalität da“, meinte Dakota hart.

„Weil sie es ist. Eure Eltern mögen sich nie an euch erinnern. Aber euch können wir die Erinnerungen an euer altes Leben nicht nehmen.“

„Wir haben uns entschieden“, sagte Chiara entschlossen. „Vielleicht wird es ein paar Tage dauern, bis wir die Tragweite verstanden haben. Aber wir sind uns sicher.“

„Wie sieht es bei dir aus, Dakota?“

Dakota erschrak, als sie ihren Namen vernahm. Sie nickte mit einem Lächeln und machte sich sofort wieder über das Essen her. Chiara bereitete das Verhalten ihrer Schwester ein ungutes Gefühl, doch sie entschied sich, sie nicht darauf anzusprechen. Als Dakota ihr vorhin ihre Entscheidung mitgeteilt hatte, sah sie glücklich und zufrieden aus. Auch wenn es im Moment nicht danach aussah, freute sich Dakota auf das Leben in Levona. Es viel ihr nur schwerer, sich ihren Ängsten zu stellen. Auch wenn sie immer die war, die bei jedem Abenteuer vorne mitmischte.

„Wenn dem so ist, dann heiße ich euch herzlichst Willkommen in Levona und hoffe, dass ihr glücklich werdet“, sagte Raphael, dem Dakotas Verhalten aufgefallen war, aber lediglich Tamina einen auffordernden Blick zugeworfen hatte.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Chiara.

„Nach dem Essen wird Tamina euch eure Zimmer zeigen, anschließend geht ihr gemeinsam den Stundenplan durch und besprecht einige Details“, erklärte Raphael geduldig. „Eventuell bekommt ihr Besuch von Marvin, der euch in den meisten Fächern unterrichten wird. Ihm könnt ihr allerhand Fragen stellen.“

„Ist er denn schon zurück?“, Tamina klang verwundert.

„Bisher nicht. Doch er sagte, er würde versuchen, vor eurer Reise nach Hobart zurück zu sein. Gerne wollte er die beiden kennenlernen und ihnen die Chance geben, Fragen zu stellen.“

Obwohl Dakota und Chiara gerne gewusst hätten, wo ihr künftiger Lehrer war, trauten sie sich nicht zu fragen. Auch wenn sie jetzt offiziell Prinzessinnen waren und somit das gleiche Anrecht auf Wissen hatten wie Tamina.

„Wann reisen wir nach Hobart?“, fragte Dakota.

„Wir warten den Ablauf des Banns ab und apparieren dann. Meines Wissens waren eure Eltern nicht zu Hause, als wir gestern abgereist sind“, sagte Tamina.

„Sie besuchen Sonntagmittag einen Tanzkreis“, stimmte Chiara der Vermutung zu.

„Gut, dann …“, begann Tamina, doch ihr Vater unterbrach sie.

„Wollt ihr sie ein letztes Mal sehen?“

„Nein“, sagten sie einstimmig und mit einem Anflug von schlechtem Gewissen.

„Wie ihr möchtet. Tamina wird euch in Hobart unterstützen. Für die Zukunft solltet ihr wissen, dass meine Türe jederzeit offensteht, wenn ihr reden wollt oder Fragen habt. Zumeist findet ihr mich in meinem Arbeitszimmer.“

„Gut zu wissen“, meinte Chiara.

„Bekommen wir einen Plan für die nächsten Wochen?“, wollte Dakota wissen.

„Tamina wird sich darum kümmern.“ Raphael dachte kurz nach. „Heute Mittag werde ich nicht mit euch speisen können, aber vielleicht könnt ihr Marvin überreden. Für uns bedeutet das, wir sehen uns zum Abendessen.“

Sie aßen in Ruhe zu Ende, doch ihr Kopf arbeitete ununterbrochen. Sämtliche Hinweise schwirrten herum und versuchten sich zu festigen. Als sie fertig waren, standen sie auf und folgten Tamina in den dritten Stock.

Durch die Treppe in dem hinteren Teil des Schlosses gingen sie in den ersten Stock. Etwas versetzt dazu führte eine breitere Treppe hinauf in den zweiten Stock. Zunächst gerade, sodass sie einen schönen Ausblick auf den Garten und die Terrasse hatten, bevor es zwei Biegungen gab und sie in die entgegengesetzte Richtung liefen. Die Stufen waren allesamt mit einem roten Stoff überzogen, ebenso die nächste Ebene.

„Hier befinden sich unter anderem das Wohnzimmer, Dads Schlafzimmer und Personalräume“, sagte Tamina beiläufig, denn sie lief ohne Zögern die nächste Treppe hoch.

„Nebenbei erwähnt gehört die dritte Ebene uns alleine, mit der Ausnahme, dass sich kleine Zimmer dort befinden, die wir nicht nutzen und auch von anderen kaum benötigt werden.“

„Ein ganzes Stockwerk?“, fragte Chiara ungläubig.

Tamina nickte. „Neben unseren Zimmern findet ihr einen großen, gemütlichen Raum, der als Wohnzimmer dient, vor, außerdem eine Küchenzeile. Bisher habe ich beides kaum genutzt. In der Glaskuppel befindet sich ein Astronomie-Zimmer. Bei gutem Wetter hat man einen tollen Ausblick auf die Planeten. Zu den Zimmern sei noch gesagt, dass sie keinen großen Unterschied aufweisen, mit Ausnahme dessen, wie die Möbel angeordnet sind.“

„Weißt du, wie hoch das Schloss insgesamt ist?“, fragte Dakota als sie die Treppe in den dritten Stock hochgingen.

„Wenn man die Glaskuppel weglässt, erhält man eine Höhe von 16 Metern. Hinzurechnen müsstet ihr noch den Keller.“

„Wahnsinn“, murmelte Chiara, als sie im dritten Stock angekommen waren.

„Das ist ein Scherz?“, fragte Dakota und schaute sich um. „Das ist der schönste Teil im Schloss, oder?“

„Für meinen Teil, ja. Wobei mir die letzten Jahre mehr als die Hälfte dieser Fläche genügt hätte.“

„Das kann ich mir vorstellen. Bei so viel Platz wird man doch wahnsinnig“, meinte Dakota.

Zu beiden Seiten gelangten sie durch Bögen zu den Zimmern, die von keinem in Anspruch genommen wurden. Vor ihnen lag eine weitere kleine Treppe. Von dort aus teilte sich die Etage durch drei Bögen. Sie folgten Tamina durch den zu ihrer linken und fanden sich in einem kleinen Vorraum wieder. Die Wände trugen die gleichen schönen hellen Muster wie die im Speisesaal, der Boden war von weißen Holzdielen bedeckt. Drei Türen lagen in ihrem Blickfeld, ein schmaler Gang neben dem Bogen führte weg von hier. Tamina ging auf die Tür zu, die ihnen als erstes in den Blick gefallen war. Kurz darauf verschwand sie im Zimmer.

Als sie eintraten, fiel ihr Blick sofort aus dem Fenster. Der Ausblick war atemberaubend. Bäume, Wiesen und Felder sahen sie, die sich in einiger Entfernung mit dem Himmel vereinten. An der Wand zum anliegenden Zimmer stand ein großes Bett aus hellem Holz und roter Bettdecke. Ein kleiner Schreibtisch stand am Fenster, auf der linken Seite führten zwei Türen in angrenzende Räume. Dakota ging auf die Vordere zu und schob die Schiebetür beiseite.

„Das ist nicht wirklich ein Kleiderschrank, oder?“

„Das ist in der Tat einer. Da ihr für jeden Anlass ein anderes Kleid braucht, sollte euch die Größe nicht überraschen“, erklärte Tamina. „Die andere Tür hier hinten führt ins Badezimmer. Gerne dürft ihr ins andere Zimmer reinschauen, damit ihr euch davon überzeugen könnt, dass sie identisch sind.“ Tamina ging währenddessen wieder in den Vorraum. „Das mittlere Zimmer gehört mir. Wegen der größeren Fensterfront ist es ein wenig anders eingerichtet. Ich hole kurz die Unterlagen aus Marvins Zimmer. Wir treffen uns in meinem Zimmer. Dann gehen wir gemeinsam ins Wohnzimmer.“

Damit verschwand sie und die beiden standen überwältigt im Vorraum.

„Das Zimmer ist nicht übermäßig groß, trotzdem bin ich sprachlos“, sagte Dakota und ging auf das andere Zimmer zu. Als sie sich vergewissert hatten, dass Tamina recht hatte, spähten sie kurz in den Gang neben dem Bogen, entschlossen sich aber für Taminas Zimmer.

Zwar war es durch die doppelseitige Fensterfront anders eingerichtet, sah im Grunde aber genauso aus, wie die anderen beiden. Ein Vorteil war, dass Tamina einen weiten Blick auf die Felder als auch den Vorplatz des Schlosses bis zum Tor und weiter zum Wald hatte. Aber sie wollten sich nicht beschweren.

„Das ist alles nur ein Traum, oder?“, fragte Chiara und schaute aus dem Fenster, hinaus auf den Vorplatz.

„Nicht mehr. Dein Traum ist Wirklichkeit geworden, wie es aussieht.“

„Ich habe nie davon geträumt, Prinzessin zu werden“, verteidigte Chiara sich. „Geschweige denn Königin oder Kaisern.“

„Aber von der Landschaft und der Atmosphäre hast du geträumt.“

Chiara nickte und meinte: „Irgendwie schon.“

Dakota hatte sich gerade auf dem Bett niedergelassen, als Tamina zurückkam. Sie hielt einige Zettel in der Hand und bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Sie liefen zurück durch den Bogen.

„Geradeaus gelangt in zur Treppe, die in die Astronomie-Kuppel über uns führt“, sagte Tamina kurz angebunden und wählte den Bogen zu ihrer linken. Links erkannten sie den Gang, den sie vorhin aus dem anderen Vorraum gesehen hatten. In dem breiten Gang befanden sich einige Türen und Tamina wählte die zweite zu ihrer rechten. Das Wohnzimmer war in gemütlichen Braun- und Rottönen gestaltet worden. In der Mitte des Zimmers stand eine Couch, auf der sie sich setzten. Tamina nahm den beiden gegenüber Platz. Die Blätter legte sie in Stapeln vor sich auf den Tisch.

„Es ist nicht leicht, Unbekanntes in dieser Menge zu verarbeiten. Aus diesem Grund möchte ich den Unterrichtsstoff nur kurz anschneiden.“ Sie überflog einen der Zettel, ehe sie fortfuhr: „In Geschichte lernt ihr die Entstehung unseres Planeten und die damit verbundenen Probleme kennen. Biologie ist insoweit wichtig, um zu wissen, wie ihr mit welchen Tieren umzugehen habt. Eine falsche Geste und sie verfolgen euch. Wichtige Städte, unsere Nachbarn im Weltall und besondere Wahrzeichen lernt ihr in Erdkunde kennen. Das sollte noch im Bereich des Machbaren liegen, wie ich finde. Abgesehen davon, dass wir andere Themen behandeln, gleicht es eurem bisherigen Schulstoff sehr.“

„Wir müssen uns das jetzt nicht alles merken, oder?“, fragte Dakota.

„Keine Sorge. Alles, was ich euch erzähle, steht auf diesen Blättern ausführlich.“ Tamina wartete noch kurz, ehe sie fortfuhr, um den beiden etwas Zeit zum Nachdenken und Verinnerlichen hatten. „Die heikleren Themen umfassen die Manieren und Umgangsformen. Vielleicht ist euch bei den Mahlzeiten aufgefallen, dass Dad euch skeptisch angesehen hat.“

„Das konnte einem ja nicht entgehen“, bemerkte Chiara mit einem Lächeln.

„Es sollte keinesfalls böse wirken. Doch man merkt euch an, dass ihr das richtige Betragen in vielerlei Hinsicht noch erlernen müsst. Keiner verlangt, dass ihr es bereits beherrscht.“

„Woran müssen wir genau arbeiten?“, fragte Dakota, der das Thema nicht behagte.

„Wichtig sind die Manieren bei Tisch. Vor dem Volk solltet ihr eine entsprechende Wortwahl und Haltung aufweisen. Für Zweites absolviert ihr Lauftraining.“

„Lauftraining? Ich will doch kein Model werden“, bemerkte Dakota.

„Model keineswegs, aber Königin. Und diese hat mit erhobenem Haupt zu gehen und sollte das Rennen unterlassen.“

„Dafür brauch ich doch kein Lauftraining.“

„Das überlasst ihr Leyla. Sie wird euch in dieser Angelegenheit unterrichten, und je nachdem, wie gut ihr seid, so viel Training bekommt ihr.“

„Wie sieht es mit dem Greif fliegen aus?“, wollte Chiara wissen. „Erfordert das viel Übung?“

Tamina lachte kurz auf. „Glaubt nicht, dass es ein Leichtes wird, einen Greif zu fliegen. Disziplin, Ausdauer und Konzentration sind Eigenschaften, die ihr aufweisen solltet.“

„Ausdauer?“

„Bis es so weit ist, werden ein paar Tage verziehen. Zwischenzeitlich unterlauft ihr einigen Ausdauer- und Kraftübungen, damit eure Fitness gemessen werden kann.“

„Ich dachte, wir sollen nicht rennen?“, beanstandete Dakota und hoffte, Tamina mit ihren Widersprüchen zu ärgern. Doch ihre Schwester ließ sich davon nicht beirren.

„Das gilt für den Auftritt vor dem Volk. Wenn es um euer Training geht oder ihr in den Krieg zieht, müsst ihr rennen. Daran führt kein Weg vorbei.“

„Eigentlich logisch“, stand Dakota sich zerknirscht ein und ärgerte sich jetzt selbst über ihre Äußerung.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie. Überrascht sahen sie sich um und erkannten einen kleinwüchsigen, alten Mann mit längerem weißem Haar in der Tür. Falten lagen in seinem Gesicht, doch seine grünen Augen strahlten, als er die Türe hinter sich schloss. Optimistisch kam er auf sie zu. Tamina war aufgestanden und reichte ihm die Hand. Als er sich Dakota und Chiara zuwandte, erhoben sie sich ebenfalls. Er nahm ihre entgegengestreckte Hand entgegen und musterte sie eingehend. Seine Freude vergrößerte sich dabei und letztlich ließ er sie wieder los. Etwas benommen nahmen die beiden Platz, der alte Mann senkte sich neben Tamina auf die Couch.

„Ich möchte mich höflicherweise vorstellen“, sagte er mit tiefer Stimme, die ihnen vermutlich Angst gemacht hätte, wäre er kurz zuvor nicht so nett gewesen. „Mein Name ist Marvin und ich werde euch künftig unterrichten.“ Seine Heiterkeit verlor noch immer nicht an Stärke. „Es gefällt mir, wie prächtig ihr euch entwickelt habt. Das ist kein Selbstverständnis.“

Dakota und Chiara wussten nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten, obgleich Marvin ihnen vom ersten Moment an sympathisch gewesen war.

„Schön sie kennenzulernen, Marvin. Ich bin Dakota.“

„Wir wollen gleich beim du bleiben. Generell sagen wir zu jeden du.“ Dakota und Chiara nickten, auch wenn ihnen klar war, dass sie jeden, den sie nicht kannten, erst einmal mit sie ansprachen. „Auch wenn es euch überraschen mag, so kann ich euch auseinanderhalten, ohne dass ihr euch mir vorstellt.“

„Wegen der Magie, die sie – du beherrscht“, sagte Dakota.

„Unter anderem. Aber dadurch, dass ich euch als Babys schon kannte, verleiht mir die Magie die Gabe, auch Jahre später euch noch zu erkennen. Solltet ihr euch auch noch so sehr verändert haben. Keineswegs jedoch wollte ich eure Unterhaltung stören. Fahrt dort fort, wo ihr unterbrochen habt.“

„Du bist im richtigen Moment gekommen“, meinte Tamina. „Ich wollte gerade beginnen, die Zauberei und das Apparieren zu erläutern.“

„Das bedeutet, du möchtest, dass ich fortfahre“, versicherte Marvin sich und wandte sich nach einem Nicken von seiner langjährigen Schülerin an Dakota und Chiara. „Die Lehre der Magie erfordert hohe Präzision. Der kleinste Fehler kann verheerende Folgen haben. Doch ich möchte euch das Begehren der Zauberei nicht vermiesen. Deshalb gilt für mich Folgendes zu sagen: Um Zaubern zu können, müsst ihr die Sprüche beherrschen, sie im Schlaf aufsagen können. Ihre Bedeutung gilt es zu kennen und die Anwendung zu verinnerlichen. Sodann sollte nichts mehr schief gehen.“

„Hört sich einfach an“, meinte Chiara, wusste aber, dass dem nicht so sein wird.

„Es gibt leichte und knifflige“, erklärte Tamina. „Mit Geduld und Übung solltet ihr Erfolg haben, solange ihr nicht nach zwei Versuchen erwartet, sie beherrschen zu können.“

„Zur besseren Orientierung händige ich euch ein Buch über die Zaubersprüche aus, mit der Anweisung, keine der darin aufgeführten ohne meine Erlaubnis auszuführen. Des Weiteren gibt es ein allgemeines Buch über Levona. Aushändigen werde ich euch diese in der jeweils ersten Unterrichtsstunde.“

„Wie viel von dem Ganzen müssen wir bis zur Krönung können?“, fragte Chiara überfordert.

„In etwa die Hälfte. Es mag sich viel anhören, verteilt auf ein halbes Jahr ist es dennoch relativ wenig. Zudem müsst ihr bedenken, dass wir vier Stunden mehr Zeit haben“, erklärte Tamina.

„Stimmt ja, die Zeit. Hatte ich glatt wieder vergessen“, meinte Dakota sarkastisch.

Tamina überreichte ihnen die Stapel Blätter und sagte: „Seht sie euch in Ruhe durch. Sie sollen euch lediglich zur Orientierung dienen.“

„Was wisst ihr über euren Auftritt in Chantrea?“, fragte Marvin.

„Dazu bin ich noch nicht gekommen“, erklärte Tamina und Marvin gab ihr ein Zeichen, dass sie es tun sollte. „In wenigen Wochen werden wir in Chantrea, der Hauptstadt von Levona, im Rathaus vortreten und dem Volk offiziell verkünden, dass wir drei die Nachfolge gemeinsam antreten. Wir halten einen kleinen Vortrag, anschließend dürfen die Bürger Fragen stellen.“

„In ein paar Wochen?“ Chiara klang entsetzt.

„Ihr werdet entsprechend darauf vorbereitet, also keine Angst“, versuchte Tamina sie zu beruhigen.

„Das sagst du so leicht. Ich war noch nie gut darin, auf einer Bühne zu stehen und Vorträge zu halten.“

„Mach dich nicht verrückt, meine Liebe. Mit Leyla werdet ihr detailliert darüber reden“, beruhigte Marvin sie.

Dakota nahm diese Informationen schweigend auf, schließlich brannte ihr doch ein Thema auf der Zunge: „Was hat es mit unseren speziellen Fähigkeiten auf sich? Raphael, also Dad, hat da was erwähnt.“

Marvin wandte sich ihr zu und schien kurz zu überlegen, wo er ansetzen sollte: „Eure Fähigkeiten zu erkennen, wird ein wichtiger Punkt sein. Diese Fertigkeiten können von großem Nutzen für euch sein. Die Schwierigkeit liegt darin, diese als solche zu erkennen. Nur dann haben wir die Möglichkeit, sie zu trainieren und als Waffe im Krieg einzusetzen.“

„Das klingt nicht leicht“, gab Chiara zu.

„Keiner hat dies behauptet. Zaubern zu lernen, ist eine Sache. Eine Fertigkeit zu erkennen, eine andere.“

„Wir müssen uns also wieder in Geduld üben“, meinte Dakota.

Marvin lächelte: „Ihr habt Glück, dass ich sie bereits damals erkannt habe. So müssen wir jetzt keine wertvolle Zeit damit verschwenden, sie zu erkennen.“

Dakota und Chiara sahen ihn erwartungsvoll an.

„Verrätst du sie uns auch?“, fragte Dakota hoffnungsvoll.

Marvin schüttelte den Kopf. „Zunächst müsst ihr noch einige Dinge erledigen. Erst dann erzähle ich euch mehr.

Die beiden gaben sich geschlagen und übten sich doch wieder in Geduld. In den letzten zwei Tagen hatten sie so viel Neues erfahren und damit war es noch lange nicht zu Ende. Es fing gerade erst an. Das, was sie bisher kennengelernt hatten, war nichts, verglichen mit dem, was folgen wird. Ruhe war eingekehrt und Chiara und Dakota dachten nach. Ihre Entscheidung hatten sie getroffen und die neu gewonnenen Kenntnisse waren nicht abschreckend gewesen, sodass sie ihren Entschluss nicht bereuten.

Ein Wispern riss sie aus ihren Gedanken. Unruhig sahen sie sich im Zimmer um. Ihre Schwester und Marvin sahen sie mit fragenden Blicken an, doch Tamina schien bald zu verstehen.

„Die Kleinen hätte ich fast vergessen“, bemerkte sie mit einem Lächeln.

„Die was … aua!“, schrie Dakota und fasste sich an den Kopf. „Was ist das?“

„Neyla, Elena. Setzt euch bitte auf den Tisch und zeigt euch“, Tamina klang fordernd und wandte sich an ihre Schwestern: „Ihr braucht keine Angst zu haben. Sie sind harmlos.“

„Harmlos?“, fragte das unsichtbare Wesen mit süßer und quirliger Stimme, ein leises Lachen folgte.

Dakota und Chiara zuckten zurück. Tamina deutet derweil auf den Tisch, offensichtlich versucht, den Wesen einen Befehl zu erteilen.

„Diese kleinen Wesen, die ihr gleich sehen werdet, sind Feen. Sie wachen über euch und sind euer ständiger Begleiter.“

Dakota und Chiara sahen sie ungläubig an. Das war nun das zweite Tier, das sie nur als Fabelwesen kannten und welches ihrem Wissen nach nicht existierte. Zudem konnten sie sich nicht vorstellen, dass diese Wesen über sie wachen sollten. So wie sie sich gerade aufführten.

„Meine Fee ist Sarina.“ Ein kleiner Lichtblitz folgte und wie aus dem Nichts saß auf Taminas Schulter ein kleines, zerbrechliches Wesen. Feines Haar umrandete das ovale Gesicht, die Bekleidung war ein weißes Kleidchen. Die Haut wirkte blass, das Gesichter wie das, eines kleinen Kindes. Zarte Adern durchzogen das feine, fast durchsichtige Flügelgewebe auf dem Rücken der Fee. Als sich die schmetterlingsgroßen Flügel richtig bewegten, sah es aus, als wären sie gar nicht vorhanden.

Ohne Aufforderung kam Sarina auf Dakota und Chiara zugeflogen und verneigte sich anmutig, ehe sie sich auf dem Tisch niederließ. Sarina lief auf dem Tisch umher und stieß gegen etwas. Wie vom Blitz getroffen saßen dort jetzt drei Feen, die sich stark ähnelten. Sie wirkten orientierungslos, wie sie auf den kleinen Füßen Halt suchten und sich schließlich neugierig umsahen. Mit einem unschuldigen Gesicht schwebten sie auf die Höhe ihrer Köpfe und verbeugten sich, wie es Sarina bereits getan hatte.

„Ihr dürft es ihnen nicht übel nehmen, dass sie so frech sind. In den letzten 16 Jahren hatten sie keinem zu gehorchen und die Stunden, in denen ich versucht habe ihnen Manieren zu vermitteln, scheiterten. Doch im Grunde sind es liebenswerte Geschöpfe, die euch nichts Böses wollen. Sie helfen euch bei Gefahren und sind im Zaubern deutlich besser, als wir es je sein werden. Dakota, für dich ist Elena zuständig, und Chiara, dir gehört Neyla. Habt ein bisschen Verständnis, wenn sie euch nicht vom ersten Moment an gehorchen. Sie müssen sich ebenso an ihre neue Situation gewöhnen, wie ihr selbst.“

„Wenn ihr mit ihnen reden wollt, sagt deutlich ihren Namen. Danach sollten sie euch zuhören und eure Bitten ausführen“, fügte Marvin an.

Elena und Neyla flogen schließlich zu ihren Schützlingen und setzten sich auf deren Schultern.

 

Nach dem Mittagessen gingen sie in den Garten. Tamina verriet ihnen noch kleine Tricks, wie das apparieren angenehmer wurde, ehe sie Levona verließen. Wieder schwebten sie in einer schwarzen Atmosphäre, ehe sie wenig später spürten, dass sie etwas durchdringt hatten. Kurz darauf hatten sie festen Boden unter den Füßen. Dakota konnte sich nicht lange halten und fiel nach hinten um, ebenso Chiara. Kurz darauf kämpften sie sich durch das Gestrüpp nach draußen auf den Weg.

Sie wollten gerade los gehen, als Tamina sie zurückhielt. Irritiert sahen sie einander an und warteten auf eine Erklärung.

„Alles in Ordnung bei euch?“

„Ja, es ist nur ein komisches Gefühl, wieder hier zu sein“, erklärte Chiara.

„Bereust du deine Entscheidung?“

„Nein“, antwortete Chiara augenblicklich.

„Ihr denkt aber darüber nach, ob ihr einen Fehler begeht“, stichelte Tamina weiter.

Dakota sah sie kopfschüttelnd an. „Was soll das? Wie kommst du darauf, dass wir unsere Entscheidung bereuen?“

„Ist es denn so?“

„Wir haben lange darüber nachgedacht und eine Entscheidung getroffen, mit der wir leben können“, beteuerte Dakota.

„Dad und ich hatten heute Morgen einen anderen Anschein zu dieser Sache, deshalb die Nachfrage. Außerdem hört man euch die Unsicherheit deutlich an. Besonders dann, wenn man euch direkt darauf anspricht.“

„Wieso habe ich gerade das Gefühl, dass du versuchst, uns ein schlechtes Gewissen einzureden?“, fragte Dakota und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Dad hat mich gebeten, euch auf den Zahn zu fühlen“, sagte sie mit ernster Miene. „Wir wollen nicht Schuld daran sein, dass ihr in Levona nicht glücklich werdet. Und leider hatte es heute Morgen den Anschein, dass ihr Zweifel habt. Und eines möchte ich euch noch einmal nahe legen: Ihr sollt eine Entscheidung treffen, mit der ihr leben könnt, nicht eine, mit der Levona zurechtkommt.“

Tamina hatte es geschafft, die beiden zu verunsichern. Zögernd sah sie die beiden an und wartete auf eine Reaktion.

„Wir sind uns sicher“, sagte Dakota schließlich. „Auch wenn es ein paar Tage dauern mag, bis wir unser schlechtes Gewissen beruhigt haben.“

Auch wenn sie jetzt unsicherer klang als zuvor, ließ Tamina es darauf beruhen. Keinesfalls wollte sie ihre Schwestern derart in die Enge treiben, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnten. Und sie hatte das Gefühl, dass es so kommen würde, wenn sie weiter stichelte.

„Wir ihr selbst noch wisst, sind eure Eltern nicht zu Hause. Ihr habt somit gut zwei Stunden, um eure Sachen zusammenzupacken.“

Dakota und Chiara nahmen die Information schweigend auf und liefen ihrer Schwester voran die neu gebaute Siedlung entlang. Vereinzelt erkannten sie Gesichter hinter den Vorhängen, die sie neugierig zu mustern schienen.

„Wieso starren uns alle so an?“, fragte Chiara flüsternd.

„Es ist alles wie immer. Euch mag es nur befremdlich vorkommen, weil ihr ein Geheimnis hütet und jetzt der Annahme seid, jedem ansehen zu können, wie er euer Spiel durchschaut.“

„Vielleicht liegt es auch an dir“, bemerkte Dakota schnippisch, um von ihrem eigenen Unbehagen abzulenken.

„Das ist ausgeschlossen, ich bin unsichtbar.“

„Hättest du diesen Zauber nicht auch über uns legen können?“, fragte Dakota enttäuscht.

„Ihr sollt ein letztes Mal durch eure Siedlung laufen, ohne verzaubert zu sein. Ihr werdet später dankbar dafür sein. Momentan gefällt euch die Tatsache aus diesem Grund nicht, weil euch das Gefühl verfolgt, dass viele der hier Lebenden euer Geheimnis kennen und euch dafür verdammen würden.“

Dakota schnaufte. Tamina hatte die Sache auf den Kopf getroffen und so versuchte sie, die Blicke zu ignorieren, was gar nicht so einfach war. Als sie an ihrem Haus angekommen waren, blieben sie vor dem kleinen Gartentor stehen. Doch Tamina drängte sie weiter.

„Wenn ihr hier stehen bleibt und euer Haus anschaut, wirkt es auffällig.“

Eilig schritten sie über den Weg auf die Haustüre zu. Dakota drehte den Schlüssel zweimal nach rechts und das Schloss schnappte auf. Langsam zog sie den Schlüssel wieder raus und drückte gegen den Knauf um die Türe zu öffnen. Drinnen lauschte sie, ob sie auch wirklich alleine waren. Als die Türe ins Schloss fiel, umgab sie Stille.

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Texte: Die Rechte liegen bei mir
Bildmaterialien: Die Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2012

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