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Prolog


Philadelphia, 1863


Nur mit einer Hose bekleidet, blickte Gabriel die Frau an, die mit einem jungfräulichen Nachthemd bekleidet vor ihm stand. Die Spitze am Kragen und den Ärmeln unterstrich ihre Unschuld. Heute Nachmittag hatte der Pfarrer sie vor Gott zu Mann und Frau erklärt. Jetzt war es an der Zeit, Jane wirklich zu seiner Frau zu machen.
Dies war seine Hochzeitsnacht, eine Nacht, auf die er mit dem Eifer eines jungen Bocks gewartet hatte, der begierig war, seinen eigenen Nachwuchs zu zeugen. Bis auf ein paar Küsse war er noch nicht mit Jane intim gewesen. Ihre strickte religiöse Erziehung hatte verlangt, bis nach der Hochzeit zu warten, bevor er sie berührte. Er hatte gewartet, nicht nur weil er sie von ganzem Herzen liebte, sondern auch weil er seine eigenen Hemmungen hatte, mir ihr zu schlafen.
Jane ging einen zaghaften Schritt auf ihn zu. Gabriel kam ihr auf halber Strecke entgegen. Seine Arme schlangen sich um ihren Rücken und er zog sie an sich. Der Stoff unter seinen Fingerspitzen war so dünn, es fühlte sich an, als berührte er ihre nackte Haut. Als er seine Lippen auf ihre legte, sog er den Duft ihres Parfüms ein. Eine Mischung aus Rosen und Jasmin, dieselben Blumen, die sie als ihren Brautstrauß getragen hatte. Darunter verbarg sich ihr eigener Geruch. Der berauschende Duft von Jane, ein Duft, der ihn vom ersten Augenblick an entflammt hatte. Seit diesem Moment war er für sie hart und bereit.
„Meine Frau“, flüsterte Gabriel. Die Worte fühlten sich richtig an, als sie über seine Lippen kamen und sich mit ihrem süßen Atem vermischten. Auf ein sanftes Stöhnen hin küsste er sie mit all der Leidenschaft, die er zurückgehalten hatte, während er darauf wartete, sie zu seiner Frau zu machen. Ihr Körper schmiegte sich begieriger gegen seinen, als er erhofft hätte. Sie gab sich seiner Berührung hin, ihre Augen von derselben Liebe geprägt, die er schon lange bevor er um ihre Hand angehalten hatte, in ihr hatte leuchten sehen.
Ohne den Kuss zu unterbrechen, knotete er die kleinen Schleifen an der Vorderseite ihres Nachtgewandes auf. Dann schob er das Kleidungsstück von ihren Schultern und ließ es auf den Boden fallen. Mit einem sanften Rauschen landete es zu ihren Füßen. Sie würde nie wieder ein Nachthemd benötigen: Er würde sie ab jetzt jede Nacht wärmen. Der Schauer, der nun durch ihren Körper zog, wurde nicht von Kälte verursacht. Nein. Sie war beinahe so erregt wie er.
Gabriel gab ihre Lippen frei und betrachtete sie. Kleine runde Brüste mit dunklen, hart aufgestellten Brustwarzen, ihre Hüften weiblich, ihre Haut zart, sich seinen Berührungen hingebend. Er hob sie hoch und trug sie zum Bett, in dem sie ihre gegenseitige Begierde bis zu ihrem Lebensende miteinander stillen würden.
Seine Hose war bereits so eng, dass er kaum noch atmen konnte, doch jetzt wuchs sein Schwanz noch mehr, gierig darauf, sie in Besitz zu nehmen. Er legte sie aufs Bett und beobachtete, wie sie mit zittrigen Händen die Knöpfe seiner Hose öffnete. Sein Herz pochte in seiner Kehle. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Seine Bedenken verschlimmerten sich. Als er sich enthüllte, wich ihr Blick von seinem Gesicht seinen Körper entlang nach unten. Dann veränderte sich ihr Ausdruck schlagartig. Es war, wovor er am meisten Angst gehabt hatte.
„Oh Gott, nein!“, stieß sie hervor. Ihr Blick verweilte wie gelähmt auf seinen Lenden. Entsetzen verzerrte ihr Gesicht. „Fass mich nicht an!“, schrie sie und sprang vom Bett herunter.
„Jane, bitte. Lass es mich erklären“, flehte er sie an und rannte hinter ihr her, als sie aus dem Zimmer floh. Er hätte sie darauf vorbereiten sollen, aber dafür war es jetzt zu spät. Er hatte gehofft, sie würde ihn akzeptieren, wenn er zärtlich und geduldig mit ihr umging.
In der Küche holte er sie ein.
„Du Monster, komm mir nicht nahe!“
Gabriel ergriff ihren Arm und hinderte sie daran wegzurennen. „Bitte, Jane. Liebling. Hör mich an.“ Wenn sie ihm nur eine Chance geben würde, könnte er ihr beweisen, dass er kein Monster war. Dass in ihm der Mann steckte, der sie liebte.
Mit ruhelosen Augen schleuderte Jane verzweifelte Blicke in den Raum, bevor sie sich aus seinem Griff befreite und wegdrehte.
„Fass mich nie wieder an!“
„Jane!“ Er musste sie dazu bringen, sich zu beruhigen und ihm zuzuhören. Ihre gemeinsame Zukunft stand auf dem Spiel.
Als sie sich wieder zu ihm wandte, war alles, was er sah, ihr verstörter Blick. Zu spät bemerkte er das glänzende Messer in ihrer Hand – zu spät, um sich wegzudrehen und zu vermeiden, dass die scharfe Klinge sein Gesicht aufschlitzte. Aber was mehr schmerzte als die Klinge, die sich einen Weg durch sein Fleisch bahnte, war zu sehen, wie seine Frau vor Entsetzen vor ihm zurückwich.
„Jetzt werden Frauen vor dir zurückschrecken – so, wie es sein sollte – du Monster. Gabriel, du bist eine Kreatur des Teufels!“
Die Narbe, die sich auf seinem einst attraktiven Gesicht bildete, reichte von seinem Kinn bis zum rechten Ohr. Und sie würde sich zu einer stetigen Erinnerung an das entfalten, was er war: ein Monster, bestenfalls eine Missgeburt – nicht wert, von einer Frau geliebt zu werden.

1. Kapitel


San Francisco, heute


Das Klappern ihrer Stöckelschuhe hallte an den Gebäuden wider. Maya konnte den Bürgersteig im Nebel kaum erkennen, der wie zäher Dunst in der dunklen Nachtluft hing und jedes Geräusch noch verstärkte.
Ein Rascheln kam wie aus dem Nichts und ließ sie ihre bereits hastigen Schritte noch mehr beschleunigen. Ein Schauer durchlief ihren Körper, es fühlte sich an, als berührte eine eisige Hand ihre Haut. Sie hasste die Dunkelheit. Und es waren Nächte wie diese, an denen sie ihren Bereitschaftsdienst verfluchte. Finsternis hatte ihr schon immer Angst gemacht, und in letzter Zeit mehr denn je.
Sie öffnete ihre Handtasche, als sie sich dem dreistöckigen Mietshaus näherte, in dem sie seit zwei Jahren lebte. Mit zittrigen Händen fischte sie ihren Wohnungsschlüssel hervor. Sobald sie das kalte Metall in ihrer feuchten Hand spürte, fühlte sie sich sicherer. In ein paar Minuten würde sie im Bett liegen und könnte noch ein paar Stunden schlafen, bevor ihre nächste Schicht begann. Aber noch wichtiger, gleich würde sie in Sicherheit sein, in ihren eigenen vier Wänden.
Als sie sich der Treppe zuwandte, die zu der schweren Haustüre führte, registrierte sie den ungewohnt dunklen Eingang. Sie blickte nach oben. Die Glühbirne oberhalb der Tür musste durchgebrannt sein. Noch vor ein paar Stunden hatte sie hell geleuchtet. Sie setzte es im Geiste auf ihre Liste von Angelegenheiten, die sie ihrem Vermieter mitteilen musste.
Maya tastete nach dem Handlauf und ergriff ihn, die Stufen zählend, als sie nach oben eilte.
Doch sie erreichte die Tür nicht.
„Maya.“
Ihr Atem stockte, als sie sich blitzschnell umdrehte. Umhüllt von den dunklen Nebelschwaden konnte sie sein Gesicht nicht erkennen. Das musste sie auch nicht – sie erkannte ihn an seiner Stimme. Sie wusste, wer er war. Schock lähmte sie. Ihr Herz hämmerte wie wild, als die Angst ihren Magen verkrampfen ließ.
„Nein!“, schrie sie und stürzte in Richtung Tür, in der Hoffnung sie könnte alle Naturgewalten überlisten und entkommen.
Er war zurückgekehrt, genau, wie er es gedroht hatte.
Seine Hand vergrub sich in ihrer Schulter und zog sie zurück, Auge in Auge mit ihm. Aber anstatt in seine Augen zu blicken, nahm sie nur eine Sache wahr: seine glänzend weißen, spitzen Zähne.
„Du wirst mir gehören.“
Seine Drohung war das Letzte, was sie hörte, bevor seine scharfen Fänge die Haut an ihrem Hals durchdrangen. So wie das Blut aus ihr floss, verschwanden auch die Erinnerungen an die letzten Wochen.

***

„Und Sie haben es schon mit einer Operation versucht?“, erkundigte sich Dr. Drake, ohne den Blick von seinem Notizblock zu heben.
Gabriel befreite sich von einem tiefen Seufzer und streifte einen imaginären Fussel von seiner Jeans.
„Hat nichts gebracht.“
„Verstehe.“ Er räusperte sich. „Mr. Giles, hatten sie dieses ...“ – der Doktor zuckte und machte eine bedeutungslose Handbewegung – „ähm … schon immer? Auch, als sie noch ein Mensch waren?“
Gabriel kniff seine Augen für einen Moment zusammen. Nach seiner Pubertät gab es keinen Moment in seiner Erinnerung, in dem er dieses Problem nicht gehabt hätte. Alles war in Ordnung, als er noch ein kleiner Junge war, aber in dem Moment, in dem seine Hormone anfingen aufzublühen, hatte sich sein Leben geändert. Selbst als Mensch war er ein Außenseiter gewesen.
Er spürte ein Pochen an der Narbe in seinem Gesicht, das ihn an den Augenblick erinnerte, in dem er sie sich zugezogen hatte, und zerrte sich von den Erinnerungen weg. Die körperlichen Schmerzen hatte er schon lange vergessen, aber der seelische Schmerz war lebendig wie immer.
„Ich hatte es bereits, lange bevor ich zum Vampir wurde. Damals dachte noch keiner an eine Operation. Verdammt, die kleinste Infektion hätte mich vermutlich umgebracht.“
Hätte er gewusst, wie sein weiteres Leben verlaufen würde, hätte er selbst zum Messer gegriffen. Hinterher war man immer schlauer. „Wie auch immer. Sie wissen vermutlich besser als ich, dass mein Körper sich im Schlaf regeneriert und alles heilt, was er als Verletzung wahrnimmt. Also nein, eine Operation hat nichts gebracht.“
„Ich nehme an, dies hat Probleme in ihrem Sex-Leben verursacht?“
Gabriel presste sich tiefer in den Sessel. Er hatte die Sarg-Couch instinktiv ignoriert, als er den Behandlungsraum betreten hatte. Sein Freund Amaury hatte ihn bereits vor dem Einrichtungsstil des Arztes gewarnt. Trotzdem, dass der Sarg durch die Entfernung einer Seitenwand in eine Chaiselounge verwandelt worden war, bereitete ihm allein der Gedanke daran ein Grauen. Jeder Vampir mit einem Funken Selbstachtung würde sich dort nur über seine Leiche hinsetzen.
„Welches Sex-Leben?“, murmelte er vor sich hin. Aber natürlich schnappte der Doktor diese Aussage mit seinem ausgezeichneten Vampir-Gehöhr auf.
Drakes geschockter Gesichtsausdruck bestätigte dies. „Sie meinen …?“
Gabriel wusste genau, was er fragen wollte. „Abgesehen von einer gelegentlichen Prostituierten, der ich eine unverschämte Menge Geld bezahlen muss, um mich zu bespringen, habe ich kein Sex-Leben.“
Er senkte seinen Blick zum Boden, da er das Mitleid im Blick des Doktors nicht sehen wollte. Er war hier, um Hilfe zu bekommen, nicht Mitleid. Er musste diesem Mann klarmachen, wie wichtig ihm die Sache war.
„Ich habe noch keine Frau getroffen, die nicht von meinem nackten Körper zurückgeschreckt wäre. Sie beschimpfen mich als Monster, an guten Tagen als Missgeburt – und das sind noch die freundlichsten Reaktionen.“ Er machte eine Pause; die Erinnerung an all die Beschimpfungen ließ ihn erschaudern. „Doc, es lag noch nie eine Frau freiwillig in meinen Armen.“
Ja, er hatte schon Frauen gefickt – Nutten – aber er hatte noch nie mit einer Frau Liebe gemacht. Hatte noch nie die Liebe und Zärtlichkeit einer Frau gespürt oder die Intimität, in ihren Armen aufzuwachen.
„Was denken Sie, wie soll ich Ihnen helfen? Wie Sie schon sagten, eine Operation hilft nicht. Und ich bin nur ein Psychiater. Ich arbeite mit der Psyche meiner Patienten, nicht mit deren Körper.“
Drakes Stimme war durchtränkt mit Ablehnung, jede einzelne Silbe. „Warum nutzen sie nicht ihre Gabe der Gedankenkontrolle an menschlichen Frauen? Die würden es nicht mal wissen.“
Das hätte er erwarten sollen. „Ich bin kein kompletter Vollidiot, Doktor. Ich werde Frauen nicht so ausnutzen“. Er hielt inne, bevor er weitersprach. „Sie haben meinen Freunden geholfen.“
„Aber die Probleme von Mr. Woodford und Mr. LeSang waren anderen Ursprungs, nicht …“ – er suchte nach den richtigen Worten – „... körperlich wie Ihres.“
Gabriels Brust zog sich zusammen. Ja, körperlich. Und ein Vampir konnte seine körperliche Verfassung nicht verändern. Die war wie in Stein gemeißelt. Das war auch der Grund, warum sein Gesicht mit einer Narbe durchzogen war, die vom Kinn bis zu seinem rechten Ohr reichte. Diese Narbe stammte noch aus seinem Leben als Mensch. Hätte er sich diese Verletzung als Vampir zugezogen, sähe sein Gesicht wie unberührt aus. Zwei Dinge, die gegen ihn sprachen – schon die grässliche Narbe verschreckte die meisten Frauen, und wenn er dann noch seine Hose runter ließ ... Es schauderte ihn und er blickte zurück zum Arzt, der geduldig in seinem Sessel sitzend wartete.
„Meine Freunde haben beide behauptet, Sie wenden unorthodoxe Methoden an“, köderte Gabriel.
Dr. Drake zuckte unverbindlich mit den Schultern. „Der eine mag es unorthodox nennen, für den anderen scheint es selbstverständlich.“
Das war eine Nichtantwort, wenn es überhaupt eine war. Mit unterschwelligen Hinweisen würde Gabriel nicht an die Informationen gelangen, die er suchte. Er räusperte sich und rutschte zur Kante seines Sessels.
„Amaury hat erwähnt, sie hätten gewisse Beziehungen.“ Er betonte das Wort Beziehungen so, dass dem Arzt nicht entgehen konnte, worauf Gabriel anspielte.
Die fast unsichtbare Aufrichtung des Arztes wäre den Meisten entgangen, aber nicht Gabriel. Drake hatte ganz genau verstanden, worauf er aus war.
Die Lippen des Arztes verkrampften sich. „Vielleicht kann ich Sie zu einem befreundeten Arzt überweisen, der ihnen eher helfen könnte als ich. Natürlich keiner hier in San Francisco. Ich bin der einzige medizinisch ausgebildete Vampir hier“, räumte er ein.
Gabriel war von dieser Offenbarung nicht überrascht: Da Vampire nicht anfällig für Krankheiten waren, wurden nur sehr wenige Ärzte. Wenn man bedachte, dass in San Francisco kaum tausend Vampire lebten, konnten sie sich glücklich schätzen, überhaupt einen Mediziner innerhalb des Stadtgebietes zu haben.
„Wir sind uns also einig, dass ich nicht die richtige Wahl für Sie bin“, fuhr der Arzt fort.
Gabriel wusste, er musste jetzt handeln, wenn er nicht wollte, dass der Doktor ihn ganz abspeiste. Als Drake sich der Kartei auf seinem Schreibtisch zuwandte, erhob Gabriel sich von seinem Sessel.
„Ich glaube nicht, dass das nötig ist –“
„Nun, wenn das so ist, hat es mich gefreut, Sie kennenzulernen.“ Der Doctor streckte ihm seine Hand entgegen, ein erleichterter Ausdruck im Gesicht.
Mit einem leichten Kopfschütteln verweigerte Gabriel seine Geste. „Ich bezweifle, dass sich der Name der Person, die mir helfen kann, in Ihrer Kartei befindet. Liege ich damit richtig?“ Er ließ jegliche Angriffslustigkeit aus seiner Stimme verschwinden, da er keine Absicht hatte, den Mann zu verärgern. Stattdessen lächelte er halbherzig.
Das Funkeln in Drakes blauen Augen bestätigte, dass dieser genau wusste, wovon Gabriel sprach. Es war an der Zeit, die schweren Geschütze aufzufahren. „Ich bin ein sehr wohlhabender Mann. Ich kann Ihnen bezahlen, was immer Sie verlangen“, bot Gabriel an. Während seiner fast einhundertundfünfzig Jahre als Vampir hatte er ein großes Vermögen angesammelt.
Die sich hebenden Augenbrauen des Arztes bestätigten sein Interesse, doch Drakes Bewegungen waren zögernd. Aber Sekunden später deutete er auf den Sessel. Beide setzten sich wieder.
„Weshalb glauben Sie ich sei an Ihrem Angebot interessiert?“
„Wenn Sie es nicht wären, würden wir nicht sitzen.“
Der Doktor nickte. „Ihr Freund Amaury spricht in den höchsten Tönen von Ihnen. Ich nehme an, es geht ihm jetzt gut.“
Wenn Drake plaudern wollte, würde Gabriel darauf eingehen. Aber nicht für lange.
„Ja. Der Fluch ist aufgehoben. Ich habe gehört, eine Ihrer Bekannten war behilflich herauszufinden, wie der Fluch gebrochen werden konnte.“
„Möglicherweise. Aber verstehen, wie etwas behoben werden kann, und etwas beheben sind zwei verschiedene Dinge. Und so wie ich es sehe, haben Amaury und Nina den Fluch ganz alleine überwältigt. Es war keine Hilfe von außen nötig.“
„Im Gegensatz zu mir?“
Der Doctor zuckte mit den Achseln, eine Geste, die Gabriel mittlerweile satt hatte. „Ich weiß es nicht. Möglicherweise gibt es eine plausible Erklärung für Ihr Leiden.“
Gabriel schüttelte den Kopf. „Lassen Sie uns auf den Punkt kommen, Doc. Es ist kein Leiden. Welche Erklärung soll ich einer Frau liefern, die mich nackt sieht?“
„Mr. Giles –“
„Nennen Sie mich Gabriel. Die Mr.-Giles-Stufe haben wir längst passiert.“
„Gabriel, ich verstehe Ihr Dilemma.“
Gabriel spürte Hitze in seiner Brust hochkochen, als der Ärger in ihm heranwuchs. Etwas, das für ihn normal war, wann immer er sich mit seiner misslichen Lage auseinandersetzte.
„Wirklich? Wissen Sie wirklich, was es bedeutet, die Angst und das Grauen in den Augen einer Frau zu sehen, mit der ich schlafen will?“ Gabriel schluckte schwer.
Er hatte noch wirklich mit einer Frau geschlafen, hatte noch nie wirklich geliebt. Sex mit Prostituierten zählte nicht. Da war keine Liebe im Spiel. Sicher, er könnte Gedankenkontrolle benutzen, wie der Arzt es vorgeschlagen hatte, um eine ahnungslose Frau in sein Bett zu locken und mit ihr zu machen, was immer er wollte. Doch er hatte sich geschworen, nie so tief zu sinken. Und er hatte sein Versprechen sich selbst gegenüber nie gebrochen.
„Sie erwähnten was von Bezahlung“, hörte er Drake sagen.
Endlich gab es Licht am Ende des Tunnels. „Nennen Sie mir einen Betrag und er wird sich innerhalb der nächsten paar Stunden auf ihrem Konto befinden.“
„Ich mache mir nichts aus Geld“, wies Drake ihn kopfschüttelnd ab. „Ich habe gehört, sie haben eine Gabe?“
Gabriel setzte sich in seinem Sessel auf. Wie viel wusste der Doktor über ihn? Er was sich sicher, Amaury hätte nie sein Geheimnis verraten. „Ich bin mir nicht sicher, was Sie meinen –“
„Gabriel, halten Sie mich nicht zum Narren. Genau, wie Sie Ihre Ermittlungen über mich durchgeführt haben, habe auch ich ihren Hintergrund überprüft. Ich habe in Erfahrung gebracht, dass sie in der Lage sind, Erinnerungen wahrzunehmen. Wären Sie so freundlich, mich über Ihre Gabe aufzuklären?“
Nicht im Geringsten. Aber es schien, als blieb ihm keine Wahl. „Ich kann in den Geist von Leuten sehen und in ihre Erinnerungen eintauchen. Ich kann sehen, was sie gesehen haben.“
„Heißt das, Sie können in meine Erinnerungen blicken und die Person sehen, nach der Sie suchen?“, fragte Drake.
„Ich sehe nur Ereignisse und Bilder. Wenn ich also keine Erinnerungen finden kann, wo ich Ihre Bekannte zum Beispiel in ihrem Haus sehen kann, wäre ich nicht fähig, sie zu finden. Ich lese keine Gedanken, nur Erinnerungen.“
„Ich verstehe.“ Der Doktor hielt inne. „Ich teile Ihnen mit, wo sich die Person befindet, nach der Sie suchen – im Tausch gegen die einmalige Verwendung Ihrer Gabe.“
„Sie wollen, dass ich in ihre Erinnerungen tauche, um etwas herauszufinden, das Sie vergessen haben?“ Sicher, er konnte das tun.
Drake kicherte. „Natürlich nicht. Ich habe ein lückenloses Gedächtnis. Ich möchte, dass sie die Erinnerungen einer anderen Person für mich durchsuchen.“
Seine Hoffnung schwand. Seine Gabe war nur für Notfälle gedacht. Oder wenn ein Leben davon abhing. Er würde seine Gabe nicht mal zu seinem eigenen Vorteil nutzen, egal, wie wichtig es für ihn wäre. „Ich kann das nicht tun.“
„Natürlich können Sie das. Sie haben es mir gerade selbst gesagt –“
„Was ich sagen wollte, ist, ich werde es nicht tun. Erinnerungen sind privat. Ich werde die Erinnerungen einer Person nicht ohne deren Einverständnis durchsuchen.“ Und er hatte so eine Ahnung, dass die Person, deren Erinnerungen der Doktor haben wollte, nicht zustimmen würde.
„Ein Mann mit Moral. Wie schade.“
Gabriel blickte sich im Raum um. „Mit dem Geld, das Sie von mir bekommen würden, könnten Sie recht großzügig renovieren und sich neu einrichten.“ Und dieses Sarg-Sofa entsorgen.
„Ich mag die Einrichtung meiner Praxis. Sie nicht?“ Drake warf einen offensichtlichen Blick auf den Sarg.
Da wusste Gabriel, dass ihre Verhandlungen am Ende waren. Der Arzt würde ihm nicht entgegenkommen. Und genauso wenig würde Gabriel sich erweichen lassen.

2. Kapitel


Als Gabriel bei Samsons viktorianischem Haus in Nob Hill ankam, atmete er tief durch. Er musste zurück nach New York. Je früher, umso besser. Wenn er sich wieder in seiner gewohnten Umgebung befand, wäre er vielleicht zufriedener und würde sich nicht das Unmögliche erhoffen. Warum hatte er plötzlich gedacht, dass er in San Francisco sein Problem beheben könnte, wo er doch schon vor Jahren die Hoffnung aufgegeben hatte?
Er musste seine Abreise mit seinem Boss Samson absprechen und war froh, dass dieser ihn in dem Moment angerufen hatte, als er Drakes Praxis verließ.
Mit entschlossenem Schritt betrat Gabriel die Diele und ließ den Dunst und Nebel hinter sich. Das Haus war trotz der späten Stunde hell erleuchtet, genauso wie es im Haus eines Vampires zu erwarten war. Es lebte bei Sonnenuntergang auf und fiel bei Sonnenaufgang in den Schlaf. Gabriel ließ seine Augen durch die Eingangshalle schweifen: Wände mit dunkler Holzvertäfelung, edle Läufer und antike Verzierungen. Er mochte Samsons Haus. Samson hatte die Raumeinteilung verändert, um dem Haus etwas Frisches, Luftiges zu verleihen und das beengende Gefühl der ursprünglich kleinen Räume zu verscheuchen. Der viktorianische Charm des Hauses blieb jedoch erhalten.
Gabriel hob seinen Blick zur Zimmerdecke. Im Stockwerk über ihm gab es Tumult. Schritte, die zu verschiedenen Männern gehörten hallten vom oberen Korridor. Einen Moment später kam Samson die Treppe hinunter.
Zuerst waren nur Samsons lange Beine zu sehen, als er die makellose Mahagonitreppe hinuntereilte. Dann kam sein ganzer Körper ins Blickfeld. Seine rabenschwarzen Haare standen im Kontrast zu seinen haselnussbraunen Augen. Mit weit über 1,80 Metern und gut gebauter Statur war er eine hervorstechende Persönlichkeit. Sein Scharfsinn und seine Macht brachten ihm sowohl bei seinen Angestellten als auch bei seinen Freunden Respekt ein. Seine Entschlusskraft und seine Zielstrebigkeit hoben ihn von der Masse ab: Samson war der Boss. Und Gabriel war stolz darauf, sein Stellvertreter zu sein.
Als Samson Gabriel bemerkte, hob er seine Hand im Gruß. „Danke, dass du so schnell gekommen bist.“
Hinter ihm kamen zwei Männer die Treppe herunter. Gabriel erkannte einen der beiden als Eddie, Amaurys neuen Schwager, der für Samsons Sicherheitsfirma Scanguards als Bodyguard arbeitete. Doch es gab keinen Grund für Eddie, sich in Samsons Haus aufzuhalten, wenn es nicht gerade um die Planung eines gesellschaftlichen Ereignisses ging.
Samson wandte sich an die beiden Männer. „Ihr wisst, was ihr zu tun habt. Und kein Wort zu niemandem.“
Die Zwei murmelten ihr Einverständnis und verließen mit einem Nicken zu Gabriel das Haus.
„Was haben die hier –“, fragte Gabriel.
„Sie haben ein Problem.“ Samsons Gesichtsausdruck war ernst. „Komm, wir müssen reden.“
Samson winkte ihn ins Wohnzimmer, das mit authentisch viktorianischer Einrichtung ausgestattet war. Gabriel folgte ihm, während sich eine seltsame Vorahnung in seinem Bauch breitmachte. Sein Boss und langjähriger Freund hatte normalerweise immer ein ruhiges Auftreten. Aber heute Nacht war er anders. Seine schwarzen Haare waren zerzaust, seine Augen ruhelos. Und die Sorgenfalten in seinem Gesicht sprachen Bände.
Samson blieb vor dem Kamin stehen und drehte sich zu Gabriel um. Selbst jetzt im Juni brannte ein Feuer, um in dieser nebeligen Nacht Wärme zu spenden. „Ich weiß, du kannst es kaum erwarten, zurück nach New York zu gehen –“
„Ich wollte den Jet nehmen –“, unterbrach ihn Gabriel.
„Tut mir leid, Gabriel. Aber ich muss wohl meine Chef-Karte ausspielen. Ich brauche dich hier. Du kannst nicht weg.“
Samsons Ankündigung überraschte ihn.
„Was?“
„Ich weiß, du willst nach Hause. Aber du musst hier was für mich erledigen. Ricky ist im Moment nutzlos. Seit Holly vor einem Monat mit ihm Schluss gemacht hat, ist er nicht mehr derselbe.“ Samson fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
Ricky war der Filialleiter in San Francisco. Gabriel sagte kein Wort. Da war etwas faul. Es musste wirklich etwas gehörig schief gelaufen sein, wenn Samson es für wichtiger hielt, ihn hier zu behalten, als ihn zurück nach New York fliegen zu lassen, wo er das Hauptquartier leitete.
„Es ist zu wichtig. Glaub mir, ich hätte Amaury damit beauftragt. Aber er und Nina brauchen etwas Zeit zusammen. Er ist ja mehr oder weniger in den Flitterwochen, nur eben bei sich zu Hause. Ich kann ihm das im Moment nicht zumuten.“
Gabriel nickte. „Um was geht es?“
„Setz dich.“
Gabriel nahm Platz und wartete, bis es Samson ihm gleich tat. „Ich habe dich noch nie so erlebt.“
Samson gab ein freudloses Lachen von sich. „Ich schätze, meine Verantwortungen als Ehemann und werdender Vater vertragen sich nicht gut damit, einen frisch verwandelten Vampir im Haus zu haben.“
„Einen frisch verwandelten Vampir?“ Das war in der Tat ein Schock. Ein neuer Vampir war eine Gefahr: unfähig, seine Bedürfnisse zu kontrollieren, in der Lage, alles und jeden anzugreifen. Dass Samson sich unwohl fühlte, gab eindeutig Sinn. Delilah, seine menschliche Frau, erwartete ihr erstes Kind. Sie wäre eine Zielscheibe für jeden neuen Vampir.
„Sie wurde heute Nacht angegriffen.“
„Delilah? Delilah wurde angegriffen?“ Gabriel spürte Adrenalin durch seine Venen schießen.
„Nein, nein. Gott sei Dank. Delilah geht es gut. Nein. Diese Frau – eine Sterbliche – sie wurde heute Nacht angegriffen und verwandelt. Die beiden Bodyguards, die gerade gegangen sind – Eddie und James – haben ihren Angreifer vertrieben und ihr geholfen. Ihre Augen waren schon schwarz, also wussten sie, dass der Prozess bereits in Gang war.“
Wenn Menschenaugen sich komplett schwarz färbten und kein einziger weißer Fleck mehr zu sehen war, war es ein sicheres Zeichen für die Verwandlung. Erst sobald der Prozess abgeschlossen war, würden sich die Augen wieder normal färben.
„Sie haben sie vor ungefähr einer halben Stunde hierher gebracht“, fuhr Samson fort. „Sie muss sich auf dem Heimweg befunden haben. Wir müssen ihren Angreifer finden und ihn beseitigen.“
Gabriel begriff sofort. „Ein Rogue.“ So nannten sie die Vampire, die sich nicht an die Gesetze ihrer Species hielten. Sie waren oft Einzelgänger, die Verbrechen nach Verbrechen begingen. „Solange er da draußen ist, ist er eine Gefahr für jeden, der ihm begegnet. Und besonders für sie, wenn er herausfindet, dass wir sie hier versteckt halten.“
Gabriel und seine Kollegen verabscheuten Vampire, die unschuldige Menschen gegen ihren Willen verwandelten. Es war ein gravierender Verstoß gegen ihre Grundsätze – ein Verbrechen – das mit dem Tode bestraft wurde. Das Leben als Vampir war nicht einfach – Gabriel wusste das nur zu gut. Deshalb glaubte er an das Recht eines Menschen, selbst darüber entscheiden zu dürfen und niemanden dazu zu drängen. Er würde jeden bestrafen, der gegen dieses Recht verstieß.
„Ja. Deshalb brauche ich dich. Ich brauche jemanden, auf den ich mich verlassen kann.“
„Was für Informationen haben wir?“ Gabriel war hoch konzentriert. Das war sein Job. Das war, was er am besten konnte, ein Fall, in den er sich vertiefen konnte. Und vielleicht würde dies sogar seine privaten Probleme in den Hintergrund schieben. „Wissen wir, wer die Frau ist?“
„Sie ist Ärztin. Arbeitet für das UCSF Medical Center. Wir haben ihren Ausweis gefunden. Sie heißt Maya Johnson, 32 Jahre alt, wohnt in Noe Valley. Bis jetzt konnten wir noch nicht mit ihr sprechen. Als Eddie und James sie hierher gebracht haben, was sie bewusstlos. Ich hoffe, sie kann uns eine Beschreibung des Vampirs geben, der sie überfallen hat, sobald sie aufwacht. In der Zwischenzeit können wir kein Wort darüber verlieren. Es könnte jeder sein. Solange wir nicht wissen, wer hinter der Sache steckt, möchte ich nicht, dass irgendjemand erfährt, dass sie hier ist.“
„Das ist auch besser so“, stimmte Gabriel zu. Bis sie mit ihr sprechen konnten, mussten sie auf Nummer sicher gehen. Natürlich gingen sie somit davon aus, dass sie ihnen irgendetwas über ihren Angreifer sagen konnte. „Du bist dir aber im Klaren, dass sie in Panik ausbrechen wird, wenn sie herausfindet, was sie jetzt ist?“ Nicht nur wäre sie von dem Angriff traumatisiert, sobald sie herausfand, dass sie jetzt ein Vampir war, würde sie wirklich in Panik geraten.
Samson schloss seine Augen und nickte. „Ich kann es mir bildlich vorstellen.“
„Sollten wir noch jemanden einweihen, um bei der Sache zu helfen?“ Gabriel wusste, dass er nicht der Richtige dafür war, eine Frau durch eine lebensverändernde Verwandelung zu lotsen. Er konnte einfach nicht gut mit Frauen umgehen.
„Ich habe Drake schon angerufen. Er wird wissen, was zu tun ist. Vielleicht kann er sie beruhigen, wenn sie überreagiert.“
In Anbetracht seiner eigenen Erfahrung mit Drake bezweifelte Gabriel, dass sich der Arzt besser anstellen würde, als er selbst. Doch er würde Samson nicht widersprechen, da dieser offensichtlich hohe Stücke auf den Doktor hielt.
„Ja, hoffen wir, dass er das kann. Sollten wir nicht vielleicht eine Frau hier haben, wenn sie aufwacht? Eine Horde Furcht einflößender Vampire, die sie anglotzen, während sie es herausfindet, könnte etwas bedrohlich wirken.“ Gabriel blickte direkt in Samsons Augen. Er wollte auf keinen Fall derjenige sein, der ihr die schlechte Nachricht überbringen musste. Er hatte keine Scheu, anderen diese Aufgabe zu erteilen. Es war besser, wenn eine Frau – jemand mit etwas mehr Feingefühl – diese Rolle übernahm.
„Nicht Delilah. Ich will nicht, dass sie in die Nähe dieser Frau kommt. Du weißt genauso gut wie ich, worauf ein frisch verwandelter Vampir aus ist. Die Jungvampirin wäre nicht in der Lage, ihre Stärke zu kontrollieren, selbst wenn sie niemanden verletzen wollte.“
Gabriel hob abwehrend die Hand. „Ich habe nicht Delilah gemeint. Yvette hat die Stadt noch nicht verlassen. Ich habe ihr ein paar Tage freigegeben, um auf Besichtigungstour zu gehen.“
Yvette war ein guter Bodyguard und, trotz der Tatsache, dass sie manchmal etwas zickig war, war sie verlässlich und hatte einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Er war sich sicher, dass die beiden Frauen sich sofort gut verstehen würden.
Samson atmete schwer. „Sicher. Yvette. Das ist eine gute Idee.“
Schwere Schritte hallten von der Treppe wider. Einen Augenblick später rauschte Carl, Samsons treuer Diener, zur Tür herein. Er war ein stattlicher Mann, beleibt, vor allem um den Bauch herum, und war Mitte fünfzig. Wie immer trug er einen formellen, dunklen Anzug. Tatsächlich hatte Gabriel ihn noch nie anders gesehen und vermutete, dass Carl keine einzige Jeans besaß.
„Mr. Woodford, der Zustand der Frau hat sich verschlechtert.“
„Dr. Drake ist schon auf dem Weg. Ich kann nichts tun, solange er nicht hier ist. Sie sollten sie nicht alleine lassen“, tadelte Samson.
„Miss Delilah ist bei ihr“, gab Carl zur Antwort.
Samson und Gabriel sprangen entsetzt auf.
Die Panik stand Samson ins Gesicht geschrieben, als er die Treppe hinauf polterte. Gabriel war direkt hinter ihm, als sie ins Gästezimmer platzten.
„Delilah!“ Samsons Stimme war erfüllt von Sorge.
Samsons zierliche Frau saß auf der Bettkante und tupfte ihrem Gast die Stirn.
„Samson, bitte. Ich versuche lediglich, mich um sie zu kümmern. Wenn du schreiend hier hereinläufst, ist das nicht gerade hilfreich. Das verschreckt sie doch nur.“ Delilahs Schelte war sanft. Ihr langes, dunkles Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie sich über die Frau beugte. Obwohl sie schwanger war, war ihre Figur makellos. Laut Samson war sie erst im dritten Monat – was bedeutete, dass sie nicht lange nach ihrem Blut-Bund schwanger geworden war, kurz nach dem Chinesischen Neujahrsfest.
„Du solltest überhaupt nicht hier sein. Wir wissen nicht, wie sie reagieren wird. Es ist zu gefährlich für dich.“ Samson legte ihr die Hand auf die Schulter, zog sie hoch und weg vom Bett. „Bitte, Süße. Das macht mich um Jahrzehnte älter, wenn du so etwas tust.“ Er drehte sich zu Gabriel und deutete zum Bett. „Gabriel, wärst du so nett?“
Samson wollte, dass er sie pflegte? Das war nicht geplant. Er würde herausfinden, wer ihr das angetan hatte und sie beschützen, sollte sie noch immer in Gefahr sein. Aber er würde unter keinen Umständen am Bett dieser Frau sitzen und Krankenschwester spielen.
Am besten sagte er das seinem Boss sofort. Eine frisch verwandelte Vampirin babysitten hatte ihm gerade noch gefehlt. Sich um sie auf solch intime Weise zu kümmern ging zu weit. Ein paar Befragungen, sicher. Das würde er machen. Aber nicht an ihrem Bett sitzen und sie umsorgen.
Verdammt, er wüsste doch nicht einmal, was er tun sollte. Sein Wissen über den weiblichen Körper war beschränkt auf das, was man bei einigen kurzen Schäferstündchen mitbekam, und vielen nicht so kurzen Pornofilmen. Es konnte niemand ernsthaft von ihm verlangen, auf einen weiblichen Vampir aufzupassen. Wo zum Teufel blieb Drake? Sollte er nicht endlich kommen?
Gabriel drehte sich zu Samson, der Delilah zur Tür hinaus führte, und wollte die ihm aufgetragene Aufgabe ablehnen. Aber ein leises Stöhnen der Frau ließ ihn wieder in ihre Richtung blicken.
Ihm stockte der Atem, als er sie das erste Mal betrachtete.
Gabriel hörte, wie sich die Tür schloss und wusste, er war allein mit ihr.
Die Frau lag auf der Decke, ihre Kleidung blutverschmiert. Sie trug Jeans und ein T-shirt. Und darüber einen Arztkittel. Mit rotem Faden war ihr Name über der Brusttasche eingestickt: Dr. med. Maya Johnson, Urologie.
Maya war blass. Eingerahmt von ihrem dunklen Haar wirkte sie noch blasser. Sie hatte wellige Haare, die ihr Gesicht umschmeichelten. Ihre Augen waren geschlossen, dunkle Wimpern rundeten das Bild ab. Er fragte sich, welche Augenfarbe sie wohl hatte, sobald sie wieder in ihrem Normalzustand waren. Ihre Haut hatte einen olivfarbenen Schimmer, der auf lateinamerikanische, mediterrane, oder vielleicht sogar nahöstliche Abstammung schließen ließ.
Sie hatte Abschürfungen im Gesicht, hauptsächlich um ihre Lippen, die voll und perfekt geschwungen waren. Sie musste mit ihrem Angreifer gekämpft haben. Innerhalb weniger Stunden würden ihre Verletzungen jedoch verschwunden sein und ihr Vampir-Körper sich selbst heilen, während sie schlief.
Er konnte sich nur zu gut vorstellen, welchen Schmerz und welchen Horror sie während des Angriffs durchgemacht hatte. Sie war heute Nacht gestorben und ihr Angreifer hatte sie von der Schwelle zum Tod zurückgeholt. Sie hatte den Tod spüren müssen, um ein neues Leben zu erlangen. Wie schmerzvoll war ihr Tod wohl für sie gewesen?
Gabriel wusste, dass jede Verwandlung anders war. Viele hatten entsetzliche Erinnerungen daran, doch keiner sprach darüber. Und die Erinnerungen dieser Frau würden schrecklich sein – gegen den eigenen Willen verwandelt zu werden, war traumatisierend. Ihre Wunden deuteten darauf hin.
Gabriel sah über ihre Verletzungen und die Bissspuren an ihrem Hals hinweg. Es war offensichtlich, dass ihr Angreifer unterbrochen worden war, da er die Wunde nicht mit seinem Speichel versiegelt hatte. Es würde daher länger dauern, bis alles verheilte. Hätte er die Bisswunde geleckt, wäre sie längst nicht mehr sichtbar.
Gabriel sah nur die Frau unter den Verletzungen: die sinnliche Kurve ihrer Nase, ihre ausgeprägten Wangenknochen und ihren grazilen Hals. Ihr schlanker Körper hätte ebenso nackt sein können, denn er konnte sich nur allzu gut vorstellen, was für eine Figur sich unter ihrer Kleidung versteckte.
Ihre Finger waren elegant und lang. Finger, deren Liebkosung er auf seiner Haut spüren wollte. Lange Beine, die sie um seine Hüften schlingen sollte, während er Liebe mit ihr machte. Volle Brüste, an denen er saugen konnte, bevor er jeden Zentimeter ihres Körpers küsste. Rote Lippen, die er mit seinen kosten würde.
Es war etwas Faszinierendes an ihrem Duft. Etwas so Fremdes und gleichzeitig doch so vertraut. Nichts war vergleichbar mit diesem Aroma, das sie ausstrahlte. Es ummantelte ihn, nahm ihn vollkommen ein, und wickelte ihn mit Wärme und Sanftheit in einen Kokon. Jede Zelle seines Körpers reagierte auf sie.
Sie war perfekt.

Schlussbemerkung



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Impressum

Texte: Tina Folsom
Bildmaterialien: Elaina Lee: www.forthemusedesign.com
Tag der Veröffentlichung: 23.07.2012

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