Cover

1.

Der kalte Wasserstrahl, der sich über seinem Kopf teilte und dann über den Rest seines schweißnassen Körpers dahinglitt entspannte seine Muskeln und die beiden Kopfschmerztabletten, die er sich soeben mit einer halben Kanne kalten Kaffees hinuntergespült hatte, schienen ihre Wirkung auch nicht zu verfehlen. Auf diese einfachen Dinge konnte man sich noch verlassen, aber was war mit dem Rest dieser beschissenen Welt?
Diese Frage hatte Johannes Alamani sich in letzter Zeit schon öfter gestellt. Ausgelaugt stand er unter der Dusche einer kleinen und versifften WG am Rande Berlins.
Sie war nicht gekommen, an seinem großen Tag. Die Uraufführung einer verfremdeten Version von Kabale und Liebe lag mittlerweile schon drei Stunden hinter ihm.
Nach kurzem Einseifen und Abspülen stieg er aus der Dusche und betrachtete seinen, wie er fand nicht unattraktiven Körper, im verschmierten Spiegel, der seine Brust durch einen langen Riss augenscheinlich in zwei Teile teilte.
Es war eigentlich alles perfekt gelaufen, bis auf ein paar kleine Patzer, die sowieso kein Schwein mitbekommen hatte.
Drei Monate hatten sie nun mehr an diesem Stück gearbeitet und heute war es zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert worden. Die Freilichtbühne war komplett ausverkauft gewesen. Es war zwar nicht das Stadttheater, aber was soll‘s, für den Anfang schon nicht schlecht, dachte er sich. Langsam bildete sich eine Pfütze unter ihm, wo hatte Franzi bloß sein Handtuch hingetan? Im Badezimmerschrank, wo er es gestern achtlos reingeworfen hatte, war es nicht mehr und auf dem schiefen Handtuchhalter, der sich langsam aber sicher aus seiner Verankerung an der türkisgefliesten Wand löste, war es auch nicht zu finden. Er stieß einen leisen Fluch aus und ging nass und splitternackt wie er war, aus dem fensterlosen Bad durch die Diele, wo er kurz aus dem offenen Fenster schaute, in sein Zimmer und nahm das erstbeste T-Shirt was auf dem Boden lag, um sich, noch immer triefend nass, grob abzutrocknen. Nachdem die Aufführung zu Ende gewesen war, hatten sie noch gemütlich bei einem Bierchen an der geschlossenen Bar, welche zum Freilichttheaters gehörte, beisammengesessen und den Abend ausklingen lassen. Besser gesagt, versucht ausklingen zu lassen. Es hatte schon vor der Aufführung angefangen, dieser unangenehme pochende Schmerz in seiner linken Schläfe. Doch er hatte es schlichtweg ignoriert, bis vor etwa einer Stunde nach der Aufführung noch dieses Stechen in seiner Hüfte dazukam. Daraufhin hatte er sich notgedrungen dazu entschieden den Heimweg anzutreten.
Er war zu seiner alten 250er Honda gegangen und hatte versucht den Motor zu starten. Außer einem ungesunden Röcheln war nichts passiert und auch nach einem zweiten, dritten und vierten Startversuch tat sich nichts. So hatte er also seine alte Mühle am Theater stehen lassen müssen und war zu Fuß den Heimweg angetreten.
Es waren ja nur geschätzte 20 Minuten zu Fuß, bis er an seinem momentanen Zuhause ankommen würde.
Kein Problem, und so schlimm waren die Kopfschmerzen nun auch wieder nicht, hatte er sich gedacht, als er den Nachtmarsch angetreten war. Es war eine laue Sommernacht und er war am Anfang auch ziemlich flott voran gekommen, Johannes kannte ja schließlich die Gegend wie seine Westentasche und konnte somit einige Abkürzungen nehmen. Doch als er etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, fingen die Schmerzen an immer stärker zu werden.
Kurz hatte er darüber nachgedacht, sich an den Bordstein zu setzen und Luft zu holen, aber diesen Gedanken hatte er sich direkt wieder aus dem Kopf geschlagen. Zeitverschwendung, hatte er sich gedacht und außerdem war dies nicht gerade die sicherste Gegend, morgens halb eins in Berlin.
Nachdem er sich eine frische Boxershort und ein ausgeblichenes T-Shirt übergestreift hatte, ging er an den Kühlschrank in der geräumigen Küche, die den Mittelpunkt der drei Personen WG verkörperte. Mal wieder nichts zu finden, außer angeschimmeltem Aufschnitt, Essensresten von vorgestern, Ketchup und einem halben Apfelkuchen, wo auf einem Schmierzettel dick und fett „MEINS“, draufgeschmiert war.
Dies musste Tobi, der dritte Mitbewohner neben ihm und Franziska geschrieben haben. Doch erstens ging das Johannes ziemlich am Arsch vorbei und zweitens war Tobi der größte Mundräuber den er je kennengelernt hatte. Er nahm den Kuchen heraus und aß bei offener Kühlschranktür die eine Hälfte im Stehen. Die andere nahm er mit in sein Zimmer, schaltete seinen alten Laptop an und warf sich auf das quietschende Federbett.
Nachdem er bei Myspace seine Pinnwandeinträge beantwortet und sich bei YouTube über die neuesten Videos seines besten Kumpels amüsiert hatte, rollte er sich aus seinem Bett. Dabei entfernte er mit einem gekonnten Hüftschwung die Kuchenkrümel von seinem T-Shirt und schlürfte zu Tobis Zimmer.
»Mit ihm hab ich sowieso noch ne‘ Rechnung offen,«
murmelte er mit einem wissenden Grinsen.
Zwischen den beiden herrschte jetzt seit etwa zwei Wochen ein kleiner Krieg um alle erdenklichen Kleinigkeiten. Der leere Apfelkuchenteller würde das I-Tüpfelchen für heute setzen.
Mit seiner schmierigen Hand umfasste er die Türklinke von Tobi‘s Zimmer, als ihm das getrocknete Blut auf den teilweise rissigen Fliesen ins Auge fiel.

2.

Franzi, wie sie ihre Freunde nannten, saß am Tisch eines zweitklassigen Speeddatinglokals. Nun hatte sie schon vier totale Versager hinter sich, die nur auf Sex auswaren und schon setzte sich ihr das nächste notgeile Arschloch gegenüber. Klein, lange fettige Haare, verwaschene Jeans, schwarzes T-Shirt und nicht zu vergessen die unübersehbare Beule zwischen seinem Beinansatz.
Langsam stieg ihr der bittere Geschmack von Ekel die Speiseröhre empor. Das Maß war schon seid etwa einer halben Stunde übervoll. Sie sprang auf und lief schnellen Schrittes zum Ausgang. Dabei legte sie einen Fünfziger auf die Theke.
Das sollte reichen.
Diese Szene spielte sich schon seit einer knappen Woche immer wieder ab. Das DaylyIn war jetzt das vierte
Speeddatinglokal, was sie erfolglos und mit einem noch schlechteren Bild über die Männerwelt verlassen hatte.
Es ist alles zwecklos, es gibt keinen Typen der meinen, anscheinend kindlichen Vorstellungen von wahrer Liebe entspricht, dachte sie sich, als sie eine achtlos weggeworfene Bierdose vom Bürgersteig auf die Straße kickte.
Was nicht ohne folgen blieb, da sie unter lautem Fluchen bemerkte, dass sich bei dieser sportlichen Maßnahme ihr rechter Absatz der gestern gekauften schwarzen Pums verabschiedet hatte.
Doch bevor sie den Absatz erreichen konnte, um das Elend aus dem versifften Randstein zu fischen, kam ihr eine große männliche Hand zuvor. Diese drängte sich zwischen ihre und das Objekt der Begierde, hob ihn mit geschickten Fingern auf und rettete Franzi gleichzeitig vor einem plötzlichen Ungleichgewicht.
Franzi schaute auf, der Unbekannte hielt ihr den Absatz mit einem netten Lächeln auf den Lippen hin.
Sprachlos streckte sie ihre Hand aus, um den Rest ihres Schuhs entgegenzunehmen, doch die Hand des netten Unbekannten entwich ihrem Griff.
»Halt, halt junge Frau, meinen sie wirklich ich werde mir das einzige Druckmittel wegnehmen lassen, sie dort drüben auf einen Kaffee einzuladen? Wäre es nicht dumm den hier wiederzugeben, wenn es durchaus die einzige Chance auf ein nettes Gespräch mit einer attraktiven jungen Dame ist?«
Der Typ fuchtelte mit dem Absatz vor ihrer Nase herum und
zog ein Paar Badelatschen aus der Sporttasche, die er über seiner rechten Schulter hängen hatte.
Dann half er ihr aus dem Rest ihrer Schuhe und zog ihr diese über. Dies tat er mit so einer Selbstverständlichkeit, das Franzi diesen, wie sie später fand, Angriff auf ihre Privatsphäre einfach über sich ergehen ließ.
Sie ließ sich bei dem Fremden unterhaken und zum Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite führen.

Es war einfacher als er es sich gedacht hatte, diese Frau schien wirklich verzweifelt zu sein. Thomas hatte zwar geplant, Franziska auf der Straße vor dem DailyIn anzusprechen, doch das sie sich ausgerechnet dort ihren Absatz abbrach und ihm genau die richtige Möglichkeit schuf, an sie heran zu treten war pures Glück gewesen. Der zweite Schritt in dem Plan, den er sich jahrelang zurechtgelegt hatte war nun auch getan, die bisherigen Geschehnisse, der Mord an Tobias Hartmann und das anscheinend zufällige Kennenlernen Franziskas, waren nur die Werkzeuge für sein eigentliches Vorhaben, sie erst in den Wahnsinn zu treiben und dann zu töten.
In der Sporttasche unter seinem Arm lag noch das grob abgewischte Messer, welches er vor mittlerweile zwei Stunden
in Tobias Bauch gerammt hatte. Sowie die Kleidung, die er nachdem er die WG verlassen hatte, sofort in einen leger-sportliches Dress tauschte. Zu diesem Zeitpunkt war es etwa neun Uhr gewesen, er wusste dass das DailyIn, wo Franziska sich in dem Moment aufgehalten hatte vor einer halben Stunde mit dem Speed Dating begonnen hatte und sie diese Lokation für gewöhnlich nicht vor 10 verlassen würde. Er hatte also noch eine Stunde Zeit gehabt sich davor zu postieren und auf ihr Eintreffen zu warten. Doch sie war früher erschienen als erwartet, schnell war er aus dem geliehenen dreier BMW gestiegen, als sie hastig aus der Tür des DailyIn´s trat und die Straße entlangging. Er war ihr gefolgt, hatte ihre Handlung beobachtet, richtig eingegriffen und nun saß er mit ihr im Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

3.

Von einer Sekunde auf die Andere schoss sein Puls nach oben und sein ganzer Körper wehrte sich gegen das Öffnen der Zimmertür, diese augenscheinlich stinknormale Handlung.
Johannes trat langsam ein, seine Gedanken wehrten sich immer noch gegen die Wahrheit die er schon vor dem Zimmer erahnt hatte.
Tobi saß wie so oft an seinem PC, der der Tür gegenüberliegend auf seinem Schreibtisch stand. Dort lief irgendeine Folge von „Lost“, die er sich ständig im Internet reinzog, eigentlich ein ganz normaler Anblick, wenn er Johannes nicht mit schreckerfüllten Augen ins Gesicht starren würde, und dies obwohl er mit dem Rücken zur Tür saß.
Mit schnellen Schritten ging Johannes zu seinem Mitbewohner und drehte ihn auf dem Bürostuhl in seine Richtung. Als er in die aufklaffende Brust schaute und seinen stark überstreckten Hals begutachtete, wurde ihm plötzlich schlecht und er erbrach mitten auf Tobi´s geliebtem Wasserbett, aber das konnte diesen ja nicht mehr sonderlich stören.
Wie gelähmt ließ Johannes sich klatschend in seine eigene Kotze fallen, wobei sich das Wasserbett langsam hoch und runter bewegte. Eine Flut von Gedanken überrollte sein Gehirn, aus seinem Mund kam ein leises Schluchzen, welches sich für einen Dritten eher wie ein Grunzen angehört hätte.
Nachdem er Körper und Geist einigermaßen in den Griff bekommen hatte, begann er über seine nächsten Schritte nachzudenken. Als erstes musste er die Polizei rufen. Ein Rettungswagen schien nutzlos zu sein, sein langjähriger Freund war wohl für immer verloren. Ja, das würde er als erstes tun, er lief aus dem Zimmer, geradewegs zu dem alten Telefon, was im Flur an der Wand hing. Dabei hinterließ er auf den alten Fliesen eine lange Blutspur. Kein Wunder, dachte er als er auf seine nackten, blutverschmierten Füße hinunterschaute.
Mit zittriger Hand wählte er die Telefonnummer, die man als Großstadtkind schon in der Kita lernte, 110, die drei Zahlen die dir irgendwann einmal das Leben retten werden, hatte der pensionierte
Polizeibeamte immer gesagt, als sie im Stuhlkreis beieinander gesessen hatten.
Alle Geschehnisse schienen langsamer abzulaufen, er merkte wie seine Gedanken immer wieder abzuschweifen drohten.
Genauso wie in diesem Bericht bei N24, der vor zwei Tagen mitten in der Nacht im Fernsehen lief. Dort hatten Wissenschaftler Menschen in Extremsituationen untersucht.
Schon nach dem ersten Klingeln hob ein Mann an der anderen Seite des Telefons ab, er schien absolute Ruhe auszustrahlen und Johannes wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen.

4.

Breit grinsend schaute Franzi dem netten Unbekannten gegenüber des Tisches in die Augen. Merkwürdig fand sie diese Situation ja schon, aber irgendwie war so etwas genau ihr Ding, dieses verrückt Spontane. Sie fragte sich, was er wohl für ein Mensch war, aussehen tat er wie ein typischer Deutscher, aber er hatte den Charme eines Italieners. Dabei fiel ihr plötzlich ein, dass sie nicht einmal seinen Namen kannte.
»Oh Entschuldigung, ich hab Sie noch gar nicht nach Ihrem Namen gefragt. Ich bin Franziska Löwen, aber meine Freunde nennen mich Franzi.«
Sie versuchte verlegen zu lächeln, welches sie direkt zurückbekam.
»Ich heiße Thomas, Thomas Grewen.«
Wieso sollte er ihr nicht seinen wirklichen Vornamen nennen, den konnte sie ja bald sowieso nicht mehr weitererzählen.
»Aber wenn du schon mit meinen Latschen rumläufst, kannst du mich auch ruhig duzen.«
Beide fingen an zu lachen.
»Und was machst du so? Also beruflich?«
Auf diese Frage hatte Thomas gewartet, stundenlang hatte er zu Hause am Schreibtisch gesessen und sich eine zweite Person zusammengebastelt. Er war zu dem Schluss gekommen, dass sein zweites Ich ein langweiliges Berufsleben haben sollte. So musste er sich kein großes Wissen aneignen und konnte das Gespräch schnell auf private Interessen umlenken, was ihm durchaus einfacher fallen würde.
»Ich verkaufe Industriedrucker für Kyocera, also ich bin sozusagen der Ansprechpartner für die Großkunden.«
Dieser Beruf schien ihm langweilig genug und versprach trotzdem ein akzeptables Einkommen, was bei Frauen ja auch eine Rolle spielte.
Durchaus zufrieden mit seiner Antwort schaute er Franziska erwartungsvoll an.
»Jetzt willst du bestimmt auch wissen, was ich so den ganzen Tag mache, wenn ich nicht gerade mit zerstörten Schuhen am Straßenrand stehe. «
Der Abend versprach humorvoll zu werden. Da war sie sich ziemlich sicher.
»Ich arbeite in einem kleinen Damenmoden Geschäft am Ku‘damm. Vero Moda, das kennst du vielleicht.«
Thomas grinste.
»Wer einmal in seinem Leben mit einer Frau shoppen war, hat diesen Laden schon von innen gesehen!«
»Jaja shoppen, das größte und vor allem teuerste Hobby der Frauenwelt, wenn ich mir mal so angucke, welche Geldmengen die teilweise bei uns im Laden lassen, unglaublich.«
Kopfschüttelnd nahm Franzi ihren Cappuccino in die Hand und fing an zu schlürfen. Das hatte sie schon immer getan und dabei ihre Mutter oft zur Weißglut gebracht.
Franzi schrak auf und ergoss die halbe Tasse auf ihre Hand und die weiße Tischdecke unter ihr, als ihr Handy lautstark in der Handtasche klingelte.
Mit lautem Fluchen stellte sie die Tasse wieder auf die durchnässte Tischdecke und ließ sich von Thomas seine Serviette geben, die er ihr hinhielt.
Mit klebrigen Fingern ging Franzi an das noch immer trällernde Biest, wie sie es oft bezeichnete:
»Danke Jojo, wegen dir hab ich mich gerade voll zum Affen gemacht!«
»Hä, was willst du? Egal, du musst schnellstmöglich nach Hause kommen.«
»Wieso das denn? Ich sitz hier mit nem netten jungen Mann beim Kaffee, ist grad nen bisschen schlecht.«
»Franzi, es ist wirklich wichig!«
»Was denn?«
»Ich kann dir das nicht am Telefon sagen, komm einfach so schnell es geht her, okay?«
»Jojo, wenn nicht gerade unsere WG abgebrannt oder jemand gestorben ist, dann reiß ich dir den Kopf ab, darauf kannst du dich gefasst machen!«
»Du sagst es.«
Franzi wollte gerade nachfragen, was er mit dem letzten Satz meinte, aber da hatte Jojo auch schon aufgelegt. So merkwürdig hatte sie ihn noch nie erlebt.
»Das war gerade ein Freund von mir, da ist irgendwas passiert, er meinte, ich solle sofort kommen.«
»Schade, dann ist das Date mit der netten Unbekannten ohne Absatz wohl schon vorbei.«
»Ja tut mir leid, aber das scheint echt wichtig zu sein, ich glaube ich sollte da wirklich hinfahren.«
»Ja ist okay, ich geb dir mal meine Karte. Falls du mal nen großen Drucker brauchst oder sich deine Schuhe wiedermal in Einzelteile auflösen, kannst du mich gerne anrufen.«
Als Franzi anfing zu grinsen fügte er noch hinzu:
»Natürlich auch wenn dies nicht der Fall sein sollte und du einfach mal Lust auf ne Tasse Kaffee hast.«
Franzi stand auf und gab Thomas die Hand, so herzlich wie sie diese kalte Geste auszuführen vermochte.
»Komm gut nach Hause, ich hoffe, dich erwartet dort nicht allzu Schreckliches.«
Thomas konnte sich genau ausmalen, was in der nächsten Stunde passieren würde. Ihr aufgeschlitzter Ex-Freund würde sie gebührend empfangen.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, das Gefühl der Rache belebte seine hasserfüllte Seele.
Als Franzi das Café gerade verlassen wollte, fiel ihr auf das sie immer noch die zu großen Latschen von Thomas an ihren Füßen trug. Sie lief wieder zurück und wollte sie gerade ausziehen, doch er schien wirklich ein Gentleman zu sein:
»Behalt die bloß an, ich kann dich doch nicht ohne Schuhe rum laufen lassen. Außerdem ist das ein guter Grund, dich mal bei der Arbeit zu besuchen.«
»Bist du sicher? Also mir macht das echt nichts aus, wenn...«
»Keine wiederrede, ich hole sie mir dann einfach nächste Woche ab, wenn du nichts dagegen hast.«
Verlegen drückte sie ihrem Helden noch einmal die Hand und huschte aus dem Café.
Ein bisschen peinlich war es ihr ja schon in der Öffentlichkeit mit Männerschlappen rum zu laufen und sonst ein perfekt durchgestyltes Outfit zu tragen. Aber im Dunkeln würde das wahrscheinlich eh niemandem auffallen.
Erst jetzt vielen ihre Gedanken wieder auf das Gespräch mit Jojo, was war da bloß vorgefallen? Da konnte man sich ja die schlimmsten Sachen ausmalen.
Franzi stieg in ihren leicht mitgenommen roten Fiesta und startete den Motor.
Es war doch wohl keiner gestorben? Nein, aus ihrer Familie war schon lange niemand mehr in Gefahr, bald den Löffel abzugeben. Bei Jojo, soweit sie wusste, auch nicht. Vielleicht hatte es auch etwas mit Tobi zu tun, was sie sich wenige Sekunden später wieder aus dem Kopf schlug, er war der unkomplizierteste Mensch, den sie je kennengelernt hatte. Genau das war auch der Grund für das Scheitern ihrer Beziehung gewesen. Aber darüber wollte sie jetzt nicht noch länger nachdenken.
Franzi schaltete das Radio an, was würde sie bloß für einen CD Spieler geben? Sie hatte schon seit längerer Zeit vor, sich einen anzuschaffen, doch das Geld verschwand meist in neuen Outfits oder durchzechten Nächten.
Franzi schaute auf die teure Armbanduhr an ihrem Handgelenk, gern erinnerte sie sich daran, wie ihre Großmutter ihr diese zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Es war mittlerweile schon halbzwölf, wie schnell die Zeit verging.

5.

Völlig in sich zusammengesunken saß Johannes am Esstisch in der Küche. Vor ihm standen zwei leere Dosen Red-Bull und die Verpackung zweier Asperin-Tabletten. Die kläglichen Überreste eines gescheiterten Versuches seine Nerven in den Griff zu bekommen. In Sekundenbruchteilen wechselte seine Stimmung von gähnender Leere zu höllischer Angst, die mit einem nervenzerreißenden Verfolgungswahn einherging. Er fühlte sich vollkommen hilflos in dieser schrecklichen Situation, die Ereignisse hatten ihn schlichtweg überrollt. So hatte er noch gar nicht realisiert, was in den letzten Stunden geschehen war - geschehen sein musste.
Die Premiere war mittlerweile in weite Ferne gerückt, es schien nur noch sein toter Kumpel im Nebenzimmer, umringt von etlichen Polizeibeamten, eine Rolle zu spielen. Alles schien langsamer abzulaufen.
Eine neue Welle von Bildern durchströmte sein vernebeltes Gehirn. Immer wieder schien sich diese eine Szene vor seinem inneren Auge abzuspielen: Er geht auf Tobi zu, dreht ihn auf seinem Stuhl um, starrt mitten in seine zerfleischte Brust.
Plötzlich wurde ihm kochendheiß, er sprang auf, torkelte schnellen Schrittes aus der Küche, den Flur entlang und in Richtung Wohnungstür. Mit schweißnassen Händen bekam er die Klinke zu fassen und riss die Tür auf, polternd stolperte er das Treppenhaus hinunter, vorbei an zwei rauchenden Beamten. Draußen angekommen lehnte er sich an die kalte Hauswand und ließ sich langsam zu Boden sinken.
Nachdem er die Polizei verständigt hatte, war er minutenlang reglos im Flur stehengeblieben und hatte das große Foto an der Wand angestarrt. Es zeigte alle drei, Franzi, Tobi und ihn, herzlich lachend und Arm in Arm auf der Wiese hinter den Arkaden beim Potsdamer Platz sitzend. Alle drei hielten ihr Eis aus ihrem Lieblings-Café in der Hand, das Bild war an einem heißen Sommertag letzten Jahres entstanden, von denen es hier in Deutschland ja nicht gerade viele gab.
Nachdem er sich von seinen Erinnerungen losgerissen hatte, war er in die Küche gegangen, schnell an Tobi‘s Zimmer vorbei, denn diesen Anblick würde er nicht noch einmal überstehen. Nachdem er sich die beiden Red-Bull Dosen aus dem Kühlschrank und die Aspirin aus dem Vorratsschrank geholt hatte, war er schweigend am Esstisch sitzengeblieben, bis die Polizei eingetroffen war.
Nachdem eine junge Beamtin mit ihren Fragen kläglich an ihm gescheitert und zum Schluss gekommen war, ihn vorläufig nicht weiter zu befragen, hatten sie ihn in der Küche alleingelassen.

6.

Der nächtliche Verkehr auf Berlins sonst so überfüllten Straßen hatte sich heute glücklicherweise in Grenzen gehalten. Franzi fuhr, eine halbe Stunde nach dem sie Thomas im Café verabschiedet hatte, zügig auf den Parkplatz der Wohnanlage im Süden Berlins. Mit schnellen Schritten, soweit es ihr Schuhwerk erlaubte, lief sie zum Eingang des Gebäudes. Sie sah Jojo schon von weitem, zusammengesunken an die Betonwand gelehnt. Franzi beschleunigte abermals ihre Schritte und lief zielstrebig auf ihn zu.
»Jojo, was ist passiert?
Was machst du überhaupt hier draußen?
Hast du dich ausgesperrt?
Was ist mit Tobi, konnte der dich nicht reinlassen?
Steh doch erstmal auf, du holst dir doch den Tod da unten auf den eiskalten Steinen!«
Regungslos blieb Johannes auf dem Boden sitzen.
Er brachte es nicht übers Herz Franzi die Wahrheit zu sagen. Sie würde es nicht verkraften.
Doch dies musste er auch nicht, als zwei Polizeibeamte laut schwatzend das Treppenhaus herunterkamen und die Wohnanlage, ohne die beiden zu bemerken, zügig in Richtung Parkplatz verließen.
Jetzt war Franzi klar, es musste etwas Schreckliches passiert sein, sie ließ sich neben Johannes auf die Knie fallen und fing an, ihn an den Schultern zu rütteln.
»Was ist passiert Jojo?
Sag mir, dass es nichts mit Tobi zu tun hat! Sag es mir, Jojo, bitte!
Es hat doch nichts mit Tobi zu tun oder?
Jojo?«
Johannes holte tief Luft, er brachte es einfach nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen.
Doch das musste er auch nicht, denn im selben Moment trat die Polizeibeamtin aus der Tür, die auch schon ihn ausgefragt hatte.
»Sind sie Frau Lohmann?«
Franzi ließ von Johannes ab und stand auf.
Dieser ließ seinen Blick langsam von Franzis Gesicht in Richtung Boden sinken. Die kalten Steine schienen sein Innerstes perfekt wiederzuspiegeln.
»Ja! Was wollen sie hier? Was ist passiert?«
»Frau Lohmann, ich muss ihnen leider eine schreckliche Mitteilung machen.«
Franzi wagte es nicht, nur einen einzigen Atemzug zu nehmen.
»In ihrer Wohnung wurde allem Anschein nach ein gewaltsames Attentat verübt, wobei ihr gemeinsamer Mitbewohner tödlich verletzt worden ist. Herr Alamani hat ihn soeben gefunden.
Ich möchte Ihnen und Herrn Alamani im Namen aller Kollegen mein herzlichstes Beileid aussprechen, wir alle bedauern sehr was hier in den letzten Stunden vorgefallen ist.«
Mit einem starren Kopfnicken und ohne ein Wort zu sagen wandte sie sich von der Polizistin ab. Kraftlos ließ sie sich wieder vor Johannes auf die Knie fallen.
»Nein! Das ist nicht wahr, sag mir dass das nicht wahr ist, sag mir dass das ein schlechter Scherz ist, Jojo. Er ist doch nicht tot oder Jojo?«
Jetzt meldete sich die Polizistin wieder zu Wort:
»Entschuldigen sie, da wäre noch eine Sache, ich muss sie beiden leider bitten den Tatort nicht zu verlassen. Wir benötigen noch ihre Zeugenaussagen und weitere Angaben.«
Franzi schossen die Tränen in die Augen, ihr wurde heiß und wieder kalt. Sie fing an zu zittern. Schluchzend ließ sie ihren Kopf auf Jojo’s Schoß sinken und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Johannes hatte keine Ahnung, wie er reagieren sollte, er fühlte sich ja selbst vollkommen hilflos und der Tod seines langjährigen Freundes erschütterte ihn genauso sehr wie diese sonst so starke Frau, die er gerade im Arm hielt.
Minuten vergingen und es tat sich nichts. Die Polizistin war schon längst wieder verschwunden.
Sie verharrten dort, schweigend, halb sitzend, halb liegend, an der kühlen Fassade dieses trostlosen Gebäudekomplexes und versuchten sich gegenseitig zu halten, zu beschützen vor dieser nackten Wahrheit, die wie eine Faust auf sie niederschmetterte.
Johannes schrak auf, als Franzi plötzlich und völlig unerwartet aufsprang und mit wackeligen Beinen durch die Tür ins Treppenhaus und die Stufen hochlief. Sekundenbruchteile der Leere in seinem Kopf vergingen und dann wusste, er was sie vorhatte. So schnell er konnte rappelte er sich auf, seine Glieder waren steif von der nächtlichen Kälte. Johannes stolperte die Treppen hoch, dabei nahm er immer zwei Stufen auf einmal. Schon hatte er sie eingeholt, warf seine Hände um ihre schmale Taille und riss sie an sich. Franzi versuche sich zu befreien und fing an, zu schreien.
»Lass mich! Ich muss ihn sehen! Ich muss ihn sehen! Ich muss ihn doch sehen...«
Tränen liefen ihr über das zarte Gesicht, mit aller Kraft versuchte sie sich aus seinem Griff zu lösen. Johannes lehnte sich an die Wand des Treppenhauses, mit dem linken Arm presste er sie fest an sich heran, sodass sie ihm nicht entwischen konnte, und mit dem rechten Arm drückte er ihren Kopf an seine Brust. Sie musste dringend zur Ruhe kommen, aber noch viel wichtiger war, dass sie Tobi nicht zu Gesicht bekam.
Franzi fing leise an zu schluchzen.
»Lass mich doch bitte! Ich muss ihn doch sehen! Ich muss ihn doch sehen...!«
Diese Worte wiederholte sie immer wieder, von Wort zu Wort wurde ihre Stimme leiser und er spürte wie ihr Körper in seinem Griff mehr und mehr zusammensackte.
Johannes wusste, was er jetzt zu tun hatte, sie mussten von hier verschwinden, beide.
Franzi noch immer im Arm haltend ging er mit ihr die Stufen hinunter und sie verließen das Gebäude. Er musste jetzt stark sein, wie gern würde er auch seinen Gefühlen freien Lauf lassen, sich einfach auf den Boden werfen und nie wieder aufstehen. Doch das konnte er jetzt nicht, er wusste, dass er jetzt die Kraft aufzubringen hatte, nicht nur für sich, sondern auch für seine beste Freundin, die an der Situation zu zerbrechen drohte.

7.

Regungslos saß Thomas auf dem Fahrersitz des BMW. Er dachte über seine nächsten Schritte nach. Keinesfalls durfte er jetzt hektisch oder unüberlegt handeln. Er hatte nur diese eine Chance, um der wahren Mörderin seines Bruders ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Nur zu gut konnte er sich an den Tag erinnern, wo er Manuel identifizieren musste.
Es war vor zwei Jahren gewesen. Ein heißer Sommertag, Thomas war noch bei der Arbeit, als er den Anruf bekam. Er hatte die wenigen Worte des Polizisten noch genau im Kopf:
»Guten Tag, mein Name ist Ehle vom Morddezernat West.
Spreche ich mit Thomas Büscher?«
»Ja das ist richtig, worum geht es?«
»Herr Büscher, ich möchte Sie bitten, umgehend in unsere Hauptzentrale Mitte zu kommen, es geht um ihren Bruder.«
»Mein Bruder, was ist mit ihm, ist ihm etwas passiert?«
»Ich kann Ihnen leider nichts Näheres am Telefon sagen, Herr Büscher. Bitte kommen Sie doch einfach in die Hauptzentrale.«
»Sagen Sie mir erst ob es meinem Bruder gut geht!«
»Herr Büscher, sie müssen verstehen, dass ich Ihnen am Telefon keine Einzelheiten nennen kann. Bitte melden Sie sich umgehend in unserer Hauptzentrale.«
»Ich versuche so schnell es geht zu kommen.«
»Auf wiederhören.«
Nach dem Thomas aufgelegt hatte, war er mit schnellen Schritten zum Büro seines Chefs gegangen und hatte sich freigenommen. Dies war kein Problem gewesen, da er als langjähriger Mitarbeiter der Anwaltskanzlei eine sehr gute Beziehung zu seinem Chef gehabt hatte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nicht gewusst, dass auf dem Obduktionstisch der Pathologie sein, vom Wasser aufgedunsener, kleiner Bruder wartete.
Er hatte ihn sofort erkannt, wie er da lag, kalt und blass. Seine weichen Gesichtszüge, die auffällig grünen Augen und die für einen Mann so untypisch vollen Lippen. Das war er, sein Bruder.
Andere Leute wären jetzt zu Freunden gefahren oder hätten sich in der nächsten Kneipe volllaufen lassen, aber Thomas war anders. Auf bemitleidendes Gelaber konnte er jetzt gut und gerne verzichten.
Er war zu der Wohnung von Manuel gefahren und hatte dort genau das gefunden, was er erwartet hatte. Ein mit zittriger Hand geschriebener Brief, gut sichtbar auf dem Küchentisch platziert.

Lieber Thomas,
ich möchte dir in diesem Brief Lebewohl sagen. Alles war zu schwer für mich, ich weiß, dass du meine Entscheidung, mit diesem beschissenen Leben endlich Schluss zu machen, nicht verstehen wirst. Du solltest wissen, dass du nicht daran Schuld bist.
Die Dinge haben sich in meinem Leben mehr und mehr zugespitzt. Ich habe es dir schon öfters gesagt, dass ich ohne sie nicht leben kann und nicht leben will.
Dieses Alleinsein ist einfach nicht auszuhalten.
Ich möchte dir sagen, dass du immer wichtig für mich warst, dass ich dich nie vergessen werde. Du hast keine Schuld, auch wenn du es nicht verstehen kannst. Ich möchte, dass du weißt, dass du wichtig warst, weil du meinem Leben immer wieder Sinn gegeben hast, mich eine zeitlang vom Selbstmord fern gehalten hast, doch jetzt, da ich heute auch noch meinen Job verloren habe, halte ich das nicht mehr aus. Es tut mir Leid, vergiss mich bitte nicht, bitte, bitte, vergiss mich nicht.
Dein Manuel

In diesem Moment war Thomas klar gewesen, diese Frau durfte nicht ungestraft davon kommen.
Er hatte sich Zeit genommen, alles genau zu durchdenken und mögliche Hindernisse zu minimieren. Nach und nach war eine zweite Identität entstanden.
Ligurien, ein kleines Dorf im Norden Italiens. Dort wartete es schon auf ihn, das Leben weit weg von all den deutschen Gesetzen, die ihm hier regelrecht das Genick brechen würden.

8.

Geduckt saß Johannes auf dem Fahrersitz von Franzi's Auto. Gemocht hatte er diese alte Schüssel noch nie. Mit dem niedrigen Dach, wo er immer nur mit krummen Rücken sitzen konnte. Doch das schien seine Freundin ganz anders zu sehen, nur wiederwillig hatte Franzi ihm ihre Schlüssel überlassen. Sie schien wirklich an diesem Auto zu hängen.
Nun saß sie völlig in sich zusammengesunken auf dem Beifahrersitz neben ihm und schaute mit leeren Blick in die Finsternis.
Er wusste nicht, was er noch sagen sollte und vor allem wusste er nicht, wo sie hin sollten. Die Minuten verstrichen, beide starrten sie auf die verlassene Straße, das nasse Kopfsteinpflaster glitzerte im Schein der Straßenlaternen.
Es schien nicht vor und nicht zurückzugehen, die Zeit stand still. Zumindest hier, in dem kleinen roten Ford Fiesta, an der Straße einer Wohnsiedlung in der Hauptstadt, die eigentlich niemals schlief, niemals stillstand.
Die grellen Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos holten Johannes wieder in die Wirklichkeit zurück. Er legte sich kurz seine kalten Hände auf das Gesicht, dann startete er den Motor und fuhr los.
Einfach erst mal weg von hier, dann konnten sie weitersehen.
Zum Glück hatten sie sie gehen lassen, denn als er mit Franzi unterm Arm den schmalen Fußweg zur Straße entlanggegangen war, war von hinten plötzlich eine laute Stimme gekommen:
»Halt! Bleiben sie stehen!«
Dies war einer der beiden desinteressierten Polizeibeamten von vorhin gewesen. Im ersten Moment hatte Johannes sich nicht erklären können, was dieser noch von ihm gewollt haben könnte. Doch nachdem er zu ihnen aufgestoßen war und Johannes als erstes fest am Oberarm gepackt hatte, wurde es ihm schlagartig bewusst. Wie dumm war er bloß gewesen, zu denken, dass sie einfach von der WG verschwinden konnten. Hatte der Polizeibeamte bei seiner gescheiterten Vernehmung doch deutlich gesagt, dass er erst einmal tatverdächtig und somit, in gewisser Weise, vorläufig festgenommen war. Gott sei Dank hatten sie sich schnell darauf geeinigt, nur ihren Personalausweis und eine Telefonnummer zu hinterlassen, wo sie jederzeit erreichbar waren. Mit der Bedingung, sich im Verlaufe des nächsten Tages, im Morddezernat Süd zu melden.
Während er in Richtung Stadtmitte fuhr, durchkramte er sein Gehirn nach Freunden, wo sie jetzt unterkommen konnten. Er hatte wirklich keine Lust auf lange Trauergespräche und Beileidsbekundungen. Sie brauchten einfach nur ein Bett zum Schlafen, ein Hotel kam nicht in Frage. Dafür war eindeutig das Geld zu knapp. Am besten jemand, der Tobi nicht gekannt hatte, das machte es für alle Beteiligten einfacher.
Als er sich schon fast mit dem geldverschlingenden Hotelzimmer abgefunden hatte, kam ihm eine Idee. Er hatte ja noch sein altes Kinderzimmer in der Wohnung seiner Mutter, dort könnte er ohne groß ausgefragt zu werden mit Franzi nächtigen. Außerdem hatte er wirklich nichts dagegen einzuwenden mit ihr das Bett zu teilen.
Seine Mutter war eine Frau die wusste, wann viele Worte angebracht waren, aber auch, wenn nicht.
Weit war es nicht mehr bis zu ihrer schönen Altbauwohnung unter dem Dach.

9.

Er startete den PS starken Motor des sportlichen Dreitürers. Für schnelle Autos hatte Thomas schon immer einen Faible gehabt. Als kleiner Junge hatte er Stunden mit seiner Carrera-Bahn verbracht, daran konnte er sich noch sehr gut erinnern. Und ihr Vater hatte auch immer schnelle und teure Autos gefahren.
Thomas fuhr los. Sein Weg sollte ihn in Richtung Potsdamer Platz führen. Dort hatte er sich für „die Zeit der Rache“, wie er sie für sich selbst so treffend getauft hatte, in einer Billighotelkette einquartiert.
In Tatverdacht konnte er nicht geraten, da war er sich ziemlich sicher. Hatte er ja genauestens darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen und nicht gesehen zu werden.
Damals hätte er sich gewünscht, die neue Perle seines kleinen Bruders einmal persönlich kennenzulernen. Heute kam ihm das nur zu Gute.
Zwei Jahre hatte er in England verbracht, an einer der begehrtesten Colleges weltweit. Dort hatte er sein internationales Abitur absolviert. Eine anstrengende, aber auch schöne Zeit, was er erst im Nachhinein sagen konnte.
Thomas parkte seinen Leihwagen in der Tiefgarage des Hotels. Er nahm den Hintereingang, seinen Zimmerschlüssel hatte er erst gar nicht abgegeben. Ein bisschen Vorsicht konnte ja nie schaden.
Mit Schwung ließ er sich auf das Bett fallen, welches härter war als zunächst erwartet. Sein Plan hatte zwar perfekt funktioniert, aber jetzt merkte Thomas wie anstrengend es war, unter keinen Umständen nur einen einzigen Fehler machen zu dürfen. Erst jetzt merkte er, wie ihn die Müdigkeit übermannte. Im Liegen zog er sich die Sachen aus und gönnte sich den Schlaf, der in der letzten Zeit rar gewesen war. Den morgigen Tag würde er ruhig angehen lassen. Das hatte Thomas soeben beschlossen.

10.

Mit geübtem Auge parkte Johannes in die enge Lücke am Fahrbahnrand ein. Leicht war es nicht gewesen einen Parkplatz vor der Tür des Mehrfamilienhauses zu finden, wo seine Mutter wohnte. Das hatte Berlin mit seiner riesigen Menge an Fahrzeugen so an sich.
Er schaute zu Franzi hinüber. Kurz nachdem sie losgefahren waren, hatte sie angefangen tief und gleichmäßig zu atmen. Es hatte nicht lange gedauert bis sie, mit dem Kopf an die beschlagene Scheibe gelehnt, eingeschlafen war.
Selbst hatte er sich auch zusammenreißen müssen während der Fahrt nicht einzunicken. Wie würde es wohl aussehen, hätte er nicht seinen Beliebten Wachmacher, die Aspirin-Red-Bull-Mischung angewendet? Sie hatten einen langen Tag hinter sich. In kürzester Zeit war so viel passiert, was ihr Leben deutlich verändern würde.
Vorsichtig fasste er Franzi an der Schulter an.
»Hey, Franzi, wach auf. Wir sind da.«
Doch von Franzi war nur ein leises Brummen zu hören.
»Komm wach auf, ich bin zu meiner Ma gefahren. Dort können wir uns ein bisschen aufs Ohr hauen.«
Wieder kam nur ein Brummen zurück, diesmal etwas lauter.
Johannes stieg aus und ging um das Auto herum. Er öffnete die Beifahrertür, Franzi hatte sich etwas aufgerichtet. Er half ihr auszusteigen, schloss die Tür und ging mit ihr in Richtung Eingangstür.
Er konnte sich gut an die unzähligen Momente erinnern, wo sie ihn sturzbesoffen und zu nichts mehr fähig nach Hause gefahren, in sein Zimmer gebracht und dafür gesorgt hatte, dass er seinen Rausch ausschlief. Jetzt war er an der Reihe einmal für sie da zu sein.
Mit der linken Hand hatte er ihren Arm fest umschlossen und mit der rechten kramte er in seiner Hosentasche nach dem Haustürschlüssel. Den besaß er immer noch.
Johannes schloss auf und ging mit ihr die Treppen bis zum Dachgeschoss hinauf. Es war schon spät, er wollte seine Mutter nicht unnötig wecken. Gewohnt war sie es sowieso, dass er gelegentlich mitten in der Nacht kam, schlief und nachmittags wieder ging. Das lag vor allem daran, dass die Wohnung ziemlich zentral direkt an einer U-Bahn Station lag. Wenn er mal wieder die Nacht zum Tag gemacht hatte und die Busse nur unregelmäßig fuhren, hatte er sich angewöhnt, einfach bei seiner Mutter zu schlafen.
Leise öffnete er die Wohnungstür und ging mit Franzi direkt in sein Zimmer. Er half ihr aus Jacke und Schuhen und legte sie in das alte Bett, welches er irgendwann einmal als Teenie bekommen hatte. Er öffnete die Tür und wollte gerade das Zimmer verlassen, um sich auf dem Sofa im Wohnzimmer breit zu machen, als Franzi leise zu ihm flüsterte:
»Johannes?«
»Ja?«
»Bleib bitte bei mir.«
Stille.
»Ich kann jetzt nicht allein sein.«
Das war genau das, worauf er gehofft hatte. Selbst hatte er sich nicht getraut zu fragen oder sich einfach neben sie zu legen. Dafür waren sie einfach zu gute Freunde und diese Freundschaft wollte er durch eine unüberlegte Aktion nicht zerstören.
Doch wenn es so von ihr kam, hatte er wirklich nichts dagegen einzuwenden.
Er schloss die Tür, zog sich so aus, dass er nur noch mit Boxershorts und T-Shirt bekleidet war. Normalerweise bevorzugte er es, komplett nackt zu schlafen, doch das schien ihm im Augenblick etwas unpassend. Mit leisen Schritten ging er zu Bett und zog die Bettdecke über sie. Johannes war viel zu erschöpft, um sich der Tatsache bewusst zu werden, mit was für einer atemberaubend attraktiven Frau er soeben das Bett teilte. Das letzte, was er wahrnahm war, dass sie sich eng an seine Schulter schmiegte. Dann übermannte sie beide die Müdigkeit.

11.

Schweißgebadet setzte er sich auf. Er war wieder da, dieser stechende Schmerz, der sich vom Hinterkopf über die Schläfen bis unter die Stirn zog. Sein Kopf pochte. Die Schmerzen waren kaum auszuhalten. Johannes warf die Decke zur Seite. Neben ihm lag Franzi und schlief tief und fest. Er beugte sich über die Bettkannte und kramte in seiner Jeans nach dem Handy. Halb vier Uhr morgens. Die Schmerzen wurden immer stärker.
Johannes stand auf und ging leise zum Bad. Er machte den Wasserhahn an und ließ sich eine Zeit lang kaltes Wasser über Gesicht und Hände laufen. Das machte es wieder erträglicher, doch die Schmerzen verschwanden nicht.
Was war bloß mit ihm los?
Hatte er irgendetwas?
Nein, wenn er mit einer Sache keine Probleme hatte, dann war das seine Gesundheit. Es war wahrscheinlich der viele Stress der letzten Tage, kurz vor einer Uraufführung wurde alles etwas hektischer. Alle hatten versucht noch einmal das Beste aus sich herauszuholen und härter zu arbeiten als je zuvor. Schließlich konnte es das Sprungbrett zum großen Theater sein. Nicht selten verirrten sich Talentsucher in die Freilichtbühne.
Kein Wunder, dass sein Körper irgendwann den Schlussstrich setzte. Nun kam ja auch die Belastung durch den Tod seines besten Freundes dazu.
Johannes schaute in den aufwendig gearbeiteten Spiegel über dem Waschbecken. Es schaute ein völlig übermüdeter junger Mann zurück, der erfolglos versuchte, den Verlust seines besten Freundes zu verdrängen, um für sich und andere stark sein zu können.
Der Schmerz schien ihn plötzlich zu übermannen. Er merkte wie er langsam hochgekrochen kam. Vom Bauch, in die Brust, durch den Hals. Er konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten. Sie liefen über sein nasses Gesicht und vermischten sich mit dem Wasser, das aus seinen Haaren tropfte.
Vergeblich versuchte Johannes sich wieder in den Griff zu bekommen. Doch es brachte nichts. Eine Lawine, die erst einmal ins Rollen gekommen war, konnte man so leicht nicht mehr stoppen.
Er fing an zu schluchzen, die Tränen schienen immer größer und die Last auf seinen Schultern immer kleiner zu werden.
Er schüttelte den Kopf, was er augenblicklich wieder bereute, als eine neue Welle Schmerzen über seine Schädeldecke flutete.
Wie lange hatte er hier schon so gestanden? Die Arme aufs Waschbecken gestützt und der Blick starr auf den Spiegel vor ihm gerichtet.
Mit zitternden Händen griff er das Handtuch rechts von ihm und rubbelte sich grob die halblangen blonden Haare ab. Die Tränen auf seinem Gesicht waren längs getrocknet. Abermals machte er den Wasserhahn an und spritzte sich ein paar Mal das kalte Nass in das Gesicht.
Langsam sollte er mal wieder in Bett gehen, dieser Tag würde nicht weniger anstrengend werden als der letzte.

12.

Thomas saß am Tisch einer Starbucks Filiale und trank seinen Lieblingskaffee. Auf das billige Frühstück im Hotel hatte er gut und gerne verzichten können. Nachdem er um kurz nach neun aufgestanden war, hatte er lange geduscht, sich einigermaßen fertig gemacht und war die wenigen Meter schräg gegenüber zu Fuß zum Café gegangen.
Er hatte sich einen Fensterplatz gesucht, dort saß er nun und beobachtete das hektische Treiben an einem der belebtesten Flecken Berlins.
Eigentlich hatte er ja vorgehabt, die Dinge ruhig angehen zu lassen. Doch als er heute Morgen unter der billigen Hoteldusche gestanden hatte, war ihm klar gewesen, die Zeit hier so kurz wie möglich gestalten zu müssen. Das bedeutete im Klartext, er würde den Tod Franzis vorverlegen müssen. Im Grunde genommen war es doch egal, wie stark er sie seelisch fertig machte. Sterben musste sie sowieso. Auch wenn er es anders geplant hatte, ein Plan war da, um durchkreuzt zu werden.
Jetzt spürte er wieder dieses Kribbeln in seinen Händen. Es war schon so berauschend gewesen, ihren scheiß Exfreund zu erstechen. Wie sehr würde er sich dann am sterben Franzis ergötzen? Voller Vorfreude blickte er auf den Moment, wo er ihr das Messer immer und immer wieder in ihren dreckigen Körper rammen würde. Thomas konnte es kaum noch erwarten.
Augenblicklich war es ihm klar, heute oder spätestens morgen musste es geschehen.
Thomas trank den letzten Schluck seines Kaffees aus und verließ den Laden. Zielstrebig ging er zur U-Bahn Station Potsdamer Platz und stieg in die U2 Richtung Ruhleben ein. Er musste nur einmal in die U1 umsteigen, dann hatte er den U-Bahnhof Kurfürstendamm erreicht. Er stieg aus und ging in Richtung Vero Moda Filiale. Es war zwar ziemlich unwahrscheinlich, dass Franzi, nach dem gestrigen Schock, ganz normal zur Arbeit gegangen war, doch ein Versuch war es wert. Thomas hatte alles bei sich, im Falle des Falles konnte er sein Vorhaben gleich dort erledigen.
Erwartungsvoll betrat er den Laden. Er war selbst gespannt, was wohl als nächstes passieren würde.

13.

Mit vernebeltem Blick beobachtete Franzi die schnarchende Person neben ihr.
Wie lange hatte sie bloß geschlafen?
Wie spät war es?
und...war da etwas zwischen ihr und Johannes gelaufen?
Sie konnte sich auf jeden Fall nicht daran erinnern, ihm in irgendeiner Form nähergekommen zu sein. Die aktuelle Situation, mit ihm in einem Bett, ausgeschlossen.
Woher kam bloß dieses Dröhnen in ihrem Kopf? Es fühlte sich an, als wenn sie die ganze Nacht durchgefeiert hätte, und das ausgiebig.
Langsam wurde ihr Blick wieder klarer. Dieses Phänomen hatte sie eigentlich jeden Morgen. Die ersten fünf Minuten sah sie so gut wie nichts, dann schien sich das Bild in ihrem Kopf langsam scharfzustellen.
Franzi schlug die Decke zurück, so dass Johannes nur noch als ein großer Haufen zu erkennen war. Diese Hitze, kein Wunder, bei einem Raum von weniger als zehn Quadratmetern und in voller Bekleidung. Sie schien es gestern Abend oder besser gesagt heute Morgen nicht einmal mehr geschafft zu haben ihre Jeans loszuwerden. Naja, wenigstens hatte Johannes ihr die Schuhe ausgezogen, davon ging sie zumindest aus, denn Franzi konnte sich nicht daran erinnern, sich ihrer selbst entledigt zu haben.
Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett, was sie augenblicklich bereute, da ihr schlagartig schwarz vor Augen wurde und sie sich unbeholfen wieder auf die Bettkante setzen musste.
Nachdem sich die Dunkelheit allmählich wieder gelegt hatte, öffnete sie als erstes weit das Fenster. Erst jetzt, wo sie den direkten Geruchsvergleich hatte, bemerkte sie, dass ihr Freund eine angeregte Verdauung haben musste. Franzi ging ins Bad und wusch sich grob das Gesicht. Frische Klamotten hatte sie ja keine, also ließ sie einfach die von gestern an.
Shoppingsüchtig war sie, das gab sie zu, aber sie war keine „Schicki-Micki-Tante“, wie Tobi manche Frauen gern so treffend bezeichnet hatte.
Dieser Gedanke holte sie in die Wirklichkeit zurück. Plötzlich fiel ihr wieder ein, wieso sie eigentlich hier war.
Von einer Sekunde auf die andere schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie ließ sich auf den geschlossenen Toilettendeckel plumpsen und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Glauben konnte sie das Ganze immer noch nicht. Er konnte doch nicht einfach weg sein, von heute auf morgen für immer verschwunden. Erst jetzt erlebte sie, wie Leute, die einen lieben Menschen verlieren sich wirklich fühlen, es war das erste Mal das ihr so etwas passierte. Sie empfand genau das, was ihr so viele schon oft berichtet hatten, als sie Freunden in ihrer Trauer beigestanden hatte.
Allein fühlte sie sich, allein und hilflos.
Es war ein schreckliches Gefühl, diese Hilflosigkeit. Sie konnte nichts dagegen machen, sie konnte ihren Freund nicht beschützen. Erst jetzt kam ihr die Art seines Todes wieder in den Sinn. Irgendjemand hatte ihn kaltblütig ermordet. Ihr fiel auf, dass sie nicht einmal wusste, wie der Mörder es getan hatte. Hatte er ihn erschossen, abgestochen, erdrosselt...?
Doch dies war ihr im Augenblick ziemlich egal, eigentlich wollte sie das gar nicht wissen. Viel mehr interessierte sie der Grund. Wieso musste ihr Exfreund, viel mehr ihr bester Freund, sterben?
Je länger sie darüber nachdachte, desto kuriosere Gründe fielen ihr ein und desto unrealistischer wurde für sie ein gezielter Mordanschlag.
Sie hatte Tobias als einen Mann in Erinnerung, dem sie nie etwas Böses zutrauen würde. Er hatte eine weiße Weste, das wusste sie genau. Franzi konnte sich nicht im geringsten vorstellen, dass Tobi in Dorgengeschäfte oder der Gleichen verwickelt gewesen sein könnte. So etwas war ihm einfach nicht zuzutrauen, er konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun. So kannte sie Tobi und so kannten ihn eigentlich alle.
Franzi rappelte sich auf und öffnete die von innen verriegelte Badezimmertür. Was hatte sie jetzt eigentlich vor? Ins Bett würde sie sich jetzt nicht mehr legen, es war ja schon fast halbzwölf. Vorausgesetzt die große alte Standuhr in der Diele ging richtig.
Nach kurzem hin und her, zwischen Frühstück machen, spazieren gehen und Jojo wecken entschied sie sich für letzteres. Was gar nicht mehr nötig war, denn als sie sein Zimmer betrat, hockte er schon auf der Bettkante. Er sah genauso orientierungslos aus, wie sie sich vorhin gefühlt hatte. Als sie vergeblich versuchte, ihren Gleichgewichtssinn einigermaßen wieder in den Griff zu bekommen.
In dem Augenblick wo sich ihre müden Blicke trafen, blieb die Zeit für einen kurzen Moment stehen. Einige Sekunden vergingen. Nicht einmal ein Blinzeln war auf den Augen des Anderen zu erkennen. Ein weiterer Moment und sie hatten sich wiedergefangen. Johannes legte seine Hand auf die freie Stelle des Bettes neben sich. Franzi ging durch den kleinen Raum und setzte sich genau dort hin.
Merkwürdig dachte er, wie leicht es war ohne Worte zu kommunizieren. Sie hatte sofort gewusst, was er von ihr gewollte hatte. Trotz dessen wurde es langsam Zeit etwas zu sagen. Er wusste nur nicht was. Etwas Besseres als ein schlichtes:
»Guten Morgen«,
fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.
Nach dem er ein genauso einfallsloses
»Morgen«,
zurückbekommen hatte, wusste er, dass es ihr genauso gehen musste.
Johannes stand auf und ging ans Fenster. Es war ein Tag wie jeder andere, doch der so typische weißgraue Berliner Himmel schien heute noch ein wenig dunkler als sonst zu sein.
Er wusste genau, was ihnen bevorstand, sie würden noch heute aufs örtliche Polizeipräsidium geladen werden und sie würden sie bis zum noch so kleinsten Detail über Tobi´s Leben ausfragen.
Gott sei Dank hatte er heute keine Proben, nach den anstrengenden Tagen kurz vor der Premiere hatten sie alle frei bekommen. Aber was war eigentlich mit Franzi, musste sie nicht arbeiten?
»Musst du nicht schon längst im Geschäft sein?«
Dieser Satz riss Franzi aus dem stummen Nichts, worin sie sich in den letzten verschwiegenen Minuten verloren hatte.
»Geschäft? Oh scheiße...«
Wieso hatte sie daran nicht vorher gedacht. Selbst die Uhrzeit hatte sie nicht darauf bringen können ans Arbeiten zu denken.
»Ich muss da sofort anrufen, hast du hier nen Telefon?«
»Nein, aber im Wohnzimmer steht eins, auf dem Beistelltisch neben dem großen Sofa.«
Franzi lief aus dem Zimmer, die Telefonnummer kannte sie auswendig.

14.

Die Tatsache, dass Thomas Franzi nicht direkt erblicken konnte, ließ ihn erst einmal nicht aus der Ruhe bringen. Sie war möglicherweise gerade im Lager oder bediente eine Kundin bei den Ankleiden.
Gemächlich schlenderte er durch den Laden, dabei versuchte er sich wie ein Touri zu verhalten, der nach nichts Speziellem suchte, aber irgendwie nach allem Ausschau hielt.
Trotz der Unmenge von Angestellten schien sich keiner dafür zuständig zu fühlen an das hartnäckig klingelnde Telefon bei der Kasse zu gehen.
Nachdem er nun schon zum zweiten Mal den ganzen Laden durchwandert hatte, schien er einer hübschen jungen Dame, die augenscheinlich zum Personal gehörte, doch aufgefallen zu sein.
»Guten Tag, kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich glaube, ich gucke erstmal nur, danke.«
»Wie Sie wünschen. Wenn ich Ihnen doch behilflich sein kann, können Sie mich gerne noch einmal ansprechen.«
Nach diesem Satz drehte sie sich um und widmete sich einer Schar junger Teenagerinnen, die ihre volle Aufmerksamkeit verlangen würden.
Thomas runzelte die Stirn, konnte nicht jemand mal an das verdammte Telefon gehen, langsam ging es ihm wirklich auf die Nerven.
Da Franzi immer noch nicht aufgetaucht war, machte er sich auf den Weg zur Ankleide. Vielleicht würde er sie dort auffinden.
Doch auch dort war nichts von ihr zu sehen. Nachdem er einen Blick in den langen Gang rechts und links gesäumt von Umkleidekabinen geworfen hatte drehte er sich um und ging zum Ausgang. Er verspürte keinen großen Drang sich unter die ungeduldig wartende Frauenschar zu mischen und dort weiter nach ihr zu suchen.
Was nun? Jetzt stand er da, wie ein Fels in der Mitte eines reißenden Flusses. Von allen Seiten strömten, dem Shoppingwahn ergriffene, Menschenmassen an ihm vorbei. Samstagmittag war nun mal die ungünstigste Zeit, um sich am Ku‘damm aufzuhalten. Zumindest für diejenigen, die nicht wie scheinbar der große Rest, den Drang verspürten, alles kaufen zu müssen, was nicht niet und nagelfest war.
Da ihm auf die Schnelle nichts einfiel, wie er weiter vorgehen sollte, ließ er sich einfach von der Menge treiben.

15.

»Geht doch ran verdammt! Das ist immer das gleiche mit denen! Wenn ich nicht da bin, könnte man den Anschluss eigentlich gleich kündigen!«
»Versuch‘s doch nochmal.«
»Was mach ich denn hier die ganze Zeit?«
»Ist ja gut...!
Ich mach uns jetzt mal was zu essen.«
Mit diesem Satz ging er schlurfend Richtung Küche.
Dort lag, wie jedesmal, schon ein handgeschriebener Zettel seiner Mutter für ihn bereit.

Guten Morgen Jojo,
na hat es dich mal wieder zu mir verschlagen?
Ich hoffe die Nacht war nicht allzu anstrengend und du bist noch fähig dir ein gesundes Frühstück zu machen.
Der Kühlschrank ist prall gefüllt, bedien dich einfach!
Vielleicht sehen wir uns ja nachher noch.
Gruß
Mama

Johannes öffnete den Kühlschrank. Das ganze gesunde Zeug konnte dort schön auf seine Mutter warten. Er nahm sich die Vollmilch und die angefangene Packung Pralinen heraus. Dann ging er zum Vorratsschrank, um sich ein frisches Glas Nutella und eine neue Packung Toastbrot zu holen. Damit schlurfte er zum Küchenfenster, öffnete es, setzte sich auf die Fensterbank und fing an zu essen. So hatte er das immer gemacht, wenn seine Mutter nicht zu Hause gewesen war. Den Satz: Ich mach uns mal Frühstück, hatte er längst vergessen.


Franzi knallte den Hörer auf die Gabel. Sie hatte es jetzt schon zum sechsten Mal versucht, mehr konnte sie auch nicht machen. So dringend schienen ihre Kolleginnen sie ja nicht zu brauchen. Der Chef war im Moment ja sowieso im Urlaub, also konnte ihr auch nicht viel passieren. Soeben hatte sie beschlossen, den ganzen restlichen Tag auch noch frei zu machen.
Als sie so über den weiteren Tagesverlauf nachdachte, kam ihr eine Idee. Sie könnte ja mal den netten Mann von gestern Abend anrufen. Vielleicht, oder eher ganz bestimmt, würde er sie auf andere Gedanken bringen. Wo hatte sie bloß seine Karte hingetan?
Wahrscheinlich hatte sie sie in ihre Handtasche gelegt, und die lag noch in ihrem Auto.
Aber als erstes musste sie etwas essen.
Mit einem Magen, der nichts außer gähnender Leere ausstrahlte, ging Franzi in die Küche. Dort fand sie Jojo in genau dem Zustand vor, wie sie es erwartet hatte.
»Was soll der Scheiß?!
Ich dachte du wolltest uns Frühstück machen?«
Johannes, dessen Mund gerade bis oben hin voll mit Nutellatoast gefüllt war, war nur ein kaum vernehmliches
»Schuldigung...«,
zu entnehmen.
Sie schlug die Kühlschranktür auf und begutachtete den Inhalt eine Zeit lang. Eben hatte sie noch riesigen Kohldampf gehabt und jetzt kroch ihr beim Anblick der vielen Lebensmittel, ein Brechreitz die Speiseröhre empor. Mit einem lauten Knall schlug Franzi die Kühlschranktür wieder zu, drehte sich zu Johannes um und brachte ihren Autoschlüssel wieder in ihre Gewalt, was nicht gerade einfach war, da Jojo diesen nur ungern rausrücken wollte. Als sie ihn dann endlich wiederhatte, machte sie sich auf den Weg, ihre Handtasche zu holen.

16.

Die eiskalte Cola, die Thomas sich soeben in den Hals kippte, war jetzt genau das Richtige. Nach einiger Zeit war ihm der Trubel draußen doch ein wenig auf die Nerven gegangen. Nun saß er in der hintersten Ecke des Hard Rock Cafés Berlin. Hier, in der halbdunklen Beleuchtung und den alten Rockclassikern, die im Hintergrund liefen, konnte er sich perfekt von dem ganzen Trubel draußen erholen. Außerdem wurde es mal wieder Zeit, seinen Plan zu durchdenken. Hatte er überhaupt noch irgendeinen Plan? Als er so darüber nachdachte, fiel ihm etwas auf. Nach dem so befriedigenden Mord an Tobias, schien er langsam aber sicher Gefahr zu laufen, davon besessen zu werden. Thomas wusste genau, dass er jetzt höllisch darauf aufzupassen hatte, dass genau dies nicht passierte.
Im Moment war er erst einmal nur froh darüber, es rechtzeitig bemerkt zu haben, bevor er irgendeinen dummen Fehler beging. Das erste, was er jetzt zu tun hatte, war, diesen für das Gelingen seines Ziels so wichtigen Plan wieder aufzustellen. So schwer es auch war sich dann daran zu halten und seine Rache hinter das Gelingen zu stellen. Das erste Treffen mit Franzi war nur so gut gelungen, weil er sich erstens perfekt darauf vorbereitet, und zweitens einfach ein Schweineglück gehabt hatte. Dessen war er sich jetzt bewusst.
Während er so über seine nächsten Schritte nachdachte, fing es in seiner Jeans an zu vibrieren. Thomas brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sein Handy klingelte.
»Ja?«
Fast hätte er sich mit „Büscher“ gemeldet.
»Thomas?«
»Ja.«
»Hier ist Franzi, ähm...die ohne Absatz...du weißt schon.«
Er musste schmunzeln, die Dinge schienen von allein ihren Lauf zu nehmen. Er merkte, dass er nur zum richtigen Zeitpunkt den entscheidenden Schlussstrich setzen musste.
»Ah, Franzi, hi. Wie komme ich zu der Ehre?«
»Keine Angst, mit meinen Schuhen ist alles in Ordnung.«
Franzi musste grinsen. Ein zweites Mal bemerkte sie, wie schnell er ihre Stimmung ins Positive verändern konnte.
»Brauchst du doch noch nen großen Drucker?«
»Ne, das auch nicht...
Ich wollte fragen, ob du vielleicht Lust auf nen Kaffee im Einstein oder so hast?«
»Du, dagegen hätt ich echt nichts einzuwenden.
Wie spät ist es jetzt?«
Er schaute auf die dicke Breitling an seinem linken Handgelenk.
»Würde es dir so um achtzehn Uhr passen?«
Sein Entschluss, nichts mehr dem Zufall zu überlassen, war soeben in weite Ferne gerückt.
»Ja, wieso nicht. Dann sehen wir uns um achtzehn Uhr vorm Einstein?«
»Ok, bis nachher dann.«
»Bis nachher.«
Wie betäubt saß er da. Einige Sekunden vergingen, wo er stumpf auf sein Handy starrte und über das gerade Geschehende nachdachte. Er wusste nicht, ob er sich auf die Schulter klopfen oder ins Gesicht schlagen sollte. Einerseits war das genau das, was er heute Morgen gewollt hatte, Franzi näher kommen. Andererseits hatte er sich vorhin noch vorgenommen einen perfekten Plan zu schmieden und war soeben schon wieder nur nach seinem Bauchgefühl gegangen.
Thomas schaute wieder auf die Uhr. Es war jetzt zehn Minuten nach zwölf. Dies hieß für ihn, dass er noch knappe sechs Stunden Zeit hatte. Genug Zeit, um einen vernünftigen Plan auf die Beine zu stellen. Auch wenn ihm momentan scheinbar alles in die Hände fiel.
Er trank den letzten Rest seiner Cola, legte genug Geld für den Preis plus Trinkgeld auf den Tisch und verließ den Laden.
Das machte er immer so, zum einen nervte ihn das lange Warten auf die Rechnung und zum anderen gab man dem Kellner eine geringere Chance, sich sein Gesicht zu merken.

17.

Mit einem unübersehbaren Lächeln betrat Franzi wieder die Wohnung von Jojo’s Mutter. Sie hatte bewusst draußen telefoniert, um den dummen Sprüchen von Jojo zu entgehen.
»Ich treffe mich nachher mit Tabbe im Einstein.«
Tabbe hieß eigentlich Tabea Kaup und war ihre beste Freundin.
Sie hatte sich überlegt, ihm erst einmal nichts von Thomas zu erzählen. Franzi wusste genau, das er es nicht für gut heißen würde, wenn sie sich jetzt mit einem neuen Typen vergnügte. Doch das hatte sie auch gar nicht vor.
Johannes schien in der Zwischenzeit sein Frühstück beendet zu haben. Denn nun saß er nicht mehr im offenen Küchenfenster, sondern hatte es sich auf dem großen Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht.
So auf der Seite liegend und vollkommen regungslos die Schrankwand anstarrend, sah man ihn selten.
Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie ihn noch nie beim Nichtstun beobachtet, geschweige denn ihn so nachdenklich gesehen wie zu diesem Zeitpunkt.
Rasch setzte er sich auf, als sie näher auf ihn zukam. Es war ihm wohl unangenehm in dieser schon fast intimen Haltung ertappt worden zu sein.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.«
»Wecken? Ich hab nicht geschlafen.«
»Aber geträumt...«
Mit diesem Satz ließ sich Franzi neben ihn auf das Sofa fallen. Sie konnte nicht wirklich sagen wieso, doch diese Situation war ihr irgendwie unangenehm. Beide hatten sie die nächsten Stunden nichts zu tun, und beide waren sie in Gedanken ausnahmslos bei Tobi.
»Und was machst du heut noch so?«
Eine Weile tat sich nichts, dann antwortete er mit einem leichten Schulterzucken. Er schien keine Lust zu haben, sich mit ihr über nichtige Dinge zu unterhalten. Dagegen hatte sie aber auch nichts einzuwenden.
So saßen sie nun regungslos auf dem Sofa seiner Mutter und schwiegen vor sich hin. Die Zeit verging und es passierte nichts.
Franzi fühlte sich absolut lustlos jetzt irgendetwas Sinnvolles zu tun, geschweige denn sich mit Thomas im Einstein zu treffen. Sie wusste jedoch genau, dass es ihr gut tun würde, sich ein wenig abzulenken.
Nachdem sie eine Weile so schweigend vor sich hin gesessen hatten, versuchte Franzi abermals ein halbwegs konstruktives Gespräch zu beginnen.
»Wie war eigentlich die Premiere gestern?«
»Gut...«
»Alles gut gelaufen? Keine Patzer?«
»Ne, lief gut...«
»Jetzt sag doch mal...«
Ein kurzer Moment des Schweigens.
Dann sprang er auf und ging mit energischen Schritten durch den Raum.
»Was soll ich dir denn noch erzählen, ich hab doch gesagt, dass es gut lief! Merkst du nicht, dass ich einfach keinen Bock hab, mich mit dir zu unterhalten?«
»Ja...ist ja gut!«
Das reichte ihr, sie stand ebenfalls auf und verließ den Raum. Sollte er sich doch selber anmaulen, was konnte sie denn dafür, dass ihr gesamtes Leben gerade den Bach runterging?
Franzi zog sich Jacke und Schuhe an, dann war nur noch die krachend ins Schloss fallende Wohnungstür zu hören.
Bevor sie sich mit Thomas traf, brauchte sie unbedingt etwas Frisches zum anziehen. Viel wichtiger waren jedoch Dusche und Makeup. Ihre riesigen Augenringe waren ihr erst aufgefallen, als sie in den großen Gaderobenspiegel geschaut hatte. Sie schienen bis unter den Bauchnabel zu reichen.
Was sollte sie denn jetzt machen?
Eins stand fest, sie musste in die WG. Hoffentlich war dort keine Polizei mehr. Als sie so darüber nachdachte, kam ihr dass aber ziemlich unwahrscheinlich vor. Es war jetzt schon etwa zwölf Stunden her, als sie und Jojo vor dem Haus gesessen hatten.
Franzi hatte keine Ahnung, wie dass nach einem Mord so ablief. War ihre WG jetzt gesperrt? Hatten die Polizisten vielleicht sogar das Schloss ausgewechselt? Bevor sie jetzt so lange darüber nachdachte, entschloss sie sich einfach hinzufahren und nachzuschauen.

18.

Die Arme zu allen Seiten von sich gestreckt, entspannt auf dem Rücken liegend, ließ Thomas seine Gedanken spielen.
Außergewöhnlich komfortabel war das Hotelbett nicht gerade. Doch das hatte er ja schon gestern Abend feststellen müssen.
Schade eigentlich, dass sein Geld nicht für etwas Luxuriöseres gereicht hatte.
Dafür würde es bald umso besser werden, wenn er erst einmal in Italien war.
Immer wieder erwischte er sich dabei, von der Zukunft zu träumen. Dabei wusste er doch, dass es wichtig war die nächsten Schritte zu planen. Je mehr er versuchte, sich zu nutzbringenden Überlegungen zu zwingen, desto mehr wichen seine Gedanken davon ab.
Das konnte wirklich nicht wahr sein, es lief bis jetzt so gut, wie er es sich nie hätte träumen lassen. Diese Chance durfte er sich unter keinen Umständen verbauen.
Wie sollte er bloß anfangen?
Als erstes brauchte er ein kleines Präsent, vielleicht einen Strauß Blumen. War das zu kitschig? Rosen sollten es auf jeden Fall nicht sein, dafür war es zu früh. Aber weiter würde es ja auch nicht gehen, vorausgesetzt, er wurde langsam mal kreativ.
Auf dem Weg zum Einstein lag doch die Buga, dort würde er sich einfach ein Paar Blumen abrupfen. Das war zwar nicht das einfachste, aber das günstigste allemal. Außerdem war es mal was anderes.
Ja, das würde er machen.
Der restliche Kram, wie Kleidung oder Gesprächsthemen, waren eigentlich belanglos. Viel wichtiger war es, sich um den weiteren Verlauf des Abends Gedanken zu machen. Wie bekam er sie dazu, ihm an den perfekten Durchführungsort zu folgen, und wo sollte dieser bloß sein?
Ein selbstgefälliges Lächeln flog über Thomas Gesicht. Durchführungsort, noch so eine schöne Beschreibung für ein so hässliches Vorhaben. Seitdem er dieses perverse Spiel begonnen hatte, begeisterte es ihn mehr und mehr. Mittlerweile fing es sogar an, ihm wirklich Spaß zu machen.
Franzi war bestimmt keine Frau, die gutgläubig mit jedem mitging, so schätzte er sie jedenfalls ein.
Wenn ihm nicht bald etwas Gescheites einfiel, konnte er sich ihren Tod, für heute zumindest, aus dem Kopf schlagen.
Er schloss die Augen und versuchte den Abend vor seinem inneren Auge abspielen zu lassen.
Als erstes würden sie sich also vor dem Einstein treffen.
Sie würden reingehen, sich ihre Getränke bestellen und nett miteinander plaudern.
Irgendwann würde Franzi beschließen den Heimweg anzutreten, er würde zahlen und sie würden zusammen das Café verlassen.
Das hörte sich schon mal nicht schlecht an, doch was würde als nächstes geschehen. Fest stand, dass er von diesem Zeitpunkt an das Ruder übernehmen musste. Wie konnte er sie bloß motivieren mit ihm mitzugehen?
Wenn er erst einmal die richtige Idee hätte, dann wäre das ja kein Problem. Vertrauen hatte sie genug zu ihm. Wieso auch nicht, er war ja auch eigentlich ein ziemlich netter Kerl.
Wäre es vielleicht gut, Franzi abzufüllen und ihr dann anzubieten sie nach Hause zu bringen? Nein, erstens würde es viel zu früh sein für harten Alkohol, zweitens war das Einstein die falsche Location dazu und drittens würde er dies nie schaffen, so lange er selbst nichts trank.
Vielleicht konnte er sie auch zum Auto bringen, und die Sache auf dem Weg dort hin erledigen. Dabei war natürlich die Voraussetzung, dass sie nicht direkt vor der Tür geparkt hatte.
Also, wo war er eben stehengeblieben? Er würde zahlen und sie würden zusammen den Laden verlassen.
Plötzlich kam ihm eine Idee, sie war zwar nicht wirklich spektakulär, aber sie war allemal sicherer als die beiden anderen. Er würde ihr einfach erzählen, dass er noch etwas für sie hätte. Diese Überraschung war aber natürlich im Auto und das hatte er auf dem Parkplatz vom Leichtathletikverein zweihundert Meter weiter abgestellt. Der Parkplatz war von hohen Bäumen umgeben, das wusste Thomas noch. Um acht oder neun Uhr abends würde sich dort kein Mensch mehr aufhalten. Es war einfach der perfekte Ort für sein Vorhaben. Thomas stand auf und ging zum Fenster. Damit war ja alles geklärt, Franzi würde tod sein und er würde sich nach Italien verkriechen. Perfekt!
Das ernste Gesicht mit dem starr nach vorn gerichteten Blick, verformte sich langsam zu einem kleinen Lächeln, welches immer stärker wurde und bald zu einem leisen Kichern überging. Er ging einen Schritt auf das Fenster zu und drückte seine Hände gegen die eiskalte Glasscheibe. Das Kichern, was jetzt zu einem gehässigen Lachen geworden war, wurde immer lauter. Nun setzte sein ganzer Körper mit ein, er fing an zu beben. Das Lachen hörte nicht mehr auf, es wurde immer abscheulicher und steigerte sich von Sekunde zu Sekunde. Ausgelassen badete sich Thomas in der Rachgier, die in ihm immer mächtiger wurde.
Er beruhigte sich erst wieder, als seine Stimme allmählich versagte und er langsam zu Boden sank. Dort lag er eine Weile und kicherte so vor sich hin. Dann stand er auf, als wäre nichts gewesen und durchsuchte seinen Schrank nach möglichen Outfits.

19.

Merkwürdig war es ja schon, vor etwa zwölf Stunden hatte sie noch darum gekämpft in die WG zu kommen und jetzt stieg ein Gefühl der Ablehnung in ihr auf. Franzi merkte, wie sich ihr Instinkt gegen jeden einzelnen Schritt wehrte. Was und vor allem welche Reaktion wartete dort oben auf sie?
Stufe für Stufe ging sie das kühle Treppenhaus hinauf. Je näher sie der Wohnungstür kam, desto langsamer schienen ihre Schritte zu werden. So schleppend war sie hier noch nie hochgelaufen, wo sie doch sonst immer zwei Stufen auf einmal nahm.
Franzi wollte gerade den Schlüssel umdrehen, als ihr das grüne Polizeisiegel im Türrahmen ins Auge fiel.
Was sollte sie denn jetzt machen?
Wie sie so unentschlossen vor der Tür stand, fühlte sie sich wie in einem schlechten Hollywoodstreifen. Wo Engelchen und Teufelchen auf der Schulter und lautstark diskutieren.
Einerseits war es genau der richtige Grund umzukehren und sich vor möglichen Gefühlsausbrüchen zu schützen. Andererseits brauchte sie ihre Klamotten und außerdem war sie schon ein wenig neugierig was sich hinter der Tür verbarg. Was sollte ihr die Polizei schon groß vorwerfen? Sie wohnte ja schließlich hier.
Einen Moment stand sie noch schweigend davor, dann drehte sie den Schlüssel um und betrat ihr zu Hause.
Konnte diese WG überhaupt noch ihr zu Hause sein, wo hier doch so etwas Schreckliches passiert war?
Sie wusste es nicht.
Franzi konnte nicht sagen, was sie erwartet hatte. Doch irgendwie hatte sie es sich anders vorgestellt. Bedächtig ging sie den Flur entlang, eigentlich war alles noch genauso wie zubvor. Es duftete sogar noch nach ihren vielen Duftkerzen, wo Tobi sich immer so schrecklich drüber aufgeregt hatte.
Wo hatte er wohl gelegen?
Wobei war ihm der Mörder wohl aufgelauert?
Wie war dieser überhaupt in die Wohnung gekommen?
So viele Fragen und so wenig Antworten.
Würden Jojo und sie hier wohl wohnen bleiben...
...zu zweit?
Als ihr dies bewusst wurde, brach sie schlagartig in Tränen aus. Der Schmerz, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte, kam mit einem Mal wieder hervor. Irgendwie hatte sie schon damit gerechnet, doch wie hätte sie sich darauf vorbereiten können?
Franzi ließ sich gegen die Wand fallen und glitt diese langsam herunter. Die Tränen wurden immer stärker, sie fing an zu schluchzen. Es war dieselbe riesige Last wie am Morgen, die jedes Mal, wie eine Faust auf sie einschlug.
Die Zeit der drei Verrückten war für immer vorbei. Nie wieder würde es so sein wie vorher. „Der Künstler“ und „die Durchgeknallte“, mussten jetzt ohne „den Kaoten“ auskommen. Dies waren die drei Synonyme, die unter den Bildern der großen Foto Collage im Flur standen.
Franzi richtete sich wieder auf. Es hatte keinen Sinn, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Sie hatte sich jetzt endlich mal zusammen zu reißen, sonst würde sie an der Situation noch zerbrechen.
Vorbei an Tobi’s, ging sie in ihr Zimmer, öffnete den Kleiderschrank und warf den halben Inhalt auf das Bett gegenüber. Was war wohl das passendste Outfit für das erste Date mit Thomas?
Nach etwa zehn möglichen Kombinationen, war ihr immer noch nicht das Richtige untergekommen.
Mittlerweile hatte sie aber eine Taktik entwickelt, sich für eins zu entscheiden. Am besten funktionierte es immer, wenn sie sich nach dem vielen Anprobieren erst einmal um etwas anderes kümmerte.
Franzi zog die Nachttischschublade auf, schnappte sich das Ladegerät für ihr Handy, das Foto ihrer Familie und die angebrochene Packung Kondome.
Wer weiß wozu sie die noch gebrauchen konnte.
Dies alles und der andere Kram, auf den sie nicht verzichten wollte, warf sie in eine große Handtasche, die sie verstaubt unter dem Bett hervorzog.
Inzwischen meldete sich ihr Magen, in Form eines laut vernehmlichen Grummelns, auch wieder. Franzi musste lächeln, dass passierte ihr jedes mal wenn sie Hunger bekam, nur leider auch in ziemlich unpassenden Momenten.
Es war bald wirklich Zeit etwas zu essen, schließlich zeigte der Radiowecker unter ihrer Nachttischlampe schon fast vierzehn Uhr. Beeindruckend, wie schnell die Zeit verging.

Impressum

Texte: Dieses Buch ist Judith Lopez gewidmet. Eine ebenso tolle Freundin wie Literaturagentin. So eine wie dich Schatz, wird es nie wieder geben!
Tag der Veröffentlichung: 07.09.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Thriller

Nächste Seite
Seite 1 /