Nun war er also hier, in einem Mittelklasse-Hotel in Kreuzberg. 35 Jahre lang spielte sich sein Leben in einem Vorort von Dortmund ab.
Dort kannte er jeden Stein und jeden Grashalm, hier war alles neu und fremd.
Roman war sich nicht wirklich sicher, ob dass hier jetzt wirklich seine neue Heimat werden würde. Allein in der Hauptstadt – außer ein paar Arbeitskollegen kannte er niemanden hier.
Seinen Koffer hatte er schon auf das Hotelbett geworfen. Und nun suchte er nach einem Hemd, das nicht all zu sehr unter den Bedingungen gelitten hatte. In 10 Minuten sollte er schon wieder in der Halle stehen, wo er mit zwei Kollegen aus Bochum verabredet war.
Im kleinen Bad seines Domizils streifte er das Shirt ab und hielt seinen Kopf kurz unter einen kalten Strahl Wasser unter dem Wasserhahn. Gut, dass er die Haare gestern noch mit der Maschine auf 9mm gestutzt hatte. Fünf mal mit dem Handtuch drüber und fertig.
Es genügte ihm nun, ein wenig Deo aufzutragen und schlüpfte dann in ein schlichtes schwarzes Shirt. Das Hemd beschloss er auf einem Bügel zu hängen, damit er am ersten Arbeitstag in Berlin möglichst ein Hemd hat.
Als sie aus der Halle auf die Straße gingen, spürten Sie noch die Wärme, die dieser Mai-Abend in den Straßen hinterlassen hatte.
Das erste Ziel sollte das neue Callcenter sein, indem Sie ab morgen neue Callcenter-Agenten in ihre Arbeite einführen würden.
Denn dazu waren Roman und seine Kollegen derzeit hier; ein neues Callcenter aufzubauen, Wissen und Erfahrungen im Telefonsupport an neue Kollegen weitergeben und sie für den harten Alltag in der Kundenbetreuung vorzubereiten.
Zwei bis drei Monate hatte die Firma dafür vorgesehen, wer von den Kollegen wollte, konnte daraus auch einen dauerhaften Wechsel zum neuen Standort machen. Dieser wurde einigen auch mit einer kleinen Beförderung versüßt.
Für Roman stand es eigentlich schon vor der Reise fest, dass er nach Berlin ziehen müsste, denn nach der Einarbeitung der neuen Agenten wartete im Ruhrpott eine ungewisse Zukunft.
Hier in Berlin wird kein zusätzliches Geschäft aufgebaut, sondern ein bestehendes Projekt aus dem Herzen des Reviers nach Berlin verlegt. Sobald dies abgeschlossen sein wird, hätten Roman und seine Kollegen ihre Schuldigkeit getan – die Kündigungen hatten alle schon in der Tasche.
Die Firma hatte das Hotel gut ausgesucht, schon nach 5 Minuten standen sie vor einem Gewerbekomplex, in dem das neue Callcenter in zwei Wochen sein „Go-Live“ haben wird. Dann gingen die ersten frisch geschulten Mitarbeiter an die Telefone und halfen den Kunden bei Problemen mit ihren technischen Geräten oder dem Internetanschluss.
Zu dem Projekt, dass im nächsten Quartal umziehen sollte, hatte sich auch ein zusätzlicher Auftraggeber gesellt, dessen Kunden zukünftig in Berlin Hilfe bei ihrem Internetanschluss bekommen würden.
Die Gruppe aus dem Ruhrgebiet sah sich ein wenig die nähere Umgebung an und kehrte nach etwa einer Stunde in einer kleinen Pizzeria ein – Zugfahrten und ausgiebige Spaziergänge machten immerhin hungrig.
***
Schon eine Woche war er nun in Berlin, eine kurze Woche! An keinem der 5 Tage war er später als halb 8 in der Firma, und ist selten vor 18 Uhr wieder aus den „heiligen Hallen“ ans Tageslicht getreten.
Jetzt war Freitag und Roman wollte endlich mal etwas erleben, denn immerhin war dies hier Berlin – Die Hauptstadt der Republik.
Wenn man hier nichts erleben kann, dann wohl an keinem Ort in Deutschland.
Aber wo geht man hin, wenn man etwas erleben will und ausser dem Weg zwischen Hotel und Arbeit nicht mehr kannte als den Bahnhof, eine Pizzeria, den LIDL und McDonalds?
Roman schlenderte die Wrangelstraße in Richtung Skalitzer und ließ die Gegend auf sich wirken. Auf der anderen Straßenseite stand ein alter MAN-Kastenwagen, der offenbar von Alternativen beschriftet worden war. „Lesbisches Wohnprojekt“ war in dreckigem Gelb auf stumpfen Blau zu lesen.
Gedenkenverloren, ohne genaues Ziel lief er so eine gute Stunde durch den Kiez. Bis er beschloss, sich vom Ostbahnhof aus auf den Weg zu machen. Der Alexanderplatz – oder ALEX, wie man ihn hier in Berlin nennt – sollte der Ausgangspunkt für seine nächtlichen Aktivitäten sein.
Immerhin war dieser, weit über die Stadtgrenzen bekannte, Ort so etwas wie das Zentrum der Stadt, dachte Roman zumindest.
Lichter der großen Stadt
Berlin, Alexanderplatz - hier saß Roman nun auf dem Rand des Brunnens und betrachtete die passierenden Menschen.
Hier in Berlin war alles irgendwie anders, als er es aus seiner Heimat kannte. Dortmund ist zwar keine Kleinstadt, aber gegen die Hauptstadt wirke es auf ihn jetzt so provinziell.
Im Untergeschoss des Bahnhofs "Alexanderplatz" hatte er sich noch mit Kippen und Bier eingedeckt.
Nun saß er hier und überlegte, was er nun tun sollte. Sollte er wirklich in Dortmund alles hinter sich lassen und das Risiko wagen? Weg von den wenigen Freunden und der eigenen Familie?
Er wäre damit die nächste Zeit vollkommen allein in einer großen Stadt, keine Menschenseele, mit der er sich beraten könne, niemand zum Smaltalk oder spontanen Unternehmungen. Roman war, obwohl, er als Mitarbeiter im Callcenter als Kommunikations-Profi bezeichnet wurde, nicht der Typ, der schnell auf fremde Menschen zu ging und Kontakte knüpfen konnte.
Oberflächliche Bekanntschaften, ja - so etwas ging immer - aber echte Freundschaften fallen ihm seit 2006 schwer. Damals kam es an seinem Geburtstag zu dem Fiasko in seinem Leben.
***
So hat er dort bestimmt eine Stunde in der Frühlingssonne gesessen, die sich nun allmählich über der Stadt senkte und die Fassaden des Platzes in warme Rot-Töne färbte. Verträumt lies er seine Gedanken baumeln, als er von einem Typen angesprochen wurde.
"Darf ich mal kurz Feuer nehmen?" deutete der Fremde auf das Feuerzeug, dass zwischen Romans Füßen auf dem Boden lag.
"Hmm", kam es abwesend von Roman.
"Hmm? Kannste nicht sprechen?"
"Hey, sorry. Ich war grad in einer anderen Welt. Nimm Dir ruhig und setzt Dich zu mir, wenn du magst."
Hatte er das jetzt wirklich gesagt? Roman erkannte sich in diesen Momenten nicht wieder, aber genoss es endlich nicht mehr mit sich alleine am Brunnen zu sitzen.
Der Schrecken über das, was er da grad gesagt hatte, folgte der Nächste, als sich der Unbekannte ihm direkt zu Füßen im Schneidersitz niederließ.
"Klar, da sag ich nicht 'nein', wo ich schon so nett eingeladen werde."
"Danke", sagte Roman eher zu sich selbst, "mir wurde auch grad langweilig und ich wollte eigentlich heute was nettes erleben."
"Ich bin Johannes", stellte sich der auf dem Boden sitzende vor. "Sag aber bitte Jo zu mir, das klingt nicht so förmlich."
"Roman", lächelte er zurück.
Beide reichten sich einander die Hände, wobei Jo auffiel, dass Roman seine Hand etwas zu lange hielt, als das es nur eine Begrüßung gewesen sein könnte. "Du kannst meine Hand ruhig wieder loslassen. Sonst musst Du mich noch heiraten!"
Johannes, der mit seinen braunen Haaren, die ihm tief ins Gesicht fielen, stand nun auf und setzte sich neben den plötzlich wieder verstummten Ruhrgebietler.
"Na, so schweigend wirst Du hier in Berlin aber kaum etwas erleben können. Da musst Du schon etwas aus dir rausgehen!"
Weitere Minuten waren vergangen, in denen Roman seinen Blick starr auf die Weltzeituhr gerichtet hatte, als er seinen Kopf drehte und dem Berliner starr in die Augen blickte.
"Ich bin halt schüchtern.", kam es leise zwischen seinen Lippen hervor.
"Okay!", erwiederte er langezogen. "Was muss ich tun, damit du ein wenig auftaust?"
Johannes strich sich die Emo-Frisur aus dem Gesicht und gab Roman den Blick frei auf seine zwei rehbraunen Augen.
So nahm das Verhänginis im Mai also seinen Lauf. Roman wußte am nächsten Morgen nicht, was ihn dazu bewogen hatte, aber er ist mit einem wildfremden Mann durch ein paar Kneipen im Bezirk Prenzlauer Berg gezogen. Wann genau er wieder im Hotel war, weiß er nicht - nur das es schion wieder hell geworden war.
Das Dröhnen in seinem Hirn wurde zu einem mittleren Beben, als er seinen Kopf hob, um auf die Uhr zu sehen.
16 Uhr?!, in Gedanken verfluchte er sich. In gut 30 Minuten sollte er am Ostbnahnhof Sabine abholen. Die Arbeistkollegin würde in den kommenden Wochen beim Training der neuen Mitarbeiter unterstützen.
Texte: (c) Timm Ligges
Tag der Veröffentlichung: 22.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meiner Familie und den Freunden