Wolken verhindern den Blick auf die Berge. Vögel segeln im Tiefflug durch die Schluchten, über dichtbewaldete Ebenen und weite Seen, die wie dunkle Pfützen zwischen den grünen Wiesen gebtettet sind. Am Horizont deuten Blitze das kommende Unwetter an, das sich langsam in den Bergen zusammenbraut. Man könnte sagen es ist ein ganz gewöhnliches Unwetter, so eins eben, wie man es schon tausendmal gesehen hat, aber diesmal ist es anders. Denn im Schatten der Wolken reitet jemand mit dem Wind....
Tobi sieht aus dem Fenster und zählt die Sekunden die zwischen Donner und Blitz vergehen.
„Drei, vier, fünf.“
Kabumm. Es kracht gewaltig, so dass die Fenster erzittern. Obwohl Tobias ein tapferer Junge ist, schlägt ihm das Herz bei diesem Donner bis zum Hals.
„Fünf Kilometer“, flüstert er.
Sein Blick geht zur angelehnten Zimmertür. Vom Flur hört er die Stimme seiner Mutter, die gerade am Telefon munter drauflos brabbelt. Wahrscheinlich wieder mit Tante Margie. Beruhigt wendet er sich wieder dem bedrohlich aussehenden Himmel zu. Wie eine graue undurchdringliche Betonwand schwebt sie auf ihn zu.
Tobi ist für seine sechs Jahre recht groß geraten. Er ist auch der Größte in seiner Klasse. Und seine Mitschüler haben deswegen Respekt vor ihm, so hat das mal seine Lehrerin erklärt.
Reschpäkt. Seltsames Wort.
Bisher hat Tobias noch nicht herausgefunden was Reschpäkt bedeutet, die Antworten der Großen waren zumeist sehr verwirrend. Aber er wird es schon noch rauskriegen.
Der Blitz erhellt das Jungenzimmer und projiziert gespenstische Schattenspiele an die Wand.
Die Schatten der Flugzeugmodelle über seinem Kopf, die Lego-Piraten und die Playmobil-Figuren auf den Regalen werfen lange Umrisse an die Wand.
Tobi starrt die fein säuberlich aufgebauten Spielzeuge an. Als er sein Blick wieder nach draußen richtet, ist es stockdunkel. Nur die Straßenlaternen, die im Wind schaukeln erhellen die Straßen. Die Wolkendecke steht über der Stadt. Wenige Augenblicke später bricht ein Schneesturm herein. Ein Sausen und Brausen. Schneeflocken wirbeln vor seinen Augen, so stark und dicht, dass man nicht bis zum Nachbarhaus sehen kann.
Tobi presst die Hand gegen die Fensterscheibe. Sie ist kalt und glatt. Die ersten Schneeflocken sammeln sich bereits auf dem Fensterbrett und bilden kleine Berge.
Aus dem vierten Stock behaglich und geschützt, sieht die Welt unter ihm sehr friedlich aus. Die Autos schleichen in einer Schlange durch die Straße.
Dann wieder ein Blitz. Für einige Sekunden erfüllt der grelle Lichtschein das Zimmer, bis in die kleinste Ecke.
Tobi traut seinen Augen nicht, als er in den Himmel schaut. Das kann doch nicht wahr sein.
Er reibt sich die Augen. Doch er sieht es ganz genau.
„Mama! Mama!“, schreit er. „Komm schnell!“
„Was ist denn? Ich glaube Tobias will was, warte mal einen Moment.“ Die Mutter betritt mit dem Telefon in der Hand das Kinderzimmer. „ Was ist denn, Schatz?“
„Da in den Wolken fliegt etwas“, sagt Tobias aufgeregt und zeigt in den Himmel, wo nur noch dunkle Wolken zu sehen sind.
„Was soll da denn sein?“ Mutter geht ans Fenster und drückt ihre Nase platt. „Ich sehe nichts, mein Lieber.“
„Aber da war ein Schatten“, sagt Tobi.
„Im Himmel?“
„Ja, zwischen den Wolken.“
„Und nun?“ Die Mutter stemmt die Hände in die Hüften. „Kleinen Moment noch Margot“, sagt sie ins Telefon. „Wir müssen hier was klären.“
„Da ist jemand auf einem Besen gesessen.“
„Auf einem Besen?“ Mutter überlegt. „Wann hast du mit Dani „Harry Potter“ gesehen?“
„Gestern!?“ Tobi kaut beim Überlegen auf der Zunge, so kann er sich besser konzentrieren. Was soll diese Frage? „Aber….“, versucht er schnell hinzuzufügen.
„Nichts aber, ich denke dein Cousin wird sich die Filme in Zukunft ohne dich ansehen müssen.“
„Aber Mama, das hat doch nichts mit den Filmen zu tun.“
„Nein? Mit was dann? Es gibt keine Hexen oder Menschen, die auf Besen durch die Luft reiten. So etwas gibt es nur im Märchen oder im Film.“
„Ich hab’s aber gesehen, mit eigenen Augen.“, sagt Tobi.
„Falls dieses etwas wieder erscheinen sollte, kannst du mich gerne rufen.“ Mit diesen Worten verlässt sie das Zimmer und plappert drauflos.
„Die Großen denken immer nur, dass Kinder lügen. Aber ich lüge nicht, ich weiß doch was ich ganz deutlich gesehen habe.“
Tobi beobachtet den Kopf auf die Hände gestützt den stürmischen Himmel.
Batsch.
Hellwach und die Augen weit aufgerissen lugt er hinaus in die stürmische Nacht.
Da ist doch gerade etwas gegen die Scheibe geknallt.
Vielleicht ein Vogel?
Der Junge öffnet das Fenster um nachzusehen, ob das Tier auf dem Fenstersims liegt.
Und tatsächlich da liegt ein schwarzes Fedserbündel.
Faustgroß.
Ohne lange nachzudenken umschließen die Kinderhände das Knäuel und tragen es behutsam ins Warme.
Tobi legt es auf den Schreibtisch und untersucht es ganz genau mit einem Blesistift.
Das Ding ist zusammengerollt und ähnelt sehr einem Vogelnest. Tobi streicht sanft über die Federn. Doch es sind keine normalen Federn. Er berührt sie mit den Fingern, sie fühlen sich weich an, wie Stoff.
Neugierig zupft der Junge an dem Bündel, zieht es der Länge nach auf. Zunächst hakt und klemmt es, bis es ausgestreckt vor ihm liegt. Aus dem Bündel ist ein winzig kleines Geschöpf geworden, das seinen Spielfiguren im Regal sehr ähnelt.
Neugierig begutachtet der Junge seinen Fund von allen Seiten. So ein kleines Wesen hat Tobi noch nie zuvor zu Gesicht bekommen.
Es trägt diesem schwarzen Umhang um die Schultern, und die Füße stecken in klobigen Schuhen mit hohen Absätzen.
„Du siehst aus wie ein Playmobil“, wispert Tobi, während er den kleinen Körper von den nassen und tropfenden Kleidern befreit.
Während er das Wesen in der Hand hält, windet es sich unter seinen Berührungen. Stöhnend dreht es sich von einer Seite auf die Andere.
„Ah“, stöhnt das Geschöpf. Dann wieder: „Oh.“ Und wieder „AH!“ So geht es eine Zeit lang.
Tobi haucht unentwegt seinen warmen Atem auf den kleinen Körper, um ihn zu trocknen und wieder aufzuwärmen.
„Wo bin ich?“, flüstert das Männchen und öffnet die braunen Äuglein.
Tobi erschrickt, lässt das Wesen auf den Tisch plumpsen und geht ein paar Schritte zurück. Das Ding redet.
„Aua, was war das denn?“ Das Männchen reibt sich den Kopf und sein Hinterteil. „Ist das ein Art einen Besucher zu begrüßen?“
„Äh,.., nein“, antwortet Tobi schuldbewusst. „Es tut.. mir… leid.“
„Schon gut ich werde noch einmal darüber hinwegsehen. Wo bin ich?“, wiederholt es die Frage.
„In meinem Zimmer“, sagt Tobi.
„In deinem Zimmer, soso.“, faucht der kleine Kerl unzufrieden und schaut sich um. „Und wer bist du?“ Mit einer Hand greift er sich an die Stirn und schiebt den spitzen Hut nach hinten.
„Ich bin Tobi“, erwidert der Junge.
„Tobi, soso. Und weiter?“ Das Männchen sitzt nun mit verschränkten Armen vor Tobi und mustert ihn mit bohrendem Blick.
„Tobias Müller.“
„Nun gut Tobias, des Müllers Sohn. Ich bin Feudalus zu Hintzelbach. Ich bin dir zu Dank verpflichtet, dass du mich in deiner Mühle aufgenommen hast und mich nicht im Schnee erfrieren ließest.“ Feudalus machte einen Knicks und schwenkt den spitzen Hut. „Willst du mir nun deine Mühle zeigen?“
„Warum sprichst du so komisch? Und welche Mühle meinst du?“, fragt Tobi irritiert.
„Ich spreche nicht komisch. Da wo ich herkomme sprechen alle so“, erwidert das Männchen erbost.
„Und wo kommst du her?“
„Von weit her“, lautet die kurze Antwort. „Willst du mir nun Deine Mühle zeigen?“
„Ich habe Dir doch gesagt , ich habe keine Mühle.“
„Wir sind doch in deinem Heim, oder?“
„Ja.“
„Also, wenn Du des Müllers Sohn bist, wo wohnst Du denn, wenn nicht in einer Mühle?“ Das seltsame Wesen tippelt auf dem Tisch umher. „Müller kommt von Mühle. Mühle. Müller. Verstehst du?“ Fedalus erklärt wild gestikulierend.
Tobi versteht nur Bahnhof. Was erzählt dieser kleine Kerl die ganze Zeit von einer Mühle. Welche Mühle? Er wohnt in einer Wohnung.
„Ich glaube, da hole ich besser meine Mama.“ Aufgeregt und ein wenig überfordert rennt er zur Tür. Doch bevor er sie öffnen kann, ruft der kleine Mann:„Warte einen Moment. Bevor du deine Mutter holst. Du solltest wissen, dass sie mich nicht sehen kann.“
„Aber ich sehe dich doch“, sagt Tobi. „Warum soll sie dich nicht sehen können?“
„Für Erwachsenenaugen bleibe ich unsichtbar. Ich weiß nicht wieso, aber so ist es nun mal.“
„Aber…“
„Hör auf mit deinem ständigen „aber“. Das nervt.“ Feudalus schüttelt seinen Umhang aus, so dass kleine Wassertropfen auf den Schreibtisch spritzen.
Tobi zögert und schlendert mit hängendem Kopf zum Schreibtisch zurück.
„Bist Du jetzt traurig?“, fragt Feudalus.
„Niemand wird mir glauben, wenn ich von Dir erzähle“, schluchzt Tobi. „Sie werden denken ich lüge.“
„Na und? Dann erzähl halt nichts. Die Großen glauben dir so wie so nicht, oder haben sie dir geglaubt als du mich am Himmel oben gesehen hast?“
„Das warst du!“ Tobi klatscht in die Hände. „Ich wusste es.“
„Ja, das war ich“, gibt Feudalus zu.
„Und du hast mich auch gesehen?“, fragt Tobi ganz aufgelöst. „Du bist auf einem Besen geritten, stimmt’s?“
Feudalus nickt.
„Genau wie Harry Potter.“
„Harry wer? Was ist das? Nie gehört.“
„Ach nichts. Nicht wichtig.“ Tobi winkt ab. „Wo hast Du denn deinen Besen?“ Der Junge zupft an Feudalus’ Umhang und dreht den kleinen Kerl gegen seinen Willen.
„Hör sofort auf damit“, schreit der erbost. „Was machst Du da?“
„Ich will den Besen sehen. Ich habe so etwas noch nie gesehen.“
Feudalus streicht den Umhang glatt und blickt sich nach allen Seiten suchend um.
„Gute Frage, mein Junge. Ich weiß es nicht. Hast du ihn wirklich nicht gesehen?“
„Nee.“ Tobi schüttelt den Kopf und kratzt den blonden Haarschopf. „Vielleicht draußen auf dem Fenstersims. Ich schau mal nach.“
Schwupps hat er das Fenster aufgerissen, eine starke Windböe fegt große Schneeflocken ins Zimmer und lässt die Bilder und die Poster flattern.
Auf dem Fensterbrett türmt sich der Schnee auf, wie feiner Puderzucker überdeckt es handbreit das gesamte Brett. Auf den ersten Blick ist weit und breit kein Flugbesen zu entdecken.
Tobi greift in den Schnee, durchwühlt ihn bis seine Finger vor Kälte taub werden.
Nichts.
„Da is’ nichts“, wendet sich der Junge an den Winziling und pustet sich in die klammen Hände.
„Du hast nichts gefunden?“ Feudalus blickt ihn ungläubig an. „Das kann doch nicht wahr sein. Ich bin doch hier gelandet. Er muss doch irgendwo sein.“ Das Männchen stolziert empört, die Augen nach oben rollend auf und ab.
„Gelandet? Du meinst das war eine Landung? Dann bist du aber kein Besenreiter“, meint Tobi. „Wenn du so eine Bruchlandung hinlegst bist du sicher ein Anfänger.“
„Was soll das heißen? Willst du etwa sagen ich kann mit einem Flugbesen nicht umgehen? Du weißt gar nicht wovon du redest.“ Feudalus’ weißes Gesicht färbt sich rot und seine Nasenflügel blähen sich auf wie bei einem Stier.
„Ich habe Harry Potter gesehen und der fliegt ziemlich schnell durch die Luft. Und der macht sogar Umdrehungen und so.“ Tobi zeichnet Loopings in die Luft.
„Diesen Harry Botter möchte ich einmal persönlich kennenlernen.“ Feudalus stampft verärgert auf den Tisch. „Sag mir Bescheid wenn er Dich besuchen kommt. Dann kann ich ihn mir genauer ansehen.“
„Das geht nicht.“
„Und warum nicht?“
„Den gibt es eigentlich gar nicht.“
„Wie? Den gibt es nicht.“ Zuerst ist Feudalus irritiert dann lacht er los. „Du vergleichst mich mit einem Kerl den es nicht gibt.“
„Doch den gibt es schon, aber nur im Fernseher.“
„Im was? Fernsteher? Was ist das denn?“
„Ein Gerät in dem man Filme sehen kann.“
„Was sind Filme?“ Feudalus wischt sich die Lachtränen aus dem Gesicht.
„Filme eben.“
„Filme eben“, äfft ihn Feudalus nach. „Erklär mir was das ist.“
„Will ich nicht.“
„Und warum nicht?“
„So halt.“ Tobi hat keine Ahnung, wie er dem Männchen erklären soll, was Filme sind.
„Wahrscheinlich kennst weißt du es selbst nicht.“ Feudalus verschränkt die Arme und dreht Tobi den Rücken zu.
„Doch! Da spielen Menschen Geschichten nach.“
„Ach du meinst Theater? Das kenne ich.“
„Ja.“ Tobi ist erleichtert, dass sie geklärt.
„Und wegen dem Besen“, wechselt Feudalus das Thema. „Du hast nicht richtig gesucht. Er muss da draußen sein. Schau noch einmal nach“, fordert Feudalus den Jungen mit einer Handbewegung auf. „Schau richtig nach.“
Tobi trotzt erneut dem eisigen Wind der ihm große schwere Schneeflocken ins Gesicht peitscht. Tapfer und unermüdlich tastet er den Fenstersims nach dem Besen ab. Seine Hände greifen in den Schnee, zerreiben ihn, bis nichts mehr in den Händen ist, So arbeitet er sich Stück um Stück den Sims entlang.
Plötzlich hält er etwas kleines Schwarzes zwischen seinen Fingern. Vorsichtig zwischen Zeige- und Mittelfinger haltend, mustert er das Holzstück, das nicht größer als sein Mittelfinger und halb so dick ist.
„Hier ist er“, jubelt Tobi und streckt den Besen wie eine Trophäe in die Höhe.
Ehe er sich versieht, reißt ihm eine Sturmböe das Hölzchen zwischen den Fingern heraus und er muss tatenlos zusehen, wie es vier Stockwerke nach unten auf die Straße trudelt.
Feudalus steht fassungslos neben ihm und schaut ebenfalls seinem Besen hinterher.
„Dummkopf“, schimpft er los. „Warum hast du ihn einfach losgelassen?“
„Habe ich doch gar nicht“, erwidert Tobi. „Das war der Wind.“
„Du hättest ihn besser halten sollen.“
„Aber der Wind.“
„Du bist unfähig“, zetert Feudalus los.
„Ich wollte Dir doch bloß helfen.“ Tobi spürt den Kloß im Hals, wie er immer größer wird. Wut steigt auf. Die erste Wutträne kullert aus dem Auge. Tobi dreht sich um und wischt sie mit dem Ärmel trocken.
„Schon gut. Tut mir leid, ich hab’s nicht so gemeint.“ Feudalus hat ein schlechtes Gewissen, als er das sieht. „Es ist alleine meine Schuld. Ich habe den Besen verloren. Trotzdem müssen wir uns etwas einfallen lassen, wie wir an den Besen rankommen. Ohne ihn bin ich verloren.“
Das Männchen reibt das Kinn und gibt seltsame Laute wie „Humm, Mhm“ und „Oh“ von sich.
„Was machst du da?“, fragt Tobi, nach dem er Feudalus eine Weile beobachtet hat.
„Ich denke nach. Das was du vielleicht auch tun solltest. Zwei Gehirne denken besser.“
Tobi macht das Männchen nach, läuft auf und ab, reibt sein Kinn und stößt seltsame Laute wie „Humm“, „Mhm“ und „Oh“ aus.
Urplötzlich hält Feudalus inne. „Ich hab’s.“
„Ja?“, fragt Tobi neugierig.
„Na klar, ich bin ein Meister im Nachdenken“, behauptet Feudalus mit geschwellter Brust.
„Und?“ Tobi ist gespannt und kann kaum erwarten, was der kleine Mann ausgeknobelt hat.
„Wir gehen runter und holen den Besen“, sagt Feudalus.
„Gute Idee“, stimmt Tobi zu. Auf die Idee hätte er auch selber kommen können. „Doch wie stellen wir das an? Mama erlaubt es mir nie bei diesem Wetter nach unten zu gehen.“
„Warum nicht?“
„Weil ich krank bin.“
„So, so. Krank also.“ Feudalus grübelt. „Was hast du denn?“
„Schnupfen und Fieber.“ Tobi hält inne. „Ifuenza, oder so? Hat der Arzt gesagt.“
„Und was ist das?“
„Firen“, die Antwort kommt zögernd, aber dann bestätigt Tobi es noch einmal kopfnickend. „Ja, Firen.“
„Was sind diese Firen? Sind die gefährlich?“ Feudalus schaut sich nach allen Seiten um.
„Ja sie sind ansteckend. Es sind ganz kleine Tiere, hat der Arzt erzählt.“
„Wo sind die?“ , will Feudalus ängstlich wissen.
„In mir drin.“ Tobi schlägt sich auf die Brust. „Hier drin.“ Plötzlich hustet er los und der Winzling fällt zu Boden.
„Meine Güte, was war das denn?“ Der Winzling schiebt den Hut wieder auf den Kopf und zieht den Umhang zu.“
„Entschuldigung. Ich musste husten.“
„Schon gut, so lange deine Firen bei dir geblieben sind.“ Feudalus inspiziert den Tisch. Nichts zu sehen. „Keine Tiere gut. Also müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen. Hast du vielleicht ein Seil an dem du mich hinunterlassen kannst?“
„Ein Seil? Lass mal überlegen.“ Tobi grübelt, zieht die Spieltonne unterm Bett hervor und wühlt in den Spielsachen. Matchbox-Autos, Playmobilfiguren und bunte Legosteinen. Tiefer und tiefer kämpft er sich in die Tonne vor, bis er die Schnur erwischt.
„Das müsste reichen“, sagt er und zieht die Rolle Paketband hervor. „Die nehme ich um meine Autos abzuschleppen.“
„Aha, lass mal sehen“, meint Feudalus und mustert die Rolle, und das Garn. ER zieht und zurrt. „Gut, das müsste reichen. Dann mal los.“
Sie binden die Schnur um Feudalus’ Taille.
Tobi macht einen Doppelknoten, den er von seinem Onkel gelernt hat.
„Nicht so fest“, jammert Feudalus, als Tobi den Knoten festzieht. „Ich krieg kaum noch Luft.“
Tobi lockert das Garn. „Besser?“
„Besser! Lass mich runter. Aber sei vorsichtig.“
„Klar doch.“ Tobi stellt Feudalus aufs Fensterbrett. Er versinkt bis zur Hüfte im Schnee.
Vorsichtig watet der kleine Kerl zur Kante schaut hinunter und gibt Tobi das Zeichen. Schwupps hüpft er runter. Er fällt, Die Schnur rollt sich ab. Stück für Stück gleitet sie durch Tobis Finger.
Der Schneesturm hat ein wenig nachgelassen. Ab und an braust ein pfeifender Wind um die Ecke und schaukelt das winzige Bündel am Seil hin und her.
Der Weg nach unten zur Straße scheint unendlich. Immerhin baumelt Feudalus schon über dem Nachbarfenster und ruht sich kurz auf dem Fenstersims aus.
Tobi schlottert und klappert mit den Zähnen. Das nasse Haar klebt an seiner heißen Stirn. Er sich mit dem Oberkörper weit aus dem Fenster gelehnt, um mitverfolgen zu können wo Feudalus baumelt. Er hat das unterste Fenster von Hampels erreicht. Noch wenige Meter bis zur Strasse.
Plötzlich geht die Zimmertür auf.
Tobi erschrickt.
„Was machst du denn da?“, gellt die Zimmer durchs Zimmer.
Die Mutter stürzt hinein, zieht den Jungen vom offenen Fenster weg und schließt es knallend.
Tobi hat die Schnur vor lauter Schreck los gelassen, sie hat sich ein gutes Stück abgewickelt, aber glücklicherweise hat sie sich im Fensterrahmen verhakt, als das Fenster geschlossen wurde.
„Mein Gott, Tobi. Was machst Du denn? Warum hängst du bei dem Sturm halbnackt aus dem Fenster?“, fragt Mutter besorgt.
Tobi sucht angestrengt nach der richtigen Antwort. Auf die Schnelle fällt ihm nichts Passendes ein. Der Schreck sitzt noch tief.
„Ich hab…ähm…mit den Playmobil gespielt.“
„Aha, und wo ist das Männchen?“, will Mutter wissen.
„Welches Männchen?“ Tobi fühlt sich ertappt, ein Schauer rennt über seinen ganzen Körper. Nun jagt ein Kälteschauer über seinen Rücken. Er zittert.
„Na das Playmobilmännchen.“ Seine Mutter lächelt freundlich.
„Ach so, das. Das hängt draußen“, sagt er erleichtert.
„Du zitterst ja. Komm leg dich ins Bett.“ Mutter führt ihn zum Hochbett und hilft ihm hoch.
Widerwillig gibt er nach. „Aber das Männchen“, sagt er.
„Wo?“
„Draußen vor dem Fenster.“
„Stimmt ja, darum die Schnur“ Mutter zupft an der Schnur. „Dann ziehen wir ihn ins Warme, bevor er draußen erfriert.“
„NEIN“, ruft Tobi erschrocken, was wird Mama denken, wenn sie Feudalus sieht?
Die Mutter überhört den Schrei, öffnet das und holt Stück für Stück die Schnur ein.
Tobi wartet gespannt auf den Moment, wo seine Mutter den winzigen Mann zu Gesicht bekommt. Was wird sie wohl sagen?
„Ah was ist denn das?“, sagt seine Mutter.
Tobi erschrickt. „Was ist denn?“
„Ach nichts, ich dachte nur…“ Sie winkt ab und legt die Schnur auf den Schreibtisch, an deren Ende ein Playmobilmännchen baumelt.
Es ist der Zauberer mit dem Umhang und dem spitzen Hut auf dem Kopf, in der Hand einen Besen.
Wo ist den Feudalus Hintzelbach?
Tobi versteht die Welt nicht mehr.
„Wie siehst du denn aus?“ Mutter berührt seine Stirn. „Du glühst ja richtig. Du hast Fieber. Ich komme gleich, bleib im Bett , junger Mann.“
Tobi starrt unentwegt die Zaubererfigur auf dem Tisch an. Für einen Moment meint Tobi, die Andeutung einer Bewegung gesehen zu haben.
„Feudalus?“, flüstert Tobi.
Die Worte kommen dünn aus seinem Mund.
„Was?“ Mutter betritt das Zimmer. In der Hand hält sie eine dampfende Tasse Tee. „Trink das, dann schläfst du besser.“
„Mama, ich muss dir etwas erzählen“, sagt Tobi.
„Trink zuerst“, erwidert sie.
Sie flösst ihm das heiße Getränk ein und der Junge fühlt sich gleich viel besser, als die wohltuende Wärme seinen Körper entspannt. Er ist müde und schläft schnell in den Armen seiner Mutter ein.
„So ist’s gut, kleiner Tobi. Schlaf dich gesund“ Seine Mutter streichelt seinen Kopf. „Träum schön.“
Am nächsten Morgen erwacht Tobi, reibt sich den Schlaf aus den Augen und gähnt erst einmal ganz laut. Die schwere Last auf der Lunge ist verschwunden. Er richtet sich auf und sein erster Blick gilt dem Schreibtisch. Wo ist denn Feudalus?
Und der Zauberer? Gestern Abend stand er doch noch auf dem Schreibtisch. Der Platz war leer. Kein Winzling , keine Playmobilfigur.
Hat ihn Mami weggeräumt?
„Mama“, ruft Tobi und klettert vom Bett. „Mami.“
„Was denn?“ Schritte nähern sich. Mutter steckt den Kopf zur Tür herein. „Dir scheint es ja bereits besser zu gehen. So wie du herumschreist.“
„Ja. Mama, hast du den Zauberer weggeräumt?“
„Welchen Zauberer?“
„Na den du gestern auf den Tisch gestellt hast.“
„Ach den meinst du.“ Sie überlegt eine Weile. „Ich hab’ ihn nicht weggeräumt. Wieso?“
„Sicher nicht?“
„Nein, daran könnte ich mich erinnern. Wieso?“
„Aber wo ist er denn?“, fragt Tobi ungläubig.
„Was ist den so besonderes an dem Männchen?“, fragt Mutter.
„Ein Playmobilmännchen kann doch nicht so ohne weiteres verschwinden.“
Tobi durchsucht seine Spielzeugkiste, krabbelt unter den Tisch, unter das Bett, hinter den Vorhang und schaut ins Regal zwischen den anderen Figuren. Nirgendwo eine Spur von ihm.
„Mama, er ist weg.“ Tobi ist nervös.
Wo ist er?
„Mama, er ist weg“, schluchzt er.
„Er wird schon wieder auftauchen“, beruhigt ihn die Mutter. „Und wenn nicht, dann kauf ich dir eben einen Neuen.“
„Aber das geht nicht.“
„Wieso nicht?“
„Das war nicht nur irgendein Playmobil. Es ist Feudalus von Hintzelbach.“
„Aha, das ist ja interessant. Feudalus zu Hintzelbach. Lebende Spielzeugfiguren. Warum nicht? Komm mal her.“ Sie zieht in zu sich, berührt seine Stirn. „Ich glaube dein Fieber ist noch nicht ganz verschwunden. Da brauchen wir wohl noch eine andere Medizin.“
Ihre Finger verwandelt sie in Klauen und beginnt Tobi am ganzen Körper zu kitzeln, bis dieser in wildes Lachen ausbricht und nicht mehr aufhören kann. Er vergisst Feudalus und seine Krankheit. Dann folgt er seiner Mutter, die ihn mit der Aussicht auf etwas Schönes in die Küche lockt.
Als er in der Türe steht, und sich zum Fenster dreht, huscht ein Schatten draußen vorüber.
Für einen Moment sieht Tobi, Feudalus von Hintzelbach winkend auf dem Besen vorbeireiten.
Der Junge lächelt zufrieden und läuft in die Küche, wo Mama ihn mit einer Tasse heißer Schokolade erwartet.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2012
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