DER BESONDERE TAG
von
Timetraveller
Leise rieselt Schnee und begräbt die Landschaft unter einer weißen Pulverschicht. Vereinzelt scheinen Lichter hinter Fenstern und werfen ihre hellen Strahlen über die reine Schneedecke, die der besinnlichen Stimmung eine besondere Ruhe schenkt.
In dieser besonderen Nacht, an diesem Tag, liegen die Strassen still im Kerzenschein vor den Häusern, beseelt von dieser mystischen Ruhe, die es eben nur an diesem Abend gibt.
Mit schweren Schritten kämpft sich der dunkle Schatten durch den kniehohen Pulverschnee. Keuchend und schwer atmend, kleine Dampfwolken vor sich hertreibend stapft die gestalt durch die klirrende Kälte, die ihren eisernen Griff fest um die Stadt gelegt hat.
Der Weg führt vorbei an bunt geschmückten Häusern, aus den warmen Stuben dringt sanfte Musik, in den Fenstern baumeln Sterne in verschiedenen Formen und Größen. Ein Blick durch die Fenster genügt um die Glücklichen, im Kreise der Familie, von den Einsamen und Traurigen zu unterscheiden.
Das Fest der Liebe ist gekommen. Friede und Liebe auf Erden.
Diese geheuchelte Freude zum Jahresende, ringt der Gestalt nur ein hämisches Grinsen ab.
Zu viel Leid hat sie gesehen und ertragen müssen.
Nun wandelt sie von Haus zu Haus, späht durch die erleuchteten Fenster und sucht die neuen Opfer.
Manche Jahre sucht er lange und manchmal vergebens, aber in diesem Jahr hat er beim ersten Haus Glück.
"Martin, komm endlich“, ruft die Mutter und legt die Schürze ab, die bestäubt vom Mehl und fleckig vom Teig ist. "Das Essen wird kalt. Dein Vater kommt bald nach Hause und er ist hungrig. Du weißt ja wie er ist."
Martin sitzt in seinem Zimmer und schmökert im Cowboy und Indianerbuch, das ihn seine Mutter zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Er ist in die Geschichte eingetaucht, hört die Aufforderung seiner Mutter nicht.
Erst nach dem dritten Rufen, dringt ihre Stimme in seine Welt des Wilden Westens durch. Genervt legt er das Buch zur Seite und flitzt die Treppe hinunter.
In der Essstube duftet es bereits nach dem Weihnachtsbraten. Auf dem Herd kochen Kartoffeln und Rotkraut. Seine Mutter, eine zierliche Person, trifft die letzten Vorbereitungen.
Auf einem silbernen Tablett, hat sie das gute Service gestapelt, das nur einmal im Jahr herausgeholt wird.
Auf dem Tisch steht ein Kerzenhalter mit vier weißen Tafelkerzen.
„Darf ich die Kerzen anzünden?", fragt Martin.
„Nein, du weißt ja wie dein Vater reagiert, wenn die Kerzen ohne ihn angezündet werden.“, erwidert die Mutter, während sie die Servietten auf dem Teller arrangiert, mustert und drapiert bis sie perfekt aussehen.
„Schön, oder?“ fragt sie und schenkt ihrem Sohn ein glückliches Lächeln.
„Ja." Der Junge hat seinen Kopf auf den Arm gestützt und beobachtet jeden ihrer Handgriffe.
Plötzlich wird die Tür aufgerissen, Wind fegt durch die Stube und ein stämmiger Mann taumelt, die Kälte mitbringend, in den Flur. Er hält sich am Türrahmen, als er die nassen matschigen Schuhe auszieht und durch die Gegend schleudert. Dann hängt er torkelnd seinen Mantel an die Garderobe und schafft es schwankend ins Esszimmer. Kleine rot unterlaufenen Augen betrachten die gedeckte Festtafel.
„Hallöchen", lallt er. „Wie geht’s mei’er Traumfrau und mei’m Schohnemahn?"
Martin sieht zu seiner Mutter, die erstarrt in der Küche steht, die Gläser in ihrer Hand zittern und die Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben. Diesen Anblick hat Martin schon oft gesehen und er weiß was darauf folgt. Er senkt den Kopf und betet still und heimlich. Hoffentlich wird es heute nicht so schlimm werden. Denn heute ist ja ein besonderer Tag: Weihnachten, der Tag der Liebe.
„George, du hast mir doch ver…“ murmelt die Mutter.
„Wasch hab’ isch? Isch hab dir jar nischtsch verschproch’n", raunt der Vater. „Du , was? Esch waren nur ein paar Gläschchen, mit Den Kumpels. Willscht du misch etwa belehren? Heute am Tag des Herrn? Und vor dem Jungen?“
Vater plumpst in den Sessel, rülpst. Die Bierfahne steht in der Luft. „Paß auf wasch du schagscht! Hol mir lieber ein Bier.“
Mutter geht zum Kühlschrank und stellt ihm ein Bier auf den Tisch.
„Hier“, meint sie barsch.
„Danke, mein Engel“, säuselt er gekonnt und gibt ihr einen Klaps auf den Hintern.
„Laß das“, warnt sie ihn mit dem Zeigefinger drohend.
„Sonst was?“´, fragt er provokant.
Der Junge beobachtet das Schauspiel und zuckt bei jedem lauten Wort zusammen. Er kennt diese Streitereien schon und weiß, wie sie meist enden. Wenn sein Vater betrunken nach Hause kommt, dann findet er immer einen Grund an seiner Frau rumzunörgeln und sie zu beschimpfen.
Vater erhebt sich schwerfällig aus dem Sessel, torkelt zum Tisch und muss sich an der Kante festhalten, um nicht zu stürzen. Um ein Haar hätte er Tischdecke und Geschirr zu Boden gerissen, aber er fängt sich im letzten Moment. So dass nur der zitternde Kerzenleuchter vom Missgeschick zeugt.
„Wasch gibt esch denn zu Essen“, röhrt er. Speichelfäden fliegen und landen auf dem Geschirr.
„Gänsebraten mit Kartoffeln und Rotkraut", antwortet Mutter mit bebender Stimme, bemüht ihre Tränen in Zaum zu halten.
„Dann mal her damit. Isch hab Hunger. Und du mein Schohn hat’s dir die Schprache verschlagen oder warum schagscht du nischtsch."
Martin schweigt lässt den Kopf gesenkt, traut sich nicht aufzuschauen. Er hofft immer, dass sein Vater ihn übersieht, was natürlich nie geschieht.
„Verdammt, isch rede mit dir, gib´ mir eine Antwort. Schonscht schetzt’s ein paar hinter die Ohren", schnauzt der Vater.
„Hallo ..Pa.", wispert Martin.
„Wasch ischt? Isch kann disch nischt verschtehen."
„Lass ihn doch, George. Du weißt, er redet nie viel", sagt die Mutter und schöpft die Teller ordentlich mit Braten, Kartoffeln, Rotkraut und Sauce.
„Du meinscht also… du brauchscht… ni …scht mit… mir… reden?" schmatzt er und schiebt sich ohne Unterbrechung eine Gabel nach der anderen in den Mund. Die Sauce rinnt vom Mundwinkel ans Kinn runter. Mit dem Hemdsärmel wischt er die braune Bratensauce weg. „Nun gut da heute… Weih... ach..n isch… drück’ ich noch’n Auge zu.“
Er rülpst wieder und haucht die herbe und nach fett stinkende Alkoholfahne in Martins Gesicht. Der Junge dreht angewidert den Kopf zur Seite, sucht Schutz bei seiner Mutter und findet keinen. Stattdessen steht in ihren Augen große Hilflosigkeit. Sie sagt immer wieder, dass sie liebend gern etwas ändern würde, wenn sie nur wüsste wie. Martin leidet mit ihr, liebt sie, würde ihr gerne helfen, aber weiß nicht wie. Ist genauso hilflos.
Die Ohrfeige reißt ihn blitzartig aus den Gedanken.
"Schau nischt blöd in der Gegend rum schondern isch." faucht Vater.
Martins Kopf dröhnt, Sterne tanzen vor seinen Augen und das Ohr pocht vor Schmerzen. Die Tränen rollen übers Gesicht. Schnell wischt er sie weg, Vater soll nicht sehen, dass er schwach ist. Vater hasst Schwäche und bestrafft sie mit einer Tracht Prügel.
„Jungens heulen nicht", hört er den Vater schamtzend murmeln.
Das Abendessen zieht sich wie eine Ewigkeit hin. Sekunden werden zu Stunden. Endlich ist es geschafft. Vater beendet sein das weihnachtliche Festmahl.
"Dasch Essen war vorzüglich", lobt er seine Frau und gibt ihr einen feuchten Kuss.
„Danke. Schön das es dir geschmeckt hat.“, sagt Mutter unsicher. „Und dir hat es dir auch geschmeckt, Martin?“
„Ja. Mam."
"Schiehscht du es hat allen geschmeckt. Jetzt sind wir zufrieden und voll gefressen", lacht Vater und klopft sich auf den runden Bauch.
Martin hilft Mutter abzuräumen, weil er nicht allein mit Vater am Tisch sitzen will.
„He Baby, bring mir noch´n Bier aus dem Kühlschrank", befiehlt Vater.
Sie öffnete den Kühlschrank, nimmt eine neue Flasche Bier heraus und reicht sie Martin.
„Bring sie deinem Vater“, sagt sie und dreht sich zur Spüle. Bewegungslos starrt sie aus dem Fenster in den schneebedeckten Garten.
Der Junge stellt das Bier auf den Tisch.
„Guter Junge“, sagt Vater, der mittlerweile im Unterhemd und mit geöffneter Hose im Sessel hängt. Seine glasigen Augen mustern Martin. „Aus dir wird noch mal was."
Er setzt die Flasche an und trinkt sie mit einem Zug halb leer. Martin will gehen, als Vater ihn am Arm packte und zu sich heranzieht.
„Du weißt was heute für ein Tag ist?" fragt der Vater. Der Junge nickt. Natürlich weiß er welcher Tag heute war.
„Guter Junge."
Martin geht in die Küche zurück. Mutter spült weinend das Geschirr. Als sie Martin bemerkt, wischt sie die Tränen trocken.
„Vater ist heute mal wieder unmöglich, nicht wahr?" schluchzt sie und versucht ihre Trauer hinter einem Lächeln zu verbergen.
„Wie so oft", antwortet Martin.
Mutter erschrickt, als sie den ernsten Ton in der Stimme ihres Sohnes hört. Auch der kalte Blick lässt sie frösteln. Martin sieht manchmal sehr erwachsen aus für sein Alter.
„Komm lass dich drücken.“ Sie drückt ihn fest an ihre Brust.
Er riecht den Schweiß, schmeckt die salzigen Tränen auf ihrer Wange. Trotzdem fühlt er sich geborgen als er ihrem Herzschlag lauscht.
„He ihr zwei. Wasch ischt los? Wollt ihr misch allein hier vergammeln lasschen? Wenn dasch so ischt, dann gehe ich wieder und verbringe den Abend dort", ruft Vater aus dem Nebenraum.
Martin hält Mutter fest, doch sie schüttelt ihn ab.
"Komm gehen wir. Dein Vater wird ungeduldig."
„Dann lass ihn doch."
„Komm schon wir wollen doch feiern. Wir sind doch eine Familie“, bittet sie ihn.
Mutter streichelt Martin über die Haare und zwinkert aufmunternd.
Gemeinsam sitzen sie auf der Couch. Im Fernseher hüpft ein Showmaster durch ein kleines Studio und stellt stumpfsinnige Fragen.
Vater schnarcht und schläft tief und fest. Martin kuschelt sich an Mutter, die in den Flimmerkasten starrt. Eine Stunde ist seit dem Abendessen vergangen. Tränen laufen über ihre Wangen.
Warum hat sie Vater geheiratet? Martin beobachtet Muatter und Vater und fasst einen Entschluss.
Martin liest im Indianerbuch. Er ist Häuptling Geronimo ein großer Führer der Apachen, der mit einer Horde wilder Krieger vor den weißen Eindringlingen flieht. Er rächt sich für die Freveltaten des Feindes.
Martin führt seine Männer durch das Tal des Todes und mit Kriegsbemalung und lautem Geschrei reitet er an der Spitze. Das Fort steht mitten in der Prärie. Aus allen Himmelsrichtungen greifen Martin und die Indianer an.
Schüsse peitschen. Pfeile surren durch die Luft. Das Fort brennt. Die Soldaten bekommen das Feuer nicht mehr unter Kontrolle. Die Indianer haben leichtes Spiel und stürmen die Festung.
Mit Tomahawk bewaffnet rennt Martin ins Fort und bringt die feindlichen Soldaten um. Das Beil saust nieder und zertrümmert die Schädel der Feinde.
Martin legt den Kopfschmuck an. Die Federn baumelten ins Gesicht. Er schleicht ins Badezimmer und legt neue Kriegsbemalung an. Leise schleicht er auf Zehenspitzen, wie ein Krieger in die Küche, öffnet lautlos den Besteckkasten und entscheidet sich für das lange Fleischmesser.
Dann pirscht er zum Schlafzimmer seiner Eltern und lauscht. Schmatzende Geräusche. Er lugt durch das Schlüsselloch und erkennt nur Schatten. Behutsam drückt er die Klinke nach unten.
„Schtell disch nicht so an, Mäuschen."
"Könntest du wohl aufhören mich Mäuschen zu nennen? Ich habe einen Namen George.“
"Oh Madame Kisch ischt sauer. Okay. Also, Irisch, schtell disch nischt so an und lass misch deine Titten schehen."
Vater fummelt am BH herum. Mutter wehrt ihn ab. Er ist hartnäckig und gewinnt. Nach einem kurzen heftigen Vorspiel dringt Vater hemmungslos in sie ein, verspritzt seinen Samen auf ihr, rollt erschöpft zur Seite und schläft sofort ein. Mutter weint tonlos dann verlässt sie das Zimmer.
Martin steht hinter dem Vorhang. Mutter sieht ihn nicht als sie in die Küche geht. Nun ist er allein mit dem schnarchenden Etwas, dass sich sein Vater schimpft.
Drei Schritte zum Bett. Die Strecke bis zum Battrand kommt Martin ewig vor.
Dann spürt er jeden Schlag, die Fausthiebe, die auf ihn niedergeprasselt sind. Mutters Demütigung wenn Vater über sie herfällt. Vater prügelt Martin grün und blau.
Martin entschließt, dem Wahnsinn ein Ende zu setzen.
Vater liegt mit geöffnetem Mund auf dem Rücken, Speichel fließt in dünnen Fäden zum Kinn.
Einen Moment lang zögert Martin bevor er das Messer in die Luft hebt und niedersausen lässt.
Es ist leichter, wie er gedacht hat. Jeder Stoß ist wie eine Erlösung für Martin. Eine Buße für die schlimmen Dinge, die Vater ihnen angetan hat.
Die Tür geht auf. Mutter kommt herein. Weit aufgerissene Augen starren ihn an.
„Es ist vorbei.", sagt Martin und legt den Kopfschmuck ab.
Blutrote Tropfen auf der reinen Schneedecke. Die Landschaft begraben unter einer rot gesprenkelten Decke. Die Gestalt kämpft sich mit schweren Schritten durch den tiefen Schnee, schlendert an bunt geschmückten Häusern vorbei. Fröhliches Lachen dringt ans Ohr. Ein zufriedenes Lachen huscht über das Antlitz. Der Sack auf seiner Schulter ist voll gestopft mit Geschenken für seinen Herrn. Die Seelen schreien und bitten verzweifelt um Vergebung.
ENDE
Texte: Michael Fritz Zeh
Bildmaterialien: Michael Fritz Zeh
Lektorat: Michael Fritz Zeh
Tag der Veröffentlichung: 21.12.2011
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