Lachend sah ich in die Sonne und schlenderte fröhlich über die Felder und Wiesen. Mit einer Hand berührte ich die Spitzen der Grashalme. Sie bewegten ihre langen Stiele und wiegten vor und zurück. Vogelgezwitscher. Eine Symphonie harmonisch, wie die Welt in der ich mich befand.
Die Farben kräftig, leuchtend und hell. Ja, hell war es hier. Scharfe Konturen überall wo ich hinsah. Intensiver hatte ich die Farben in der Natur noch nie wahrgenommen. Wenn ich den Blick auf ein Objekt fixierte, offenbarte es mir seine Seele. Egal ob Stein, Metall oder Holz. Ich konnte überall Leben sehen. Es pulsierte. Alles veränderte sich und blieb doch gleich.
Unter meinen Füßen vibrierte der Boden. Ich ging wie auf Watte und drohte einzusinken. Jeder Schritt hinterließ Spuren. Ich überquerte Welten und Äonen in einer Sekunde. Oder waren es Minuten, gar Stunden?
Zeit verkam zu einem abstrakten Begriff. Ein Wort ohne jegliche sinnliche Wahrnehmung. Nicht jetzt, nicht in dieser Phase. Jetzt wo selbst ein einfacher Blick die weiße Wand vor mir zum Kunstwerk verwandelte. Diese wellenförmigen Bewegungen und verschiedenen Ebenen, die sich auf ihr abzeichneten. Sie schienen uneben und hüglig, wie eine Berglandschaft mit Schluchten und Tälern.
Dann krochen sie aus der Mauer. Sie starrten mich an, fletschten ihre Zähne, wollten mich beeindrucken und verjagen. Sie versuchten mich zu ängstigen. Doch all ihre Bemühungen blieben erfolglos. Ich blickte sie an und begegnete ihnen ohne Furcht. Sie beeindruckten mich nicht. Ich dachte unweigerlich an die vielen Horror-Filme, die ich in meinem kurzen Leben bereits verschlungen hatte. Da kamen mir diese dämlichen Fratzen, die aus der Friedhofsmauer entgegen schrieen , wie billiger Abklatsch aus Amityville, Poltergeist oder ähnlichen Schinken vor. Nein sie hielten mich nicht davon ab, den Friedhof zu betreten.
Totenlichter brannten auf den Gräbern und der Schleier der Dunkelheit hatte ein schwarzes Tuch über die Ruhestätten der Toten geworfen. Gespenstische Atmosphäre. Ich kniete vor einem Grab nieder. Ehrfürchtig. Neugierig. Im Erkenntnisrausch. Kerzenlicht flackerte. Ich las die Namen. Dann plötzlich war ich zurück in der Wirklichkeit.
Wann hatte ich Gerüche zuletzt so intensiv und in ihren unterschiedlichen Nuancen wahrgenommen? Es roch nach Chips. Fettig, salzig und würzig. Es war mein Körper. Der Schweiß stank und roch ungesund. Irgendwie chemisch. In Strömen lief das Wasser an meinem Körper runter. Das T-Shirt durchgeschwitzt, nass und stinkend.
Der Spiegel zeigte einen Menschen, den ich zum ersten mal sah. Große Augen mit schwarzen riesigen Pupillen. Sie starrten mich an. Eine lange Nacht lag hinter mir, oder vor mir? Pickel , Mitesser und ähnliches. Hautporen so groß wie Krater entstanden in meinem Gesicht. Ich schaute in meine schwarzen Pupillen und versank in die Unendlichkeit. Mein Antlitz verschob, verzog und verbog sich. Ich war derselbe, aber ich starrte in ein unbekanntes Gesicht. Ich tauchte ein in die Tiefe meines Selbst.
Musik erfüllte den Äther. Dumpfe Töne. Sie flossen durch mich hindurch. Der Bass drang in meinen Magen. Mein Darm arbeitete. Irgendwann wurde es unangenehm. Ich musste mich entleeren. Kacken. Pissen.
Tanzen. Bewegen. Lichter und Menschen verschwammen zu einer wabbernden Masse. Die Musik trug mich und ebneten den Weg in eine neue Dimension. Bewegungen verschmolzen und plötzlich war ich rhythmisch verbunden mit der Schwingung der Erde. Wir tanzten in ihrem Takt.
Musik drang in meinen Geist und trug mich an Orte ohne Zeit und Raum. Die Sinne geschärft. Der Intellekt bereit. Die Zusammenhänge lagen ausgebreitet vor mir; alles bekam seinen Platz und seinen Sinn. Es war die Berechtigung hier und heute anwesend zu sein, in meinem Leben. Weit entfernt von der Wirklichkeit und trotzdem realer als alles andere. Ich war verloren im Sein.
Eins-Sein war das Ziel. Nicht zweigeteilt sondern eine Einheit mit dem Universum, dem Leben und mit allem. Nur sein. Ein sehr spirituelles Erlebnis. Allumfassendes Bewusstsein. Farben, Töne und Gerüche. Alles gleich und trotzdem so weit von der Realität entfernt.
Das Jetzt ist und bleibt die einzige Wirklichkeit, die es zu leben lohnt.
Texte: Michael F. Zeh
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Zum Gedenken an Torsten B. (*1970-1993)