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Ich hatte seit Wochen intensiv an meinem Manuskript geschrieben, jeden Tag stundenlang auf der Tastatur meines PCs herumgehämmert und dabei die Zeit verges- sen. Oft wußte ich nicht, ob es früh morgens, oder spät abends war, und wenn ich mich zwischendurch eine Weile hinlegte, schlief ich unruhig, verarbeitete Fantasie und Wirklichkeit zu seltsamen Träumen und erwachte völlig ausgelaugt. Doch auch oft mit neuen fantastischen Ideen.
Es war eine Liebesgeschichte, an der ich schrieb. Die Love-Story von Michael und Angela, zwei jungen Groß- stadtmenschen, die ich nach meinen Vorstellungen geschaffen hatte, und denen ich ganz besonders schwie- rige Abenteuer zu bestehen gab. Ich nahm Anteil an ihrem Schicksal, fühlte und litt mit ihnen, - obwohl ich natürlich die einzige war, die die Macht besaß, ihre Probleme zu lösen und ihnen ein Happy End zu bescheren. Wenn ich nur wollte! Aber ob ich wollte, das wußte ich noch nicht so genau.

Eigentlich hatte ich es Herbert zu verdanken, daß ich den ganzen Tag ungestört am PC sitzen und schreiben konnte. Nach zwei gemeinsamen Jahren hatte ich herausgefunden, daß wir im Grunde nicht zusammenpaßten. Ich schlug ihm deshalb vor, daß wir uns wohl besser trennen sollten. Er war von dieser Idee allerdings nicht sehr begeistert. Er beschwor mich, meine Entscheidung noch einmal gründlich zu überdenken. Dabei redete er gestikulierend auf mich ein, streckte die Hand nach mir aus, - ich trat einen Schritt zurück....., - und übersah die Stufen hinter mir.
Neben einem Gipsbein hatte ich nun, - und das war wohl ein Wink des Schicksals, - sehr viel Zeit! Zeit, die ich dazu nutzte, endlich die Geschichte aufzuschreiben, die mir seit Wochen im Kopf herumspukte. Ich stöpselte das Telefon aus, stellte die Klingel ab, und der einzige Kontakt zur Außenwelt blieb meine Schwester Sabine, die ab und zu nach mir sah.
Sabine fand, daß ich die Schreiberei übertrieb. Sie schimpfte mit mir, weil ich nicht genügend aß, keine frische Luft bekam und viel zu wenig schlief. Zugegeben, sie hatte nicht ganz unrecht, denn ich war wie besessen, und die Wirklichkeit meines Romans war mir oft näher, als meine eigene. Es gab tatsächlich Augenblicke, in denen ich mich kaum mehr konzentrieren konnte. Mitunter flimmerte es mir vor den Augen, einmal nickte ich sogar am Computer ein, und als ich aufwachte, wußte ich im ersten Moment nicht einmal mehr, wo ich war.

Ich kann nicht genau sagen, ob die Geschichte, die ich dann erlebte, mit meiner schlechten Verfassung zusam- menhing. Ich weiß nur, daß es kein Traum war, wie mir Sabine einreden wollte, als ich ihr davon erzählte. Wer sieht schon im Traum jedes Blatt an einem Baum, weiße Wolkenfetzen über den Himmel ziehen oder einen aufgeplusterten Spatzen mitten auf dem Gehsteig in einer Regenpfütze picken! Wer findet sich im Traum in der Fußgängerzone einer Großstadt, inmitten geschäftiger Menschen wieder und hört ihr vielfältiges Stimmengewirr? Wer riecht im Traum den verführerischen Duft von Bratwürsten, der aus der Bude neben dem Haupteingang eines Kaufhauses herrüberweht und sieht das Eis eines kleinen Mädchens zerlaufen und auf die Pflastersteine tropfen, - genau zwischen eine zerdrückte Coladose und ein zerknülltes Kaugummipapier!
Es war kein Traum, da war ich mir ganz sicher. Ich war dort! Ich stand plötzlich zwischen all den Leuten und schaute mich verwundert um, und ein Junge mit kahlgeschorenem Kopf rempelte mich an und brummte ärgerlich: "Kannst du nicht aus dem Weg gehen, wenn du nicht weißt, was du willst?"
Noch immer verwirrt trat ich einen Schritt zurück. Krampfhaft suchte ich nach einer Erklärung für das, was mir passierte. Ich schaute mich um und wußte nicht, was ich tun sollte.
Und plötzlich sah ich ihn! Mit zügigen Schritten lief er auf der gegenüberliegenden Straßenseite an den Schaufen- stern vorüber, ohne einen Blick nach rechts oder links zu werfen. Er trug Jeans und Turnschuhe. Auf seinem dunkelblauen T-Shirt war der Namenszug von Bon Jovi zu lesen, - genauso, wie ich ihn in meiner Geschichte beschrieben hatte. Ich überlegte nicht lange, dazu war keine Zeit. Etwas in mir handelte einfach, ganz ohne mein Zutun.
"Michael!" rief ich und bahnte mir einen Weg durch die Passanten. “Michael, warte!"
Ich überquerte die Straße und rannte ihm nach. "So warte doch, Michael!"
Er blieb stehen und schaute sich um. Sein Blick wanderte
suchend umher, bis er schließlich bemerkte, daß ich es gewesen sein mußte, die ihn gerufen hatte. Er kannte mich nicht, deshalb sah er mich fragend an. "Ja?"
Ich stand vor ihm und wußte nicht, was ich sagen sollte. Es war eine eigenartigen Situation, denn ich fühlte mich als Handelnder und als Zuschauer zugleich. Ich wußte, daß ich ihn gerufen hatte, aber auch, daß es das eigentlich gar nicht geben konnte.
"Hast du einen Augenblick Zeit für mich?" fragte ich ihn. "Ich würde gern mit dir reden."
Er sah mich neugierig an. "Kennen wir uns?"
Ich schüttelte den Kopf. "Nein! - Das heißt ja. Ich kenne dich, aber du kennst mich nicht."
"Haben wir gemeinsame Freunde?"
Hilflos hob ich die Schultern. "Ja. - Nein!"
Ich sah mich um. "Können wir nicht.....?"
Man sah ihm nicht an, was er dachte, aber sicher war er neugierig, deshalb antwortete er: "Ja, okay. Drüben im Eulenspiegel

könnten wir was trinken."
Sein Vorschlag war mir unangenehm. Ich hatte viele seiner Handlungen in den Eulenspiegel

verlegt, und sicher würden wir dort seine Freunde treffen, - all seine Freunde, die ich für ihn erfunden hatte.
"Könnten wir nicht lieber dort oben im Kaufhaus.....? In der
Caféteria? Das wäre mir lieber."
Er grinste leicht. "Das ist nun nicht gerade meine Welt. Aber gut, wenn du meinst."
"Ich hoffe, du hast Zeit. Ich möchte deine Pläne nicht
durcheinanderbringen," sagte ich.
Mir war die Zweideutigkeit meiner Bemerkung wohl bewußt, denn letztendlich war ich es ja, die seine Pläne aufstellte.
"Ja ja, schon ok," antwortete er.

Kurze Zeit später saßen wir uns in der Caféteria des Kaufhauses gegenüber, schauten vom vierten Stock aus über die Dächer der Stadt und schwiegen. Er hatte ein Bier bestellt, ich eine Cola.
Ich begriff noch immer nicht, was geschehen war. Da saß er nun vor mir, mein Held, in Erwartung dessen, was ich ihm zu sagen hatte. Aber was wollte, was sollte

ich ihm sagen? Die braunen Augen in dem schmalen kantigen Gesicht musterten mich neugierig. Sie hatten diesen sanften Blick, den ich mir für ihn ausgedacht hatte. Sein hübscher Mund über dem dunkelschimmernden Kinn lächelte. Das braune volle Haar hing ihm ein wenig wirr in die Stirn, dadurch wirkte er jungenhaft und unkompliziert.
Er spielte mit einer Streichholzschachtel, die jemand auf dem Tisch vergessen hatte. Seine Hände waren sanft und stark zugleich, die dunklen Härchen auf seinen Unter- armen zogen sich bis vor zu den Handgelenken.
"Und nun?" fragte er und lächelte wieder.
Ich lächelte zurück. Ich war stolz auf ihn. Ich hatte ihn erschaffen, und er war mir gut gelungen. Sollte ich ihm sagen, wer ich war? Konnte man in einer Welt, in der er Wirklichkeit war, nicht auch Dinge sagen, die ich in meiner Realität nicht hätte sagen können? Sollte ich es einfach versuchen?
"Ich wollte dich gern einmal persönlich kennenlernen," begann ich, "ich habe nämlich über dich geschrieben."
Er tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust.
"Über mich?" fragte er verwundert.
"Ja."
Er lachte."Das gibt's doch nicht! Da war nichts in meinem Leben, was erwähnenswert gewesen wäre."
"Ich habe sogar ein Buch über dich geschrieben."
"Du mußt mich verwechseln, über mich gibt es nichts zu schreiben. Außerdem.....," in seinem Blick war nun Mißtrauen zu lesen, "wir kennen uns doch gar nicht, wie kannst du dann über mich schreiben?"
"Laß es mich dir erklären." Ich setzte mich unruhig auf meinem Stuhl zurecht. Verdammt, war das eine verzwickte Situation.
"Du hast vielleicht schon davon gehört, daß kein Gedanke, der jemals gedacht worden ist, verlorengeht," sagte ich. "Irgendwo verwirklicht er sich und wird existent, - wenn nicht in der Realität, in der er gedacht worden ist, dann in einer anderen."
Er sah mich verständnislos an.
"Nein, ich weiß nicht, was du meinst. - Und was hat das mit mir zu tun?"
"Warte, darauf komme ich noch! - Bitte, versuch das zu verstehen: Jeder Gedanke verwirklicht sich auf irgend- einer Ebene! - Stell dir vor, ein Architekt träumt von einem Haus, das er gern bauen möchte. Noch bevor er eine Zeichnung davon zu Papier bringt, sieht er es in seinen Gedanken fix und fertig vor sich. Und von diesem Augenblick an existiert es! Irgendwo! Nicht sichtbar und nicht greifbar in seiner Welt, aber es ist da. Und sein Bewußtsein kann auf die Reise gehen und es finden."
"Ja, gut. Und weiter?"
Ich kam mir vor wie jemand, der einem Kind die Geschichte von den Bienen zu erklären versucht.
"Jetzt stell dir einen Schriftsteller vor! Er erfindet eine Stadt. Und irgendwo, - nicht in seiner eigenen Realität, sondern in einer ganz anderen Wirklichkeit, - gibt es diese Stadt auf einmal. Er hat sie erschaffen, mit allem Drum und Dran. Mit ihren Häusern und Straßen, mit all den Ereig- nissen, die darin stattfinden, mit den Menschen, die darin leben.....! Verstehst du, was ich meine?"
"Ja, ich glaube."
"Nun schau aus dem Fenster," sagte ich. "Das ist meine Stadt."
Er sah hinaus und dann wieder zu mir zurück. Er starrte mich an. "Deine Stadt?"
"Ja. Ich habe sie erfunden."
"Das kann nicht sein," entgegnete er verwirrt.
"Wieso nicht?"
"Diese Stadt ist kein Gedanke, sie ist Wirklichkeit. Ich lebe hier, seit ich geboren bin."
"Denk an den Architekten und sein Haus. Natürlich ist diese Stadt Wirklichkeit, hier für dich, wo sie sich mani- festiert hat. Aber für den, der sie erfunden hat, ist sie nur eine Vorstellung. Ein Traum, der sich erfüllt hat...."
"Für dich also."
Ich nickte. "Ja, für mich."
"Das bedeutet, du kommst aus einer anderen Wirklichkeit und schreibst ein Buch über meine Welt."
"Ja." Ich freute mich, daß er es so schnell begriffen hatte.
"Du meinst, dann wäre auch ich..... eine Erfindung von dir?"
"Ja."
Ich beobachtete ihn. Hinter seiner Stirn arbeitete es fieberhaft.
"Das ist unmöglich," sagte er dann. "Ich war nicht plötzlich da, nur weil du angefangen hast, eine Geschichte über mich zu schreiben. Meine Eltern haben sich vor etwa dreißig Jahren getroffen, haben geheiratet, und dann bin ich auf die Welt gekommen, wie jeder andere Mensch auch. Diese Stadt besteht seit hunderten von Jahren."
"Wenn man eine Stadt erfindet, dann erfindet man auch gleichzeitig die Erde, auf der sie ihren Platz hat, - mitsamt ihrer Entwicklungsgeschichte. Und wenn man die Erde erfindet, auf der diese Stadt existiert, dann erfindet man auch gleichzeitig das Universum, in das sie hineingehört."
Er überlegte. "Wenn alles, was existiert, nur ein Gedanke ist, dann müßte es unzählige Welten und unzählige Universen geben," stellte er fest.
Ich nickte. "Du hast es begriffen."
"Und was ist dann mit deiner Welt? Wer hat sie

erdacht?"
Ich saß da, als hätte man einen Eimer Wasser über mir ausgeschüttet. Ich war selbst schuld, hatte ich ihn doch mit Intelligenz und wachem Verstand ausgestattet. Er hatte recht: Was war mit meiner Welt? Darüber hatte ich noch nie nachgedacht.
"Und wie kommst du überhaupt hierher, wenn deine Welt eine ganz andere ist?" fragte er weiter.
Ich zuckte die Schultern, ich wußte keine Antwort darauf.
"Vielleicht habe ich mich so sehr mit meiner Geschichte befaßt, daß mein Bewußtsein für kurze Zeit abgedriftet und auf dieser Ebene eingerastet ist," versuchte ich, die Sache zu erklären.
"Für kurze Zeit? Was wäre, wenn du nicht mehr zurück- fändest?"
Ich erschrak. "Mach mir keine Angst," sagte ich leise.
Er lächelte. "Ich schlage vor, dann bleibst du einfach hier. Du weißt, daß bei meiner Tante Käthe noch ein Zimmer frei ist. Das weißt du doch, oder?"
Ich wußte es. Eigentlich hatte ich dieses Zimmer für Angela gedacht, für den Fall, daß sie eines Tages zurückkommen würde. Eines Tages, wenn ich den Zeitpunkt für das Happy End für gekommen hielt. Aber das konnte ich ihm doch jetzt noch nicht verraten.
Er spielte noch immer mit der Streichholzschachtel und dachte nach, aber als er den Blick hob, um mich anzusehen, wurden seine Augen plötzlich ganz weit. Dann blinzelte er und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn.
"Du hast mich für einen Moment an Angie erinnert," sagte er irritiert.
"Ich habe gerade an sie gedacht," gab ich zu.
"Du bist doch nicht Angie, oder? - Ich meine, in der anderen, in deiner Welt?” Er sah mich aufmerksam an.
"Nein, ich bin nicht Angie. - Allerdings....., in gewisser Weise könnte sie möglicherweise ein Teil von mir sein. Vielleicht ist sie das, was ich gern wäre. Eben auch ein Traum, eine Vorstellung von mir."
Er sah mich traurig an. "Werde ich sie wiedersehen?"
Ich gab ihm keine Antwort.
"Bring sie zu mir zurück! Bitte!"
"Ich werde sehen, was ich tun kann," antwortete ich ausweichend.
Ein plötzlicher stechender Schmerz fuhr mir den Rücken hinunter, und Michael und sein Umfeld schienen in einer weißen Wolke zu versinken.
Als ich die Augen öffnete, fand ich mich zu Hause auf dem Fußboden wieder. Ich war vom Stuhl gerutscht und zwischen ihm und dem Schreibtisch eingeklemmt. Mit dem Gipsbein hatte ich den Papierkorb umgestoßen.

In den folgenden Tagen schrieb ich meine Geschichte zu Ende. Letztendlich hatte ich mich doch für ein Happy End entschieden. Niemals hätte ich es ertragen, Michael, nachdem ich ihn persönlich kennengelernt hatte, un- glücklich zu wissen.
Nachdem ich das Manuskript in der Schublade verstaut und den Computer abgeschaltet hatte, verschlief ich einen ganzen Tag und eine ganze Nacht. Danach fühlte ich mich wie neu geboren, - leicht und frei und unendlich glücklich.
Nachdem der Gips entfernt worden war, hatte ich noch eine Weile Schwierigkeiten beim Gehen. Sobald ich mich jedoch kräftig genug fühlte, kroch ich aus meinem Schneckenhaus, setzte mich in den Wagen und fuhr in die Stadt. Ich holte ausgiebig nach, was ich in den vergan- genen Wochen versäumt hatte. Ich kaufte mir ein Kleid und einen Pullover, ein neues Parfum und zwei Paar Schuhe, ein Buch, das mir empfohlen worden war und das neu erschie- nene Album von Phil Collins.
Es war ein anstrengender Tag gewesen. Ich hatte mich ein
bißchen übernommen, und mein Bein begann zu schmer- zen. Als ich aus dem Buchladen kam und auf dem Weg zum Parkhaus war, träumte ich schon davon, endlich wieder zu Hause zu sein und die Füße hochlegen zu können.
Plötzlich bemerkte ich einen gutgekleideten Herrn, der neben mir herlief und mich beobachtete. Er war hochge- wachsen und schlank, und trotz seines grauen Haares hätte ich nicht sagen können, wie alt er war.
"Ihr Bein macht Ihnen nach dem Unfall noch immer zu schaffen," sprach er mich an.
Es war eine Feststellung, keine Frage.
Verblüfft blieb ich stehen. "Woher wissen Sie von meinem Bein?"
Er lachte. "Wenn Sie ein paar Minuten Zeit für mich hätten, könnte ich es Ihnen erklären. Kommen Sie, ich lade Sie zu einer Tasse Kaffee ein."
Mir gingen tausend Gedanken durch den Kopf. Im Grunde war ich keine Frau, die sich von fremden Männern ansprechen, geschweige denn einladen ließ, aber die Vorstellung eines Kaffees nach diesem Einkaufs-Marathon gefiel mir. Außerdem war ich neugierig, woher dieser Mann von meinem Unfall wußte. Und was konnte mir schon passieren am hellichten Nachmittag inmitten einer Großstadt. Mir fiel das Domino

ein, ein kleines Straßen- Café drei Schritte weiter, in dem ich mich oft mit meinen Freundinnen traf, aber der Fremde schüttelte den Kopf. "Die Caféteria im Kaufhaus wäre mir angenehmer. Man hat von dort oben einen so herrlichen Blick über die Stadt."

Nun saß ich also wieder in der Caféteria eines Kaufhauses, - aber es war ein anderes Kaufhaus, in einer andere Stadt, und es war ein anderer Mann, in einer anderen Welt. Von seinem Platz aus, mir gegenüber, beobachtete er mich schweigend. Die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln wirkten freundlich und heiter, und seine Augen lächelten.
Ich rührte ein wenig unsicher in meiner Tasse.
"Sie wollten mir erzählen, woher Sie von meinem Bein wissen," begann ich.
"Ganz einfach,” meinte er und zwinkerte mir zu, “Sie haben es ein wenig nachgezogen. Sicher hatten Sie heute einen anstrengenden Tag und waren lange unterwegs."
Ich war enttäuscht. Mit einem Blick auf meine Taschen und Pakete, die ich auf dem Platz neben mir abgestellt hatte, war es nicht schwer für ihn gewesen, die Wahrheit zu erraten. Aber dennoch, woher konnte er wissen, daß es ein Unfall gewesen war?
Während er ein Stück Würfelzucker auspackte, in seine Tasse fallen ließ und umrührte, schaute er aus dem Fenster und ließ seinen Blick über die Dächer schweifen.
“Wie schön sie ist, meine Stadt,” sagte er vor sich hin.
Ich glaubte, nun würde er mir etwas über sich selbst erzählen wollen. “Leben Sie schon lange hier?” fragte ich interessiert. “Sind Sie hier geboren?”
Er lächelte. “Nein, ich bin weder hier geboren, noch lebe ich hier. Und trotzdem liebe ich diese Stadt.”
Ich nickte zustimmend. “Ja, ich mag sie auch. Im Zentrum findet man wirklich alles, was man zum Leben braucht.”
“Sie gehört mir!” sagte er, mehr zu sich selbst. Dann wandte er den Blick vom Fenster ab und schaute mich an. “Genauso, wie dem Architekten das Haus gehört, das zu bauen er im Begriff ist, so gehört mir diese Stadt.”
Ich zuckte zusammen und erinnerte mich dunkel. Und zwar an etwas, wovon er nun wirklich nichts wissen konnte. Mißtrauisch beobachtete ich ihn, und ich fragte mich, wer dieser Mann wohl sein mochte! Und was er von mir wollte!
"Sie haben mich zu einem Kaffee eingeladen. - Sagen Sie mir, warum?” fragte ich geradeheraus.
"Ich wollte Sie einfach einmal kennenlernen."
"Das klingt, als wüßten Sie, wer ich bin."
"Sagen wir mal, ich wußte, daß es Sie gibt."
"Und woher?"
“Wir sind gewissermaßen Kollegen,” wich er meiner Frage aus, “ich schreibe Bücher, wie Sie."
Ich dachte an Sabine. “Wahrscheinlich kennen Sie meine Schwester und wissen von ihr, womit ich mich beschäftige.” Dann schüttelte ich den Kopf. “Nein, man kann nicht gerade sagen, daß ich Bücher schreibe. Ich habe eben erst mein allererstes Manuskript beendet, und ich vermute, daß es noch ein weiter Weg ist, bis es ein Buch sein wird."
"Wenn man Glück hat, kann das sehr schnell gehen. Ich schreibe im Augenblick an einem Roman über eine junge Autorin, für die auch alles sehr schnell geht."
"War es tatsächlich meine Schwester, die Ihnen von meiner Schreiberei erzählt hat?” fragte ich noch einmal. Und als er nur lächelnd den Kopf schüttelte, fügte ich hinzu: “Wenn nicht, wer war es dann?”
Er lachte wieder. "Akzeptieren Sie doch einfach, daß ich es weiß," antwortete er geheimnisvoll.
Ich ärgerte mich. Ganz offensichtlich wollte er meine Fragen nicht beantworten.
"Gut!" sagte ich entschieden. "Nachdem Sie mich nun kennengelernt haben, kann ich ja gehen.” Es sollte streng klingen, und um meine Entschlossen zu unterstreichen, war ich aufgestanden.
“Kommen Sie, setzen Sie sich wieder.” Er schien sich über mich zu amüsieren. "Ich wollte Sie kennenlernen, weil Sie eines Tages eine kleine Berühmtheit sein werden."
Widerstrebend setzte ich mich. "Woher wollen Sie das wissen?"
"Ganz einfach,” lächelte er, “weil ich es so will!”
“Aha, weil Sie es wollen!” wiederholte ich spöttisch. “Sie kennen mich gar nicht und wollen trotzdem, daß ich berühmt werde? Was sollte Ihnen schon daran liegen!”
“Sie wissen doch: Kein Gedanke geht verloren, und irgendwo wird er Wirklichkeit. Ich bin hier, um zu sehen, ob ich alles richtig gemacht habe.”
“Ich verstehe nicht, was Sie meinen.”
“Denken Sie mal darüber nach!”
Er wurde mir unheimlich. Was war das für ein Mann? Konnte er Gedanken lesen, oder hielt er mich einfach nur zum Narren? Was wußte er über mich, und woher?
Ganz plötzlich überfiel mich eine Ahnung. Es war mehr ein Fühlen, als ein Wissen. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, so erschrocken war ich.
"Und? Haben Sie alles richtig gemacht?” fragte ich und versuchte, meine innere Aufruhr zu verbergen.
"Ja." Er nickte. “Ja, ich bin sehr zufrieden!”
Mein Herz klopfte mir bis zum Halse. Ich trank meine Kaffeetasse leer und schaute auf meine Armbanduhr, um ihm zu signalisieren, daß ich gehen mußte. Ich wollte nur noch fort.

Auf der Straße angekommen gab er mir die Hand, um sich von mir zu verabschieden.
"Es war schön, Sie zu treffen," sagte er. "Ich weiß, Sie werden viel Anerkennung erfahren mit Ihren Romanen. Und eines Tages werden Sie einen netten jungen Mann kennen- und lieben lernen, ihn heiraten und Kinder haben..... Ihr Leben wird ein sehr erfülltes Leben sein.”
Ich nahm allen Mut zusammen und fragte: "Und wo ist das Haar in der Suppe? Es lohnt sich doch nicht, über ein Leben zu schreiben, in dem alles glatt geht und nichts passiert."
Er lächelte gedankenverloren. "Es wird die Geschichte eines großen Erfolges sein,” sagte er dann. “Die Mensch- heit braucht Helden, zu denen sie aufblicken und an denen sie sich messen kann. Ich will, daß Sie eine Heldin werden!”
Er wandte sich um und ging, blieb nach ein paar Schritten noch einmal stehen, zwinkerte mir zu und verschwand in der Menge.
Ich sah ihm nach, - und plötzlich tanzten bunte Kreise vor meinen Augen. Mir war schwindelig, und ich spürte, wie mir die Knie einknickten.
Als ich wieder zu mir kam, hatten mich helfende Hände gepackt und auf einen der Stühle vor dem Domino abgesetzt. Einige Leute standen um mich herum und betrachteten mich mit einer Mischung aus Neugier und Mitgefühl.
“Geht’s wieder?” fragte eine füllige Dame und tätschelte meine Wange. “Kindchen, Sie sind ja ganz blaß. Wir sollten vielleicht doch einen Krankenwagen rufen.”
“Nein, nein,” wehrte ich ab und versuchte aufzustehen, doch sie drückte mich auf den Sitz zurück.
“Bleiben Sie noch ein Weilchen sitzen, bis Sie sich besser fühlen,” riet sie mir. Sie warf einen Blick auf meine Pakete und Einkaufstaschen. “Wahrscheinlich haben Sie sich zuviel zugemutet. Ich habe beobachtet, wie Sie aus dem Buchladen kamen. Zuerst haben Sie nur geschwankt, und dann knickten Sie einfach weg. Das hätte bös ausgehen können, wenn wir Sie nicht rechtzeitig aufgefangen hätten.”
“Ich kam aus dem Buchladen?” fragte ich erstaunt. “Sind Sie sicher, daß ich nicht aus dem Kaufhaus kam?”
“Aus dem Kaufhaus? Aber nein! Sie kamen hier aus dem Buchladen.”
Seltsam, dachte ich. Wie war das nur möglich?
Nach einigen Minuten erhob ich mich, bedankte mich bei den freundlichen Helfern und machte mich auf den Weg zu meinem Wagen.

Mein Buch wurde wirklich ein Riesenerfolg. Und während ich am nächsten schrieb, mußte ich manchmal an den Fremden und seine Prophezeiungen denken. Sie gaben mir die Kraft, weiterzumachen, wenn ich vor Schwierigkeiten stand oder an einem Tiefpunkt angelangt war, und sie machten mir Mut, wenn ich mich einsam und alleine fühlte und mich nach einer Schulter sehnte, an die ich mich lehnen konnte.
Ich glaubte daran, daß es ihn gab, diesen Fremden. Irgendwo! Und so, wie ich niemals ertragen hätte, Michael unglücklich zu wissen, nachdem ich ihn persönlich kennengelernt hatte, vertraute ich darauf, daß es ihm mit mir ebenso ging.


Impressum

Texte: Copyright Doris Bühler
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2011

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