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Nur wenige Forscher besitzen die Kühnheit, sich
mit Dingen zu beschäftigen, die massiv gegen die
politische Korrektheit der Physikerzunft verstoßen.



Stephen Hawking




Sommer 1985



Das Experiment



Dr. Weißgerber schaute nervös auf seine Armbanduhr. "Es wird Zeit, daß wir anfangen," sagte er und überzeugte sich davon, daß die Tür geschlossen war. Zur Sicherheit drehte er sogar den Schlüssel herum, zog ihn ab und ließ ihn in seiner Jackentasche verschwinden. Dann trat er an die Stirnseite des Mosaiktisches, überblickte die kleine Runde, die daran Platz genommen hatte und sagte laut und eindringlich: "Meine Damen und Herren, wir wollen jetzt beginnen!”
Die Gäste, eine Frau in den Fünfzigern und zwei Herren, die ich allesamt nicht kannte, hatten sich gedämpft miteinander unterhalten, schwiegen nun aber und schauten dem Doktor erwartungsvoll entgegen. Neugierig sah ich zu der fremden Frau hinüber, die nach dem Aufruf des Doktors die Mappe mit Unterlagen, in der sie geblättert hatte, beiseite legte, die Brille abnahm und sie an einer dicken silbernen Kette um ihren Hals baumeln ließ.
Ich saß auf der Ledercouch zur Linken des Doktors, vor mir lag ein aufgeschlagener Schreibblock, ein Kugelschreiber und eine Taschenuhr mit besonders übersichtlichem Zifferblatt.
"Zunächst einmal möchte ich Sie mit meiner Sekretärin Fräulein Wieland bekanntmachen,” stellte mich der Dorktor vor. “Als meine rechte Hand wird sie das Protokoll führen und alles, was in den nächsten Stunden in diesem Raum passiert, schriftlich festhalten.”
Sie nickten mir kurz zu.
"Bitte, Fräulein Wieland, beginnen Sie folgendermaßen: Berlin, den 24. Juli 1986, Büro Dr. Erich Weißgerber im Friedrich-Bott-Institut, Berlin, Kölner Chaussee 14. Uhrzeit...” Und mit einem Blick auf seine Armbanduhr fuhr er fort: “...genau 20 Uhr 16. Der Versuchsraum ist verschlossen. Tricks und Manipulationen...,” er ging noch einmal zur Tür und drückte demonstrativ die Klinke hinunter, “...sind völlig ausgeschlossen.” Lächelnd schaute er die Anwesenden der Reihe nach an, bevor er weiter diktierte: "Außer den Versuchsleitern Dr. Erich Weißgerber und Prof. Herbert Riechling sowie der Protokollführerin Fräulein Karin Wieland sind anwesend: Frau Dr. Renate Ebenstreit, Herr Robert Fröbel und Dr. Franz Degenhardt. Haben Sie’s, Fräulein Wieland?”
Ich nickte. "Ja, es ist alles notiert."
Um Mißverständnisse beim Übertragen zu vermeiden, hatte er darauf bestanden, daß ich nicht stenografieren, sondern von Hand alles einigermaßen leserlich mitschreiben sollte. "Ich werde Ihnen genügend Zeit lassen,” hatte er am Vortag zu mir gesagt, "wir werden die Angelegenheit ganz langsam angehen, Schritt für Schritt."
Auch ich hatte keine Ahnung, was uns erwartete, ich wußte nur, daß der Professor und er nun endlich soweit waren, um ihr erstes Experiment zu starten.
Er rückte noch einmal seine Brille zurecht und begann zunächst mit einigen Vorbemerkungen, mit denen ich, deren Kenntnisse in Physik nur dürftig waren, nicht allzuviel anzufangen wußte.
"Fassen Sie einfach zusammen, Fräulein Wieland," unterbrach er sich kurz, "schreiben Sie: ‘Einleitungsworte Dr. Weißgerbers an die anwesenden Gäste’ oder so ähnlich. Das genügt.”
Seine Vorrede fiel länger aus, als ich erwartet hatte. Ich hatte geglaubt, daß er vor lauter Ungeduld nicht schnell genug mit dem eigentlichen Experiment beginnen könne. Nun wunderte ich mich, daß er es fertig- brachte, seine Ausführungen so gelassen, beherrscht und ausführlich vorzutragen.
Prof. Riechling dagegen konnte seine innere Unruhe kaum verbergen. Während die anderen aufmerksam zuhörten, wippte er mit den Fußspitzen, preßte nervös die Handflächen gegeneinander oder klopfte mit den Fingern auf den Tisch, als bearbeite er eine imaginäre Tastatur.
Solange es für mich noch nichts zu tun gab, beobachtete ich erneut Frau Dr. Ebenstreit. Trotz ihres Alters und ihrer ein wenig zu lang geratenen Nase hätte man sie fast als hübsch bezeichnen können. Ihr Gesicht war feingeschnitten und ebenmäßig, und nur in den Augenwinkeln saßen ein paar hartnäckige tiefe Fältchen, die darauf schließen ließen, daß sie gern lachte. Die grauen Augen unter den hochgeschwungenen Brauen hingen gebannt an Dr. Weißgerbers Lippen. Dennoch schien sie bemerkt zu haben, daß ich sie unentwegt anstarrte, denn auf einmal schaute sie kurz zu mir herüber und zwinkerte mir lächelnd zu. Ich fühlte mich ertappt, lächelte verlegen zurück und machte mir schnell an meinen Notizen zu schaffen.
Schließlich war es soweit: Dr. Weißgerber trat an seinen Schreibtisch, nahm ein kastenförmiges Köfferchen heraus und stellte es mit einer feierlichen Geste in die Mitte des Tisches. Die Zuschauer konnten sich ein geflüstertes “Oh!” nicht verkneifen, obwohl es noch gar nichts zu sehen gab. Das Köfferchen war aus braunem glattem Leder und sah ganz harmlos aus. Als der Doktor den Verschluß aufknipste und den Deckel zurückklappte, stockte allen der Atem, und ich vergaß fast, aus welchem Grunde ich eigentlich an dieser Runde teilnehmen durfte. Ich besann mich und schrieb, wie es der Doktor von mir erwartete: ‘20.55 Uhr - Dr. Weißgerber stellt den noch verschlossenen Koffer auf den Tisch. 20.56 Uhr - Er öffnet ihn.’
Eingerahmt von dunkelrotem Samt erkannte man ein metallenes Etwas, das der Doktor nun vorsichtig mit beiden Händen heraushob und neben den Koffer auf den Tisch stellte.
‘20.57 Uhr - Er nimmt das Gerät heraus....’
Ich war enttäuscht. Diese geheimnisvolle Apparatur war ein einziges Durcheinander aus zusammengefügten Spulen, Drähten und Kabeln, aus kleinen Metallstreben und Hebeln. Irgendwo an der Seite, - oder war es vorn? - war eine verhältnismäßig große Skala angebracht, davor eine Reihe von Knöpfen und Schaltern. Es gab nichts, woraus man in irgendeiner Weise hätte schließen können, wozu es zu gebrauchen war. Der Apparat war unförmig und häßlich.
"Das ist es also!" sagte Dr. Weißgerber stolz, und Prof. Riechling stand schnell auf und hielt schützend die Hände davor. Und obwohl niemand den Versuch gemacht hatte, etwas anzufassen, meinte er ängstlich: "Bitte nicht berühren, meine Damen und Herren! Es ist sehr empfindlich.”
Dr. Degenhardt lehnte sich tief ausatmend zurück, während sich Frau Dr. Ebenstreit erst einmal die Nase putzte. Herr Fröbel lachte sogar respektlos. "Das Ding habe ich mir wahrhaftig anders vorgestellt," meinte er kopfschüttelnd.
Dr. Weißgerber lächelte nachsichtig. "Wir wissen, daß es nicht sehr hübsch aussieht. Wir hielten es aber nicht für notwendig, eine Verkleidung dafür zu finden, da es sich ja eh’ nur um eine Zwischenstufe handelt. Es ist noch viel zu groß und zu wuchtig, inzwischen arbeiten wir bereits an einem sehr viel kleineren Modell. Die Hauptsache ist doch, daß es funktioniert. Und das tut es, meine Damen und Herren, davon werden Sie sich gleich überzeugen können.”
Er blickte in die Runde. “Bestimmen Sie selbst den Gegenstand, mit dem wir experimentieren sollen. Frau Dr. Ebenstreit, wollen Sie bitte so nett sein und etwas aussuchen?"
“Ich?” Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Brust, und nachdem ihr der Doktor aufmunternd zugenickt hatte, schaute sie sich unschlüssig im Raum um, bis ihr Blick an einem marmornen Aschenbecher auf dem Schreibtisch des Doktors hängenblieb. "Nehmen Sie den da," sagte sie.
Dr. Weißgerber nahm ihn in die Hand, hob ihn hoch und zeigte ihn
allen. "Diesen Aschenbecher werden wir nun also in die Zukunft schicken. Und wenn er nicht zurückkommen sollte," er lächelte, "dann macht das gar nichts, ich habe nämlich zwei davon.”
An den Enden zweier Drähtchen, die aus dem Gerät herausragten, waren kleine flache Kontaktplättchen angebracht, die er nun sorgfältig am oberen Rand und an der Unterseite des Aschenbechers mit Isolierband befestigte. Er tauschte einen kurzen Blick des Einvernehmens mit dem Professor, kippte einen der Schalter nach unten, und irgendwo im Inneren des Metallgebildes leuchtete ein winziges Lämpchen auf. "So," sagte er, "jetzt ist das Gerät betriebsbereit."
Nun beugten sich die Zuschauer doch ein wenig weiter vor, um besser sehen zu können.
"Die genaue Einstellung ist noch sehr schwierig," erläuterte der Doktor. "Die Skala, die Sie hier sehen, umfaßt einen Zeitraum von etwa zwei Monaten, - einen Monat in die Zukunft und einen Monat in die Vergangenheit. Die Null in der Mitte steht quasi für das ‘Jetzt’, für die Gegenwart.”
Er drehte an einem der Knöpfe, und der Zeiger, der wie eine Nadel spitz zulief, schwenkte auf die linke Seite hinüber.
"Mit dieser Einstellung würden wir unseren Aschenbecher in die Vergangenheit schicken, meine Damen und Herren, und jetzt..." Er drehte den Zeiger nach rechts, "...jetzt verschwindet er, wenn wir es wollen, in der Zukunft. Die Differenz von einem Grad zum anderen macht ungefähr einen Tag aus. Sicher können Sie sich nun vorstellen, wie kompliziert es ist, nur so wenig in die Zukunft zu gehen, um das Wiedererscheinen des Aschen- bechers noch heute Abend zu erleben. Da geht es um Millimeter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, daß wir den Zeitpunkt des Auftauchens nicht auf die Minute, - ja nicht einmal auf die Stunde genau bestimmen können. Unser nächstes Modell wird sicher präziser arbeiten.
In der Zeit des Wartens werden wir Ihnen anhand von Skizzen genau erklären, wie das Gerät im einzelnen funktioniert, und selbstverständlich werden wir auch all ihre Fragen beantworten, soweit es uns möglich ist. - Bitte, Professor, stellen sie jetzt die Zeit ein.”
Prof. Riechlings Hand zitterte vor Aufregung. Er bewegte den Zeiger von der Nullstellung eine Winzigkeit nach rechts. "Ich glaube, so ist es gut," meinte er. "Wir werden den Aschenbecher in eine Zeit schicken, die etwa zwei oder drei Stunden in unserer Zukunft liegt. Gemeinsam werden wir dann hier in diesem Raum warten, bis wir selbst diesen Zeitpunkt erreicht haben, bis er also vor unseren Augen wieder erscheinen wird.”
"Genug der Vorrede, Professor! Lassen Sie ihn endlich verschwinden," sagte Herr Fröbel ungeduldig. "Das allein wäre schon Wunder genug.”
Die anderen nickten zustimmend.
Dr. Weißgerber hatte die Hand bereits am Hebelchen, das den Zeitsprung auslösen sollte. "Sind Sie soweit, Professor?” vergewisserte er sich bei seinem Partner. Dann warf er auch mir noch einmal einen raschen Blick zu. "Vergessen Sie auch nicht, mitzuschreiben, Fräulein Wieland?”
"Aber nein, natürlich nicht," antwortete ich schnell, obwohl ich tatsächlich Mühe hatte, es nicht zu vergessen. Ich wäre viel lieber nur Beobachter gewesen und ertappte mich immer wieder dabei, daß ich nur dasaß, den mysteriösen Apparat anstarrte und gespannt wartete, was als nächstes geschehen würde.
"Alles in Ordnung," sagte Prof. Riechling laut und deutlich.
"Achtung, dann starte ich ...jetzt!"
Aber der Professor hatte die Hand noch einmal ausgestreckt, fuhr
dann bei Dr. Weißgerbers “Jetzt” so heftig zusammen, daß er die Anzeigenadel versehentlich bis an den linken Anschlag versetzte. "Moment!" rief er mit schriller Stimme. "Ich habe etwas verstellt!"
Aber es war schon zu spät, seine Hand griff ins Leere. Der Doktor hatte bereits den Hebel betätigt, und in der nächsten Sekunde war das metallene Monster zusammen mit dem Aschenbecher fort. Der leere Koffer war das einzige, was noch auf dem Tisch stand. Es war genau 21.01 Uhr.
"Was war denn los?" fragte der Doktor besorgt.
"Um Gottes Willen," murmelte der Professor. Er war noch blasser, als gewöhnlich.
Die Zuschauer staunten, denn das Gerät war ja mitsamt des Aschen- bechers tatsächlich verschwunden. Dennoch spürten sie, daß etwas schiefgegangen sein mußte.
"Ich habe den Zeiger verstellt," sagte Prof. Riechling tonlos. Er zitterte am ganzen Körper.
"Um wieviel?" wollte der Doktor wissen.
"Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, es war ziemlich viel.”
"In welche Richtung?"
"In die Vergangenheit."
"Wie konnte das nur passieren!"
"Ich war so erschrocken, als ihr Kommando kam, da ist mir die Hand ausgerutscht... Ich verstehe das selbst nicht. - Mein Gott, daß ich mich aber auch so dumm anstellen mußte! Das ist die Aufregung, Doktor. Ich glaube, ich bin zu alt für solche Experimente. Was machen wir denn jetzt nur!"
Dr. Weißgerber überlegte. "Ich denke, das ganze ist halb so schlimm," meinte er dann und legte dem Professor beschwichtigend die Hand auf die Schulter. "Sie wissen doch, Professor, daß die Abwesenheitsdauer des Gerätes sicherheitshalber auf zwei Stunden eingestellt ist. Das bedeutet, daß das Gerät zwei Stunden nach dem Verschwinden automatisch wieder hier auftauchen wird. Wir können dann in aller Ruhe mit dem geplanten Experiment beginnen. Da es letztendlich sowieso nicht genau vorherbe- stimmbar ist, wie lange wir heute nacht zusammensitzen werden, kommt es auf zwei Stunden mehr oder weniger auch nicht mehr an.”
"Meinen Sie?” In den Augen des Professor glomm Hoffnung auf, und er atmete tief aus. Dennoch ließ er sich müde auf einen Stuhl fallen und sah auf einmal klein und sehr alt aus.
Frau Dr. Ebenstreit war aufgestanden. "Kann ich Ihnen helfen, Professor?"
Er schüttelte den Kopf, griff in seine Jackentasche und zog ein Arznei- Schächtelchen heraus. "Ich habe hier meine Tabletten," sagte er matt.
"Darf ich mal sehen?"
Er reichte sie ihr.
"In Ordnung. Nehmen Sie zwei davon. - Bleiben Sie sitzen, ich hole Ihnen ein Glas Wasser."
Er winkte ab. Noch immer zitternd drückte er zwei Tabletten aus der Folie auf seine Handfläche, schob sie in den Mund und schluckte sie hinunter.
“Meine Damen und Herren,” ergriff nun Dr. Weißgerber das Wort, “es gibt keinerlei Grund zur Besorgnis. Unser Experiment ist zwar etwas anders verlaufen, als es ursprünglich geplant war, doch es ist, wie Sie sehen können, - zumindest, was die erste Phase betrifft, - geglückt. Ich werde Ihnen kurz erklären, was geschehen ist. Als ich den Zeitsprung auslöste, stand der Zeiger nicht, wie eigentlich gewollt, auf der Zukunftsseite, sondern auf der Seite der Vergangenheit.” Er hielt inne, nahm die Brille kurz ab und überlegte. Dann fuhr er fort: “Die Zeiträume, innerhalb derer sich unsere Experimente bewegen, liegen, wie schon gesagt, zwischen einem Monat in der Vergangenheit und einem Monat in der Zukunft. Was darüber hinausgeht, entzieht sich allerdings unserer Kontrolle. Das bedeutet: Sollte der Zeiger tatsächlich bis zum Anschlag bewegt worden sein, können wir nicht mit Sicherheit sagen, wann in der Vergangenheit das Gerät ‘landen’ wird. Glücklicherweise haben wir aber für solche Fälle vorgesorgt. An der Rückseite des Gerätes befindet sich eine Uhr, die ich Ihnen noch nicht gezeigt habe, - wir holen das nach, sobald es wieder zurück ist. Diese Uhr war auf zwei Stunden eingestellt, das bedeutet, daß unser Aschenbecher genau zwei Stunden lang in der Zeit bleiben wird, in die wir ihn katapultiert haben, daß er dann automatisch die Zeit, die inzwischen bei uns vergangen ist, überbrücken wird und schließlich zu uns zurückkehrt. Diese Uhr ist sozusagen eine eingebaute Sicherung. Stünde sie auf ‘Null’, könnte der Zeitsprung gar nicht erst stattfinden. Andererseits kann mit Hilfe dieser Uhr das Gerät in der Ziel-Zeit festgehalten werden, wenn der Zeiger sofort nach der Ankunft auf ‘Null’ gestellt wird. Das ist besonders wichtig bei Zeitsprüngen in die Zukunft. Verstehen Sie, was ich meine?” Er machte eine kurze Pause. “Nun, der Aschenbecher selbst wird dazu wohl kaum in der Lage sein.” Er lächelte. “Also wird er pünktlich nach zwei Stunden wieder hier bei uns auftauchen.”
Die Wartezeit verging verhältnismäßig schnell, weil viele Fragen im Raum standen, die beantwortet werden mußten.
Dr. Degenhardt wollte schließlich von Dr. Weißgerber wissen, wie er gedenke, diesen Apparat zu nennen. Doch der Doktor meinte, darüber habe er sich noch keine Gedanken gemacht, er hielte jedoch eine Bezeichnung wie beispielsweise ‘Time-Pilot’ für angebracht. Prof. Riechling dagegen plädierte für etwas Lateinisches. Herr Fröbel schlug grinsend den Namen ‘Timehopper’ vor, worauf Frau Dr. Ebenstreit meinte, dann klänge ‘Timeflyer’ doch wesentlich hübscher. Ich nickte zustimmend, ‘Timeflyer’ gefiel mir. ‘Zeitflieger’, das war wahrhaftig ein passender Name für dieses Wunderding.
Ganz plötzlich war das Gerät wieder da. Kurz vor Ablauf der zwei Stunden starrten wir alle gespannt auf die Stelle, wo es zuvor gestanden hatte. Jeder wollte der erste sein, der es bemerkte, und dann sah es doch keiner wirklich ‘kommen’. Er war nur auf einmal wieder da, der ‘Timeflyer’. Die Uhr zeigte genau 23.01.
Die Reaktionen waren unterschiedlich.
Dr. Weißgerber und Prof. Riechling atmeten erleichtert auf und schauten sich lächelnd an. Frau Dr. Ebenstreit blinzelte und kniff die Augen zusammen, als fürchtete sie, auf eine Sinnestäuschung hereingefallen zu sein. “Darf man es nicht doch einmal anfassen, Doktor?” fragte sie, und ohne eine Antwort abzuwarten, tastete sich ihre Hand über die Metall- streben. “Tatsächlich, es ist da, ich kann es fühlen.”
Herr Fröbel pfiff durch die Zähne und nickte anerkennend. “Das is’n Ding, Professor!” meinte er staunend. “Hätt’ ich nie für möglich gehalten. Alle Achtung!”
“Es ist fantastisch,” sagte Dr. Degenhardt leise. “Fantastisch, aber auch beängstigend!” Dann beugte er sich zu Dr. Weißgerber hinüber. “Ist Ihnen eigentlich klar, was das bedeutet, Doktor? Können Sie sich ausmalen, was passieren würde, falls dieser Apparat in die falschen Hände käme? Kann man es überhaupt verantworten, mit solchen Dingen zu arbeiten und zu experimentieren?”
“Genau deshalb sind Sie heute hier, Herr Dr. Degenhardt. Sie, und nicht irgendwer!” antwortete ihm Dr. Weißgerber. “Und deshalb baten wir Sie, - jeden einzelnen von Ihnen, - um striktes Stillschweigen. Wir sind nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten, und so soll es vorerst auch bleiben. Wir werden dieses Gerät vervollkommnen, der Professor und ich, doch nicht, um in den Zeitablauf der Menschheit einzugreifen und ihn zu verändern, sondern nur, um zu beobachten. Und eines Tages werden wir Zeuge der Geschichte sein. Wir werden kontrollieren können, ob die Ereignisse der Vergangenheit tatsächlich so vonstatten gegangen sind, wie es in unseren Geschichtsbüchern geschrieben steht. Wir werden sie sogar miterleben können, verstehen Sie?”
Diesmal war das seltsame Leuchten in seinen Augen trotz seiner Brille zu sehen. “Und irgendwann werden wir reif genug dafür sein, auch einen Blick in unsere Zukunft zu werfen.”
Plötzlich stutzte er. Er lief zum Tisch hinüber und starrte auf das Gerät. Verwundert schaute ich ihm nach und sah, wie ihm langsam die Farbe aus dem Gesicht wich. Er murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Außer mir schien niemand davon Notiz zu nehmen, denn jeder war auf seine Weise damit beschäftigt, das eben Erlebte zu verarbeiten.
Der Doktor berührte Prof. Riechlings Arm, beugte sich zu ihm hinunter und redete leise auf ihn ein, worauf auch der ein sehr bestürztes Gesicht machte und sich für einen Augenblick mit einer müden Handbewegung die Stirn hielt.
Ich stand auf und ging neugierig um den Tisch herum, um den ‘Timeflyer’ besser sehen zu können. Und dabei bemerkte ich es dann auch: Der Aschenbecher fehlte! An den beiden Drähten hing nur noch das Isolierband, aber vom Aschenbecher war keine Spur zu sehen.
Herr Fröbel, der mich beobachtet hatte, war meinem Blick gefolgt. “Ist was?” fragte er, als er neben mich trat.
Noch bevor ich ihm eine Antwort geben konnte, kam Dr. Weißgerber
zu uns herüber, und auch Dr. Degenhardt und Frau Dr. Ebenstreit
waren hellhörig geworden.
“Stimmt was nicht? - Was ist denn los? - Ist vielleicht doch was schief- gegangen?” fragten sie.
“Nicht direkt,” erwiderte der Doktor, “das Experiment hat geklappt, das Gerät ist wieder da, nur..., der Aschenbecher ist nicht mit zurück- gekommen.”
Jetzt erst bemerkten es auch die anderen. “Tatsächlich!” - “Der Aschen- becher ist nicht mehr da!” und “Spurlos verschwunden!” redeten sie durcheinander, und Herr Fröbel meinte: “Es sieht aus, als hätte ihn jemand ganz bewußt entfernt.”
Dr. Weißgerber gab auf einmal einen erstickten Laut von sich und schlug die Hand vor den Mund. Er griff so fest nach meinem Arm, daß es fast schmerzte. “Fräulein Wieland, ich hab’s!” sagte er.
Ich wußte nicht, was er meinte.
“Sie müssen sich doch daran erinnern! Es ist jetzt etwa ein Vierteljahr her...”
Ich sah ihn noch immer fragend an.
Er wandte sich an die Gäste und begann, ihnen zu erzählen, was sich vor drei Monaten zugetragen hatte. “Eines Morgens kam ich in mein Büro und sah einen seltsamen Apparat auf meinem Tisch stehen. Damals hatten wir noch nicht angefangen, diesen hier zusammenzusetzen, deshalb hatte ich keine Ahnung, was das für ein Ding sein sollte. Zuerst glaubte ich, einer der Praktikanten hätte sich einen Scherz mit mir erlaubt. Als ich dann aber den Aschenbecher daran kleben sah, vermutete ich, es könnte sich eher um das Werk von Kindern handeln. Ich war ziemlich verärgert, weil mir der Gedanke, während meiner Abwesenheit könnten irgendwelche Kinder in meinem Büro herumtollen, gar nicht gefiel. Ich wollte mir die Putzfrau vorknöpfen und ihr strengstens verbieten, ihre Enkel zur Arbeit mitzubringen und in unseren Räumen spielen zu lassen. Ich löste den Aschenbecher von den Drähten, doch als ich ihn auf seinen Platz auf dem Schreibtisch stellen wollte, bemerkte ich, daß dort bereits ein gleichartiger stand. Dabei hatte ich nie zuvor einen zweiten gesehen. - Erinnern Sie sich jetzt, Fräulein Wieland?”
Ich nickte, es war mir wieder eingefallen. Urplötzlich konnte ich mich ganz deutlich daran erinnern, wie er an jenem Tag in mein Büro gekommen war und mir von einem selbstgebastelten Monstrum erzählt hatte, das ihm jemand über Nacht auf den Tisch gestellt hatte. Doch als er mir das Ding zeigen wollte, war es wieder verschwunden gewesen. Damals hatte ich geglaubt, er sähe vor lauter Überarbeitung bereits Gespenster, und seine Nerven könnten ihm einen Streich gespielt haben. Nun war mir allerdings klar, was der seltsame Zwischenfall zu bedeuten hatte. Das einzige, was mich damals wirklich gewundert hatte, war, daß es plötzlich zwei vollkommen gleiche Aschenbecher gab. Ich war mir jedoch sicher, daß es dafür eine ganz einfache Erklärung geben mußte.
“Dieser geheimnisvolle Apparat von damals, das war dieser da!” sagte der Doktor und zeigte auf den ‘Timeflyer’. “Und ich selbst habe den Aschen- becher entfernt, weil ich keine Ahnung hatte, was ich in Wirklichkeit tat.”
“Und Sie haben sich niemals an diesen Vorfall erinnert?” fragte Prof. Riechling verblüfft. “Auch nicht später, während wir an diesem Gerät gearbeitet haben?”
“Nein, niemals! - Das heißt, wahrscheinlich nicht. Doch auf einmal bin ich mir gar nicht mehr so sicher...”
“Erstaunlich,” meinte der Professor. “Ein hochinteressantes Phänomen.” Er winkte mich zu sich. “Kommen Sie, Fräulein Wieland, dazu sollten wir uns einiges notieren.” Und dann diktierte er mir den Verlauf dieser merk- würdigen Geschichte und fügte eine endlose Reihe von Vermutungen und Erklärungsversuchen hinzu.
Das eigentliche Experiment, die Reise eines Gegenstandes in die Zukunft, fand mit knapp drei Stunden Verspätung statt und verlief ohne weitere Zwischenfälle. Diesmal wurde ein Briefbeschwerer an den Drähten befestigt, und nach genau einer Stunde und zweiunddreißig Minuten des Wartens, die Dr. Weißgerber mit Erläuterungen über die einzelnen Funktionen des Gerätes ausfüllte, tauchte er unbeschadet vor unseren Augen wieder auf.
Nun zeigte Dr. Weißgerber seinen Gästen auch die bereits erwähnte Uhr auf der Rückseite des Apparates. Sie war auf zwei Stunden eingestellt. Unmittelbar nach dem Wiedererscheinen des Briefbeschwerers schob er den Zeiger auf Null, “....um zu verhindern, daß das Gerät nach Ablauf dieser zwei Stunden wieder in die Ausgangszeit, die ja jetzt unsere Vergangenheit ist, verschwindet und somit für uns verloren wäre,” erklärte er.
Tief beeindruckt trennte sich die kleine Runde kurz vor halb drei Uhr. Jeder einzelne von uns tat sich schwer, das fantastische Erlebnis mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen.

Auch in dieser Nacht war es mir unmöglich, gleich einzuschlafen. Mein Innerstes war bis zum Zerreißen angespannt, und ich hätte gern mit jemandem geredet, hätte gern jemandem all das mitgeteilt, was ich erlebt hatte. Doch das durfte ich nicht! Ich hatte versprochen, es niemandem zu erzählen, weder meinen Eltern, noch Klaus. Keiner Menschenseele, - außer vielleicht..., ich knipste das Licht wieder an, ...außer Blackhead-Charly!
Er lehnte vor mir an der Wand, breitbeinig, mit vor der Brust verschränkten Armen, den Kopf mit den schwarzen, wie kleine Lanzenspitzen abstehenden Haaren leicht zurückgebeugt. Er trug einen engen Anzug aus schwarzglän- zendem Leder, gespickt mit glitzernden silberfarbenen Nieten, dazu hohe schwarze Schaftstiefel. Ein großer steifer Kragen lenkte die Aufmerk- samkeit auf sein schwarz-weiß geschminktes Gesicht, und nur, wenn man ganz genau hinsah, bemerkte man den sanften Blick der braunen Augen unter den dunklen schräggestellten Brauen und das fast zärtliche Lächeln, das um seine Lippen lag.
“Hallo, Blackhead-Charly,” sagte ich zu ihm.
“Hi, Karin!” antwortete er und lächelte. “How are you?”
“Ach, Charly! Wenn du wüßtest, was ich heute erlebt habe!” Ich seufzte. “Ich wünschte, ich könnte dir die ganze Geschichte erzählen.”
Er zwinkerte mir zu. “You can do!” sagte er. “I’m your friend, that’s why I’m here to see you...”
Die Turmuhr der Kirche schlug dreimal, und der Zauber des Augenblicks fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Vor mir an der Wand klebte ein lebensgroßer Poster des Sängers. Wenn ich ihn anschaute, fiel mir das Märchen von Hauff ein, das von einem Bären erzählte, durch dessen struppiges häßliches Fell manchmal für einen kurzen Augenblick die goldene Haut eines verwunschenen Prinzen schimmerte. Charly war mein Prinz. Inzwischen wußte ich längst alles über ihn. Auch, daß er nicht aus England oder Amerika kam, wie ich zuerst angenommen hatte, sondern aus einer ganz unbedeutenden kleinen Stadt in Süddeutschland, die kaum jemand kannte. Vor kurzem war seine zweite Single mit dem Titel ‘Angel’ herausgekommen, und es schien, als ginge es in diesem Song um dieselbe unglückliche Liebe, von der er schon in “Twilight” erzählt hatte. Ich schaltete den Plattenspieler ein und setzte die Kopfhörer auf, dann knipste ich das Licht wieder aus, schloß die Augen und hörte mir noch einmal die Geschichte von Angel an, dem guten Engel, der großartige Zukunfts- visionen hatte, und der versprach, daß das Leben eines Tages wunderschön sein würde.




Ein Star wird geboren



Kurz vor Weihnachten spielten die Rhine-Steamers auf der Weihnachts- feier eines Kleintierzüchtervereins. Das Publikum war nicht mehr das jüngste, und Frisko hatte ein paar Oldies ausgesucht, die sie speziell für diese Veranstaltung geprobt hatten. Ihr Auftritt war ein voller Erfolg, sogar die Senioren hatten getanzt, mitgesungen und tüchtig applaudiert. Als gegen ein Uhr Schluß war, zogen sich die Musiker in einen kleinen, für sie reservierten Raum zurück und verstauten ihre Instrumente.
Markus wischte sich den Schweiß von der Stirn. “Ist doch prima gelaufen, oder?” fragte er in die Runde. Die anderen brummten Zustimmung. Sie alle waren hundemüde.
Kalle zog sich das dunkelrote Jackett mit den Glitzerfäden aus und hängte es über die Stuhllehne. Unter den Achseln des schwarzen T-Shirts, das er darunter trug, zeichneten sich große feuchte Schweiß- flecken ab. Er setzte sich, streckte die Beine aus und gähnte.
Als es klopfte, machte keiner der Fünf Anstalten, ‘herein’ zu rufen, geschweige denn aufzustehen, um nachzusehen, wer um diese Zeit noch etwas von ihnen wollte. Kurz darauf öffnete sich die Tür und ein Mann steckte den Kopf herein: Mitte dreißig, Dreitage-Bart und zwei kleine Ringe im rechten Ohr. Sein Haar war leicht gelockt und länger, als bei Männern im allgemeinen üblich. Fragend schaute er von einem zum anderen, bis sein Blick an Kalle hängenblieb. “Herr Schwarzkopf?”
“Ja, der bin ich.”
“Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?”
“Ja, klar.” Kalle schaute sich im Raum um und suchte nach einem Platz, wo man ungestört hätte reden können.
Der Fremde winkte ab. “Lassen Sie sich Zeit, ich warte draußen an der Theke,” sagte er, und schon war er wieder verschwunden.
“Wer war denn das?” fragte Wolf verwundert.
“Keine Ahnung.”
Zwar war Kalle neugierig, aber auch viel zu müde, um gleich aufzuspringen und dem Mann zu folgen. Sich reckend kam er langsam in die Höhe und zog das Jackett wieder an.
Die meisten der Gäste waren schon gegangen, als er in den Saal zurückkam. Die Helfer hatten bereits angefangen, die herumstehenden Gläser und Flaschen einzusammeln und die Stühle auf die Tische zu stellen. Nur vereinzelt ließen noch ein paar Unermüdliche das Fest laut singend ausklingen.
Der Fremde hatte sich an der Theke ein Bier bestellt. “Was trinken Sie?” fragte er, als sich Kalle zu ihm setzte.
“Dasselbe wie Sie.”
Das Bier tat gut. Kalle trank in einem Zug das halbe Glas leer und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund. Der Fremde beobachtete ihn lächelnd. “Ganz schön anstrengend, einen Abend lang auf einem solchen Fest zu spielen, was?”
Kalle nickte. “Da haben Sie recht.”
“Herr Schwarzkopf, Sie wissen nicht, wer ich bin, oder?”
“Nein.”
Der Mann nickte. “Das dachte ich mir. Ich habe zwar auch mit Musik zu tun, ich bin aber eher jemand, der im Hintergrund arbeitet.”
Er zog eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Jacketts und legte sie vor Kalle auf die Theke.
Das erste, was Kalle erfaßte, war der Schriftzug der Atlantis-Music-GmbH, und sein Herz tat einen Satz. Die Atlantis war eine der ganz großen Platten-Firmen, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte er eine Vision: Er sah sich, eine LP der Rhine-Steamers in den Händen haltend, sah ihren Namen und ihre Titel ganz groß auf den obersten Plätzen der Charts... Gleichzeitig wurde ihm bewußt, daß er mit dieser Vorstellung wohl ein wenig zu hoch gegriffen hatte. Sie mußten schon dankbar sein, wenn sie bei der Atlantis ein Demo-Band einreichen durften. Er lächelte. “Unsere Musik hat Ihnen also gefallen?” fragte er zuversichtlich. Sein Blick fiel wieder auf die Visitenkarte. Der Mann hieß Richard Stromberg. Er konnte sich erinnern, diesen Namen schon irgendwann einmal gehört oder gelesen zu haben. Da er sich nicht mit fremden Federn schmücken wollte, fügte er hinzu: “Vielleicht wäre es besser, Sie würden mit Fritz Koopmann reden. Er ist quasi der Manager unserer Band. Seit er sich um alles kümmert, ist es wirklich ein Stück aufwärts gegangen mit uns. Er regelt alles, was es zu regeln gibt. Ich könnte ihn herholen...”
Richard Stromberg schüttelte den Kopf, lächelte und zündete sich eine Zigarette an. “Ich bin nicht an der Gruppe interessiert, Schwarzkopf,” sagte er.
Kalle war enttäuscht. “Nicht?”
“Nein. Die Gruppe ist Durchschnitt. Provinziell. Nichts besonderes.” Er machte eine Pause. “Aber von Ihnen würde ich mir gern ein bißchen mehr anhören.”
“Von mir?” Kalle war verblüfft. “Es gibt tausende, die besser Gitarre spielen, als ich. Wieso gerade von mir.”
Stromberg lachte. “Da haben Sie recht, für eine Solo-Karriere als Gitarrist würde’s wohl kaum reichen. Aber ihre Stimme gefällt mir.”
“Meine Stimme?”
“Sie ist zwar noch etwas unausgegoren und unfertig, aber man könnte zweifellos etwas daraus machen.”
Nun verschlug es Kalle wirklich die Sprache.
“Wie gesagt, es gäbe noch allerhand daran zu arbeiten, aber dann...!”
“Und für die Rhine-Steamers können Sie nichts tun?” Seinen Musiker- Kollegen gegenüber fühlte sich Kalle wie ein Verräter.
Stromberg schüttelte den Kopf. “Vergessen Sie die Rhine-Steamers. Kommen Sie in den nächsten Tagen mal in mein Studio in der Luisenstraße.” Er wies auf die Visitenkarte, die noch immer auf der Theke lag. “Am Dienstag vielleicht. Abends, um sieben Uhr.”
Kalle nickte wie im Traum.
“Natürlich dürfen Sie sich nicht allzuviel davon versprechen, es sind nur ein paar Tests, die ich mit Ihnen machen möchte. Aber ich denke, einen Versuch ist es wert.”
Kalle konnte noch immer nicht antworten.
Stromberg stieg vom Barhocker. “Also dann, Schwarzkopf, bis zum Dienstag abend, in Ordnung?” Er klopfte Kalle auf die Schulter, hob noch einmal kurz die Hand zum Gruß und ging.
Kalle blieb einen Augenblick lang reglos sitzen, als hätte er einen Spuk erlebt. Als er zu seinen Freunden zurückkam, wußte er nicht, wie er sich verhalten und wie er ihnen beibringen sollte, was er gerade gehört hatte. “Das war Richard Stromberg, er will Probeaufnahmen von mir machen,” sagte er, noch immer völlig benommen.
“Für einen Film?” fragte Markus ungläubig.
“Nein, von meiner Stimme. Er ist von der Atlantis.”
Das Schweigen, das nun folgte, war Kalle unangenehm. Er hätte gern auch die Band betreffend eine gute Nachricht überbracht, aber wie hätte er ihnen sagen können, wie niederschmetternd Strombergs Urteil über sie ausgefallen war? - Durchschnitt! Provinziell!
“Na prima,” meinte Dieter nach kurzem Schweigen. “Ich finde deine Stimme auch gut. Und vielleicht kannst du bei dieser Gelegenheit auch etwas für unsere Band tun.”
“Das werde ich auf jeden Fall versuchen.”

Das Studio von Richard Stromberg befand sich im Kellergeschoß eines Neubaues in der Luisenstraße. Das Messingschild neben dem Eingang war unauffällig, - ja, fast nichtssagend. Es ließ nichts von der inneren Aufruhr erahnen, mit der vermutlich viele der Besucher dieser Adresse zu kämpfen hatten. Auch Kalle hatte Herzklopfen. Vor der Tür zwang er sich zuerst einmal, eine Minute lang stehenzubleiben und tief durchzuatmen, bevor er läutete. Eine junge Frau mit blonden Locken öffnete ihm. “Herr Schwarzkopf?” fragte sie lächelnd, noch bevor er sich vorstellen konnte. “Herr Karl-Heinz Schwarzkopf?” Und nachdem er wortlos genickt hatte, fügte sie hinzu: “Bitte kommen Sie doch herein, Herr Stromberg erwartet Sie bereits.”
Die junge Frau trug einen engen pinkfarbenen Minirock, und ihr Anblick, als sie ihm durch einen langen Korridor voranging, war keineswegs uninteressant. Doch Kalle war in diesem Moment blind für alles, was um ihn herum geschah. Mechanisch folgte er ihr in ein Aufnahme-Studio, - zumindest glaubte er, daß es sich um ein solches Studio handeln mußte, weil er in Zeitschriften schon Fotos von ähnlichen Räumen gesehen hatte. Vor einem Mischpult, einer riesigen Anlage mit unzähligen Reglern, Knöpfen und Tasten, saß Stromberg, in ein lebhaftes Gespräch vertieft mit einer dunkelhaarigen Frau, die an der Fensterbank lehnte. Er trug Jeans und ein offenes kariertes Hemd über einem weißen T-Shirt, und er sah keinesfalls so aus, wie sich Kalle ein hohes Tier in der Musik-Produktion vorgestellt hatte. Als Kalle hereingeführt wurde, stand Stromberg auf und schüttelte ihm die Hand. Die dunkelhaarige junge Frau stellte er ihm als seine Schwester vor. “Martina ist meine rechte Hand,” sagte er. “Sie versteht vom Musikgeschäft mindestens ebenso viel wie ich. Wir arbeiten schon seit Jahren zusammen.” Er bot Kalle Platz an und fragte ihn, ob er eine Tasse Kaffee möchte. Kalle fühlte sich unsicher und wußte nicht, was er antworten sollte. Er wollte weder unhöflich sein noch zu dreist erscheinen. Erst, als er ein Tablett mit einer Thermoskanne und Kaffeegeschirr auf der Fensterbank stehen sah, nickte er und erwiderte: “Ja, bitte. Gern.”
Martina schenkte ihm ein. “Sie haben ein Riesenglück gehabt, daß Ritchie an diesem Abend bei den Kleintierzüchtern war und Sie gehört hat,” erklärte sie. “Unser Vater ist seit dreißig Jahren Mitglied in dem Verein. Er ist nicht mehr gut zu Fuß, deshalb hat Ritchie ihn hingefahren und versprochen, ihn auch wieder abzuholen. - Milch und Zucker stehen da drüben. Bitte bedienen Sie sich.”
Fünf Minuten später räkelte sich Richard Stromberg über die Stuhllehne und klatschte in die Hände. “Also, los geht’s, Schwarzkopf! Fangen wir mal an! Ich hab mir das folgendermaßen vorgestellt: Zuerst singen Sie mal ein paar Takte bekannter Songs zum Playback, und dann habe ich da noch ein paar tolle Sachen in der Schublade, für die ich mir jemanden wie Sie gut vorstellen könnte.”

Am Heiligen Abend tauchte Kalle das erste Mal nach Wochen wieder bei Carlo auf. “Das gibt’s doch nicht!” rief der augenzwinkernd. “Daß du dich überhaupt noch an mich erinnerst!” Er schob seinen Besucher in Richtung Treppe und schloß die Haustür hinter ihm. Kalle freute sich über das Leuchten in seinen Augen. “Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, wie du weißt,” entschuldigte er sich mit einem Grinsen, “für ein Privatleben bleibt mir kaum mehr Zeit.”
Carlo lachte. “Ja, ja, du Super-Star! Ich bin gespannt, was du mir Neues zu berichten hast. Du schienst mir reichlich verwirrt und durcheinander am Telefon neulich.”
Es tat gut, wieder mit Carlo in seiner kleinen gemütlichen Dachwohnung zusammenzusitzen und zu reden, dachte Kalle. Und dann erzählte er ihm bis ins Detail alles, was er in den vergangenen Tagen und Wochen erlebt hatte, von den letzten Proben und Auftritten der Rhine-Steamers bis hin zur schicksalhaften Begegnung mit Richard Stromberg. Und vor allem von der Arbeit im Studio, die so neu und so faszinierend für ihn war. “Du kannst dir nicht vorstellen, wie es dort aussieht, Carlo. Die Wände hängen voll mit goldenen Schallplatten und Fotos berühmter Leute. Und dann die Bandmaschinen! Und all die anderen Geräte, von denen ich nicht mal ahne, wofür sie überhaupt da sind,” berichtete er begeistert. “Das Mischpult nimmt die ganze Front des Raumes ein und ist ein einziges Gewirr von Knöpfen, Reglern und Lämpchen, - ein wahrer Zauberkasten! Am ersten Abend haben wir von sieben bis elf zusammen gearbeitet, und doch ist es mir vorgekommen, als ob es nur eine einzige Stunde gewesen wäre. Stromberg hat verschiedene Playback-Tapes bekannter Interpreten eingelegt, nur die Musik, verstehst du? Ich mußte Kopfhörer aufsetzen und dazu singen. Zum Beispiel 'Über sieben Brücken mußt du gehn' von Peter Maffay, - kennst du doch sicher, oder? Wir haben es ein paarmal wiederholt, und Stromberg hat mir Tips gegeben und mir gesagt, was ich anders machen muß, und wie eine bestimmte Stelle besser klingen würde. Später haben wir dasselbe dann auch noch mit Songs von Bon Jovi gemacht. Stell dir mal vor, Carlo, - Bon Jovi!” Seine Augen glänzten, und Carlo mußte lächeln. Er unterbrach ihn aber nicht, sondern hörte geduldig zu. Bisher hatte er den Freund nur ein einziges Mal so schwärmerisch reden hören, und zwar damals, als er ihm von Angela erzählt hatte.
“Dann hat er noch einen völlig neuen Song mit mir eingeübt, eine Rock-Ballade. Das war gar nicht so einfach, weil er eine ganz bestimmte Vorstellung davon hatte. Er sagte zu mir: ‘Laß dich fallen und stell dir vor, du wärst irgendwo am Meer oder sonstwo, wo es dir gefällt. Sing aus dem Bauch heraus, ohne zu denken. Schließ einfach die Augen und vergiß, wo du bist.’” Kalle lachte. “Aber mach’ das mal, wenn du den Text ablesen mußt.”
Tief Luft holend lehnte er sich auf dem alten Sofa zurück. “Ich wünschte, ich könnte es Angie erzählen,” sagte er und fuhr mit einer zärtlichen Handbewegung über den ausgeblichenen Plüsch. “Sie hat es immer gewußt.”
“Vielleicht kannst du es ihr ja eines Tages erzählen,” sagte Carlo.
Kalle nickte traurig. “Wenn sie es dann noch hören will.”
Carlo schwieg. Über das Thema Angela hatten sie lange genug debattiert. Er schenkte Kaffee ein und stellte den Teller mit dem Christstollen auf den Tisch. “Und? Hat Stromberg die Probeaufnahmen inzwischen schon ausgewertet?” fragte er. “War er zufrieden?”
Kalle richtete sich wieder auf und nickte. “Ja, klar, hat er! Am Donnerstag hat er mich angerufen und auf Freitag wieder ins Studio bestellt. Carlo, du glaubst nicht, was aus den Aufnahmen gemacht worden ist! Es klang, als hätten wir mit einer ganzen Band zusammen- gearbeitet. Mit einer Super-Band, nicht mit sowas wie den Rhine- Steamers. Das kannst du dir nicht vorstellen! Es klang fantastisch. Es ist nicht so, daß er meine Stimme verändert hätte, aber mit diesem Playback...! Ich konnte kaum glauben, daß ich das sein sollte, schließlich hab ich mich noch nie selbst singen hören. Ich hatte ja gar keine Ahnung, daß ich das überhaupt kann. Es klang so... professionell, verstehst du? - Mein Gott, wenn das der alte Frankenreiter wüßte! - Das war unser Musiklehrer...”
Carlo lachte.
“Und weißt du, was das Tollste ist?” erzählte Kalle weiter. “Am Freitag habe ich meine Gitarre mitgenommen und ihm einfach mal meine beiden Songs vorgesungen. Du weißt schon, meine eigenen. Und stell dir vor, er fand sie gut!”
Er machte Strombergs Stimme nach und rezitierte: “So mußt du alles singen, Schwarzkopf. Da packst du dein ganzes Herzblut rein, all deine Emotionen.”
Er lächelte in Gedanken versunken, dann zwinkerte er Carlo zu und meinte lachend: “Kein Wunder, den Text könnte ich schließlich im Schlaf singen.”
“Und wie geht es nun weiter?” wollte Carlo wissen.
“Stromberg will, daß wir auch zwischen Weihnachten und Neujahr intensiv zusammen arbeiten. Er möchte verschiedene Titel aufnehmen, ein paar Remakes, ein paar neue Songs... Er meint, vielleicht ließe sich was daraus machen. - Naja, wir werden ja sehen. Auf jeden Fall freu ich mich drauf! Das erste mal in meinem Leben freue ich mich richtig auf die Arbeit, die ich tun muß, Carlo, - verstehst du?”
“Und die Rhine-Steamers? Was sagen die dazu?”
Kalle schüttelte bedauernd den Kopf. “Es tut mir leid für sie, aber wenn das mit Stromberg was werden sollte, werden sie wohl in Zukunft öfter ohne mich auskommen müssen. Eigentlich schade, gerade jetzt, wo es anfing, gut zu laufen. Aber was soll ich denn machen...? Wenn Stromberg wirklich recht behält, wird mir in Zukunft nicht mehr allzuviel Zeit für sie bleiben.”
Carlo legte ihm die Hand auf den Arm. “Ich freu mich für dich, Kalle, ehrlich! Und ich drück dir die Daumen dafür, daß du Erfolg hast, das weißt du. Ich hoffe nur, daß du, wenn es wirklich klappen sollte und du eines Tages ein gefragter Sänger sein wirst, den alten Carlo nicht ganz vergißt.”
Kalle legte ihm den Arm um die Schultern. “Das wird nie passieren, Carlo! Bestimmt nicht! Wir bleiben Freunde bis in alle Ewigkeit.”

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Texte: Copyright by Doris Bühler - Leseprobe -
Tag der Veröffentlichung: 03.04.2011

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