Cover

Kläre Buntschuh feierte Geburtstag. Ihren fünfund- neunzigsten. Wie eine Königin thronte sie stolz und hoch aufgerichtet an der Stirnseite der Festtafel und schaute mit ihren kleinen stechenden Augen in die Runde ihrer Lieben. Alle waren sie gekommen: Sohn Robert mit seiner dürren häßlichen Frau zu ihrer Linken, auf der rechten Seite Tochter Beate und ihr arroganter Ehemann. Dahinter folgte eine Schar von Enkeln und Urenkeln, und weiter hinten Leute, mit denen sie wenig zu schaffen hatte: diverse Vettern und Basen, Nichten und Neffen, von denen sie ohnehin nicht allzuviel hielt.

Da saßen sie nun alle und plapperten durcheinander. Sie hatten sich lange nicht gesehen, und eine Feier wie diese bot Gelegenheit, zu zeigen, wer man war und was man hatte. Und vielleicht auch ein klein wenig mehr daraus zu machen, als in Wahrheit dahintersteckte. Kläre fing hier und da ein paar Wortfetzen auf. Da prahlte jemand mit seinem neuen Auto, ein anderer erzählte stolz vom Ausbau seines Dachgeschoßes, und wieder andere diskutierten über Kindererziehung und gaben Ratschläge für ein gesundes Eheleben. Kläre rümpfte verächtlich die Nase. Das war nicht mehr ihre Welt, über derartig banale Themen war sie längst erhaben.

Sie seufzte. Sie fühlte sich einsam in dieser Runde. Mit dem jungen Gemüse wußte sie nichts anzufangen. Von ihren fünf Geschwistern war sie die einzige, die übriggeblieben war, und Wilhelm, ihr Mann, - Gott hab ihn selig, - war ihr schon vor fast zwanzig Jahren ins Grab vorausgegangen. Sie schnaubte, wenn sie daran dachte. ‘Das war typisch für ihn,’ sagte sie sich zum wiederholten Male, ‘schon zu Lebzeiten hat er es meisterlich verstanden, sich im richtigen Moment abzusetzen und vor der Verantwortung zu drücken.’ Ja, der Wilhelm! Er war der erste gewesen, der sich davongemacht hatte, inzwischen waren auch seine Brüder längst von der Bühne abgetreten, - einer nach dem anderen. Nun war nur noch sie übrig, - sie und eine stattliche Anzahl von Nachkommen.

Und heute feierten nun alle ihren Ehrentag. Gierig machten sie sich über die Fleischplatten her, leerten Schüsseln voll Gemüse, Kartoffeln und Soße, als hätten sie seit Tagen nichts Anständiges mehr zu essen bekommen. Es kostete ja nichts, das mußten sie ausnutzen. Heute ging alles auf Kläres Rechnung. Die sollte ruhig mal ein bißchen bluten, die hatte doch, weiß Gott, mehr als genug! Sie nickten ihr zu und lächelten. Ab und zu richtete sogar jemand das Wort an sie, erkundigte sich, wie sie sich fühle, ob die Beine noch mitmachen oder wie es um ihren Blutdruck stehe. Und manche erzählten ihr von Leuten, die sie nicht kannte, oder deren Existenz sie schon längst vergessen hatte, - pikante Geschichten, von denen man annahm, sie könnten sie amüsieren. Man sprach langsam mit ihr, sehr langsam. Und laut und deutlich. Wie mit einem Kind, das noch nicht alles verstand. Ja, sie waren alle sehr freundlich zu ihr, - wirklich! Vielleicht ein wenig zu freundlich, dachte sich Kläre. Sie gaben sich viel Mühe, sie glauben zu machen, daß man sie liebte und verehrte. Ha, sie wußte es besser. Das war nur Theater! Erben wollten sie! Erben, und sonst gar nichts! Einer wie der andere. Wäre sie arm wie eine Kirchenmaus, kein Hahn würde nach ihr krähen. Dann säße sie heute wahrscheinlich einsam und verlassen irgendwo in einer ärmlichen Hütte oder in einem drittklassigen Altersheim und müßte sich von einer herzlosen Schwester herumkommandieren lassen. Oder sie wäre längst gestorben. - Obwohl das vielleicht nicht einmal das Schlechteste gewesen wäre.

Kläre griff nach dem Krönchen, das man ihr zur Feier des Tages aufgesetzt hatte. Es war ein wenig verrutscht. Sigrid sprang auf, kam ihr zu Hilfe und rückte es wieder zurecht. “Alles wieder in Ordnung, Omama,” sagte sie fröhlich, “jetzt siehst du wieder hübsch aus.” Kläre hätte es lieber heruntergenommen. Es war ihr albern vorgekommen, dieses Ding aufzusetzen. Aber es war wohl üblich an einem Tag wie diesem, wie ihr Sigrid versichert hatte, deshalb sagte sie sich, daß sie schon Schlimmeres in ihrem Leben hatte ertragen müssen, als ein Krönchen aus Goldpapier auf dem Kopf. Das Krönchen war natürlich Sigrids Idee gewesen. Wie alles Sigrids Idee gewesen war, was man für die Geburtstagsfeier organisiert hatte: Das Lokal am See, das Essen mit vier Gängen, Kaffee und Kuchen am Nachmittag..... Für später war noch eine Überraschung angekündigt worden.

Kläre beobachtete, wie die junge Frau wieder an ihren Platz zurückging und sich setzte. Hübsch war sie ja. Gertenschlank und anmutig in ihren Bewegungen. Und sicher auch klug, sonst hätte sie wohl kaum ihr Examen mit ‘Sehr gut’ bestanden. Sie hatte sich wirklich Mühe gegeben, den heutigen Tag so schön wie möglich zu gestalten, das mußte man ihr lassen. Warum aber tat sie das alles? Doch wohl nicht ganz ohne Grund, oder? Niemand trieb einen solchen Aufwand ohne Hintergedanken, davon war Kläre überzeugt. Wollte sie nicht im Spätsommer mit dem Bau ihres Hauses beginnen? Erhoffte sie sich da nicht vielleicht einen kleinen Zuschuß von ihrer Urgroßmutter? Gab sie sich vielleicht deshalb so hilfsbereit, und kam regelmäßig jede Woche vorbei, um nach ihr zu sehen? Um sich unentbehrlich zu machen und zu zeigen, daß sie die einzige war, die das Erbe wirklich verdiente? - Langsam, langsam, Sigrid, so schnell schießen die Preußen nicht! Kläre war mißtrauisch geworden, sie hatte in ihrem Leben schon zu viele Enttäuschungen hinnehmen müssen. Obwohl ihr Sigrid tatsächlich noch die liebste von allen war. Aber lieb genug, um zu erben??

Kläre seufzte wieder. Sie wußte genau, was sie von ihrer lieben Verwandtschaft zu halten hatte. Da war doch vorhin beim Servieren der Suppe der Satz gefallen: “Hätte nie gedacht, daß die alte Spinatwachtel noch so lange durchhält.” Sie hatte es ganz klar und deutlich gehört. Ihre Ohren waren das einzige, worauf sie sich noch hundertprozentig verlassen konnte. Aber das brauchte niemand zu wissen. Seit Jahren spielte sie die Schwerhörige, weigerte sich aber hartnäckig, ein Hörgerät zu tragen. Auf diese Weise hatte sie schon so manches erfahren, was sie eigentlich gar nicht hätte erfahren sollen. Spinatwachtel! Das hatte sie hart getroffen. Was für ein häßlicher Ausdruck! Es könnte der Mittvierziger im karierten Jackett gewesen sein, der diesen respektlosen Ausspruch von sich gegeben hatte. Zuzutrauen wäre es ihm. Starrte er sie nicht schon seit einer halben Stunde ganz unverblümt an? Wer war dieser Mensch überhaupt? Er saß neben Großnichte Renate, wahrscheinlich war er ihr Mann.
‘Angeheiratet!!!’ dachte Kläre voller Abscheu. Mein Gott, wie sich die Menschen verändert hatten in den letzten Jahrzehnten. Zu ihrer Zeit, da war man noch feinfühlig und taktvoll, und wenn man schon über jemanden herziehen mußte, dann tat man es hinter vorgehaltener Hand. Heute sagten sie alles ganz offen heraus. Sie waren freizügig und ordinär geworden, hatten keinen Stil mehr, keinen Sinn mehr für das Feine. Es fehlte ihnen einfach an Lebensart.

Mißmutig stocherte sie in ihrem Teller herum. Rinderbraten! Wie gern hatte sie früher Rinderbraten gegessen und sich dazu ein Gläschen Rotwein genehmigt. Inzwischen konnte sie das Fleisch nicht mehr so recht beißen, und durch die Gicht in den Fingern hatte sie Mühe, es kleinzuschneiden. Ihre Schwiegertochter hatte zwar angeboten, ihr behilflich zu sein, aber sie wollte keine Hilfe. Von Bettina schon gar nicht. Und niemals hätte sie es zugelassen, daß man ihr kleine eßgerechte Bissen schnitt wie einem Baby. Niemals! So mußte sie sich wohl mehr an das Gemüse halten. Wenn sie sich konzentrierte, bekam sie das Zittern in ihren Händen soweit in Griff, daß ihr nicht die Hälfte wieder von der Gabel rutschte. Zum Glück hatte sie schon lange nicht mehr solchen Appetit wie in jungen Jahren. Ein kleines Stückchen Fleisch, ein Löffel Gemüse, eine mittelgroße Kartoffel, das reichte ihr. Sie seufzte erneut. ‘Was soll’s’, dachte sie, in ihr Schicksal ergeben, eigentlich konnte sie sich nicht beklagen. Schließlich hatte sie in ihrem Leben schon genug Rinderbraten und andere Delikatessen gegessen! “Noch etwas Gemüse, Mama?” fragte Robert zu ihrer Linken. “Nein, danke.” Sie schüttelte den Kopf und tupfte sich mit der Seviette den Mund ab. “Aber du hast doch immer gern Gemüse gegessen.” Sie warf ihm einen strengen Blick zu. “Ich habe gesagt ‘Nein, danke!’” Robert beugte sich wieder über seinen Teller. Sie betrachtete ihn nachdenklich. Er wurde Wilhelm immer ähnlicher. Dieselbe hohe Stirn, dasselbe schüttere Haar, dieselben wässrig-blauen Augen.......... Nur die Hakennase, die hatte er von ihr. Sie lachte leise. Es klang wie das verhaltene Meckern einer Ziege. Wie auf Kommando richteten sich die Blicke der Tafelgäste auf sie. Man nickte ihr zu und lachte mit, als hätte sie eine geistreiche Posse erzählt. Diese Schmarozer! Glaubten sie wirklich, sie hätte sie nicht durchschaut? Dachten sie, sie wüßte nicht, wie gleichgültig sie ihnen im Grunde war? Daß sie keiner mehr ernst nahm? Wer war man denn noch mit fünfundneunzig? Ein altes Weib, mit dem man nichts mehr anzufangen wußte, das niemand mehr wollte. Da wurde man für verkalkt gehalten, ob man es nun war oder nicht. - Ach, genaugenommen hatte es doch schon mit achtzig angefangen. Oder vielleicht sogar noch früher? Vor allem die Jugend, die kannte keinen Respekt mehr. Ihr Ur-Ur-Enkel Wieland war eines dieser modernen aufsässigen Kinder, die alles besser wußten. Sie konnte ihn partout nicht leiden! Mit Kompjuter, Wokmenn und Geemboi, - Ausdrücke, die sie irgendwann einmal aufgeschnappt hatte, - glaubte er, gescheiter zu sein, als alle Generationen vor ihm. Dieses neumodische Zeug, mit dem die Kinder heutzutage spielten! Wußten sie überhaupt noch, was ein Ball war? Oder ein Kreisel? Hätten sie mit Zinnsoldaten etwas anzufangen gewußt? Kannten sie Seilspringen oder Himmel und Hölle? Und warum sagten sie so vieles auf Englisch! - Wenn sie sich schon nicht in ihrer Muttersprache auszudrücken wußten, dann sollten sie doch wenigstens französisch sprechen. Das klang elegant und edel. Kläre liebte Französich, und noch heute war sie stolz und dankbar, daß sie es 1920 an ihrer Mädchenschule hatte lernen dürfen.

Auch Manieren hatten die Kinder keine mehr. Sogar heute, an ihrem Festtag, trug der Junge eine Kappe. Und das im Juni! Und am Eßtisch! Und er hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, sie richtig herum aufzusetzen. Wenn der Wilhelm noch lebte, der hätte sie ihm längst vom Kopf gezogen und gefragt: ‘Hast du da etwa ein Spatzennest drunter?’ Heute hielt man eine solche Ungezogenheit scheinbar nicht mehr für schlimm genug, um dagegen einzuschreiten. Wieland war überhaupt ein schreckliches Kind, unfreundlich und überheblich. Wenn sie ihn etwas fragte, hieß es nur: “Uri!!! Das verstehst du nicht!” Und dabei verdrehte er die Augen gen Himmel, als könnte er es nicht fassen, daß sie noch immer Fragen hatte. In ihrem Alter! Als Ur-Ur-Großmutter! Seit einiger Zeit nannte er sie Uri. Das war irgendwie erniedrigend, fand sie. Das klang wie der Name für einen Saurier. Aber vielleicht war es auch nur der Ton, in dem er das sagte, der sie wirklich kränkte. Und einmal hatte er sie vor einem seiner Freunde ‘Grufti’ genannt, - er wußte ja nicht, daß sie es hörte. Grufti! Sie hatte verstanden! Ganz so dumm, wie er glaubte, war sie nun wirklich nicht. Sie hatte schon kapiert, was er damit sagen wollte. Sie schüttelte den Kopf. Oh ja, auch die Jugend hatte sich verändert. Natürlich waren Robert und Beate als Kind auch manchmal aufmüpfig gewesen, aber niemals hätten sie vergessen, daß den Eltern das letzte Wort zukam. Ha, der Wilhelm hatte seine Methoden gehabt, ihnen das klarzumachen, sollten sie es einmal vergessen haben! Er war ein strenger Vater gewesen.

Und wie war es damals, als sie selbst noch Kind war? Da war man den Erwachsenen mit Achtung und Respekt begegnet. Man knickste vor den Eltern und den Großeltern und bedankte sich artig, wenn man etwas geschenkt bekommen hatte. Man akzeptierte, daß sie klug und erfahren waren. Menschen, zu denen man aufblicken konnte.
Wie dieses kleine blonde Lockenköpfchen dort hinten auf der rechten Seite. Es schielte fortwährend zu ihr herüber, ganz verschüchtert, fast ehrfürchtig. Und jetzt lächelte es ihr sogar zu. Kläre lächelte zurück. Für eine Sekunde wurde ihr Blick ganz weich und sanft. Ein süßer kleiner Fratz, dachte sie. Ja, auch Kläre konnte sich vor dem Charme eines liebenswerten kleinen Mädchens nicht verschließen. Oder der kleine hübsche Junge im dunkelblauen Samtanzug daneben, der artig vor seinem Essen saß und schon geschickt mit Messer und Gabel umgehen konnte. Wer waren diese netten Kinder? Sie konnte sich schwach erinnern, daß man ihr die Namen genannt hatte, aber sie hatte sie wieder vergessen. Vermutlich waren es die Enkelkinder ihrer Großnichte Cordula. War dieses eingebildete Ding, das immer zum Film wollte und sich vor jeder spiegelnden Scheibe in Greta Garbo-Pose drehte und wendete, inzwischen auch schon Großmutter? - Mein Gott, wie die Zeit verging! Was war denn eigentlich aus Cordulas jüngerer Schwester geworden? Die Blonde, die eine Zeitlang in einem Bäckerladen Brötchen verkaufte, bis sie den kleinen dicken Walter heiratete? - Sie mußten doch auch hier sein, diese Schwester mit ihrem Walter. Wo saßen sie denn? Kläre schob ihren leeren Teller von sich und griff nach der Lorgnette, die an einer goldenen Kette um ihren Hals hing. Sie mochte dieses Ding. Es war überaus praktisch und sah obendrein noch gut aus. So französisch. Es verlieh ihr einen Hauch von Eleganz und Vornehmheit, das hatte sie vor dem Spiegel ausprobiert. Nun suchte sie unter den vielen Gesichtern nach Cordulas Schwester. “Mama, ist was?” fragte Robert neben ihr irritiert. Sie suchte weiter. “Nein, was soll denn sein?” Wieder lächelte ihr die ganze Sippschaft zu. Ah, und da war ja auch die Gesuchte. Hieß sie nicht Margarete oder Margret oder Margit? - So ähnlich jedenfalls. Mein Gott, hatte die sich herausgeputzt! War wohl extra beim Friseur gewesen. Sie trug ein großgeblumtes lila Kleid mit weißem Kragen. Wie es sich über ihren mächtigen Busen spannte! Sie sah sehr fraulich und mütterlich aus mit ihren fünfundfünfzig Jahren. Fünfundfünfzig? - Ja, Kläre nickte, das mochte hinkommen. Robert war acht Jahre alt gewesen, überlegte sie, sie selbst etwa achtunddreißig oder neununddreißig, als das Mädchen geboren wurde. Vielleicht auch erst siebenunddreißig? - Oder war es noch früher? Kläre winkte ab. Ach was, sie hatte keine Lust, nachzurechnen. Robert versuchte, ihre Handbewegung zu deuten. “Mama, stimmt was nicht? Hast du irgendeinen Wunsch?” “Nein, nein,” antwortete sie und beobachtete, wie er sich noch einmal Gemüse auf den Teller häufte.

Robert, ihr Sohn! Er hatte es ihr nicht leichtgemacht, als er zur Welt kam. Ein süßes rundliches Baby, über acht Pfund schwer. ‘So ein Wonneproppen!’ hatte sich die Hebamme gefreut. Und wie stolz der Wilhelm war, nun einen Stammhalter zu haben. Beate war zarter gewesen. Die Kinder waren überhaupt sehr verschieden voneinander. Robert blieb immer ein robustes Kind. Er war selten krank, lernte ohne Probleme und wuchs zu einem ansehnlichen jungen Mann heran. Über all die Jahre hat er ihnen nur Freude gemacht, bis..........! Kläre stieß einen tiefen Seufzer aus. Wie heißt es doch: Kleine Kinder, kleine Sorgen - große Kinder, große Sorgen! ‘Da ist was dran!’ dachte sie. Er war ein wirklich lieber Kerl, - bis zu dem Tag, an dem er diese Bettina mit nach Hause brachte. Dieses verwöhnte Mädchen, das alles haben wollte, möglichst ohne etwas dafür zu tun. Das immer nur die Hand aufhielt und maulte, wenn etwas nicht nach ihrem Willen ging. Robert war vernarrt in sie vom ersten Tag an. Dabei hätte er jede andere haben können! ‘Wir haben ihn gewarnt vor dieser Heirat, der Wilhelm und ich,’ dachte Kläre kopfschüttelnd, ‘aber er hat nicht auf uns hören wollen.’ - Der arme Junge, sicher war es nicht immer leicht für ihn mit dieser Frau, doch ............ c’est la vie! Er hatte sie unbedingt haben wollen, - nun hatte er sie!! Nur traurig, daß er seiner Frau im Laufe seiner Ehe immer ähnlicher geworden war. Inzwischen schien er genauso geldgierig und skrupellos zu sein, wie sie. Er konnte den Hals nicht voll genug kriegen. Und vielleicht wartete auch er schon darauf, daß seine Mutter das Zeitliche segnete und alles, was sie sich in ihrem Leben erarbeitet hatte, ihm gehörte. Ihm und seiner schrecklichen Frau.

Auch Beates Leben war nicht so verlaufen, wie sie als Eltern sich das vorgestellt hatten. Als Kind war sie klein und zerbrechlich gewesen, wollte nie richtig essen. Von Anfang an war sie Wilhelms Liebling, sein Herzblatt, sein Ein und Alles! Er kam fast um vor Eifersucht und Zorn, als dieser arrogante Kaufmannssohn daherkam und sie schwängerte. Gott sei Dank hat er sie dann auch geheiratet! Später hat sie noch zwei weitere Kinder von ihm bekommen, - das verstehe, wer will. Jahrelang betrog er sie, ohne daß sie jemals argwöhnisch geworden wäre, das dumme Ding. Sie muß ihm hörig sein, wie sonst hätte sie mit diesem Mann bis heute zusammenleben können. Ja, mehr noch, sie hat es nie zugelassen, daß man ein einziges böses Wort über ihn sagte. Eine Zeitlang hatte sie sich sogar mit ihren Eltern überworfen, seinetwegen. Erst als der Wilhelm auf dem Sterbebett lag, reichte man sich versöhnlich die Hand. Reine Formsache, verziehen hat sie ihnen nie. Kläre war froh, daß sie heute der Einladung zu ihrem Geburtstag gefolgt war. Was hätten sonst die Leute gesagt! Wenn die eigene Tochter........... Gott sei Dank hat sie ihr diese Blamage erspart

Kläre hob wieder die Lorgnette an die Augen und fixierte erneut die Magarete-Margret-Margit. Sie war ziemlich rundlich geworden. Bestimmt brachte sie ihre neunzig Kilo auf die Waage. Na, vielleicht sogar fünfundneunzig. Wenn sie nicht aufpaßte, würde sie einmal genauso aus dem Leim gehen wie ihre Mutter. Aber wer war denn der alte Mann neben ihr? War das nicht Vetter Johann? Kläre lachte wieder. Schau an, der schöne Johann, der allen Mädchen den Kopf verdreht hat! Alles was recht ist, fesch ausgesehen hat er damals, das ließ sich nicht leugnen. Groß und stattlich, mit braungebrannter Haut und vollem schwarzem Haar. Und Muskeln hatte der!! Ein Mannsbild wie aus dem Bilderbuch! Wenn er nicht um einige Jahre jünger gewesen wäre als sie, und wenn es nicht den Wilhelm damals schon für sie gegeben hätte........!! Olálà, man weiß ja nie! Vielleicht hätte auch sie schwach werden können bei einem Charmeur, wie es der Johann war. - Na, heute sah man nicht mehr viel davon. Er mußte wohl auch schon bald seine neunzig auf dem Buckel haben. Buckel im wahrsten Sinne des Wortes. Ein spindeldürres krummes Männchen mit fahler Haut, eingefallenen Augen und weißem Flaum auf dem Kopf. Der machte es ganz sicher nicht mehr lange.

Aber hatte er nicht einen Bruder, der auch nicht von Pappe war? Den Theo? - Wo war der Theo!!?? - Ach ja richtig, der war ja schon gestorben. Schon vor vielen Jahren, als der Wilhelm noch lebte. Sie waren zusammen auf der Beerdigung gewesen und hatten sich darüber geärgert, daß der Leichenschmaus so spärlich ausgefallen war. Aber man hatte ja gewußt, daß seine Frau Luise schon immer ein Geizkragen gewesen war. Wilhelm hatte geizige Menschen gehaßt, er selbst war immer sehr großzügig gewesen. In letzter Zeit redete sie manchmal mit ihm, wenn sie vor seinem Bild saß. Sie sagte ihm dann, wie sehr er ihr fehlte. Freilich hatte sie zu seinen Lebzeiten manchen Kampf mit ihm ausgefochten, aber im Grunde hatten sie sich bis zum letzten Tag recht gut verstanden. Oder etwa nicht? Hatte sie das vielleicht nur so in Erinnerung, weil immer nur das Schöne haften blieb, während alles Negative allmählich in Vergessenheit geriet? Zumindest war die erste Zeit mit ihm sehr schön, das konnte sie beschwören. Sie kicherte, wenn sie daran dachte, wie er damals in seinem neuen grauen Anzug vor ihren Eltern stand und um ihre Hand anhielt. Endlich, nachdem mit der hochnäsigen Fabrikantentochter, die ihn monatelang umgarnt und becirct hatte, Schluß war. Wie er ihrer Mutter seinen Blumenstrauß überreichte und ihrem Vater hoch und heilig versprach, immer treu für ‘seine kleine Kläre’ zu sorgen und stets für sie da zu sein. Kläres Wangen bekamen auf einmal ein wenig Farbe. “Mama, geht es dir nicht gut? Du hast doch nicht etwa Fieber?” fragte Robert besorgt und tätschelte ihren Arm. Ärgerlich schüttelte sie seine Hand ab. Was mußte er sie dauernd stören, wenn sie ihren Gedanken nachging. Er sollte sie doch endlich in Ruhe lassen! Sie alle sollten sie in Ruhe lassen!

Sie versuchte, sich wieder zu sammeln. Worüber hatte sie gerade nachgedacht? Ja richtig, über den Wilhelm! Er wollte immer treu für sie sorgen und stets für sie da sein, das hatte er versprochen. Sein Versprechen hat er auch gehalten, er hat immer für sie gesorgt. - Aber treu? Da war sie sich nicht so sicher. Da gab es doch dieses rothaarige Frauenzimmer............ Ach, was sollte sie sich heute noch darüber mockieren. Vorbei ist vorbei. Inzwischen stieg der Wilhelm keinen rothaarigen Frauenzimmern mehr nach, sondern saß da oben und wartete auf sie. ‘Du mußt dich noch ein kleines bißchen gedulden, Willi,’ hatte sie erst gestern zu seinem Bild gesagt. ‘Ich habe einfach noch keine Lust, den Löffel abzugeben!’

Apropos Löffel. Kläre stellte fest, daß die meisten ihrer Gäste nun mit dem Essen fertig waren. Drei junge Mädchen in adretten weißen Schürzen räumten das Geschirr ab und schenkten Wein nach. Als nächstes sollte es das Dessert geben. Kläre freute sich darauf. Sie mochte Süßes. Meistens war es weich und cremig, und man konnte es leicht hinunterschlucken, ohne es kauen zu müssen. Und wegen Löchern in den Zähnen brauchte sie sich keine Sorgen mehr zu machen, den Dritten konnte man so gut wie alles zumuten. Bis es soweit war, wollte sie noch einen Schluck Wein zu sich nehmen. Es fiel ihr schwer, mit der zittrigen Hand das Glas zu halten. Sie mußte sich konzentrieren. ‘Ruhig,’ sagte sie sich und bot ihre ganze Willenskraft auf, ‘ganz ruhig, nur nicht zittern!’ Es gelang ihr nicht ganz, aber doch soweit, daß der Wein nur ein wenig im Glas hin- und herschwappte, aber Gott sei Dank nichts danebenging. Der Wein war gut! Ein Trollinger-Lemberger, ganz nach ihrem Geschmack. ‘Man sollte sich viel öfter ein Gläschen zu Gemüte führen,’ dachte sie. Das war gut für’s Blut. Das frischte die Lebensgeister auf. Obwohl sie mit ihren fünfundneuzig längst nicht die Älteste in der Stadt war, - sie hatte in der Zeitung gelesen, daß eine gewisse Babette Neumann vor kurzem ihren 98. Geburtstag gefeiert hatte, - mußte sie doch zugeben, daß das eine oder andere allmählig nachließ und verschiedenes nicht mehr im allerbesten Zustand war. Eine kleine Auffrischung war daher immer angebracht. ‘Prost!’ sagte sie zu sich selbst. ‘Noch einen kleinen Schluck!’ Als schienen die lieben Verwandten nur darauf gewartet zu haben, hoben plötzlich alle ihre Gläser und prosteten ihr zu. Sogar die Kleinen mit ihren Sprudel- und Saftgläsern machten mit. “Ein Prosit auf unsere liebe Kläre!” rief jemand, und alle stimmten mit ein. “Auf daß sie hundert Jahre alt werde!” Und dann warteten sie darauf, daß sie den ersten Schluck nahm.

Kläre war ärgerlich. ‘Verdammt noch mal’, dachte sie, ‘wie soll ich mich darauf konzentrieren, nichts zu verschütten, wenn mich alle anstarren!’ Aber sie riß sich zusammen, quälte sich ein Lächeln auf die Lippen und bot erneut all ihre Kraft auf. Und es wäre auch gutgegangen, wenn ihr nicht gerade in dem Augenblick, in dem sie den Wein aus dem Glas schlürfte und hinunterschluckte, ein entsetzlicher Gedanke gekommen wäre! ‘Warum starren sie mich eigentlich alle so gespannt an?’ fragte sie sich. War es so interessant, einer alten Frau beim Trinken zuzusehen? Wollten sie sich daran laben, zu sehen, wie schwer es ihr fiel, ihre Hand ruhig zu halten? - Nein, das war es nicht! Sie warteten auf etwas anderes. Auf etwas ganz Bestimmtes. Es lag etwas Lauerndes in ihren Blicken. Sollten sie............, oh mein Gott, ............sollten sie ihr am Ende etwas in den Wein geschüttet haben?? Und nun warteten sie darauf, daß sie ihr Leben aushauchte? Aushustete?? - Das war‘s!! Alle zusammen hatten sie beschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen, um sich endlich an ihren Hinterlassenschaften gütlich zu tun. Wahrscheinlich waren sie der Meinung, fünfundneunzig Jahre seien mehr als genug.

Sie bekam das Zittern ihrer Hand nicht mehr unter Kontrolle. Der Wein schwappte über den Rand des Glases und lief ihr über das Kinn auf ihr dunkelblaues Seidenkleid. Von der Kamee-Brosche unter dem Kragen tropfte er die Knöpfe entlang bis hinunter auf die Serviette, die sie über ihren Knien ausgebreitet hatte. Sie fuchtelte mit den Armen und versuchte, das Glas abzustellen. Dabei stieß sie an die Tischkante, und es fiel ihr aus der Hand. Blutrot ergoß sich der restliche Wein auf das weiße Tischtuch. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen und starr. Die Gäste fuhren erschrocken in die Höhe. Auch Robert war aufgesprungen. “Um Gotteswillen, Mama. Was ist passiert!” Kläre röchelte und japste nach Luft, sie hatte sich verschluckt. Ihr Gesicht lief dunkelrot an. ‘Diese Bagage,’ dachte sie. ‘Sie bringen mich um, damit sie mich endlich beerben können. Sie scheuen vor nichts zurück. Aber sie werden sich wundern!’ Sie gab ein eigenartiges Glucksen von sich. Niemand hätte vermutet, daß es ein Lachen sein könnte. “Einen Arzt!” rief Robert und klopfte ihr kräftig auf den Rücken. Er versuchte, sie zu stützen, damit sie nicht vom Stuhl fiel. “Rufe doch endlich jemand einen Arzt!” ‘Alles Theater,’ dachte sich Kläre, und die Augen traten ihr aus den Höhlen. ‘Ich kriege keine Luft mehr! Sie haben mich vergiftet. Sie wollen an mein Erbe. Sie stecken alle unter einer Decke. Aber ich habe ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Keinen Pfennig werden sie kriegen, keinen einzigen Pfennig! Weil ich mein Hab und Gut dem Tierschutzverein vermacht habe! - Dem Tier-schutz-ver-ein!’ Noch einmal dieses Glucksen, - dann war alles still! Auch die Gäste, die sich um die Jubilarin geschart hatten, waren still.
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
“Sie braucht keinen Arzt mehr,” sagte Robert tonlos und schloß ihr die Augen.
Fini! - Aus und vorbei! - Die Feier war vorüber!
Kläre Buntschuh war genau fünfundneunzig Jahre alt geworden.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /