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Was tut man in einem Hotelzimmer, wenn man am liebsten etwas ganz Verrücktes anstellen möchte?
Ich hätte den Service anrufen und dem griesgrämigen Herrn von nebenan ein Glas saurer Gurken bestellen können. Lustig wäre auch gewesen, der hochnäsigen Dame von gegenüber am Telefon die Geliebte ihres Mannes vorzuspielen: “Isch ‘ätte gern mein kleines weiß’aariges Bär’schen gesprochen!”

Aber nein, - ich seufzte abgrundtief. Mit angezogenen Knien setzte ich mich auf die niedrige Fensterbank und schaute versonnen zum Strand hinunter.
Um ehrlich zu sein, mir war überhaupt nicht nach Späßen zumute. Im Gegenteil! Es war ein Irrtum, wenn ich glaubte, irgendetwas Verrücktes könnte mich von meinen trüben Gedanken ablenken.
In etwa zwei Stunden würden Uwe und Mona ankommen, und das bedeutete, daß ich drei Wochen lang Theater spielen und den aufgedrehten lustigen Teenager mimen mußte. Wäre schön gewesen, wenn ich diese Rolle ein wenig hätte üben können, bevor es ernst wurde. Aber ich brachte es einfach nicht fertig.

“Kann ich unter die Dusche, Kleines? Bist du fertig?” fragte Toby, als er hereinkam. Er hatte sich in der Hotelhalle Zigaretten besorgt. Wenn ich mir vorstellte, daß ihm die Rothaarige an der Rezeption wieder schöne Augen gemacht hatte, hätte ich ausrasten können. Aber Toby konnte ja nichts dafür. Ich schaute ihm liebevoll entgegen. Er war nun mal ein bildschöner Mann, der die Blicke aller auf sich zog: Sonnengebräunte Haut, schokoladenbraunes Haar, rehbraune Augen.....! Ich war sehr stolz auf ihn. Und darauf, daß er sich ausgerechnet für mich entschieden hatte.
Es gab jedoch auch Momente, in denen ich mir wünschte, er wäre krumm und häßlich, denn das wäre für mich sicher einfacher gewesen. Natürlich schmeichelten ihm die schmachtenden Blicke der Damen. Für mich dagegen war es schwer zu ertragen, daß ich an seiner Seite oft einfach nur Luft war. Schließlich sah ich doch auch ganz passabel aus.
Was ich beim Antritt unserer Urlaubsreise am Frankfurter Flughafen wieder erlebt hatte, war ein Paradebeispiel dafür. Die uniformierte Lufthansa-Fee schien mich überhaupt nicht wahrzunehmen. Mit einem tiefen Blick in seine Augen hauchte sie: “Ich wünsche Ihnen einen guten Flug.”
Toby nickte freundlich, ich aber schob mich mit funkelnden Augen dazwischen und fragte sie frei heraus: “Mir auch?”
Sie besaß wenigstens den Anstand, rot zu werden. “Selbstverständlich Ihnen auch,” stotterte sie.
Toby war hin- und hergerissen zwischen peinlich berührt und amüsiert. “Aber Kleines,” raunte er mir vorwurfsvoll ins Ohr.

Als wir im Hotel ankamen dasselbe Spiel mit der Rothaarigen an der Rezeption: Flatternde Augenlider, leicht geöffnete sehnsüchtige Lippen, abgrundtiefer Blick. “Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Aufenthalt,” flüsterte sie mit vibrierender Stimme. Demonstrativ hängte ich mich bei Toby ein. “Keine Angst, dafür werde ich schon sorgen,” beruhigte ich sie. Sie wurde nicht einmal rot, sondern warf mir nur einen Blick zu, als hätte sie mich am liebsten ausgelöscht.

Ja, es war wahrhaftig nicht leicht an Tobys Seite. Und es würde noch schlimmer werden, wenn er erst einmal berühmt war. Er hatte nämlich vor kurzem seine erste CD herausgebracht, und Uwe, sein Freund und Produzent, hatte ihm versprochen, daß sie einschlagen würde, wie eine Rakete. - Naja, noch hielt sich die Nachfrage in Grenzen, aber Uwe hatte schon mit ganz anderen Leuten zu tun gehabt, er mußte es wissen. Schließlich sah Toby nicht nur gut aus, er hatte auch eine wunderschöne samtweiche Stimme. Er war zum Star geboren, und ganz sicher würde es nicht mehr lange dauern, bis das auch der Rest der Welt erkannt haben würde. Vielleicht wäre es im nächsten Jahr um diese Zeit schon nicht mehr möglich, so unbehelligt im Hotel aus- und einzugehen, ohne daß uns kreischende Fans den Eingang blockierten und seine Zimmertür belagerten, und ohne daß ihm die Reporter im Blitzlichtgewitter einen Wald von Mikrophonen entgegenhielten. Doch keine Sorge, beruhigte ich mich selbst, dann würden uns seine Leibwächter auf Schleichwegen durch den Hinterausgang schleusen.
Ehrlich gesagt, ich war froh, daß es bisher noch nicht soweit war, denn dann wäre ich neben ihm wohl endgültig nur noch ein kleines unbedeutendes Nichts!

Wir tranken Eistee auf der Terrasse, während wir auf Uwe und Mona warteten. Von dort aus konnte man die Straße entlangsehen, die am Horizont zwischen zwei Hügeln im Dunst verschwand. Jedes Auto, das den Weg hier heraus fand, rollte uns in einer Wolke von Staub entgegen. Bisher waren nur kleine Wolken angekommen, - ich wartete auf eine große, die den Bus mit sich brachte.

Ich wurde immer aufgeregter und zappeliger und hatte Mühe, stillzusitzen. Du mußt dich zusammenreißen, schalt ich mich. Niemand durfte meine Unruhe bemerken, auch Toby nicht. - Vor allem Toby nicht!
Um auf andere Gedanken zu kommen, versuchte ich, ganz banale Bilder heraufzubeschwören: Mama beim Kuchenbacken, Bello, unser Terrier, beim Herumtollen im Garten, meine Freundin Lana..... Doch es war sinnlos, immer wieder mußte ich an diesen verdammten Bus denken!
Seufzend schaute ich an der Fassade des Hotels hinauf: Ein weißer Palast vor azurblauem Himmel. Mit kleinen roten Markisen über den Fenstern. Das Hotel stand auf einer Landzunge, umgeben von tiefblauem Meer. Hüben und drüben zogen sich weiße Sandstrände die Küste entlang, gesprenkelt von bunten Sonnenschirmen und einem Gewusel aus sonnenhungrigen Urlaubern. Die Segel der Boote, die am Horizont vorüberglitten, blähten sich in der leichten Brise. Es war ein Traum. Ich war Teil einer wunderschönen, zum Leben erwachten Postkarte geworden.
“Ist es nicht schön hier, Kleines?” fragte Toby und griff nach meiner Hand.
Ich nickte und zog an meinem Strohhalm. “Ja,” seufzte ich, “hoffentlich bleibt es auch so.”
“Ich glaube kaum, daß wir hier mit schlechtem Wetter zu rechnen haben,” verkannte Toby meinen Wunsch mit einem Blick in das wolkenlose Blau.
Nein, dachte ich verbissen, ich werde schon dafür sorgen, daß wir immer eitel Sonnenschein haben werden.

Dann sah ich die Staubwolke am Horizont. Sie war noch winzig klein. Kam sie überhaupt näher? Millimeterweise vielleicht.
“Sie kommen!” rief ich und sprang auf. Toby schaute sich um und sah sie nun auch. “Setz dich wieder hin. Es dauert mindestens noch eine Viertelstunde, bis sie hier sind.”
“Glaubst du?”
“Ich wette darauf.”
Ich setzte mich wieder und zog noch einmal an meinem Strohhalm. Ich schlürfte. Toby warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis er den Kellner rief, um unseren Eistee zu bezahlen. Und dann noch mal eine, bis er ihm das Geld reichte. Und eine weitere, bis er seelenruhig das Wechselgeld eingesteckt hatte und sich endlich erhob.

Wir standen unten am Portal, als der Bus vorfuhr. Es war ein altes klapperiges Modell. So alt und häßlich, und so verstaubt, daß man weder seine ursprünglichen Farben noch irgendwelche Schriftzüge erkennen konnte.
Sekundenlang tat sich nichts, nur hinter den verstaubten Scheiben nahm man vage wahr, daß sich etwas bewegte. Dann öffnete sich die Tür vorn beim Fahrer, und die ersten Reisenden stiegen aus.
Mein Herz klopfte mir bis zum Halse.
Zuerst sah ich Mona, sie ließ sich graziös von einem älteren Herrn beim Aussteigen behilflich sein. Sie trug ein weißes ärmelloses Kleid und einen Strohhut mit breiter geschwungener Krempe. Ihr langes dunkles Haar flatterte im leichten Wind. Mit einem strahlenden Lächeln kam sie auf uns zu. Oh nein, sie kam nicht, sie schwebte! Ein Hauch ihres Parfum hüllte mich ein, als sie mich flüchtig umarmte. Ich sah ihr makelloses Make-up, und ich fragte mich, wie sie es fertigbrachte, nach einem Dreistundenflug und einer Holperfahrt über staubige Piste noch auszusehen, als sei sie eben einem Modejournal entstiegen. Ich bewunderte sie grenzenlos.
Und dann sah ich ihn. Groß, kräftig und blond stand er plötzlich vor uns und stellte lachend die Reisetaschen ab.
“Hallo!” sagte er ein wenig steif. Ich sah das leichte Flattern seiner Augen, als er Toby mit herzlichem Handschlag begrüßte. Sie flatterten in meine Richtung, stellte ich fest.
Und dann standen wir uns gegenüber, er und ich. Meine Hand in seiner Hand, mein Blick in seinem Blick. Nur sekundenlang. Hätte es länger gedauert, wären mir die Knie eingeknickt wie Streichhölzer.
“Wie war die Reise?” fragte Toby, als wir auf das Hotelportal zuliefen. “Hattet ihr einen guten Flug? Ich schätze, der alte Klapperkasten von einem Bus wird euch den Rest gegeben haben.”
Ich blieb ein wenig zurück. Jetzt war er also da. Wie sollte es nun weitergehen? Würde ich es schaffen, das lustige unbekümmerte Mädchen zu spielen, während mein Herz fast zerbrach?

Ja, ich schaffte es, ich war ein Ausbund an Ausgelassenheit und Vergnügen, machte meine Späßchen und brachte alle zum Lachen. Ich schaffte es sogar, die schöne stolze Mona so zu erheitern, daß ihr die Tränen in den Augen standen, - und das wollte wahrhaftig etwas heißen. Ich kicherte über alles und jeden, - nicht immer so dezent, wie es sich gehört hätte. Zum Beispiel, als mir mein Eis aus der Waffel auf Tobys nackten Rücken klekste, und er wie ein Schachtelteufelchen erschrocken auffuhr. Oder als ein eleganter Herr im Restaurant würdevoll an uns vorüberschritt und dann über den Teppich stolperte. Und ganz besonders, als einer dicken Frau am Tisch gegenüber eine Erbse von der Gabel hüpfte und in ihrem mächtigen Ausschnitt verschwand.

Am Strand alberte ich mit Kindern aller Nationalitäten herum oder spielte Fußball mit einer Klicke vierzehnjähriger Jungs aus Holland. Ihr Anführer hieß Hendrik, er sprach ein lustiges, holperiges Deutsch. Uwe fragte ihn einfach, ob wir mitspielen durften. Wir, damit meinte er sich und mich. Mona und Toby hatten keine Lust zu solchen Kindereien und wollten lieber in der Sonne braten.
Hendrik schaute mich von oben bis unten an. “Du etwa auch?” fragte er zweifelnd.
“Klar, warum nicht?”
“Hast du überhaupt Ahnung von Fußball?”
“Na, und ob!” Als Kind war ich oft bei meinen Brüdern und ihren Freunden als Resevespieler eingesprungen, wenn Not am Mann gewesen war.
Er nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. “Stürmer oder Verteidiger?”
“Stürmer.”
“Also gut. Du spielst auf dieser, und du auf der anderen Seite.”

Uwe war der einzige, der alles mitmachte. Es gab Augenblicke, in denen ich sogar vergaß, daß er es war, mit dem ich um die Wette rannte, mit dem ich lachend und ausgelassen um einen Ball kämpfte, oder der mir zurief: “He, Andy, was machen wir jetzt? Schlag mal was vor!”
Wenn er mich Andy nannte, dann klang das, als riefe er: ‘He, Kumpel!’ Manchmal nannte er mich auch ‘Kleines’, aber eher, um sich über Toby lustigzumachen. “Der Teller wird leergegessen, Kleines. Wenn Toby jeden Tag deine Portion mitessen muß, wird er zu fett.”
Ja, in meiner Gesellschaft konnte man sich prächtig amüsieren. Doch was war mit mir? Wie es in mir aussah, das schien niemanden zu interessieren. Nicht einmal Toby ahnte, daß ich nachts wachlag und von einem anderen träumte. Und zwar davon, daß er nicht nur Fußball mit mir spielte.

Es hatte vor Wochen in Berlin angefangen. Vielleicht auch schon früher, manchmal läßt sich das nicht mehr so genau feststellen. Ich durfte dabei sein, als Uwe in seinem Tonstudio die Songs für Tobys CD aufnahm. Uwe war Junggeselle, - das heißt, mal mehr und mal weniger. Zu jener Zeit jedenfalls hauste er allein in seiner umgebauten alten Kate im Grunewald, in der er sich sein kleines Tonstudio eingerichtet hatte. Für die Aufnahmen waren zwei Wochen vorgesehen. Schon nach dem zweiten Tag hatte sich ein gewisser Rhytmus im Tagesablauf eingestellt. Nach dem Frühstück ging’s ins Studio, über Mittag wurde eine Pause eingelegt, und dann ging’s noch einmal zurück zu Synthesizer, Mikrophon und Mischpult. Da wurde komponiert, arrangiert und ausprobiert was das Zeug hielt. Es sollte ja etwas ganz Besonderes werden.

Es mag interessant sein, einem künftigen Star bei der Arbeit zuzuhören und zuzuschauen, aber höchstens einen Tag lang. Notfalls auch mal zwei. Aber nicht zwei volle Wochen!
Ich hielt es immerhin drei Tage lang aus, doch dann wurde es auch mir zu langweilig. Ich beschloß, etwas Nützlicheres zu tun: Ich kochte. Von nun an wurden die sanften Balladen punkt zwölf Uhr von feurigem Paprika-Gulasch unterbrochen, die rockigen Songs durch cremigen Kartoffelbrei gemildert, und als Ausgleich zu den fetzigen Sythesizern gab’s zum Nachtisch Schokoladen-Pudding. Den beiden Musikern gefiel's. Ich wette, das Ergebnis wäre nicht halb so gut ausgefallen, wenn ich nicht so intensiv für ihr leibliches Wohl gesorgt hätte.

Da ich allerhand Lebensmittel für die Kocherei brauchte, Uwes Kate aber weit ab vom nächsten Einkaufszentrum lag, fuhr er mich jeden Morgen zum Einkaufen. Toby war ein passionierter Langschläfer, und wenn er endlich noch schlaftrunken die Treppe herunterkam, hatte ich mit Uwes Hilfe bereits den Frühstückstisch gedeckt, und es duftete nach Kaffee und frischen Brötchen. Und der Kühlschrank war gefüllt mit den herrlichsten Zutaten fürs nächste Mittagessen.

Uwe war alles andere, als ein Morgenmuffel. Schon auf der Fahrt zum Supermarkt ging es bei uns recht lustig zu. Für uns gab es immer einen Grund zum Lachen. Wir freuten uns über alles und jeden, und wenn es nur der Sonnenschein war, oder der blaue Himmel. Oder einfach nur, daß wir uns so gut verstanden.
Für mich war es eine wunderschöne Zeit, und manchmal wünschte ich mir, sie würde noch lange nicht zu Ende gehen. Ich wußte, daß ich die morgendlichen Einkaufsfahrten vermissen würde, das Hantieren in der Küche, das lustige Geplänkel mit Uwe, sein amüsiertes Zwinkern und sein herzhaftes Lachen.

Beim Abschied begleitete er uns bis zum Tor. Ich hatte ihm nur kurz die Hand gereicht und mich dann gleich ins Auto verkrochen. Niemand sollte meine verschleierten Augen sehen. Als Toby langsam anfuhr, hupte er noch einmal und winkte aus dem offenen Schiebedach. Ich hatte die Scheibe heruntergekurbelt und streckte in einem Anflug von schmerzlicher Traurigkeit die Hand nach Uwe aus. Er nahm sie, hielt sie fest und lief ein paar Schritte neben dem Wagen her. Er lachte nicht, er schaute mich nur an, wie mich noch nie jemand angesehen hatte. Auch Toby nicht. Nur eine Sekunde lang, dann nahm der Wagen an Geschwindigkeit zu und meine Finger glitten aus seiner Hand. Aber in dieser einen Sekunde wußte ich, daß von nun an alles anders sein würde.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen und war deshalb ganz besonders lieb zu Toby. Es war ja nicht seine Schuld. - Aber war es denn meine? War überhaupt jemand schuld daran?

In den kommenden Wochen versuchte ich, mich vor jedem Zusammentreffen mit Uwe zu drücken. Im Ausdenken von Ausreden war ich sehr erfinderisch. Keinesfalls wollte ich ihn wiedersehen. Nie mehr! Ich gehörte zu Toby, und das sollte auch so bleiben. Niemals würde ich ihn betrügen oder ihm wehtun. Ihm, für den ich dem lieben Gott wirklich dankbar sein mußte. Mein Herzschmerz würde eines Tages vorübergehen wie eine lästige Grippe, davon war ich überzeugt. Es mußte nur genügend Zeit verstreichen.

Als ich von dem geplanten gemeinsamen Urlaub erfuhr, überfiel mich Panik. “Ich will mit dir alleine sein,” sagte ich zu Toby, “auf niemanden Rücksicht nehmen müssen. Ich will nicht, daß dauernd jemand um uns herum ist.” Ich maulte und ließ mir tausend Gründe einfallen, die dagegen sprachen. Aber es half nichts, schließlich waren Toby und Uwe Freunde.

Inzwischen hatte ich von Uwes letzter Eroberung gehört, von seiner neuen großen Liebe namens Mona. Sie sollte schön, elegant und obendrein noch klug sein und uns auf unserer Urlaubsreise begleiten. In Ordnung, dachte ich, das war vielleicht die beste Heilmethode! Hart, aber wirksam! Wenn ich gezwungen war, ihnen zuzusehen, wie sie miteinander turtelten, sich küßten, zusammen im gemeinsamen Zimmer verschwanden, dann war ich sicher bald überm Berg.
Und gleich, als ich Mona das erste Mal sah, wußte ich: Sie war genau die Richtige! Sie war so traumhaft schön, daß ich regelrecht verblaßte neben ihr. So elegant und damenhaft, daß ich mich daneben ausnahm wie ein albernes Huhn. Und das war gut so! Jetzt lag es also an mir, daß niemandem auffiel, wie es in mir aussah. Ich mußte der lustige Clown sein, durfte niemanden in mein Herz schauen lassen. Toby nicht, und Uwe schon gar nicht.

Wie gesagt, ich schaffte es! Ich war perfekt! Bis....., bis mich eines Tages ganz unverhofft einer von Uwes Blicken traf, der mich bis ins Innerste berührte. Ich erschrak zu Tode, - blinzelte, wandte mich von ihm ab, schaute übers Meer, - und schaute wieder hin..... Er sah mich noch immer an. Unverwandt. Und ein leises Lächeln lag auf seinen Lippen. Und in seinen Augen. Ein unendlich zärtlich lächelnder Blick.
Der Schrecken fuhr mir in den Magen. Schrecken vor allem darüber, daß ich nicht rechtzeitig das Rollo vor meiner Seele heruntergelassen hatte. Verdammt, nun mußte er wissen, wie es um mich stand. Ich suchte Schutz bei Toby und lehnte meinen Kopf an seine Schulter.
“Was ist denn los, Kleines?”
“Nichts, ich glaube..... ich werde mir jetzt ein Eis holen,” sagte ich, stand auf und rannte davon.

Von diesem Tag an, war es vorbei mit meiner lustigen Ausgelassenheit. Kein albernes Gekicher mehr, keine Späßchen, kein Schabernack..... Mein mühsam aufrecht erhaltenes Kartenhaus war eingestürzt. Am liebsten hätte ich mich in den nächsten Bus gesetzt und wäre in Richtung Flugplatz davongerumpelt. Mit gesenktem Kopf saß ich beim Essen und stocherte in meinem Teller herum, bei unserer Schiffsfahrt am nächsten Tag hing ich trübsinnig an der Reling, und wannimmer Uwe mir zu nahe kam, suchte ich in Panik das Weite. Ich hatte auch keine Lust mehr, mit den Holländern Fußball zu spielen, selbst als mir die Ehre zuteil wurde, daß mich Hendrik persönlich darum bat. Und als mich Uwe irgendwann fragte, ob ich mit ihm schwimmen ginge, konnte ich nur wortlos den Kopf schütteln.

Toby machte sich Sorgen um mich. Beunruhigt legte er seine Hand auf meine Stirn und fragte: “Bist du krank, Kleines? Irgendwas stimmt doch nicht mit dir.”
Am Nachmittag nahm mich Mona beiseite. “Andy, bitte, gibt es etwas, weshalb du mir böse sein könntest?”
”Nein, warum sollte ich dir böse sein?”
“Ich meine, vielleicht ärgert es dich, wenn ich mit Toby..... Das heißt, wenn wir keine Lust dazu haben, mit euch.....”
“Nein, Mona.”
“Ich liege gern in der Sonne. Das Rumgealber ist nicht so mein Ding, verstehst du? Und ich glaube, Toby empfindet ähnlich wie ich.”
“Mach dir darüber keine Gedanken,” beruhigte ich sie. “Ich fühle mich nur einfach nicht besonders gut, das ist alles. Das hat nichts mit dir zu tun.”
“Du bist also nicht..... eifersüchtig?”
Ich lächelte. “Nein,” antwortete ich. Und ich meinte, was ich sagte. Erst sehr viel später fiel mir auf, daß sie mir erstaunlicherweise nicht versichert hatte, daß es gar keinen Grund dafür gab.

Von den kurzen Ausflügen, die wir in den darauffolgenden Tagen unternahmen, bekam ich nur wenig mit. Ich war so blind in meinem Unglück, daß ich gar nicht merkte, was um mich herum geschah. Natürlich war mir nicht entgangen, daß Toby und Mona sich mochten. Warum auch nicht? Ich fand das nicht beunruhigend. Im Gegenteil, es kam mir sogar sehr gelegen. Dadurch würde Toby nicht gleich merken, daß meine Gedanken immer wieder von ihm abschweiften und um einen anderen kreisten. Warum sollte ich schon eifersüchtig sein? Ausgerechnet ich, die ich ihn Tag für Tag betrog, wenn auch nur in Gedanken.
Nur eines kam mir seltsam vor: Immer häufiger fand ich mich an Uwes Seite wieder, während Mona und Toby vorausliefen oder zurückblieben, um etwas Interessantes zu betrachten, zu bestaunen und ellenlange Gespräche darüber zu führen.

Mona suchte schon seit Tagen nach einem dieser hübschen Muscheldöschen, von denen sie eines ihrer Schwester als Andenken mitnehmen wollte. Und als sie mit Toby den kleinen Souvenir-Shop betrat, in dessen Auslage sie eines entdeckt hatte, war es wieder wie so oft zuvor: Ehe ich begriff, was sie vor hatten, waren die beiden schon verschwunden, und ich stand allein vor der Tür. Nein, nicht allein, sondern mit Uwe, und das war weitaus schlimmer. Ich sah ihnen nach, machte ein paar Schritte, um ihnen zu folgen, wollte verzweifelt: ‘Toby, warte doch!’ rufen, - aber kein Wort kam über meine Lippen.
Nein, eifersüchtig war ich nicht, aber ich fürchtete mich entsetzlich, denn Uwe hielt mich am Arm zurück. “Kleines,” sagte er. Seine Stimme war rauh und klang ganz anders, als sonst. “Was ist denn bloß los mit dir? Mach doch die Augen auf, du hast doch gar keinen Grund, traurig zu sein.”
Aber ich machte die Augen nicht auf, ich wollte ihn um Himmels Willen nicht ansehen. Ich preßte die Lippen fest aufeinander und schwieg. Ich fühlte seinen Blick, als wären es seine Hände. ‘Nicht heulen,’ dachte ich. ‘Alles, nur jetzt nicht heulen!’ Ich wandte mich um und lief davon. Ich ließ ihn einfach stehen.

Den Abend verbrachten wir auf der Terrasse unseres Hotels. Es war eine laue Sommernacht mit leisem Donnergrollen in der Ferne und Wetterleuchten am Horizont über dem Meer. Es hätte so romantisch sein können! Stattdessen hatte uns alle eine seltsam gedrückte Stimmung erfaßt. Wir redeten kaum miteinander. Eine Drei-Mann-Kapelle spielte zum Tanz auf, und trotz der drückenden Schwüle drängten sich die Paare auf der kleinen Tanzfläche. Nur einmal, als ich mit Toby tanzte, vergaß ich für wenige Minuten meine Sorgen, und nach und nach meldeten sich meine Lebensgeister zurück, - einer nach dem anderen. Um sich dann, - schwupps, - schleunigst wieder zu verkriechen, sobald wir an den Tisch zurückkamen.
Mona spielte mit ihren Armreifen, warf mir einen schnellen Blick zu und schaute dann die beiden Männer an. Erst Toby, dann Uwe. Toby klopfte den Takt zur Musik und schaute mir zu, wie ich mit dem Finger das Muster auf der Tischdecke nachmalte.
Es war Uwe, der endlich das Schweigen brach, indem er sich an seinen Freund wandte. “Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mal mit Andy tanze, oder?”
“Natürlich nicht,” war die Antwort. “Dann wirst du mir sicher auch erlauben, mit Mona zu tanzen.”
Der Anfang war gemacht, und alle atmeten hörbar auf. Nur ich nicht. Ich fühlte mich, als sei ich nur Zuschauer dieser Szene, als stünde ich abseits. Als ginge mich das alles gar nichts an. Doch plötzlich, wie aus heiterem Himmel, begriff ich, was das zu bedeuten hatte. Ich sollte mit Uwe tanzen! Ich erstarrte. Nein, das wollte ich nicht, - nie und nimmer! Warum ließ Toby das zu! Warum sagte er nicht: ‘Nein, laß die Finger von meiner Andy, sie gehört zu mir!’ Am liebsten wäre ich weggelaufen. Irgendwohin, wo mich niemand mehr fand. Aber, - ich wäre wohl kaum weit gekommen mit meinen wackeligen Knien.
Uwe war ein guter Tänzer. Das wußte ich, wir hatten schon früher zusammen getanzt. Allerdings war das lange lange her, Millionen von Jahren! Glücklicherweise spielte die Band ein flottes Stück, und Uwe ließ mir viel Freiraum an seiner Hand. Er führte gut und kannte eine Menge hübscher Figuren. Wenn ich den Kopf nicht hob, um ihn anzusehen, konnte ich mir einreden, er wäre ein ganz anderer, irgendein x-beliebiger Mann, und ich tanzte mit einer Kombination aus Jeans, blauem Hemd und Turnschuhen. Ich hätte auch alles unbeschadet überstanden, wenn....., ja, wenn die Kapelle nicht plötzlich zu einem langsamen Walzer überge- wechselt wäre. Zwangsläufig mußte mich Uwe ein wenig näher zu sich heranziehen. Ich wurde stocksteif, war kaum mehr fähig, mich zu bewegen. Vor mir das blaue Hemd, - durch den Stoff konnte ich seinen Herzschlag spüren. Um mich herum seine Arme, über mir sein Atem..... Meine Hände waren zu Fäusten geballt, und ich wußte nicht, wohin mit ihnen. Ganz behutsam bog er meine Finger auseinander, legte sie an seine Brust und umschloß sie mit seiner Hand. Sie war heiß und trocken. Es war ein schönes Gefühl. Trotz allem! Als er mein Kinn anhob, versuchte ich, mich dagegen zu wehren. Genügte es ihm denn nicht, mich in diese Situation gebracht zu haben? Mußte er mich jetzt auch noch zwingen, ihn anzusehen? Er lächelte nicht, als sich unsere Blicke begegneten. Seine Augen waren ernst und blau und voller Zärtlichkeit. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg, - doch ich fand keinen. Ich wußte, daß Toby in diesem Augenblick mit Mona tanzte, und ich fürchtete, sie könnten uns beobachten. Ich wollte Toby nicht wehtun. Er vertraute mir, ich gehörte doch zu ihm. Ich durfte ihn nicht verraten. Ich durfte nicht, ich durfte nicht, ich durfte nicht!
Noch immer starrte ich auf den blauen Stoff vor mir. Und während ich noch gegen die Versuchung ankämpfte, einfach meine Arme um seinen Hals zu legen, wischte mir Uwe mit dem Fingerrücken ein paar Tränen weg, die sich unter den Wimpern hervordrängen wollten.
Wir sprachen kein Wort miteinander.

In dieser Nacht heulte ich wieder. Lautlos, weil ich Toby nicht aufwecken wollte. Vorsichtig setzte ich mich im Bett auf und dachte über mich und meine Situation nach. Und je aussichtsloser sie mir schien, desto mehr mußte ich heulen.
“Kleines, was ist denn?” fragte Toby in die Dunkelheit.
Ich gab ihm keine Antwort, - was hätte ich denn sagen sollen?
Er knipste das Licht an. Kopfschüttelnd betrachtete er mich und strich mir das Haar aus der Stirn.
“Liebst du ihn so sehr?” fragte er.
Ich konnte nur nicken. Dann erst begriff ich, was er mich gefragt hatte.
“Er hat dich auch ganz wahnsinnig lieb,” sagte Toby.
Ich schniefte. Sprachen wir eigentlich von derselben Sache? Und wenn, warum nahm er es dann so gelassen hin? Schließlich hatte ich, wenn auch nur durch ein Nicken, gerade zugegeben, daß ich ihn betrog. Zwar nur in Gedanken, aber immerhin. Wieso war er nicht wütend? Oder wenigstens ärgerlich? Oder traurig!
Umständlich putzte ich mir die Nase. “Bist du mir denn gar nicht böse?”
Er lächelte. “Nein.”
“Aber weshalb nicht. Ich hab dich verraten.”
“Nein, das hast du nicht. Man kann nichts dafür, wenn man sich in jemanden verliebt. Und du schon gar nicht. Du hast so lange versucht, dich dagegen zu wehren. Außerdem.....”
Er schwieg eine Weile und lächelte. “Außerdem ist etwas ganz Seltsames passiert,” fuhr er dann fort. “Mona und ich...., wir haben uns auch ineinander verliebt.”
Na sowas! Ich war sprachlos! Daß sie sich mochten, das hatte ich ja längst bemerkt, aber niemals wäre mir der Gedanke gekommen..... Fast mußte ich unter Tränen lachen. “Ehrlich?”
Er nickte. "Ehrlich."
“Und was machen wir jetzt?”
“Jetzt müssen wir die Geschichte so schnell wie möglich in Ordnung bringen.”
“Aber wie!”
“Ich habe schon mit Uwe und Mona darüber gesprochen. Ab morgen.....”
“Heißt das......?”
Er nickte. “Ja, das heißt, daß es ab morgen für uns beide zu Ende ist.”
“Irgendwie hab ich dich trotzdem noch lieb, Toby.”
“Ich dich auch, Kleines.”
Ich legte die Arme um seinen Hals und küßte ihn. “Darf ich das heute noch?”
“Aber ja. Heute darfst du das noch.”
Ich legte meinen Kopf in seinem Arm zurecht, und er löschte das Licht.
In dieser Nacht schlief ich besser.

Am nächsten Morgen am Frühstückstisch hatte ich Herzklopfen, und wie mir schien, war ich nicht die einzige. Wir alle waren bemüht, uns möglichst unbefangen zu geben, und doch scheuten wir uns, einander anzusehen oder miteinander zu reden. Wortlos reichten wir uns Brötchen, Marmelade und Butter herüber, und nur ab und zu fing einer das flüchtige Lächeln des anderen auf.
Und wieder war Uwe der erste, der das Schweigen brach. Er stand auf, legte seine Hand auf meine Schulter und sagte, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt: “Komm, Andy, ich hab uns ein Motorrad besorgt. Sag mir, wohin du am liebsten fahren möchtest."

Es war mir gleichgültig, wohin er fuhr. Als wir auf der staubigen Straße dahinrasten, hielt ich mich an ihm fest und lehnte meine Stirn an seinen Rücken. Endlich durfte ich das, endlich brauchte ich nicht mehr nur davon zu träumen.
Irgendwo am Meer hielt er an. Kein Mensch weit und breit, nur wir zwei.
“Ich liebe dich,” sagte er zärtlich und küßte mich. Und ich küßte ihn. Und wir küßten uns. Wir hatten so viel nachzuholen.
“Aber nicht nur wegen des Paprika-Gulaschs, oder?” fragte ich, als ich wieder Luft bekam.
“Mmh, ein bißchen schon. Aber nur ein bißchen.”

“Ich muß dir was sagen, Andy,” kam seine Stimme aus der Dunkelheit.
“Ja?”
“Mona und ich, wir waren nie ein Liebespaar.”
“Aber.....”
“Sie hat Toby bei verschiedenen Anlässen gesehen und fand ihn vom ersten Augenblick an faszinierend. Das wußte ich. Ich hab sie einfach angerufen.....”
“Und dann?”
“Dann war sie damit einverstanden.”
Ich setzte mich im Dunkeln auf und wußte nicht, was ich sagen sollte.
“Wir konnten ja nicht wissen, daß du es uns so verdammt schwer machen würdest.”
Ich fühlte seine Hand an meiner Wange, seinen Daumen, der zärtlich über meine Lippen strich. “Böse?” fragte er dicht an meinem Ohr.
Ich schüttelte den Kopf. “Nein.” Wie hätte ich ihm böse sein können. Hatte er mich doch davon überzeugt, daß es etwas völlig anderes war, als eine böse Grippe, was mich da erwischt hatte.


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Tag der Veröffentlichung: 16.03.2009

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