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Begegnung in Paris

Man hatte ihn in der kleinen Dorfkirche aufgebahrt. Auf dem Altar brannten zwei dicke weiße Kerzen, und ihr flackerndes Licht warf bizarre Schatten an die hellen schmucklosen Wände. Durch die bunten Glasfenster dicht unter der gewölbten Decke fiel nur wenig Licht herein an diesem trüben Herbstabend, und von den Nischen her und aus der Tiefe des Schiffes kroch die Dämmerung langsam näher und engte den Kegel des Kerzenlichts immer mehr ein.

Marianne Bernatzky stand neben dem Sarg und blickte tränenlos in das bleiche Gesicht mit den geschlossenen Augen. Er war noch so jung!
Man hatte ihm das schwarze kurzgeschnittene Haar frisch frisiert, und nichts erinnerte mehr an die widerspenstige Tolle, die ihm stets in die Stirn gefallen war. Seine Wangen wirkten schmaler, aber sein Mund schien, wie immer, zu lächeln, und niemals zuvor war er der Kalksteinbüste so ähnlich gewesen, wie in diesem Augenblick.
Er lag inmitten eines Meeres aus Blumen, das einen intensiven süßlichen Duft ausströmte. Das weiße Totenhemd, das man ihm angezogen hatte, wollte nicht zu ihm passen, und auch nicht die über der Brust gefalteten Hände.
Marianne hob den Blick und starrte in das Halbdunkel.
"Seny," sagte sie leise, "ich weiß, daß du hier bist und mich hörst. Warum bist du schon gegangen! Warum bist du nicht ein bißchen länger geblieben. Nur ein kleines bißchen!"

Aus Richtung der Eingangstür kam ein leises Knacken. Jemand drückte vorsichtig von außen die Klinke hinunter, und mit unerwartet lautem Knarren gab die Tür nach und öffnete sich einen Spalt. Peter Bernatzky steckte seinen blonden Kopf hindurch und trat dann ein. Er legte Marianne behutsam den Arm um die Schulter.
"Komm, Mama. Komm mit nach Hause. Es hat keinen Sinn, länger hierzubleiben, du kannst ihm nicht mehr helfen."
Marianne atmete tief, es klang wie ein langes Seufzen.
"Du hast recht," sagte sie leise und mit einem Anflug von Müdigkeit in der Stimme. "Es mußte wohl sein, er hat es so gewollt."
Der blonde Junge wollte ihr widersprechen, aber dann schwieg er. Matthias war nicht absichtlich in den Tod gefahren. Ein Lastwagen hatte nach links ausgeschert, gerade, als er ihn mit seinem Motorrad überholen wollte. Er war gegen die Leitplanke geschleudert worden und sofort tot. Mama wußte das.

Marianne wandte sich von dem Toten ab und lehnte die Stirn an die Schulter ihres Sohnes. Sie spürte wieder dieses Schuldgefühl, wie jedesmal, wenn ihr bewußt wurde, daß ihr Matthias mehr bedeutete, als ihre eigenen Söhne. Sie erinnerte sich an einen Tag, als alle drei noch Kinder waren. Sie hatte ihnen von einer Reise Spielzeugautos mitgebracht, und Matthias bekam das größte und schönste. Peter und Thomas standen daneben und begriffen nicht, warum ihre Mutter, wie so oft, den kleinen Nachbarjungen bevorzugte. Sie mochten ihn, und sie hatten sich daran gewöhnt, daß er bei ihnen ein- und ausging, als wäre es auch sein Zuhause, aber um die besondere Liebe ihrer Mutter beneideten sie ihn manchmal ein
wenig.
"Gib mir noch zehn Minuten," bat Marianne, "dann komme ich."
"In Ordnung, ich warte im Wagen."
Marianne fuhr ihm flüchtig über die Wange.
"Danke."
"Aber wirklich nur zehn Minuten."
Sie nickte.

Als Peter gegangen war, zog sie sich einen Stuhl von der Wand herüber und setzte sich.
Es war nicht einmal ein halbes Jahr her, daß Matthias diese Maschine bekommen hatte. Den Führerschein hatte er schon Wochen zuvor gemacht, und gleich an seinem achtzehnten Geburtstag war er das erste Mal mit dem Motorrad zur Schule gefahren. Als er zurückkam, bog er zuerst bei ihr in den Hof ein, bevor er nach Hause fuhr. Sie hatte den Motorenlärm gehört und war ans Fenster gelaufen, - und da stand er: Glückstrahlend, mit Helm und Handschuhen winkend.
"Schau sie dir an, Marianne, sie ist ein Traum!" rief er lachend zum Fenster hinauf. Dann stürmte er durch die Tür herein, nahm sie übermütig in den Arm und wirbelte sie herum. Prustend und lachend versuchte sie, sich loszumachen.
"Du Kindskopf!" sagte sie, nachdem er sie wieder auf den Boden gestellt hatte. “Jetzt laß mich dir doch erst mal richtig gratulieren, wie sich's gehört.”
Dann wurde sie ernst. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und schaute ihn liebevoll an.
"Ich wünsche dir alles Gute zu deinem Geburtstag," sagte sie, "und bleib wie du bist." Und dann fügte sie voller Sorge hinzu: "Und paß auf mit diesem Ding da draußen."
"Ja, ja, das mach ich schon," lachte er unbekümmert und nahm sie noch einmal in den Arm, während sein Blick neugierig im Zimmer umherschweifte und schließlich mit einem "Oh!" an dem hübsch verpackten Geschenk hängenblieb, das auf dem Schrank lag.
"Ist das für mich?" fragte er strahlend und betrachtete es neugierig von allen Seiten.
Sie lachte. "Natürlich ist das für dich."
"Es fühlt sich an wie ein Buch."
"Sieh nach!"
Ungeduldig riß er das Papier herunter. Es war tatsächlich ein Buch.
"Ägypten in der XVIII. Dynastie," las er verwundert.
Im ersten Augenblick schien es, als sei er ein wenig enttäuscht, doch dann hellte sich sein Gesicht auf.
"Wenn du mir dieses Buch schenkst, obwohl du weißt, daß ich mich nicht sonderlich für die alten Ägypter interessiere, dann muß es eine besondere Bewandtnis damit haben, stimmt's?"
"Stimmt!"
"Also, dann schieß los. Erzähl mal!"
Sie setzte sich auf die Couch und deutete auf den Platz neben sich.
"Komm, Seny, setz dich zu mir."
Er ließ sich neben sie fallen.
"Seny, - ja richtig!" sagte er. "Du wolltest mir an meinem achtzehnten Geburtstag zwei Fragen beantworten, das hast du mir vor langer Zeit versprochen."
Sie lächelte. "Ich weiß."
“Einmal, warum du mich manchmal Seny nennst, und dann, warum du 'Mein Gott, ein Kind!' gerufen hast, als ich das erste Mal zu euch kam.”
Sie lächelte noch immer. Als er zwölf war, hatte er sie schon einmal danach gefragt, sie erinnerte sich daran, und sie hatte ihn auf seinen achtzehnten Geburtstag vertröstet. Später fürchtete sie manchmal, ihr könnte nicht mehr genug Zeit bleiben, ihm zu erklären, wer er war.
"Schlag das Buch auf," sagte sie.
Er sah sie fragend an und blätterte planlos ein paar Seiten um.
"Aber wo!"
“Ich würde mal unter 'S' nachsehen. ‘S’ wie Seny."
Er schlug das Inhaltsverzeichnis auf und fuhr mit dem Finger die Seite hinunter. Auf einmal stutzte er.
"Seny-Nefer, ist es das?"
"Schau nach!"
Er schlug das Buch an der angegebenen Stelle auf. Dort nahm ein Foto die ganze Seite ein. Es zeigte einen jungen Ägypter, einen Kopf aus bemaltem Kalkstein. Das Gesicht war schmal, mit leicht gebogener ebenmäßiger Nase, mit kleinem rundem ausgeprägtem Kinn und geheimnisvoll lächelndem Mund. Die Augen waren mit schwarzem Kohol geschminkt, wie das im damaligen Ägypten üblich war, und er trug auch die obligatorische Perücke, die den Kopf wie ein Helm umschloß und nur die Ohrläppchen herausschauen ließ.
"Das bin ja ich!" rief Matthias.
Marianne lächelte. "Ja, das bist du."
"Nein, ehrlich, - der sieht aus, wie ich."
Sie nickte.
“Ich will dir heute etwas erzählen, was ich bisher noch keinem Menschen erzählt habe. Damit werden auch gleichzeitig deine Fragen beantwortet."

Sie lehnte sich zurück und machte eine kleine Pause, dann begann sie:
"Vor etwa zehn Jahren bekam ich ganz unverhofft die Gelegenheit, mit einem befreundeten Ehepaar nach Paris zu fahren. Sie hatten dort eine wichtige Angelegenheit zu regeln, und so fand ich mich eines Nachmittags mir selbst überlassen auf dem Platz vor der Notre Dame wieder. Es gab so viel Aufregendes in Paris, - womit sollte ich anfangen? Was sollte ich mir als erstes ansehen?
Seltsamerweise fiel mir in diesem Augenblick nur der Louvre ein, - ich hätte nicht sagen können, warum. Genauso gut hätte ich zur Sacre Coeur hinauffahren können, auf den Eiffelturm, zum Triumphbogen......, aber ich dachte nur an den Louvre.
Du weißt, daß ich die alten Ägypter schon immer mochte, deshalb war es auch kein Wunder, daß ich in der Ägyptischen Abteilung landete. Da gab es wunderschöne Dinge zu sehen, die mich faszinierten: Schmuck aus Gold mit eingelegten farbigen Steinen, Ringe mit Lapislazuli, kleine Schminkdöschen und Vasen aus Alabaster. Außerdem Möbelstücke und andere Gebrauchsgegenstände, und sogar Mumien in ihren kunstvoll verzierten Schreinen.

Nach einer guten Stunde kam ich in einen Raum, in dessen Mitte auf einer Vitrine der Kopf eines jungen Mannes stand. Es war genau diese bemalte Kalksteinbüste, die hier abgebildet ist. Doch dieses Foto kann nicht annähernd die Verzauberung wiedergeben, die tatsächlich von ihr ausging. Sie wirkte so lebendig, die Augen schienen zu funkeln. Der Mund war nicht starr, wie aus Stein, sondern es schien, als wäre er aus Fleisch und Blut und als bewegten sich die Lippen zu immer strahlenderem Lächeln. Ich hielt den Atem an, und das Herz schlug mir bis zum Halse. In diesem Augenblick wußte ich, daß mich meine Reise eigens wegen dieser Begegnung nach Paris geführt hatte.

Und auf einmal zwinkerten mir die Augen des jungen Ägypters zu, der Mund schien zu sprechen, und ich sah, daß der Kopf nicht mehr auf einer Vitrine stand, sondern zu einem schlanken braunhäutigen Körper gehörte, der in ein langes weichfließendes Gewand gekleidet war.
'So bist du endlich gekommen,' hörte ich ihn sagen, 'ich habe auf dich gewartet.'
Ich war unfähig, mich zu bewegen. Ich starrte ihn nur an, und tausend Gedanken stürmten auf mich ein, rissen mich mit sich, wirbelten und tanzten in meinem Kopf, daß ich mir die Schläfen halten mußte.
Ich kannte ihn! Ich wußte auf einmal, wer er war. Ich erinnerte mich daran, daß ich einmal ein sehr glückliches Leben zusammen mit ihm verbracht hatte, daß er mir fehlte, daß ich mich einsam und allein fühlte ohne ihn.....
'Seny,' flüsterte ich, aber kein Wort schien über meine Lippen zu kommen. Er lächelte noch immer, hob den Arm und griff nach meiner Hand.
'Du hast es nicht einfach, in deinem jetzigen Leben,' sagte er, 'dein Mann hat dich verlassen, und du stehst mit deinen beiden Kindern allein da. Dein Leben ist Kampf, Enttäuschung und Einsamkeit, - das ist die Aufgabe, die du dir selbst auferlegt hast. Ich würde dir gern dabei helfen, aber das kann und darf ich nicht, so waren wir übereingekommen. Doch ich möchte dir Mut machen, möchte dir zeigen, daß ich da bin, daß ich immer an dich denke und auf dich warten werde. Ich möchte, daß du niemals vergißt, daß wir eines Tages, in einer anderen fernen Zeit, wieder zusammensein werden. Deshalb werde ich in dein Leben treten, - bald! Aber.....' "
Sie schwieg.
"Und?" fragte Matthias mit belegter Stimme, “was: 'Aber.....'?"
Sie schluckte. "Nichts."
"Du sagtest 'Aber.....', also muß er doch noch weitergesprochen haben."
"Nein, er hat nichts mehr gesagt. Sein Bild verschwamm vor meinen Augen, wurde schwächer und war plötzlich verschwunden. Und ich fühlte mich entsetzlich kalt und allein."

Matthias hatte recht gehabt, Seny hatte weitergesprochen. 'Aber,' hatte er gesagt, 'es wird nur ein sehr kurzes Stück des Weges sein, das ich dich begleiten kann. Nur ein Augenblick in der Ewigkeit.'
Wie hätte sie Matthias das sagen können!

"Erzähl' weiter," bat er.
"Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen," sagte sie, "ich schlug die Augen auf und lag auf einer der Bänke im Louvre. Ich war ohnmächtig gewesen. Neugierige Gesichter starrten auf mich herab und redeten auf mich ein. Ich verstand kein Wort. Ich versuchte, mich aufzurichten. Eine alte Frau half mir dabei und fragte mich auf englisch und französisch, ob ich Schmerzen hätte. Ich schüttelte den Kopf. Ich war ganz benommen, als ich aufstand. Die Leute bildeten eine Gasse und ließen mich hindurch.
Ein paar Meter weiter, mitten im Raum, stand Seny-Nefer auf der Vitrine und schaute mich mit seinem geheimnisvollen Lächeln an, als wollte er mich noch einmal an seine Worte erinnern.
Von diesem Moment an wartete ich auf ihn. Jedem Mann, der mir begegnete, warf ich heimlich einen prüfenden Blick zu, - in den Tullerien, wo ich anschließend spazierenging, im Restaurant, in dem ich mit meinen Bekannten zu Abend aß, an der Tankstelle und am Imbißstand der Autobahnraststätte, als wir wieder nach Hause fuhren.....

Als Wochen vergangen waren und mir Seny noch immer nicht begegnet war, glaubte ich, alles sei nur ein schöner Traum gewesen.
Und dann brachte Thomas eines Tages einen kleinen Jungen mit nach Hause. Ich war gerade beim Kuchenbacken, - erinnerst du dich? Ihr kamt herein, und Thomas sagte: 'Das ist Matthias, er ist gegenüber eingezogen. Ab morgen gehen wir zusammen zur Schule. Und jetzt wollen wir spielen.'
Und ich sah dich an, und verwundert rief ich: 'Oh mein Gott, ein Kind!' - Den Rest der Geschichte kennst du."

Marianne Bernatzky stand auf und stellte den Stuhl an die Wand zurück. Mit dem Zeigefingerrücken fuhr sie dem Toten über die kalte bleiche Wange.
"Leb wohl, Seny," sagte sie leise, "bis bald!"
Und dann ging sie mit festen Schritten auf den Ausgang zu.

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Tag der Veröffentlichung: 27.02.2009

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